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Cold Case

Anthologie
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Cold Case - Herbst. Next to you Teil II

Lilly Rush hatte in ihrem Leben schon viele Hotels und Hotelzimmer gesehen.

Einige davon waren schrecklich gewesen – andere wiederum sehr schön, und diese angenehmen Aufenthalte waren es gewesen, die ihre Liebe zu Hotelzimmern am Leben erhalten hatte. Die Rezeption, an der sie stand, sah bereits vielversprechend aus: altes Holz, welches gepflegt glänzte, ein Strauß Blumen schmückte den Tresen und eine Zeitung lag daneben, mehrere Zentimeter von Scottys Ellenbogen entfernt. Mehrere Sessel gruppierten sich um einen niedrigen Beistelltisch an einer Ecke, drei Aquarellbilder zierten die Wände – und nun, in der Stille des Foyers des kleinen Hotels, kurz nach Mitternacht, wusch die Müdigkeit über sie hinweg wie eine dunkle Welle. Wie lange war sie nun schon wach? Sie hatte aufgehört, die Stunden zu zählen. Als Detective war sie es gewohnt, lange Schichten durchzuarbeiten, aber dies... Dies war zu viel. Nur die Aussicht auf ein ruhiges Zimmer und ein Bett – ein Bett! – hielten sie nun noch aufrecht. Aber...

„Wie bitte?“

Stirnrunzelnd sah sie den ältlichen Mann an, welcher an der Rezeption stand und der peinlich berührt zu schrumpfen schien. Schnell glättete sich ihr Ausdruck wieder – sie war dabei gewesen, in den Modus hineinzufallen, den Will und Nick als „Eisprinzessin“ bezeichneten – und den Mann verschrecken war das letzte, was sie wollte. Also tat sie, was sie immer tat: sie lächelte.

„Tut mir leid!“ Der Mann spielte nervös mit einem Kugelschreiber. „Da muss ein Fehler vorliegen. Aber wir haben keine anderweitigen Zimmer verfügbar. Wie Sie sicher wissen, findet in dieser Woche in nächster Nähe ein Kongress der Weltgesundheitsorganisationen statt, und nicht nur wir sind völlig ausgebucht...“

Und deshalb haben Sie keine anderen Zimmer mehr verfügbar, ergänzte Lil in Gedanken gequält den Satz. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie ihr Partner sie von der Seite merkwürdig anstarrte. Irritiert wandte sie den Kopf und sah ihn an, als Scotty endlich die Sprache wiederfand.

„Soll das heißen, Sie haben nur noch ein Zimmer frei?“

Seine Stimme klang ungläubig – fast schon entsetzt. Sie versetzte Lil einen Stich. Hey, es war spät, sie war müde – hatte er Angst, dass sie über ihn herfiel? Es war doch erstmal nur für eine Nacht.

„Als man anrief, um für Sie zu reservieren, sagte man uns lediglich „Für zwei Personen““, verteidigte sich der Rezeptionist. „Ich konnte doch nicht wissen, dass Sie nicht... Nun ja... Nicht...“

Scottys unterschwellige Angst schien er als Wut zu interpretieren. Und dieser schien ihn zappeln lassen zu wollen – Lil schob es auf die Erschöpfung, normalerweise war er nicht so grausam. Sie zumindest konnte nicht mitansehen, wie der Mann herumstotterte, um die Beziehung zwischen ihr und Scotty genauer zu definieren. Aber dass er – Scotty – müde war, das war nicht zu übersehen. Sein Gesicht hatte einen ungesunden, grauen Farbton angenommen, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Beruhigend lächelte sie ihm zu und zuckte dann in Richtung des Rezeptionisten mit den Schultern.

„Da kann man nichts dran ändern“, sagte sie und drehte sich dann wieder zu ihrem Partner um. „Scotty?“

„Was?“ Irgendwie war seine gedankliche Abwesenheit... süß. Sie konnte es nicht anders formulieren. Er verhielt sich wie ein Kind, das aus seinem Mittagsschlaf geweckt wird und quengelte... Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie ihn vielleicht damit aufgezogen. Aber heute war sie selbst zu müde dafür. Vielleicht drehte sie ja durch.

„Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn...“ Seines schokoladenbraunen Augen starrten sie verständnislos an und unwillkürlich musste sie wieder lächeln.

„Wenn was?“

„Wenn wir uns ein Zimmer teilen? Es ist zu spät, um ein anderes Hotel zu suchen, und dann ist da noch der Kongress..“

In dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, dämmerte ihr die Bedeutung. Hinter ihr raschelte der Rezeptionist nervös mit einigen Papieren, ein Angestellter durchquerte die Halle hinter ihnen schnell und leisen Schrittes. Auch Scotty dämmerte es schliesslich.

„Wie bitte? Ein Zimmer teilen – ach so. Nein, natürlich nicht. Warum? Ich meine, wir sind... Sie und ich sind nicht...“

Er beendete den Satz nicht. Genau wie der Rezeptionist schien ihr Partner Schwierigkeiten zu haben, ihre Beziehung genauer zu benennen. Aus irgendeinem Grunde ärgerte sie das. Er hätte einfach „Partner“ sagen können, oder „Kollegen“. Aber was hätte das an der Tatsache geändert? Nichts. Also musste sie es akzeptieren. Das war Scotty – typisch Scotty. Ihr Lächeln blieb hängen, als sie sich dem Mann hinter dem Tresen wieder zuwandte.

„Wir nehmen das Doppelzimmer.“

Sichtlich erleichtert begann der Mann, seinen Computer zu bedienen.

„Wunderbar! Natürlich werden Sie...“

Am liebsten hätte sie geseufzt. Stattdessen blendete sie den Redeschwall aus und versuchte, aus der Stille ein wenig Kraft zu gewinnen. Sie würde nicht einfach loslassen – nicht, wenn Scotty sich im selben Raum wie sie befand. Lächelnd nickte sie, nickte und lächelte, nahm den Schlüssel entgegen und unterschrieb irgend etwas, von dem sie keine Ahnung hatte, was es war, sie hoffte nur, dass Scotty es im Auge behalten hatte. Das Metall des Schlüssels war in der Wärme des Herbstabends angenehm kühl.

Mit der einen Hand nahm sie ihre Jacke, mit der anderen streckte sie Scotty den Schlüssel entgegen. Unschlüssig starrte er auf ihre Hand wie eine Maus auf die Falle.

„Nur für eine Nacht erstmal, Scotty.“

Himmel, sie war müde. Sie wollte nur noch schlafen – und bei Scotty konnte sie sich wenigstens sicher sein, dass sie ruhig schlafen konnte. Er würde keinerlei Hintergedanken haben wie andere, jüngere Kollegen vielleicht. Scotty war noch ein Gentleman durch und durch, auch wenn er sich manchmal zu leicht irritieren liess. Aber dass sie ruhig schlief, setzte voraus, dass sie überhaupt schlief... Die Bilder verfolgten sie noch immer, jedes Mal, wenn sie die Augen schloss. Sie warteten hinter ihren Lidern auf sie. Sie liessen sie nicht los.

Scotty seufzte leise auf und nahm ihr den Schlüssel ab. Dann, als sie nach der Tasche zu ihren Füßen greifen wollte, nahm er ihr auch diese und folgte ihr, als sie den Weg zum Aufzug einschlug. Kein Zusammenbruch. Nicht hier. Nicht vor Scotty.
 

Aber das Zimmer war schön

Dafür hatte sich all der Ärger beinahe gelohnt – beinahe. Das Bett war groß und breit und die Bezüge blütenweiß. Der helle Teppich sauber, ordentlich um einen kleinen Tisch waren zwei Sessel gruppiert und die Blumen auf dem Tisch dufteten süß. Eine Nachttischlampe tauchte den Raum in sanftes Licht, während aus einem der geöffneten Fenster ein leichter Wind hineinwehte. Zufrieden stellte sie die Tasche ab, die sie Scotty an der Tür abgenommen hatte, und sah sich um, während ihr Partner den Raum betrat. „Ist doch gar nicht so übel“, flüsterte sie. Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür zu.

Und Lil erstarrte.

Innerlich – äußerlich führte sie die gerade begonnene Bewegung weiter und versteckte ihr erschrockenes Herumwirbeln hinter einer Drehung, als wolle sie den ganzen Raum genauer in Augenschein nehmen. Innerlich setzte ihr Herz für einen Schlag aus.

Nein.

Sie hatte Scotty nicht vergessen – wie hätte sie die stumme Anwesenheit ihres Partners vergessen können? Sie hatte nicht vergessen, dass er hinter ihr stand – aber plötzlich wurde das Wissen um seine Präsenz übermächtig. Lilly Rush schützte ihre Privatsphäre – das hatte sie vergessen. Die Stille hatte sie dazu verführt zu glauben, dass alles in Ordnung war. Scottys ruhige Anwesenheit während der gesamten Reise hatte sie glauben machen, dass es normal war, dass es immer so gewesen war – dass er immer da war, ruhig, still, wie der verborgene Träger eines Hauses: fehlte er, stürzte das Haus ein. Sie hatte sich an ihn gewöhnt. Während der gesamten Reise. Aber – selbst während der Reise waren sie nie wirklich allein gewesen. Und dass sie sich nun ein Zimmer teilten, das war eine ganze neue Dimension von allein...

Der hochgewachsene Mann hinter ihr sagte kein Wort.

Hastig zog sie ihren Kulturbeutel aus der Tasche, atmete tief durch und drehte sich zu ihm herum.

„Gehen Sie zuerst ins Bad?“

Scotty schien innerlich über sie zu lachen, so, als wüsste er ganz genau, was sie gerade dachte. Manchmal war ihr der Blick ihres Partners geradezu unheimlich.

„Bitte – Ladies first.“

„Vielen Dank.“

Schnell packte sie ihre Tasche mit der freien Hand und floh ins Bad. Hoffentlich sah ihre offensichtliche Flucht nicht aus wie eine offensichtliche Flucht. Sie hatte gerade den rettenden Hafen erreicht, beinahe die offene Tür zwischen sich und Scotty – zwischen dem Badezimmer und dem Schlafzimmer – geschlossen, als ihr Name sie zurückhielt.

„Lil!“

Lil drehte sich halb um.

„Ja?“

Scottys dunkle Augen musterten sie durchdringend, so durchdringend, dass sie Angst bekam.

„Sind Sie nicht müde?“

„Müde?“, echote sie. Sie war seit Stunden unterwegs, hatte selbst die letzte Nacht in ihrem eigenen Bett nicht gut geschlafen. Und wie sie müde war. Das Einzige, was sie jetzt noch aufrecht hielt, war die Tatsache, dass er da war. „Warum fragen Sie?“

„Nun, Sie sehen... Wir haben eine lange Woche hinter uns, deshalb dachte ich... Deshalb habe ich gedacht...“

Scotty. Typisch Scotty. Freundlich bis zum letzten Atemzug – wie konnte ein Mensch sich so viele Gedanken um Andere machen? Er fiel doch selbst fast aus seinen Schuhen vor Ermüdung. Warum machte er sich auch noch Sorgen um sie! Lilly Rush hatte früh gelernt, dass man sich um sich selbst kümmern musste – und um seine eigene Familie. Wo blieb denn da noch Zeit und Raum, um sich um andere Menschen zu sorgen? Aber ihr Partner schaffte dies immer und immer wieder. Sie lächelte ihn an. Deshalb würde er es niemals merken.

„Müde, Scotty... Was denken Sie?“

Dann schloss sie die Tür endgültig, liess sich von innen gegen sie sinken und rutschte an ihr hinunter, bis sie auf dem kalten Boden saß. Müde war gar kein Ausdruck für ihre Erschöpfung. Und dennoch – dennoch fühlte sie sich merkwürdig aufgedreht. Seufzend legte sie den Kopf auf ihre Knie. Ich kann nicht mehr klar denken. Es ging nicht mehr. In der Stille des Raumes atmete sie einmal tief durch, schöpfte Atem und stand langsam auf, um sich umzuziehen und zu waschen. So müde...
 

Als sie aus dem Bad auftauchte, warf sie Scotty nur einen kurzen Blick zu: er lag mit geschlossenen Augen auf der einen Seite des breiten Doppelbettes und hatte die Augen geschlossen. An der Art jedoch, wie seine Schultern sich anspannten, als die Tür leise knarrte, sah sie, dass er wach war. Mit dem festen Vorsatz, sich dieses Mal nicht von ihm irritieren zu lassen, kletterte sie auf ihre Seite. Die Laken raschelten leise, als sie es sich bequem machte. Gleichzeitig rappelte Scotty sich mühsam auf und schlurfte ins Bad, ohne sie wirklich anzusehen. Er musste ebenso erschöpft sein wie sie: Seine Schultern hingen herunter, die Ringe unter seinen Augen stachen deutlich hervor und auf seinem Kinn bildeten sich die ersten Anzeichen eines Dreitagebartes. Als die Tür zufiel, griff Lil zum Telefon, welches auf ihrem Nachttisch lag, und wählte eine Nummer. Sie kannte sie auswendig.

„Stillman“, meldete sich ihr Vorgesetzter und Mentor, gewohnheitsmäßig knapp.

„Hi, Boss“, antwortete die blonde Polizistin.

„Lil. Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Sie hatte schon immer den Verdacht gehabt, dass er Gedanken lesen konnte. Andererseits konnte er sich auch nur höflich nach ihrem Befinden erkundigen... Bei Leutnant John Stillman wusste man nie.

„Alles okay. Morgen werden wir Téa Hendersson einen Besuch abstatten und uns ein wenig in der Umgebung umsehen. Heute ist es zu spät.“ Oder zu früh, wie man es sieht, fügte sie in ihrem Kopf hinzu. Stillman schwieg kurz – seine Art, am Telefon zu grinsen.

„Wie spät ist es bei Ihnen? Mitternacht?“

„Fast. Zwei Uhr Morgens.“

„Ruhen Sie sich aus“, empfahl der Leiter der Mordkommission. „Wir halten Sie auf dem Laufenden, was die Untersuchungen der Beweise angeht. Sollten Sie etwas finden, informieren Sie uns. Vera hat Telefondienst.“

Ihren behäbigen Kollegen neben dem Telefon sitzen zu sehen, an der Langeweile erstickend oder Kekse mampfend, liess Lil leise und trocken lachen.

„Das wird ihm nicht gefallen.“

„Das geschieht ihm recht“, sagte der Boss trocken und spielte auf eine Szene einige Wochen zuvor an, in der Vera über die Stränge geschlagen hatte. „Er kann nicht einfach hingehen und so etwas machen.“

„Ich rufe dann wieder an“, versprach Lil.

„Passen Sie auf sich auf“, gab John zurück. Die Leitung klickte und war tot.

Lächelnd legte sie das Telefon wieder auf den Tisch zurück, zog ihre Beine auf das Bett und schlang ihre Arme darum. Scotty hatte sie eben in Jogginghose und Top sehen dürfen. Jetzt würde sie warten, wie gekleidet er das Bad verliess... Eine Zeit lang herrschte Stille, dann lief das Wasser. Dann wieder: Stille. Schliesslich drehte sich der Schlüssel leise und vorsichtig und durch einen Spalt in der Tür spähte ihr Partner in den Raum. Lil konnte nicht anders: sie lachte.
 

Wie ein Kind, mit der Hand in der Keksdose ertappt, öffnete Scott Valens die Tür vollständig und trat heraus: Boxershorts und T-Shirt. Zufrieden nahm sie dies zur Kenntnis. Schnell überquerte er den Boden – seine Füße hinterließen lustige, tappende Geräusche – kletterte ins Bett und zog die Decke bis zur Brust hoch. Das Lachen verliess Lil so schnell, wie es gekommen war und liess sie müde und ausgebrannt zurück.

„Ach, Scotty“, sagte sie seufzend und atmete aus. Ihre Mauer zerfiel plötzlich in ihre Einzelteile – die Fassade, die sie aufrecht hielt, damit niemand näher an sie herankam. Zunächst merkte sie es gar nicht. Aber dann sah sie den Ausdruck des Erschreckens auf Scottys Gesicht und wusste: er hatte es gesehen. Den Augen ihres Partners entging so selten etwas. Was war es? Wieviel hatte er gesehen? Schnell zog sie die Maske wieder hoch, doch er hatte sich bereits aufgerichtet und starrte sie an. In seinen Augen fand sie Erschrecken – und etwas, was sie immer befürchtet hatte: Mitleid. Ihre Mauer gewann an Stärke. Sie wollte kein Mitleid. Sie brauchte es nicht. Er sollte nicht absichtlich noch freundlicher zu ihr sein, weil er glaubte, sie habe es nötig – deshalb wurde ihr Ausdruck eisig.

„Lil...“

„Gute Nacht, Scotty“. Unterbrach sie ihn. Schnell knipste sie die Lampe aus – heilige Dunkelheit, in der er nichts mehr würde sehen können – und liess sich rückwärts in ihr Kissen fallen. Es dauerte eine Weile, bis auch er sich wieder bewegte.

„Gute Nacht.“
 

Ein kleines Mädchen rennt durch den Schnee.

Keuchend, hustend, zitternd vor Angst. Die dumpfen Schritte sind direkt hinter ihr, sie weiß, dass er sie gleich eingeholt haben wird. Fest presst sie die Packung Zigaretten an sich, als würden sie ihr helfen können, als würden sie irgendeinen Schutz gegen das namenlose Grauen bedeuten, welches ihr folgt...

Unruhig warf Lil sich im Bett herum.

Mutter ist reglos, wacht einfach nicht auf. Gerade hat Lil sie so im Wohnzimmer auf dem Boden gefunden. Sie ist zehn Jahre alt, weiß nicht, was passiert ist, und der sengende Gestank von Erbrochenem und Alkohol und die durchdringende Stille machen ihr Angst. Chris ist nicht da – wo ist sie? Warum wachst du nicht auf, Mama, wach doch endlich auf, bitte wach doch auf...

„Nein...“

Traumbilder. Es waren nur Träume. Aber sie konnte nicht vor ihnen fliehen.

George steht ihr gegenüber, das gräßliche, verzerrte Lächeln auf dem Gesicht. Er geniesst es, sie zu quälen, sie all jene Dinge immer und immer wieder durchleben zu lassen. Seine Lippen formen grausame Worte – Nein, ich bin nicht wie du, nein, niemals – die dunkle Mündung seiner Waffe starrt ihr entgegen. In ihrer Hand zittert ihre eigene Waffe, und sie weiß, sie muss schießen, muss ihn töten, um sich selbst zu retten... Siehst du, Lilly, so unähnlich sind wir uns doch gar nicht...

„Nein... Nein!“

„Lil?“

Chris verletztes Gesicht, als Lilly sie an ihrem Geburtstag vor die Tür setzt. Sie hat es wieder getan, sie macht alles kaputt, was sie anfasst, kann es einfach nicht lassen... Immer, wenn sie sich ein neues, ein sicheres Leben aufgebaut hat, kommt sie und macht es kaputt. Sie soll gehen, einfach verschwinden, aber Scotty braucht sie, soviel kann Lil verstehen... Und Chris Gesicht verwandelt sich in eine Fratze, die alles verschlingt und nichts übrig lässt, auch Scotty nicht.

Angst ist grausam. Sie schnürt ihr die Kehle zu, lässt sie nicht einmal schreien. Sie kann nur flüstern: „Nein...“

Tote Gesichter. Tote Menschen, wo sie hinschaut, verwest, verwesend, skelettartig. Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Schwester. Warum hast du uns verlassen, Lilly? Warum lässt du uns hier allein? Du gehörst auch zu uns, du gehörst zu den Toten, warum arbeitest du sonst in der Mordkommission? Du kannst uns nicht entkommen, Lilly, es ist dein Schicksal... Waffen, auf sie gerichtet, immer und immer wieder. George. John. Edward. Andere. Immer wieder. Und alle, die du liebst, werden mit reingezogen, Lilly... John, angeschossen, Scotty, Will, die anderen... Tot.

„Nein! Bitte nicht...“

Flehen hilft nicht. Hat es niemals. Wird es niemals.

Ein Schuss – ein Riss in der Scheibe, die in einem Klirren in sich zusammenstürzt. Die Splitter fallen langsam, sie kann beinahe jede einzelne verfolgen, wie sie in einem hohen Bogen zu Boden stürzen. Inmitten des fallenden Scherbenregen erhascht sie einen Blick auf Scotty – guter, treuer Scotty, er hat sie genau verstanden, er ist gekommen, um ihr zu helfen – und dann der Schmerz in ihrer Seite, ihrer Schulter, blutroter Schmerz und dann gnädige Bewusstlosigkeit. Dann: der weiße Saal, die körperlosen Stimmen um sie herum, und Lilly Rush weiß, dass es hier endet... Und dass sie Angst hat. Vor den Lebenden und den Toten, vor dem Leben und vor dem Tod. Chris ist nicht da, aber ihre Mutter, und sie lächelt – und dann nichts, und dann, durch die Schlitze ihrer Augen eine ausgemergelte Person mit tiefen Ringen unter den Augen, rastlos auf- und abgehend, nicht fähig still zu stehen – oh, sie hat sich geschworen dass er nie wieder so aussehen würde, nie wieder, und erst recht nicht ihretwegen, nein, warum auch, sie sind nur Partner... Er soll nie wieder so etwas durchmachen, nicht nach Elissa und Chris und...

„Lil, wach auf –“

„NEIN!“
 

Schweißgebadet fuhr Lil aus dem Schlaf.

Jemand hatte sie an den Handgelenken gepackt und instinktiv riss sie sich los – aber der Griff war nicht hart, sondern nachgiebig, und die Person liess sie sofort los und rückte ein Stück ab, um ihr nicht zu nahe zu sein. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das dunkle Zwielicht des Zimmers gewöhnt hatten. Die Erinnerung kehrte wieder, innerhalb von Sekunden, so wie sie es gewohnt war: Sie war in diesem Zimmer, mit Scotty, es war spät...

„Lil? Alles in Ordnung?“

Scottys Stimme klang sanft, beruhigend und besorgt zugleich. Scotty – ach, Scotty. Warum musste er in diesem Moment hier sein, warum musste er sie jetzt so sehen. Am ganzen Körper zitternd, richtete sie sich vollständig auf und umklammerte die Bettdecke. Sie weigerte sich, ihn anzusehen, damit er wenigstens die Angst, die noch immer nicht ganz gewichen war, nicht in ihren Augen lesen konnte. Ihr Atem kam in kurzen, heftigen Stößen, und sie versuchte verzweifelt, ihn zu normalisieren, aber ihr Herz raste noch immer so schnell, dass es weh tat.

„Lil?“, fragte Scotty noch einmal sanft nach und berührte sie an der Schulter. So vorsichtig, als wäre sie aus Glas, als habe er Angst, sie würde zerbrechen. Und ja – sie würde es. Sieh nicht hin. Schau weg. Sieh mich nicht so an – so mitleidig. „Was ist los?“

„Nichts.“

Sie wollte so schroff klingen, und sie klang so, sie brauchte sein Mitgefühl nicht. Bemüht, seine Gegenwart zu ignorieren, starrte sie weiter geradeaus in die Dunkelheit, zitternd und mit rasendem Herzschlag.

Da legte sich ein Arm sanft um ihre Schultern und zog sie an sich.
 

Ehe sie reagieren konnte, hatte Scotty sie in den Arm genommen, war neben sie gerückt und hielt sie in einer wortlosen Umarmung fest. Im ersten Moment versteifte sich alles in ihr. Einen Moment lang setzte ihr Instinkt ein, den sie auf „Nicht Anfassen“ programmiert hatte. Dann, als dieser abflaute, ihr Verstand: sich jetzt bei ihm auszuweinen würde nichts bringen, wenn sie das nächste Mal Alpträume hatte. Denn dann würde er nicht mehr da sein. Drogen machten süchtig, man wollte immer mehr, wenn man einmal davon probiert hatte, und Scotty war eine Droge, seine Nähe war eine Droge. Aber ihr Körper reagierte schneller, als Verstand kontrollieren konnte. Ihr Körper wurde weich und nachgiebig und bewegte sich von allein, schlang ihre Arme um Scottys Hals, presste ihr Gesicht gegen seine Schulter und hielt sich an ihm fest, als würde sie sonst ertrinken.

Sie zitterte wie Espenlaub, wurde geschüttelt von Schluchzern und presste sich an ihren Partner, als sei er der letzte feste Punkt in einer zerfallenden Welt – was er in gewissem Sinn für sie auch war. Lil konnte seinen Herzschlag spüren, der langsam und stetig in ihm pochte, und zum ersten Mal seit langer Zeit – mit seinen Armen um sie, seinem Herzschlag in den Ohren und seinem Geruch in der Nase – konnte sie wieder atmen. Deshalb liess sie ihn nicht los. Auch nicht, als sie sich wieder beruhigt hatte, als die Tränen versiegten und sein ruhiger Herzschlag ihre Augenlider müde werden liess. Sie weigerte sich, ihn loszulassen.

Und verfluchte sich gleichzeitig dafür, dass sie sich an ihm festhielt wie an einem Rettungsring.

Es war kindisch. Es war falsch. Es war... Es war illusorisch.

Aber sie konnte atmen.

Nur heute, insistierte ihr Herz gegen den Verstand. Halt mich fest. Nur heute Nacht, nur einmal... Bitte.

Und Scotty hielt sie fest.
 

Mit dem ruhigen Heben und Senken seines Brustkorbes dämmerte Lil in den Schlaf, die Arme fest um ihn geschlungen, seine Arme um sie. Sie schlief tief, ruhig und traumlos.

Nur heute Nacht. Dann gebe ich ihn wieder frei...
 

Am Morgen lag er nicht mehr neben ihr.



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