Merry Christmas
Nach einigen Stunden Flug war Shuu endlich in Jubelstadt angekommen. Leider war ihm unterwegs eingefallen, dass er gar nicht wusste, wo er Haruka suchen sollte. Die Stadt war schließlich riesig, und sie konnte überall sein. Bei ihrer Familie ging niemand ans Telefon, und so blieb ihm nicht viel übrig, als es erst einmal im Pokemoncenter zu versuchen. Dort konnte Schwester Joy ihm zwar sagen, dass Haruka einige Male dort gewesen war und auch einmal nach einer Unterkunft für den Winter gefragt hatte, aber da Joy sie an einen Makler weitervermittelt hatte, konnte sie Shuu keine Adresse geben. Die Nummer des Maklers allerdings bekam er, auch wenn Joy bezweifelte, dass dieser an Weihnachten arbeiten würde.
Shuu wählte trotzdem die Nummer – was hatte er auch für eine Wahl? – und bekam tatsächlich einen ziemlich ungehaltenen Makler an den Apparat. Nein, Adressen könne er nicht herausgeben, die seien alle vertraulich. Erst nachdem die Krankenschwester ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte, rückte der Makler damit heraus, dass er Haruka ein kleines Häuschen am Rande der Stadt vermietet hatte, und gab Shuu murrend die Anschrift. Dieser bedankte sich hastig und machte sich sofort auf den Weg.
Im Taxi lehnte er den Kopf an die Fensterscheibe und blickte hinaus in die vorbeirauschenden Lichter. Den ganzen Flug über hatte er überlegt, was er zu Haruka sagen sollte, wenn er ihr tatsächlich gegenüberstehen würde. Sie anzuflehen, zu ihm zurückzukommen, war so gar nicht sein Stil, aber als letzte Option behielt er das vorsichtshalber im Hinterkopf. Vielleicht sollte er ihr auch einfach nur sagen, dass er sie vermisste, und dass er glaubte, zusammen könnten sie alles viel besser schaffen. Irgendwie klammerte er sich ja immer noch an der Hoffnung fest, dass er bloß vor ihr zu stehen brauchte und alles von selbst wieder gut werden würde.
„Wir sind da“, ließ der Taxifahrer verlauten. Shuu bedankte sich, zahlte und stieg aus. Eine Weile starrte er ihr Haus an. Im Gegensatz zu den anderen in der Straße war es nicht geschmückt, und nicht ein einziges Licht brannte. Ihn beschlich das Gefühl, sie sei gar nicht zu Hause. Vorsichtshalber klingelte er eine Weile, aber niemand öffnete ihm. Nachdem er einmal um das Haus herum gegangen war, musste er einsehen, dass sie wirklich nicht daheim war. „So ein Mist!“, fluchte er laut. „Na, na, solche Worte an Weihnachten, schäm dich, mein Junge“, wurde er von der Seite angesprochen.
Dort stand ein älterer Mann mit einem langen weißen Bart. „Sind Sie etwa der Weihnachtsmann?“, fragte Shuu leicht verstimmt. „Hohoho, der Weihnachtsmann! Du bist mir vielleicht ein Scherzkeks“, lachte der Alte. „Aber sag mal, mein Junge, du suchst doch sicher das Mädchen, das in diesem Haus gewohnt hat, oder?“
Jetzt war Shuu ganz Ohr. „Ja. Wissen Sie, wohin sie gegangen ist?“ Wieder lachte der Alte. „Hohoho, natürlich weiß ich das. Als sie aus dem Haus gestürmt ist, habe ich nämlich auch gerade hier draußen gestanden. Als ich sie gefragt habe, wohin sie denn so eilig wollte, hat sie nur Flughafen gerufen und ist sofort weitergerannt. Die Jugend von heute, so energisch...“
Das konnte doch nicht wahr sein! War Haruka etwa auch unterwegs zu ihm gewesen? Dann hätten sie sich vollkommen verpasst. „Wie lange ist das her?“, fragte er. „Gar nicht lange, ein paar Stunden nur. Ich habe ihr noch hinterhergerufen, dass es gefährlich ist, bei diesem Wetter zu fliegen, aber das hat sie wohl nicht gehört. Wirklich, die Jugend heutzutage...“ Mehr hörte Shuu nicht, denn da war er schon losgesprintet. „Danke, Herr Weihnachtsmann!“, rief er noch. Hinter ihm schüttelte der Alte nur amüsiert den Kopf.
Also hatten sie sich vermutlich wirklich nur um Haaresbreite verpasst. Vorausgesetzt, dass Haruka auch tatsächlich nach LaRousse City geflogen war. Wenn sie erst vor ein paar Stunden aufgebrochen war, hatte sie dann überhaupt noch einen Flug bekommen? Vielleicht saß sie ja auch am Flughafen fest und er hatte sie nicht bemerkt. Oder sie war wirklich ganz woanders hin geflogen...
Hektisch rannte Shuu über das große Gelände des Flughafens. Irgendwo dort musste sie doch sein, hoffte er. Nachdem er so ziemlich jeden Winkel abgesucht hatte, wandte er sich schließlich an den Informationsschalter und fragte dort, ob Haruka an diesem Tag in ein Flugzeug gestiegen war, und wenn, ja wohin. Die Serviceangestellte musterte ihn. „Tut mir Leid, aber ich fürchte, dazu darf ich Ihnen keine Auskunft geben.“ „Bitte, es ist wirklich sehr wichtig für mich“, versuchte er sie zu überzeugen. „Wie schon gesagt, ich darf Ihnen keine Informationen...“ „Hey, sind Sie nicht Shuu, der Koordinator? Ich bin ein Fan von Ihnen!“, mischte sich eine andere Angestellte ein. „Habe ich ein Glück! Erst treffe ich Haruka, und dann Shuu!“
„Also war Haruka wirklich hier?“, hakte Shuu nach. „Ja, sie hat den letzten Flug nach LaRousse City genommen. Allerdings gab es da einige Turbulenzen...“
Shuu erschrak. Ihr war doch hoffentlich nichts zugestoßen? „Was für Turbulenzen?“ Bevor die Frau ihm jedoch antworten konnte, wurde sie von der ersten Angestellten beiseite geschoben. „Ich denke, wir haben schon zu viele vertrauliche Informationen herausgegeben. Bitte gehen Sie jetzt.“ „Aber meine Freundin...“
Egal, was er versuchte, er bekam nichts mehr aus den beiden heraus. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig als aufzugeben und rastlos im Flughafen hin und her zu wandern. Die ganze Zeit über fragte er sich, was denn nun passiert war, und ob es Haruka gut ging. Ihr konnte doch nicht wirklich etwas zugestoßen sein, oder? Er hatte sich doch nicht einmal richtig von ihr verabschiedet. Was sollte er nur tun, wenn sie wirklich...?
Vor lauter Ungewissheit und Verzweiflung kamen ihm fast die Tränen. „Verdammt!“, fluchte er zum wiederholten Mal an diesem Tag.
„Und ich dachte, du freust dich, mich zu sehen. Wo du doch offenbar extra hergekommen bist“, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm. Langsam drehte Shuu sich um, ganz langsam und vorsichtig, wie um ein fragiles Trugbild nicht zu zerstören.
Aber tatsächlich, da stand sie, lebendig und offenbar unversehrt. „Haruka!“, brachte er nur heraus, bevor er auf die zustürzte und sie an sich drückte.
„Aua! Erdrück mich nicht, ich hab mir bei der Bruchlandung vorhin die Rippen angestoßen“, beschwerte sich Haruka.
„Tut mir Leid.“ Shuu ließ sie los und musterte seine Freundin nun eingehend. „Was ist denn überhaupt passiert?“
„Über LaRousse gab es starke Turbulenzen im Luftraum. Deshalb konnten wir nicht landen und mussten wieder umkehren. Dann ist natürlich noch kurz vor Schluss der Treibstoff knapp geworden und die Landung wurde etwas unsanft. Aber das ist besser als abzustürzen, wie ich es ursprünglich befürchtet hatte.“
„Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich gehört habe, mit dem Flug stimmte was nicht, aber niemand mir genauere Auskünfte geben wollte. Ich dachte, ich hätte dich verloren...“ Seine coole Fassade war Shuu inzwischen vollkommen egal. Er war nur unendlich froh, dass seine Haruka unbeschadet zu ihm zurückgekehrt war. Wobei er ja genau genommen nicht wusste, ob sie tatsächlich zu ihm zurückkehren würde.
Bevor er sie danach fragen konnte, hatte Haruka schon angefangen zu reden: „Weißt du, als ich da im Flugzeug saß und dachte, ich sterbe möglicherweise, habe ich furchtbar bereut, dass ich damals gegangen bin. Eigentlich hatte ich schon die ganze Zeit Zweifel an meiner Entscheidung. Deshalb wollte ich dich auch unbedingt sehen und bin aufs Geratewohl nach LaRousse geflogen. Dass ich dich dann hier treffe...“ Sie lächelte unsicher. „Heißt das, du wolltest mich auch wiedersehen?“
Shuu fiel ein großer Stein vom Herzen. Sie hatte ihn auch vermisst! „Natürlich wollte ich das. Es war schließlich nicht mein Wunsch, dass wir getrennt weiterreisen. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich habe das Gefühl, dass wir gemeinsam viel mehr schaffen als allein. Das hat nichts mit Abhängigkeit oder Schwäche zu tun. Aber jemanden zu lieben und zu unterstützen, das ist doch einfach viel besser als alles alleine machen zu müssen, oder?“
„Da hast du vielleicht Recht. Übrigens, könnte es sein, dass du in letzter Zeit nicht mehr so viele Wettbewerbe gewonnen hast wie früher?“, neckte Haruka ihren Freund.
„Wie bitte? Wenigstens habe ich nicht wieder meine Anfängerfehler ausgepackt, so wie du!“, konterte dieser.
Gerade wollte Haruka etwas erwidern, als ihr Blick plötzlich auf den blauen Schal fiel, den Shuu um den Hals trug. „Du hast ja immer noch den Schal, den ich dir gestrickt habe“, bemerkte sie erstaunt.
„Natürlich habe ich den noch. Schließlich erinnert er mich an dich. Hast du deinen etwa nicht mehr?“ „Doch, sicher!“ Haruka kramte in ihrer Tasche herum und beförderte das Gegenstück zu Shuus Schal daraus hervor. „Den sollte ich wohl besser umbinden, es ist kalt draußen.“
„Hast du wieder keine Handschuhe?“, fragte Shuu. „Hey, ich bin total übereilt aufgebrochen, entschuldige, wenn ich da was vergessen habe“, gab Haruka beleidigt zurück.
„Du wolltest mich wohl unbedingt sehen.“ Den Kommentar konnte Shuu sich nicht verkneifen.
„Ich überleg es mir gleich wieder anders“, gab Haruka leicht beleidigt zurück.
„War nicht so gemeint“, sagte Shuu schnell und gab ihr einen seiner Handschuhe. Ihre andere Hand hielt er in seiner Manteltasche fest umklammert. „Sieht aus, als hätte ich schon wieder ein Weihnachtsgeschenk für dich gefunden“, meinte er. „Ja, scheint so“, erwiderte Haruka lächelnd und gab ihm einen Kuss.
Hand in Hand liefen sie nun die winterlich verschneiten Straßen entlang. Über ihnen erstrahlten die festlichen Lichter, in deren Schein Schneeflocken tanzten.
Um sie herum herrschte Weihnachtstrubel, und jeder machte ein glückliches Gesicht. An diesem Tag jedoch konnte niemand so glücklich sein wie Haruka und Shuu.
Ein fröhliches verfrühtes Weihnachtsfest wünsche ich auch allen Lesern!
Nun ist sie also fertig, meine bisher längste deutsche Fanfic und die erste mit mehreren Kapiteln. Hoffentlich hat sie euch gefallen. Das Schreiben hat mir auf jeden Fall großen Spaß gemacht, und da ich auf den Geschmack gekommen bin, werdet ihr wohl wieder mal längere Sachen von mir lesen können.
Einige Sachen möchte ich hier gern erklären:
Ich weiß, einige von euch haben sicher gedacht, Haruka würde in dem Flugzeug abstürzen und ums Leben kommen. Zwar habe ich beim Schreiben mit dem Gedanken gespielt, aber dann erschien mir das als zu klischeehaft. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, einen Flug zu überleben, höher als die, ihn nicht zu überleben. Außerdem sollte das hier kein Melodram werden oder so was, sondern eher eine Reflexion zum Thema Selbstständigkeit und inwiefern man anderen Menschen braucht, um seine Träume zu verwirklichen.
Ich persönlich denke, dass zwar jeder mehr oder weniger allein klarkommen muss, aber wenn man jemanden hat, der die gleichen Ziele verfolgt, und man sich gegenseitig unterstützen kann, sollte man froh sein. Selbst der Einzelgänger Shuu musste das mal irgendwann begreifen. XD
Ich bin sehr gespannt auf eure Kommentare! Über Lob und natürlich auch konstruktive Kritik würde ich mich sehr freuen. ;)
Alles Liebe
Julia
PS: Das Ende klingt vielleicht etwas kitschig, soll aber eine Anspielung auf den Prolog sein.