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Cold Case

Anthologie
von

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Cold Case - Sommer. Won´t go home without you

Mit dieser Geschichte hat es angefangen und mit dieser Geschichte soll es enden.
 

Nach 25 Kapiteln soll diese Sammlung beendet werden, teils, weil es nicht viele interessiert, teils, weil ich nur noch seltenst bei Mexx bin, Teils, weil ich nur noch selten für CC schreibe und wenn dann auf Englisch. Wer Weiteres von mir lesen möchte ist herzlich willkommen auf meiner Seite bei fanfiction.net (näheres in meinem Weblog). Ich bedanke mich für die Leser und bei den Lesern, die immer wiedergekommen sind, ganz besonderes bei Michiru Kaioh. Danke. Wisst ihr, wie viel mir das bedeutet hat? Danke.
 


 

Cold Case – Sommer. Won´t go home without you
 

I asked her to stay, but she would´nt listen...

She left before I had the chance to say
 

Je näher er dem Fahrstuhl kam, der ihn in den sechsten Stock bringen würde – desto langsamer ging er.

Unwillkürlich, ohne eigentlich darüber nachzudenken, was er tat. Die Menschen im Aufzug blickten desinteressiert oder gelangweilt – konnte man beides zugleich sein? Er würde darüber nachdenken müssen – an ihm vorbei oder durch ihn hindurch und warteten darauf, dass sich die Türen vor seiner Nase schlossen. Als hätte er es darauf angelegt, ertönte der Glockenklang und die Schiebetür schob sich langsam zusammen.

Da trat ihr jemand in den Weg.

Der Fahrstuhl piepste ärgerlich und öffnete sich erneut, die Menschenmenge in seinem Inneren liess kollektiv die angestaute Anspannung in einem Seufzer ab. Er würde sie noch rechtzeitig erreichen und Grund für ihre Verspätung sein... Und Alle fühlten sich besser. Jetzt hatten sie jemandem, dem sie für den Rest des Tages alles, was ihnen nicht passte, in die Schuhe schieben konnten.

“Der Tag hat schon scheußlich angefangen... Da war dieser Typ, der dafür gesorgt hat, dass ich zu spät kam. Und ab dem Moment ging alles schief.“

Die digitale Uhr zeigte an: 7 Uhr und 25 Minuten. Jeder von ihnen hatte noch genug Zeit, um bis 7 Uhr 30 im Büro zu sein.
 

„Morgen, Scotty“, sagte Will Jeffries, schob seinen massigen Körper aus der Tür und erlaubte ihm, den Aufzug zu betreten.

„Morgen“, gab Scotty zurück und stellte sich neben den Kollegen. Die Türen schlossen sich mit einem letzten, empörten Klingeln und die Kabine setzte sich in Bewegung.

„Vielen Dank.“

„Gern geschehen.“

Im Aufzug unterhielt man sich nicht. Böse Blicke bohrten sich von allen Seiten in ihn und Will hinein. Sie schwiegen, während das Gefährt an Bewegung aufnahm. Jetzt hatte er... 40 Sekunden Zeit, um sich zu sammeln. Bevor er ihr gegenüber treten musste.
 

The Words that would mend the things that were broken...

But now it´s far too late, she´s gone away.
 

An dieser Stelle sei eine Pause eingelegt, wie auch die Hauptperson sie gerade genoss.

Scott Valens, genannt Scotty, war ein Mann in den späten Dreißiger – also in seinen besten Jahren. Er war hoch gewachsen und gut gebaut und der Einschlag des Spanisch-mexikanischen, welchen seine Vorfahren vor nicht allzulanger Zeit in die Vereinigten Staaten importiert hatten, war nicht zu übersehen. Dunkle Haare, dunkle Augen. Der Anzug – ebenfalls dunkel – und die Krawatte standen ihm ausnehmend gut. Doch im Moment schien er sich darin nicht wirklich wohl zu fühlen: Immer wieder sah er hinauf auf die leuchtend rote Anzeige des Fahrstuhls, während dieser in den Etagen 1-5 Menschen ausspuckte. Und dann schliesslich erreichten sie den Sechsten Stock. Diesmal wurden sie ausgespuckt. Der Büro der Mordkommission der Philadelphia Police breitete sich vor ihnen aus wie eine jungfräuliche Schneelandschaft – nur bunter.
 

Scotty liess Will den Vortritt und folgte seinem Kollegen hinaus in den Büroalltag eines Detective. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich hinter ihm zu verstecken, kam dann aber zum Schluss, dass Will zwar Schultern hatte, die zu dem Zweck äußerst geeignet waren, dass sein Kopf jedoch ein Problem sein würde. Sein eigener Kopf überragte den des bulligen Kollegen um etliche Zentimeter. Also gab er es endgültig auf, das Unvermeidbare hinauszuzögern. Ein wenig, zumindest. Gott, er war ein erwachsener, intelligenter Mann – er hatte es wahrlich nicht nötig, sich aufzuführen wie ein pubertierender Jugendlicher!
 

Die restlichen Mitglieder des Teams für ungelöste Fälle, der „Cold Cases“, standen um einen Tisch versammelt und schienen den Tagesplan durchzugehen – alle, bis auf die Person, deren Wiedersehen Scotty solche Kopfzerbrechen bereitet hatte.

„Morgen, Scotty.“

„Morgen, Boss. Morgen allerseits...“

Er nickte John Stillman, Nick Vera und Kat Miller zu und drehte sich zu Lils Schreibtisch um, an dem sie jeden Morgen saß, wenn er kam.

„Morgen, Lil...“
 

Ihr Name blieb ihm in der Kehle stecken. An Lilly Rushs Schreibtisch saß – niemand.
 

„Wo ist Lil?“, fragte er und wandte sich wieder dem Boss und den Anderen zu. Vier Paar Blicke – jeder mit einem anderen Grad an Neugierde, Frage und Nichtwissen.

„Wir dachten, das wüssten Sie vielleicht“, sagte John Stillman und zog die Brauen hoch. Plötzlich war es sehr, sehr warm im Raum.

„Ich? Warum? Ich weiß nicht, wo sie ist.“

„Rush ist niemals zu spät“, gab Nick Vera zu bedenken und warf einen Blick auf die Uhr. 7 Uhr 35 Minuten.

„Vor 10 Minuten hätte sie da sein müssen. Sie kommt doch immer schon früher – ich habe noch nie erlebt, dass sie sich verspätet hat.“

Kat Miller nahm einen Schluck Kaffee aus einer Tasse, die ein lachendes Hasengesicht vor der Skyline von San Francisco zeigte.

„Sie darf doch fünf Minuten später kommen, wenn sie will. Regen Sie sich nicht so auf.“

„Untypisch, dass sie nicht anruft“, murmelte John Stillman und Scotty konnte ihm nur zustimmen. Ihm zustimmen – und sich selbst sagen, dass Lilly Rush, die in den 6 Jahren, in denen sie bereits zusammenarbeiteten und in den 8 Jahren, die sie bereits bei der Philadelphia Police war, kein einziges Mal zu spät gekommen war, ohne einen guten Grund zu haben. Und selbst dann hatte sie meistens angerufen und Bescheid gesagt... Scotty brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, warum sie heute nicht da war: Sie fürchtete das Zusammentreffen mit ihm genauso, wie er es gefürchtet hatte.

Und Lilly Rush fürchtete sich niemals – niemals! – grundlos.
 

Every night she cries herself to sleep

thinking `Why does this happen to me,

Why does every moment have to be so hard?´
 

Flashback: Ein Tag zuvor
 

„Danke fürs Mitnehmen, Scotty.“

Lilly Rush saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und sah ihn an, ihre Tasche und ihre Jacke bereits in der Hand. Die Sonne stand im Westen – es wurde langsam Abend.

„Keine Ursache“, gab er zurück. „Wann ist Ihr Auto wieder fertig?“

„Hoffentlich übermorgen.“

Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.

„Aber keine Sorge. Morgen laufe ich.“
 

Gerade hatte er den Mund geöffnet, um zu erwidern, dass es ihm nichts ausmachte, sie Abends mitzunehmen, da wurde er aus den Augenwinkeln heraus einer Bewegung gewahr. Und als er die Person erkannte, die sich aus dem Schatten neben den Stufen zu der blauen Haustür erhob, weiteten sich seine Augen. Was er hatte sagen wollen, war vergessen. Im letzten Moment erinnerte er sich daran, wer vor ihm saß, und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu neutralisieren, doch es war zu spät: Lil sah, wie die Überraschung sich in seinen Augen widerspiegelte, die er empfand, runzelte die Stirn und drehte sich um, um seinem Blick zu folgen.
 

Scotty sah nur die Hälfte ihres Gesichts: Ihr Profil. Ihre wunderschön geschwungene Nase, ihre hohen Wangenknochen – und im Licht der Abendsonne sah er, wie sie erbleichte. Sämtliches Blut wich aus ihrem Gesicht, so dass er sich Sorgen machte, sie könne in Ohnmacht fallen. Mit einer fahrigen Bewegung streckte sie die Hand aus, öffnete die Autotür und trat auf den Bürgersteig. Jetzt konnte er ihr Gesicht nicht mehr erkennen, wohl aber ihre Hand, die ihre Tasche so fest umklammert hatte, dass ihre Knöchel weiß anliefen. Die Person, welche neben der Tür gestanden hatte, trat nun vor Lil und lächelte unsicher.

Christina.
 

Sie ähnelte ihrer Schwester so sehr, als sie zu ihr trat, eine Hand um den Schultergurt ihrer großen Tasche geschlungen, mit der anderen Hand ein Bündel an sich pressend.

„Hallo, Lil“, sagte sie und schien nicht zu wissen, was als Nächstes kommen würde. Scotty wusste es auch nicht. Aber als er ihre Stimme hörte – diese dunkle, rauhe Stimme – da zuckte er unwillkürlich zusammen. Wie lange hatte er sie nicht mehr gehört, diese Stimme, für die er einst alles gegeben hätte.

Auch Lil fuhr sichtbar zusammen.

Seltsamerweise stellte sich bei Scotty bei Chris Anblick kein Schmerz ein. Nur, wenn er Lil ansah, schlug sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen... Weil er wusste, dass dieses Wiedersehen für sie keineswegs ein Glückliches war.

Als ihre Schwester nicht antwortete, zuckte Christina unbehaglich die Schultern, liess ihre Tasche los und umfasste das Bündel in ihrem Arm fester.

„Könnten wir vielleicht reinkommen? Mir macht es ja nichts, draußen zu sitzen, aber das Baby...“

Wie magisch wurde Scottys Blick von dem Bündel in ihrem Arm angezogen. Tatsächlich liessen sich in dem Tuch durchaus die Umrisse eines lebendigen, winzigen Wesens ausmachen... Scotty konnte hören, wie Lil zitternd Luft holte. Okay. Jetzt war es eindeutig an der Zeit, sich aus dem Staub zu machen.

„Ich fahr dann wohl besser“, sagte er, aber Lil wirkte, als habe sie ihn nicht gehört. Unsinnigerweise bemüht, mit dem startenden Motor nicht allzuviel Lärm zu machen, liess er den Wagen an und liess Lil und ihre Schwester vor deren Wohnung stehen.
 

Hard to believe that

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it trough the night

I won´t go home without you.
 

~***~
 

Als er am Abend die Bar betrat, machte er sie sofort aus: der schlanke, viel zu gerade Rücken, die goldenen Haare – er hätte sie überall wiedererkannt.

„Was machen Sie hier?“, fragte er und liess sich neben sie auf einen Hocker sinken. Lil hatte sich umgezogen, sie trug nun einen Rock – Lil im Rock?! – und ein blaues Oberteil. Ein vernichtender Blick traf ihn von der Seite.

„Haben Sie erwartet, dass ich eine Willkommensparty schmeiße, oder was?“

„Nun...“

Scotty zuckte die Achseln und winkte dem Barkeeper. Der Mann nickte, nahm ein Glas vom Regal, grinste anzüglich, machte eine Kopfbewegung hin zu Lil – die sie entweder ignorierte oder dankenswerterweise nicht wahrnahm – formte mit den Lippen ein „Hot!“ und machte sich an die schwere und intelligenzfordernde Aufgabe, einzuschenken. Scotty nahm sich ein Beispiel an seiner Partnerin, ignorierte den Mann und betrachtete die Straße hinter ihm im Spiegel über der Bar.

„Sie ist immerhin Ihre Schwester, und Sie haben sie lange nicht gesehen.“

Lil schnaubte ungehalten.

„Sie ist meine Schwester, aber das bedeutet nichts. Sie ist auch Ihre Ex-Freundin. Und?“

Der Inhalt ihres Glases verschwand innerhalb von Sekunden. Uh-oh. Sie hat wirklich schlechte Laune. Weil sie schwieg, nahm Scotty sich ein paar Sekunden, um über sein Verhältnis zu Chris nachzudenken: Sie war in etwa so gewesen wie seine Affäre mit der Staatsanwältin. Leidenschaftlich und nicht von Dauer – ein Feuer, welches ihn von innen aufzehrte und ausgebrannt zurückließ. Es schmerzte ihn nicht, dass sie wieder da war, er bedauerte nicht, etwas mit ihr gehabt zu haben – jetzt war es vorbei und er war frei. Leise atmete er ein, als ihm bewusst wurde, dass Lil niemals in diesem Sinne frei von Chris sein würde.

„Von wem war das Baby?“, fragte er plötzlich und schaute in den Wirbel aus goldener Flüssigkeit in seinem Glas.

„Von ihr.“

Er hatte es selbst schon durchgerechnet. Das Baby war zu klein, um älter als anderthalb Jahre zu sein – und das zwischen ihm und Chris war vor drei Jahren zu Ende gegangen. Dass Lil nichts sagen wollte, war typisch – andererseits kannte er sie gut genug, um zu vermuten, dass sie sich nicht gescheut hätte, ihm die Wahrheit zu sagen, wäre er wirklich der Vater gewesen. Gott. So etwas konnte er zu diesem Zeitpunkt nun wirklich nicht gebrauchen.

„Und jetzt?“

„Jetzt?“

Lil lachte auf, einen nicht zu geringen Hauch an Bitterkeit in ihrem Gesicht.

„Jetzt liegt sie in meinem Bett und schläft. Sie war todmüde.“

Typisch Lil. Niemals könnte sie jemandem, der sie um etwas bat, diese Hilfe verweigern. Eine Weile noch saß er schweigend neben ihr und sah zu, wie sie, ebenfalls schweigend, aus dem Fenster zu ihrer Rechten auf die Straße schaute, ohne eigentlich etwas wahrzunehmen. Eisprinzessin, schoss es ihm durch den Kopf. Deshalb nennen Nick und Will sie so. Keine Regung, kein Gefühl, kein Wort... Einfach nur eiskalt. Irgendwann drehte sie sich um, legte das Geld auf den Tresen, nickte ihm zu, ohne ihn anzusehen, und verschwand hinaus in die Nacht. Mittlerweile war es auch dunkel geworden. Scotty gab ihr eine halbe Stunde Vorsprung, dann zahlte auch er und folgte ihr.
 

Und fand sie genau da, wo er es vermutet hatte: an den Stufen zu der künstlichen Wasserfläche, die einen Großteil des Platzes vor dem Gericht ausmachten.

Sommernacht. Angenehm warm.
 

„Was ist los, Lil?“, fragte er leise und berührte ihren Arm. Sie schüttelte ihn ab, aber es verletzte ihn nicht. Er war Schlimmeres von ihr gewohnt. Das war Lil.

„Warum gehen Sie nicht nach Hause und sprechen mit Chris? Wahrscheinlich hat sie viel zu erzählen. Wahrscheinlich hat sie Sie vermisst. Weshalb auch immer Sie auf sie wütend sind, und warum Sie ihr nicht verzeihen wollen – sie würde es verstehen.“ Es war drei Jahre her. Warum war Lil noch immer wütend auf ihre kleine Schwester? Scotty wusste sicher nicht einen Bruchteil von dem, was zwischen den Rush-Schwestern vorgefallen war. Aber er maßte sich an, genug zu wissen.

Lil fuhr herum.

„Es verstehen?“, rief sie aus. „Mich verstehen? Wie sollte sie das!“

Ihr goldenes Haar flog, als sie den Kopf in den Nacken warf.

Und lachte.

Irritiert wartete Scotty ab, bis sie aufhörte und ihn ansah – und ihr Gesicht war eine einzige Maske der Qual. Es schnitt ihm ins Herz.

„Lil – warum hassen Sie sie so sehr? Sie ist Ihre Schwester!“

„Ach ja!“

Höhnisch blitzten ihre Augen.

„Und Sie können sich nicht vorstellen, dass man seine eigene Schwester hassen kann? Glauben Sie mir Scotty, das geht – und niemand weiß das besser als ich!“

Er brauchte nicht nachzubohren – es brach aus ihr heraus wie ein Wasserfall, zu lange aufgestaut, um jetzt noch aufzuhalten zu werden.

„Ich habe ihr Morgens Frühstück gemacht! Ich habe sie zur Schule gebracht, wenn meine Mutter ihren Rausch ausschlief! Ich habe ihr bei den Hausaufgaben geholfen, ich habe dafür gesorgt, dass sie Abends wenigstens etwas zu Essen bekam! Ich habe ihr zugehört, wenn sie etwas zu erzählen hatte, ich habe sie getröstet, wenn sie traurig war, ich habe mit ihren Lehrern gesprochen, wenn sie geschwänzt hat! Ich habe alles versucht, damit sie eine bessere Kindheit hat als ich!“

Sie atmete schwer und sah an ihm vorbei. Nur mühsam fand Scotty die Worte, die er suchte.

„Sie nehmen es ihr immer noch übel.“

Der Blick aus ihren Augen liess ihm das Blut in den Adern gefrieren. Die Frau vor sich – das war nicht Lilly Rush. Das war nicht die Frau, die er bisher gekannt hatte – stark, selbstbewusst, stolz. Gut, sie trug einen Rock – aber das war nicht das einzige Fremde an ihr. Ihr ganzes Verhalten, ihre Haltung – das war eine andere Lil. Das, was sie erzählte, eröffnete ihm eine ganz neue Perspektive auf seine Partnerin. Wieviel älter als Chris war sie? Er hatte Chris nie nach ihrem Alter gefragt – ganz zu schweigen Lil – aber nach dem, was er gerade erfahren hatte, musste sie ungefähr sieben Jahre jünger sein als Lil. Und das bedeutete, dass er mit einer Frau geschlafen hatte, die sieben Jahre jünger war als er?

„Ich nehme es ihr übel?“, wiederholte sie, so leise, dass er sich vorbeugen musste, um etwas zu verstehen.

„Oh ja. Sie hat mich belogen. Immer und immer wieder.“

„Können Sie ihr das nicht verzeihen?“

„Ich habe es versucht. Sie hat es wieder getan!“

Ruckartig drehte sie ihm den Rücken zu.

„Sie tut es wieder und wieder und immer wieder! Warum? Warum hält sie sich nicht endlich aus meinem Leben fern? Ich bin nach Philadelphia gekommen, um sie nicht mehr sehen zu müssen, nach dem, was sie getan hat. Sie kam mir hinterher. Sie...“

Er verstand es nicht. Sie hätte es wissen müssen. Warum redete sie noch mit ihm?

„Lil. Was hat sie wieder getan? Ist es immer noch wegen...“

Er zögerte.

„Wegen Ihrem Verlobten?“

„Es geht Sie nichts an, Scotty!“

„Aber zwölf Jahre sind eine lange Zeit...“

Ihr Rücken war so steif, es tat ihm weh, es zu sehen. Manche Menschen zerbrachen unter solchen Lasten. Lil weigerte sich, sich zu beugen. Aber das bedeutete nicht, dass sie die Last auch tragen konnte. Nein, die Last beugte sie hinunter, erdrückte sie...

„Nein!“, fügte sie hinzu und entfernte sich einige Schritte von ihm. Er bewegte sich nicht, aus Angst, sie zu verschrecken.

„Nein! Nicht Zwölf Jahre! Wenn es nur das wäre! Wenn...“

Sie biss sich auf die Lippen.

„Wenn sie nur damit aufgehört hätte“, flüsterte sie leise.

„Aufgehört womit?

„Das müssten Sie wissen, Scotty. An ihrem Geburtstag vor drei Jahren kam Chris nach Philadelphia. Wir sind zusammen essen gegangen, ich habe sie eingeladen. Und dann hat sie mir von ihrem neuen Freund erzählt.“

„Ihrem neuen Freund?“

„Ja.“

„Sie meinen...“

„Sie, ziemlich genau meine ich das.“

Wieder das Lächeln. Nicht kalt, nicht traurig. Das Lil-Lächeln. Das mehr versteckte als es verriet. Langsam dämmerte es ihm.

„Sie meinen, indem Chris eine ... Beziehung... zu mir begonnen hat, hat sie Sie...“

Er musste vorsichtig sein mit dem, was er sagte. Er durfte jetzt nicht interpretieren.

„Hat sie Sie verraten? Warum? Sie ist alt genug. Und es ist ja nicht so, dass wir in irgendeiner Art und Weise...“

Worte. Worte. Wo waren sie, wenn man sie brauchte? Scotty verstand nicht. Was wollte Lil damit sagen? Seine Partnerin schien ihn nicht gehört zu haben. Irgendwie war er erleichtert.

„Sie kann es nicht lassen. Sie taucht auf, stiftet Chaos und hinterläßt gebrochene Herzen – dutzendweise.“

Scotty wusste nicht mehr, was er sagen sollte, und auch Lil schwieg. Schweigend sah er mit ihr hinaus auf den künstlichen Teich, in dem sich der Mond verschwommen spiegelte. Er konnte fast greifen, was sich um Lilly Rush sammelte: Hass, Trauer, Enttäuschung, Schmerz – und eine überwältigende Liebe für ihre Schwester, die sie aufgezogen hatte. Sie war seine Partnerin. Sie hatten seit über acht Jahren zusammengearbeitet. Lil konnte ihn nicht täuschen: Er wusste genau, dass sie ihre Schwester – ihre kleine Schwester! – innig liebte. Aber was konnte er schon tun, um einen Menschen aufzumuntern, der von einer geliebten Person verletzt worden war?
 

Dann fing sie an zu zittern.

Scotty wandte sich um und wollte sie fragen, ob sie fror, da sah er etwas anderes: sie weinte. Lilly Rush weinte. Nun, vielleicht nicht direkt.

Eine einzelne, schimmernde Träne lief ihr über die Wange. Und da begann Scott Valens sich zum ersten Mal zu fragen, ob sie nicht irgendwann zerbrechen würde. Und der Gedanke daran war – undenkbar.
 

„Sie sollten nach Hause gehen“, sagte er irgendwann einmal. Wie viel Zeit später. Lil schüttelte schwach den Kopf, ein kleines Lächeln hatte sich wieder in ihren Mundwinkeln gebildet.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er verwirrt und fuhr sich durch das Haar. Sie musste doch nach Hause gehen, zur Ruhe kommen, ein wenig schlafen...

„Heute gehe ich nicht mehr nach Hause“, sagte sie bestimmt.

Kurz geisterte Scotty das Bild durch den Kopf, welches er in dem Fall, dass sie ihre Aussage wahr machen würde, morgen zu sehen bekommen würde: eine Lilly Rush, die noch immer die zerknitterte Kleidung vom Vortag trug, ohne die frisch gewaschenen Haare und mit Ringen unter den Augen...

„Können Sie nicht irgendwo anders hin?“, fragte er, ohne nachzudenken. Zu spät fiel ihm ein, dass dies eine Frage nach etwas war, dem Lilly Rush bisher strikt ausgewichen war: eine Frage nach ihrer Privatsphäre. Aber heute Nacht schien Lilly Rush nicht zu existieren. Die Person neben ihm wirkte klein und zerbrechlich und schüttelte den Kopf. Scotty fasste einen Entschluss.

„Gut. Kommen Sie.“

Bevor sie überhaupt reagieren konnte, hatte er sie am Arm gepackt und zog sie hinter sich her. Sie machte keine Anstalten, sich zu wehren – das war nicht die Lil, die er kannte.

„Wohin?“, fragte sie nur.

Vor seinem geistigen Auge sah Scotty das Bild seiner Wohnung.

„Zu mir.“

Hoffentlich würde er das nicht bereuen.
 

~***~
 

„Erstaunlich aufgeräumt“, merkte Lil leise an. Sie schien müde zu sein – sie lehnte sich an den Türrahmen zum Wohnzimmer und hatte sich bisher geweigert, näher zu kommen.

Merkwürdige Frau.

Er hatte bis zu 30 Stunden ohne Pause mit ihr im Einsatz verbracht – aber dieser eine Tag, diese emotionalen Strapazen, schien selbst ihre letzten Reserven geleert zu haben.

„Eine meiner wenigen Qualitäten“, flachste er in dem Versuch, sie zum Lachen zu bringen. Es gelang mit mittelmäßigem Erfolg: ihr linker Mundwinkel hob sich um 2,5 Millimeter.

„Scotty, ich schätze, dass Sie das auf sich nehmen, aber...“

„Kein Aber“, unterbrach er sie.

„Das ist schon in Ordnung. Ich schlafe einfach auf dem Sofa – sehen Sie? Es ist sehr bequem. Ich schlafe sogar manchmal hier, wenn ich keine Lust habe, den Weg ins Schlafzimmer zu gehen. Möchten Sie etwas trinken?“

Lil trat näher und begutachtete das besagte Sofa.

„Nein, Danke.“

Scotty zog die Brauen hoch.

„Kommen Sie.“

„Wasser.“

Typisch Lil.

In der Küche füllte er ein großes Glas mit Wasser, trug es ins Wohnzimmer und reichte es ihr. Mit einem Nicken des Dankes nahm sie es an – und sah entsetzt zu, wie das Glas aus ihren Fingern glitt und seinen Inhalt quer über das Sofa verteilte. Fasziniert beobachtete Scotty ihre Reaktion. Statt aufzuspringen, sich wortreich zu entschuldigen und zu versuchen, den Schaden möglichst schnell zu beheben, vergrub sie ihr Gesicht in den Händen und atmete tief ein und aus. Dann sah sie ihn an.

„Das tut mir leid, Scotty. Haben Sie einen Lappen?“

„Es ist nur Wasser“, sagte er und hob das Glas auf, welches auf dem Teppich gelandet war. Mit einem Klirren stellte er es auf die gläserne Tischplatte.

„Kommen Sie.“

Das zweite Mal, dass er ihr diesen Satz sagte und auch diesmal folgte sie ihm widerspruchslos. Stolz stellte er fest, dass sogar das Schlafzimmer präsentabel wirkte – heute war wohl wieder einer der Tage gewesen, an denen er morgens jegliche Haufen schmutziger Wäsche mit viel zu viel Energie attackiert und alle überflüssigen Kleidungsstücke mehr oder minder in den Schrank geworfen hatte. Im selben Moment bezweifelte er, dass Lil das überhaupt wahrnahm.

„Ich gebe Ihnen eine andere Decke und ein Kissen“, sagte er, trat an den Schrank und zauberte irgendwie die gewünschten Dinge hervor, ohne eine Lawine hervorzurufen.

Lil antwortete nicht, sondern stand noch immer in der Tür und sah ihn an wie ein verschüchtertes kleines Kind. Da erst ging ihm auf, wie sie sich fühlen musste: Für sie, der ihre eigene Privatsphäre heilig war, musste es schrecklich sein, in seine Privatsphäre eindringen zu müssen.

„Es ist nur für eine Nacht“, sagte er beruhigend, rollte seine Decke und sein Kissen zusammen und warf die restliche Bettwäsche darauf.

„Das Bad ist dort drüben. Machen Sie es sich bequem, ja?“

Um ihr keine Gelegenheit zur Widerrede zu geben, verliess er den Raum.

„Gute Nacht.“

Als sie ihn nun ansah, stand etwas in ihrem Blick, das er nicht genau deuten konnte.

„Danke.“

Er zog die Schultern hoch und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass sein Herz für einen Schlag ausgesetzt zu haben schien.

„Kein Ding. Bis Morgen.“

Die Tür schloss sich leise. Dann ging sie von Innen wieder auf.

„Aber wo werden Sie schlafen? Ich habe Ihr Sofa ruiniert...“

„Lil!“

Diesmal konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Ich habe noch eine Luftmatratze. Schlafen Sie jetzt endlich.“

Mit einem nur zu erahnenden Lächeln schloss sie die Tür.
 

~***~
 

Wovon Scotty mitten in der Nacht aufgewacht war, konnte er nicht sagen.

Plötzlich lag er dort, auf dem Boden in seinem eigenen Wohnzimmer. Es war warm, und das Laken, welches er über sich ausgebreitet hatte, lag neben ihm. Lange blieb er so liegen und betrachtete das Zimmer im Mondlicht. Heute schien es viel heller als sonst. Unwillkürlich lauschte er auf Geräusche aus dem Schlafzimmer, aber alles blieb still. Nur, dass es nicht mehr die selbe Stille war wie sonst, so, wie es nicht mehr das selbe Licht war wie sonst. Alles schien anders...

Und dann sank er in einen leichten Schlaf zurück.
 

~***~
 

The taste of her breath, I cannot get over

the noises that she makes keep me awake.
 

„Ich hoffe, es war nicht allzu unbequem für Sie“, sagte Lil am nächsten Morgen, als sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand in seiner Küche stand. Kaffee, den sie gekocht hatte. Und nun stand sie. Fiel ihm zum ersten Mal auf, dass sie immer stand und niemals zu sitzen schien? Woran das lag? Aber gut, wenn sie die Energie dafür hatte...

„Nein, überhaupt nicht“, gab er zurück. Sie sah aus, als hätte die letzte Nacht niemals stattgefunden. Zwar trug sie noch immer den Rock und das blaue Oberteil – es war Sommer, oder nicht? – aber sie hatte geduscht und ihre Haare glänzten wie eh und je. Trotzdem fiel Scotty auf, was er bisher ein einziges Mal an ihr gesehen hatte, und damals wäre sie beinahe gestorben: sie wirkte zerbrechlich.

„Sind Sie Frühaufsteherin?“

Entweder das, oder sie konnte es nicht ausstehen, wenn andere die Arbeit machten...

„Ich fürchte ja“, sagte sie. „Ist eine alte Angewohnheit. Früher habe ich...“

Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Verteidigung war am Boden – sie konnte sie nicht einmal mehr aufrecht halten. Er sah, wie sie zurückhielt, was ihr auf der Zunge gelegen hatte, in dem sie sich auf die Lippen biss. Wahrscheinlich hatte sie etwas wie „Früher habe ich immer für Chris das Frühstück gemacht“ sagen wollen. Und wo sie gerade von Chris sprachen...

„Lil“, sagte er und stand auf, um mit ihren Augen auf einer Höhe zu sein. Nun, eigentlich war er einige Zentimeter über ihr, aber immernoch besser, als vor ihr zu sitzen. Lil wich ein wenig zurück.

„Ich kann ja verstehen, dass es Sie immernoch verletzt, dass Chris...“

Er suchte nach Worten.

„Das sie so etwas getan hat. Dass sie Sie verraten hat. Aber eigentlich haben Sie ihr längst vergeben, oder? Sie ist schliesslich Ihre kleine Schwester.“

Lil sah hinunter in den schwarzen Strudel aus Kaffee, der sich gebildet hatte, während sie ihre Tasse unbewusst schwenkte. Scotty wusste, an wen sie dachte: an ihre Mutter. Auch ihr hatte sie nicht vergeben können. Auch über sie hatte sie sich mit ihm gestritten. Und als sie endlich bereit war, war es fast zu spät gewesen...

„Lil.“

Er klang beschwörend.

„Gehen Sie nach Hause. Sprechen Sie mit Christina. Sonst wird es wieder zu spät sein.“
 

Lil sah ihn an.

Der Blick ihrer blauen Augen bohrte sich in die seinen – hartnäckig, stolz, forschend und tief. So durchdringend, dass er wegsehen musste. Sein Blick irrte durch die Küche, blieb am Fenster hängen und begutachtete den blauen Himmel über Philadelphia. Durchdringend[/]. Ihr Blick schien alles und jeden zu durchleuchten – manchmal fürchtete er sich geradezu davor. Man ertrank in ihren Augen, wurde klein, jedes Gefühl, jeder Gedanke schien offen vor ihr zu liegen. Nur heute war ihm etwas darin aufgefallen, was er sonst niemals dort gesehen hatte... Während er sich den Kopf darüber zerbrach, wurde ihm die Stille im Raum bewusst. Sein Blick kehrte zu Lil zurück – sie sah ihn immer noch stumm an – und prompt kehrte das Gefühl zurück, zu fallen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Stille war ohrenbetäubend tief, während er sie nur weiter ansehen konnte. Nicht denken, nicht bewegen. Sie immer weiter ansehen.

Und dann beugte Lil sich vor, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
 

Perplex starrte Scotty auf das Gesicht, welches er so gut kannte und welches ihm nun so nah war, dass er es nicht mehr erkennen konnte. Er spürte ihre Lippen weich auf seinen und schmeckte die Süße ihres Atems – und bevor er reagieren konnte, zog sie sich zurück. Ihre Augen musterten ihn forschend, als ob sie ihn testen wollte. Stunden schienen zu vergehen und Scotty war noch immer nicht in der Lage, sich zu bewegen, irgendwie zu reagieren: er sah sie nur an.

Als sähe er sie zum ersten Mal.

Konnte sie nur immer weiter ansehen.

Und Lilly Rush wirbelte auf dem Absatz herum und ergriff die Flucht.
 

Flashback Ende
 

~***~
 

The weight of the things that remained unspoken

built up so much it crushed us every day.
 

Every night she cries herself to sleep

Thinking ´Why does this happen to me,

Why does every moment have to be so hard.`
 

Und jetzt saß er hier und wartete darauf, dass etwas geschah.

Aber was?

Was erwartete er?

Dass sie sich ihm um den Hals warf? Dass sie sagte, das alles sei nur ein Fehler gewesen? Er sei zwar ein guter Partner und Kollege, aber... Schritte näherten sich, schnell und eilig, und er hätte sie überall auf der Welt erkannt.

„Lil!“, rief Kat Miller aus. „Da bist du ja! Beeile dich, wir müssen los...“
 

Scottys Kopf fuhr hoch.

Seine Augen suchten ihre und erwarteten, dass sie ihn meiden würde, dass sie ihm ausweichen würde – und sie blickte ihn geradewegs an und lächelte.

„Morgen.“

Und weg war sie.

„Sorry, Boss“, hörte er ihre Stimme aus dem kleinen Büro, in welchem John Stillman residierte. Die übrigen Kollegen schienen nichts mitbekommen zu haben. Kopfschüttelnd stritten Will und Nick sich darüber, wer den Staatsanwalt anrufen durfte. Kat kam mit ihrer Tasche aus dem Pausenraum. Die Zeit lief weiter, als sei sie niemals stehengeblieben.
 

~***~
 

Hard to believe that

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it trough the night

I won´t go home without you.
 

Eines musste man ihr lassen: Lilly Rush konnte – wenn sie wollte – für (bestimmte) Menschen so gut wie unsichtbar werden. Wenn sie ihn mied – und nach einem ganzen Tag hatte Scotty eindeutig das Gefühl, dass sie ihn mied – dann tat sie das mit vollem Erfolg.

Oh nein!

Sie ging ihm nicht einfach nur aus dem Weg, so wie jede andere Frau es getan hätte. Sie weigerte sich auch nicht, mit ihm zu sprechen. Das waren die Methoden gewöhnlicher Frauen, und Lilly Rush war alles andere als gewöhnlich.

Das bekam Scott Valens schmerzhaft zu spüren.

Denn Lil gab sich nicht die Mühe, ihn zu meiden – sie tat einfach so, als sei nichts geschehen. Rein gar nichts. Sie verfiel ihm gegenüber in den Eisprinzessinnenmodus. Kein Gefühl, keine Reaktion. Zumindest nicht auf ihn.

Nicht, dass sie ihn ignorierte. Er wusste, wie sich das anfühlte – von Lilly Rush ignoriert zu werden, war eine Stufe vor der arktischen Hölle und er hatte diese Vorstufe bereits erfahren. Aber die Temperaturen im Büro blieben auf erträglichen – vielleicht 23°C, in Anbetracht der Sommerhitze vor dem Gebäude. Dieses Mal fiel ihre Maske nicht einmal auf, denn sie benahm sich wie gewöhnlich. Keine Blicke unter dem Gefrierpunkt. Keine Kommentare, welche die Zahnwurzeln schmerzen ließen vor Kälte.

Nein, viel subtiler als jede Frau, die er kannte, überging sie einfach den gesamten letzten Abend und den Morgen. Tat so, als habe niemals etwas stattgefunden, als sei niemals etwas geschehen. Was, wenn er sich eingestand, der Vorhölle schon nahe kam.

Und er musste ebenfalls zugeben, dass es ihn störte. Wie stellte sie sich das vor? Sie konnte ihn nicht zuerst so überfallen – küssen – und dann einfach so tun, als sei nichts geschehen. Es störte ihn sogar gewaltig.

Aber er musste es ihr lassen: sie tat es so überzeugend, dass selbst er langsam anfing, sich zu fragen, ob überhaupt etwas zwischen ihnen vorgefallen war. Sie brachte ihm einen Kaffee mit, so wie dem Boss, Will und Nick. Sie fragte ihn nach den Akten des letzten Falles. Sie erinnerte ihn daran, dass er diesmal an der Reihe war, die Donuts zu spendieren. Und zu guter Letzt: Als Kat in der Mittagspause darüber herzog, dass manche Männer einfach keine Ordnung halten konnten – Nick hatte einen Aktenordner falsch einsortiert, beißenden Spott geerntet und beleidigt den Raum verlassen – und ihm anschließend unterstellte, dass sein Wohnzimmer sich sicher nicht in einem präsentablen Zustand befand, und er Hilfe suchend Lil einen Blick zuwarf, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper und behauptete, kein Gegenargument nennen zu können – aufgrund mangelnder Beweislage. Nicht wissend, ob er wütend auf sie sein sollte oder amüsiert, lauschte er Kats weiteren Ausführungen und versuchte zu definieren, was gerade stärker an ihm nagte: Wut oder Amüsement. Und wenn er wütend war – war er es, weil sie ihn nicht verteidigt hatte, oder weil sie einfach über das hinwegging, was am Morgen geschehen war? War Beides eigentlich nicht das Selbe? Und dann war da noch etwas, was sie gesagt hatte, wovon er wusste, dass es wichtig war. Den ganzen Tag lang zermarterte er sich den Kopf, was es gewesen sein konnte, kam aber zu keiner Lösung.

Als er einmal aufsah, traf er ihren Blick und stellte fest, dass sie ihn beobachtete. Aber sofort wandte sie sich wieder dem Kopierer zu. Mit dem Ausdruck, als habe sie lediglich ins Leere gestarrt.
 

~***~
 

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it trough the night

I won´t go home without you.
 

Sie bereitete ihm Kopfschmerzen.

Wer war diese Frau? Jetzt hatte er zwei Lilly Rushs kennengelernt: Die Eine verbittert, verzweifelt, hilflos und zerbrechlich, die Andere stolz, ironisch und unnahbar wie immer.

Welche Lil ihm besser gefiel?

Er mochte beide.

Beide waren gleichermaßen liebenswert.

Warum sie ihn geküsst hatte?

Da kamen ihm auf Anhieb mehrere Antworten in den Sinn. Von denen ihm einige mehr und andere weniger gefielen. Als er sich einige Stunden später allein im Archiv wiederfand, beschäftigte er sich genauer mit dieser Frage.

Zum Beispiel konnte es eine Art Dankeschön gewesen sein. Nur, dass Lilly Rush Danke sagte, wenn sie es meinte. Diese Theorie gefiel ihm weniger.

Oder sie hatte ihn aus Versehen geküsst... Ihn sozusagen verwechselt. Äußerst unangenehm. Und nicht wünschenswert.

Und dann war da immer noch die Möglichkeit, dass sie ihn hatte küssen wollen, weil...

Nicht gut. Ihm wurde warm.

„Scotty? Wollen Sie die Luft in einen Schweizer Käse verwandeln?“

Der Angesprochene fuhr auf und stellte fest, dass der Boss vor ihm stand, dass er wieder an seinem Schreibtisch saß und dass das Büro leer war. Schnell warf er einen Blick auf die Uhr: Kurz nach Sechs. Feierabend. Hatte er nicht bemerkt, wie alle Anderen schon gegangen waren? Der Boss stand vor ihm und sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

„Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Scotty?“

Lassen Sie mich überlegen... Boss, Ihre Lieblingsangestellte hat mich geküsst und tut jetzt so, als sei nichts passiert. Und ich weiß nicht, warum sie es getan hat und warum sie es anscheinend wieder vergessen hat, und auch nicht, was ich jetzt tun soll. Soll ich mit ihr reden? Was, wenn sie mir wieder einmal nicht zuhört? Wie soll ich reagieren?

„Nein, Boss. Alles Bestens. Ich gehe jetzt.“

„Scotty!“

„Ja?“

Er wandte sich noch einmal um.

„Vergessen Sie ihre Tasche nicht!“
 

~***~
 

Als die Gestalt ins Licht trat und er sah, wer es war, konnte sie auch ihn erkennen. Scotty konnte sehen, wie sich alles in Lilly Rush danach sehnte, davonzulaufen, wie sich ihr ganzer Körper anspannte und zur Flucht antrieb. Aber das liess ihr Stolz nicht zu – darauf hatte er spekuliert. Langsam näherte sie sich dem künstlichen See im Herzen Philadelphias.
 

Of all the things I felt but never really showed

Perhaps the worst is that I ever let you go

I should not ever let you go
 

„Was machen Sie hier?“

„Das Selbe könnte ich Sie fragen. Zu viel Kindergeschrei?“

„Nein.“
 

Lil schwieg, und Scotty schloss sich ihr an und versuchte zu ignorieren, dass ein sanfter Duft von Süße sie umschwebte. Dieselbe Süße, nach der ihre Lippen schmeckten... Unwillkürlich fragte er sich, wie es sein würde, wenn er sie noch einmal küsste. Genauso süß? Weich?
 

It´s not over tonight...
 

Er riss sich zusammen. So ging es nicht weiter... Seine Gedanken schienen nur um ein einziges Thema zu kreisen. Um sie.

„Haben Sie mit Chris gesprochen?“

„Das geht Sie nichts an.“

Das wertete er als ein Ja.
 

Just give me one more chance to make it right

I may not make it through the night...[/ i]
 

„Lil“, sagte er schliesslich.

„Warum haben Sie mich geküsst?“
 

I won´t go home without you.
 

Sie machte einen Fehler.

„Ach – Sie küssen nur Chris, oder was?“

Scotty versteifte sich. Wollte sie sagen, dass sie ihn geküsst hatte, nur weil Chris es auch getan hatte? Sollte es eine Art verspätete Rache an ihrer Schwester sein – wenn du mit meinen Typen stiehlst, stehle ich dir deinen? Eine dieser verkorksten Rush-Angelegenheiten, in die er hineingeraten war? Verdammt.

Andererseits war dies das Letzte, was er von Lil erwartet hätte. Lil spielte fair. Und dann – dann war das mit Chris und ihm schon lange vorbei. Das konnte es nicht sein. Nein... Es klang eher, als habe er sie verletzt, als er eine Beziehung zu Chris begonnen hatte. Wie um alles in der Welt konnte so etwas Lilly Rush verletzen? Verletzen? Es war ja nicht sie, deren Herz gebrochen worden war, denn...

Oh Gott.

Die Erkenntnis überkam ihn mit einer Klarheit, die alle anderen Gedanken in seinem Kopf hinwegwusch. Plötzlich war es deutlich – alles, was bisher so undurchsichtig erschienen war, lag nun klar vor ihm. Nicht nur Chris – nein, auch er hatte sie verletzt. Weil er sich auf eine Beziehung zu ihr eingelassen hatte, während Lil... Während Lil...

Er fuhr zu ihr herum.

Als sie es realisierte – realisierte, dass sie sich verraten hatte, dass er endlich verstanden hatte, worum es ging, breitete sich Furcht über ihr wunderschönes Gesicht.

„Nein. Nein! Nein, Scotty – das wollte ich nicht sagen. Das tut mir leid, ich...“

„Lil.“

Vorsichtig machte er einen Schritt auf sie zu, unsicher, was er sagen sollte. Was konnte er sagen? Nichts schien richtig zu sein.

„Nein!“

Nackte Panik sprach nun aus ihrer Stimme. Sie wich zurück.

“Es tut mir leid, Scotty. Es tut mir leid. Ich wollte nicht... Ich wollte nicht...“
 

It´s not over tonight

Just give me one more chance to make it right

I may not make it through the night
 

Was sollte er tun?

Sie war in Panik, das konnte er sehen. Sie schien jeden Moment auseinanderfallen zu können, schien fliehen zu wollen und sich nur mit äußerster Disziplin daran zu hindern. Sobald er etwas Falsches sagte, würde sie davonlaufen.

Das da war Lil – Lilly Rush. Sie brauchte niemanden. Sie konnte alles – alles alleine. Sie war stark. Aber es waren nicht Lilly Rushs Worte. Und als er sie nun ansah, sah er nicht nur Lilly Rush. Sondern einfach nur Lil. Zerbrechlich, einsam, beinahe wahnsinnig vor Angst, weil sie etwas gesagt hatte, das alles würde zerstören können, was zwischen ihnen existierte. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht blass. Wahrscheinlich hatte sie sich selbst noch niemals eingestanden, was ihr gerade durch Zufall entwichen war. Wahrscheinlich ging es ihr zum ersten Mal auf – weil er sie gezwungen hatte, auszusprechen, was sie gefühlt, sich aber niemals gesagt hatte. Sie hatte Angst vor der Zukunft. Sie klammerte sich noch immer an die Vergangenheit – deshalb hatte sie auch Chris nicht vergeben können. Aber all diese Fehler machten sie in seinen Augen kein bisschen weniger liebenswert.
 

I won´t go home without you.
 

Sie hatte Angst vor einer Beziehung.

Scotty war sich bewusst, dass es bei einer Frau wie Lil schwer sein würde, eine normale Beziehung zu führen. Sie war es gewöhnt, alleine zu sein. Sie hatte immer einen Weg gefunden, allein zurechtzukommen. Sie hatte ihre Ängste so tief vergraben, dass nicht einmal sie selbst sie finden konnte. Sie war so sie selbst, dass es ihr schwer fallen würde, ihn zu akzeptieren – und er würde sich auf interessante Zeiten gefasst machen müssen. Der Ausblick gefiel ihm. Nur musste er die richtigen Worte finden.
 

I won´t go home without you.
 

Also war er es dieses Mal, der sie küsste.

Er musste schnell sein. Schnell, damit sie seine Absichten nicht erriet und floh, schnell, damit er sie nicht noch mehr in Panik versetzte. Er überbrückte die wenigen Schritte zu ihr und beugte sich hinunter, hob ihr Kinn an und küsste sie – stärker, als beabsichtigt, denn sie hatte in letzter Sekunde reagiert und versuchte zu fliehen. Als seine Lippen die ihren berührten, erstarrte sie am gesamten Körper. Vorsichtig nahm er seine Hand von ihrem Hinterkopf, mit der er sie festgehalten hatte, und berührte sanft ihre Wange. Lils Lippen waren weich und süß und er fragte sich, wie er jemals hatte zulassen können, dass sie am Morgen vor ihm davongelaufen war.
 

I won´t go home without you.
 

Als er sich ein wenig entfernte, fürchtete er, dass sie ihn falsch verstanden haben könnte: fürchtete Wut, Angst, Zweifel in ihrem Ausdruck. Es hätte nichts an der Tatsache geändert, dass es der beste Kuss seines Lebens gewesen war – dennoch fürchtete er es. Und erwartete...

Erwartete alles andere als das, was er sah: Tränen.

Tränen in den schönsten Augen der Welt. Vorsichtig wischte er sie ab und sah sie durchdringend an.

„Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken, Lil?“

Sein Tonfall war unmissverständlich. Blut stieg wie eine heiße Welle in ihr sonst so blasses Gesicht – es war so süß, dass er sich noch einmal vorbeugen und sie noch einmal küssen musste.
 

I won´t go home without you...
 

Er hätte sie ewig küssen können. Hätte ewig ihren süßen Atem schmecken können, ihre weichen Lippen, ihre Arme, als sie sie um seinen Nacken schlang, ihren Körper an seinem. Als er sich wieder von ihr löste, war ihr Haar zerzaust. Farbe brannte in ihren Wangen und sie atmete schnell – und wagte es noch immer nicht, ihn anzusehen. Vorsichtig legte er die Hand unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an, damit er sie sehen konnte. Was er in ihren Augen las, liess seinen Atem stocken. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Lippen, dann nahm er ihre Hand in die Seine. Und lächelte.

„Komm“, sagte er.
 

In seiner großen Hand fühlten sich ihre zierlichen Finger realer an als alles, das er jemals in den Händen gehalten hatte.
 

I won´t go home without you.



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