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Nothing And Everything

von

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F i v e

Ich war gut gelaunt an diesem Morgen - die U5, die U-Bahnlinie von meinem Wohnort bis zu Mr. Cooper's, war nicht so überfüllt wie sonst immer und ich hatte meinen geldbringenden Job noch - zumindest, bis ich in der Cranberry Street ankam und vor der Haustür fast mit Mr. Cooper zusammenstieß.

"Oh, Entschuldigung, Sir", stotterte ich, obwohl er derjenige war, der mich beinahe umgerannt hatte.

"Anna", sagte er nur und starrte mich schweigend an. Irritiert zog ich die Augenbrauen in die Höhe und sah ihn fragend an. Er hatte seine Autoschlüssel in der einen, seine Ledertasche in der anderen Hand. Sein dunkler Anzug saß perfekt, genauso wie die Krawatte. Schnell wandte er den Blick ab und starrte nun stattdessen über meine Schulter an mir vorbei.

"Sie sind spät dran", verkündete er sodann, was mich noch mehr verwirrte und mich dazu veranlasste, einen Blick auf meine Armbanduhr zu werden. Ich war sogar sehr pünktlich.

"Entschuldigung", murmelte ich trotzdem und betrachtete seinen Krawattenknoten. Ich kam mir blöde dabei vor, ihm ins Gesicht zu schauen, wenn er sich nicht einmal dazu herblassen konnte oder wollte, mich direkt anzusehen, während er mit mir redete.

"Nun..." Er räusperte sich und betrachtete irgendeinen Punkt auf oder hinter meinem Ohr. "Ich würde nach der Arbeit gerne mit Ihnen reden. Wenn Sie also heute fünf Minuten länger bleiben könnten?"

Ich wurde nervös. Ich wusste ganz genau, worüber er mit mir reden wollte. "Äh, ist es wegen gestern?", wollte ich wissen. "Wegen dem Essen und..."

Er unterbrach mich. "Nein, nein. Darum geht es nicht. "Dann warf er einen hastigen Blick auf sein Handgelenk. "Entschuldigen Sie mich bitte."

Ich ging verunsichert einen Schritt zur Seite und ließ ihn vorbei. Wenn er mit mir nicht über's Essen reden wollten, dann sicher über Simon... oder mein unmögliches Benehmen gestern. Oder über die Tatsache, dass Miss Ashworth mich hier gesehen hatte. Aber so peinlich war ich nicht und ich war immer der Ansicht gewesen, dass niemand sich für mich zu schämen brauchte. Mr. Cooper war ein Idiot, wenn ich ihm wirklich peinlich war. Mein arbeitgebender, geldbringender Idiot. Er hatte mich ja gar nicht erst einstellen müssen, wenn das tatsächlich der Fall sein sollte... Noch bevor ich ins Haus kam, war ich meine gute Laune flöten gegangen und wurde durch eine dunkle Gewitterwolke über meinem Kopf ersetzt.

In der Küche fand ich nur Simon vor, der auf dem Stuhl kippelte und gedankenverloren aus dem Fenster starrte, ein unangetastetes Marmeladenbrot in der Hand.

"Hey Simon", sagte ich und stellte meine Umhängetasche ab. Er erschreckte sich ein wenig und setzte sich sofort ordentlich hin, schien aber erleichtert, dass nur ich es war, die ihn beim Kippeln erwischt hatte. "Wo sind die Mädchen?"

"Ziehen sich um", murmelte er und legte das Brot weg.

Ich betrachtete ihn genauer. Er sah müde und lustlos aus und ganz eindeutig war dieses Marmeladenbrot nicht seine Idee gewesen. Simon aß nie Marmelade. Er stand mehr so auf salziges Zeug, wie Erdnussbutter oder Chips, zur Not auch irgendwelche ungesüßten Cornflakes. Die Mädchen waren da schon anders, sie verzehrten sich nach allem, was auch nur den Anschein erweckte, gezuckert zu sein - ganz schlimm waren diese Schokogetreideflocken, die es in Supermärkten in Hülle und Fülle gab. "Chocoloops" oder "Chocorice" hießen die Dinger meistens, waren kugelnrund und braun und ließen anscheinend Kinderherzen höher schlagen.

Trotzdem konnte ich nicht verstehen, warum Simon hier unten hockte und gewaltsam frühstückte, wenn er doch sowieso einen - gezwungenermaßen - freien Tag hatte.

"Warum bist du schon auf?", wollte ich von ihm wissen, während ich mir Orangensaft in ein Glas einschenkte.

"Dad", erwiderte er bloß, als sei dieses eine Wort die Antwort auf alle Fragen. Und schließlich war es ja genau so.

Ich fragte trotzdem nach. "Dad?"

"Er hat gesagt, ich sollte genau wie die anderen auch aufstehen und den Vormittag über lernen...", murmelte er missmutig und warf mir einen gelangweilten Blick zu.

Aha. Es wohl eines dieser Gespräche gewesen, in der Art von "Mein Sohn, es gibt keinen Grund, auf eine Suspendierung stolz zu sein oder sich auf die faule Haut zu legen" und so weiter. Im Grund alles nur Bestrafung. Der Sklaventreiber!

"Ab mit dir ins Bett", kommandierte ich. "Aber sag deinen Schwestern nichts davon."

Er starrte mich mit großen Augen an. "Aber..."

"Simon. Du hast frei, es ist früh... geh schlafen, oder setz dich mit einer Tüte Chips vor den Fernseher und schau dir das Vormittagsprogramm an. Mach irgendetwas, was normale Jungen in deinem Alter machen, wenn sie die Schule schwänzen. Du wärst mir hier unten doch sowieso nur im Weg." Ich zwinkerte ihm zu.

Er zögerte. "Aber Dad hat gesagt..."

"Ist Dad hier?", unterbrach ich ihn bestimmt. Er schüttelte den Kopf. "Na also. Was Dad nicht weiß, macht Dad nicht heiß." Ich musste über meinen eigenen, blöden Spruch grinsen. Das war Sandra’s, Jamie’s und mein Motto gewesen, als wir noch Kinder waren. Und im Grunde war es doch sowieso das Motto eines jeden Kindes, oder etwa nicht?

Er warf mir noch einen letzten unsicheren Blick zu und ich nickte aufmunternd, also stand er auf und gab zwar vor, gemächlich aus der Küche zu schlendern, jedoch hörte ich ihn daraufhin lautstark die Treppe hinaufpoltern und musste grinsen.

Ich schaute aus dem Fenster, als ich den Tisch abräumte, und stellte fest, dass das Wetter noch immer schön war, wie in der Frühe, als ich meine Wohnung verlassen hatte. Es versprach, ein warmer Tag zu werden, also konnte ich die Mädchen zu Fuß losschicken. Nicky würde zwar wie immer protestieren, aber ich hatte mich schon daran gewöhnt. Wenn sie nicht mindestens 75% meiner Anwesenheit lang an etwas herummäkelte, dann konnte ich mir relativ sicher sein, dass etwas mit ihr nicht stimmte.

Als hätte sie es förmlich gespürt, dass ich über sie nachdachte, betrat sie den Raum.

"Hi Annie", grüßte sie, noch gut gelaunt. Ihre jüngere Schwester trottete hinter ihr her und lugte zu mir herüber.

"Hallo ihr zwei", sagte ich und war froh, dass sie bereits angezogen waren. Die Lunchpakete waren - zu meinem großen Erstaunen - auch schon gepackt. "Fertig?"

"Jepp. Fahr den Wagen vor", forderte Nicky mich auf und grinste. Ich war mir sicher, das hatte sie aus irgendeinem Film aufgeschnappt, wie so ziemlich jeden ihrer frechen Sprüche.

"Heute mal nicht, Nicks" Ich griff nach den Brottüten und reichte sie den beiden, mich am Rande darüber wundernd, wenn sich denn hier die Mühe gemacht hatte, mir meine Arbeit des Brötchenschmierens abzunehmen.

Nicky zog ein langes Gesicht. "Nach den dämlichen Muscheln gestern war mir echt übel, du könntest also ruhig ein bisschen Wiedergutmachung leisten!"

Maddy kicherte und lugte in ihre Papiertüte. Ich ignorierte Nicole's Manipulationsversuche. "Was Gutes drin?", fragte ich an die Kleine gewandt, die mir strahlend zunickte.

"Daddy hat mir Erdnussbutter mit Gelee draufgemacht", verkündete sie so stolz, als sei es ihr eigenes Werk gewesen. Ich wusste zwar, dass Erdnussbutter und Gelee Maddy am besten schmeckte, aber die andere Information irritierte mich sehr.

Ich konnte mir Mr. Cooper bei langem nicht als brotschmierenden Hausmann vorstellen.

Darum bemüht, keine allzu verwunderte Miene zu ziehen, blinzelte ich sie an. "Ach ja?"

Sie nickte. "Ja, er hat es gestern Abend versprochen, als er mir noch vorgelesen hat und er hat es nicht veressen!" Sie war mächtig stolz auf ihren Vater.

Und ich war mächtig erschlagen von der Flut an Infos.

In meinem Kopf erschien ein Bild von Mr. Cooper, wie er abends an Maddy's Bett saß und ihr Märchen vorlas. Das allerdings konnte ich nicht in Einklang bringen mit dem Bild des immer gestressten, mürrischen Mannes, der mehr Zeit im Büro als zu Hause verbrachte.

Hilflos blickte ich Nicky an, als würde sie mir jeden Moment verraten, dass Maddy sich nur über mich lustig machte, doch sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. "Sie schläft sonst nicht ein. Ist halt ein Baby."

Der Seitenhieb saß und Maddy machte ein düsteres Gesicht. "Ich bin kein Baby! Du bist das Baby!", konterte sie, wirklich in dem Glauben, das würde Nicky ein wenig zurechtstutzen. Sie war wirklich allerliebst!

"Buhu. Na, jetzt hast du's mir aber richtig gegeben." Sie verdrehte die Augen und stolzierte an der schmollenden Maddison vorbei zur Garderobe, um sich ihre Jacke zu holen.

"Toll", murmelte Nicky, während sie sich anzog. "Simon hat hier den ganzen Spaß und wir dürfen in der Schule sitzen."

Ich reichte Maddy ihren roten Mantel, den sie so liebte, damit sie hineinschlüpfen konnte. "Simon wird keinen Spaß haben. Er wird zu Hause bleiben und lernen", tröstete ich sie. Sie sollte nicht denken, dass sich Suspendierungen lohnten - obwohl sie es in meinen Augen natürlich taten. Aber ich war in dieser Welt ein ungebildetes, kleines Kindermädchen und wusste ohnehin nichts.

Nicky seufzte. Ich befürchte, sie glaubte mir nichts.
 

Ich hatte natürlich ganz andere Pläne mit dem Jungen. Doch zuerst widmete ich mich der Hausarbeit, wenn auch nur halbherzig. In diesem Männer-Kinder-Haushalt wurde Sauberkeit ohnehin nicht wertgeschätzt und ich bezweifle, ehrlich gesagt, ob überhaupt jemand den Unterschied bemerkte.

Tatsächlich war es den ganzen Vormittag über still und Simon ließ sich nicht blicken - was eigentlich nicht sonderlich verwunderlich war. Wahrscheinlich holte er wirklich den Rest Schlaf nach, der ihm nach dem Aufwachen entgangen war.

Als er kurz nach zehn Uhr doch auftauchte, um sich etwas zu essen zu holen, grinste ich ihn vielsagend an. Simon runzelte verunsichert die Stirn, ahnte wohl schon, dass ich etwas mit ihm vorhatte.

"Mach dich fertig, wir machen einen kleinen Ausflug."

Er war misstrauisch. "Wohin denn?"

"Ach." Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. "In den Supermarkt. Ins Kino."

Mit großen Augen starrte er mich an, schwieg, ganz der folgsame Sohn.

"Die Kinosäle sind schön leer um diese Uhrzeit und du willst doch nicht den ganzen Tag hier rumsitzen? Das ist ungesund." Ich hatte mir das feste Ziel gesetzt, Simon wenigstens ein bisschen näher zu bringen, was "Spaß" bedeutete. Hier, mit so einem Vater und lauter Mädchen um ihn herum – obwohl ich auch eins war, aber ich wusste wenigstens, was cool war -, bekam er wohl nicht soviel davon ab und es wunderte mich kein bisschen, dass er so ein ernster, ruhiger Junge war, der seine Aggressionen dann und wann anderswo herauslassen musste.

"Dad würde so was nie erlauben", flüsterte er, als würde er befürchten, in dem Raum wären Wanzen angebracht und sein Vater bekam alles mit, was hier so Illegales getrieben und geredet wurde.

"Dad muss es ja nicht erfahren", grinste ich, fühlte mich aber gleichzeitig, als würde ich ein Verbrechen begehen. Wenn "Dad" das herauskriegen würde, dann wäre ich dran, aber so was von! Immerhin stellte ich ja hier seine Erziehungsmethoden in Frage, beziehungsweise... setzte sie einfach außer Kraft. Aber er und ich, wir mussten ja nicht immer gleicher Meinung sein, oder? So rechtfertigte ich mich zumindest vor mir selbst. Und Simon würde uns schon nicht verpfeifen, zumindest hoffte ich es.

Dieser haderte noch mit sich selbst und war noch nicht ganz von dieser Idee überzeugt. "Und wenn er fragt...?"

"Dann sagen wir, dass wir einkaufen waren. Da müssen wir sowieso noch hin." Das Alibi war wasserdicht! Zumindest, solange keiner von uns beiden einen Pieps zu Mr. Cooper sagte... Was das wirklich ich gerade, die versuchte, einen zwölfjährigen Jungen dazu zu bringen, seinen eigenen Vater anzulügen? Ich fühlte einen kleinen Anflug von Schuldbewusstsein, schob diesen Gedanken jedoch schnell beiseite.

Dann bemerkte ich Simon's zweifelnden Gesichtsausdruck. "Keine Sorge. Wenn er etwas herausfindet, dann bin ich diejenige, die einen drauf kriegt", beruhigte ich ihn lächelnd. Und es stimmte ja auch - Simon würde nichts passieren. Es beruhigte ihn tatsächlich und dann flackerte kurz so etwas wie selten gesehene Vorfreude in seinen Augen auf, als er mich gespannt ansah.

"Was schauen wir denn?", wollte wieder leise wissen, aus Angst vor den Wanzen.

Ich zuckte mit den Schultern und verkniff mir ein Lächeln. Ich hatte ihn doch noch rumgekriegt und es beruhigte mich zu sehen, dass irgendwo tief unter dieser spaßlosen Fassade doch ein Junge steckte, der gerne Regeln brach und etwas Spaß haben wollte. "Was immer du willst, außer, es ist für Erwachsene." Diese Ansage hätte ich mir auch sparen können. Als würden um elf Uhr vormittags irgendwelche Pornofilme in den Kinos laufen!

Er grinste. "Ich schaue im Internet nach, was läuft!", verkündete er aufgeregt und lief schnell hinaus.
 

In der Tat taute Simon im Laufe des Tages auf. Ich nahm ihn mit in mein Lieblingskino, in der Nähe meines Wohnortes, ein kleines schlechtbesuchtes Kino mit nur zwei Kinosälen, die beide in etwa die Größe meiner Wohnung hatten, was ja schon eine Menge aussagt.

Es war eine eher altmodische Einrichtung und deshalb gefiel es mir dort auch so gut. Die dunkelroten Vorhänge aus schwerem Samt zogen sich, sobald die Lichter ausgingen, automatisch zurück und die Sitze waren kuschelig weich.

Einmal war ich sogar eingeschlafen, mitten im Film, nach einem harten Tag bei der Arbeit. Damals arbeitete ich noch bei Banks & Co., einem kleinen Finanzunternehmen, und hatte am Ende des Tages sogar noch genug Kraft und Zeit, mir einen Kinobesuch zu gönnen. Mittlerweile war das anscheinend nur noch möglich, wenn die Kinder von der Schule flogen und ich mich ihnen rausschleichen musste. Wie traurig war mein Leben doch geworden!

Mit der Ticket- und Popcornverkäuferin des Kino war ich schon per Du. Nicht, weil ich so oft herkam, sondern weil die Kindschaft - nun ja, aus einem nicht gerade sehr großen Kreis von Eingeschworenen bestand. Ich wette, Sandy, also die Popcornfrau, konnte breites Statistiken darüber aufstellen, welcher Kinogast wie oft kam, an welchen Wochentagen und zu welcher Tageszeit. Bestimmt wunderte sie sich, dass ich plötzlich mitten in der Woche, an einem Vormittag, und zusammen mit einem Jungen hier auftauchte, so sah sie zumindest aus, als sie mich aus ihren großen Augen, die unglücklicherweise durch eine nicht gerade schmeichelhafte Brille mehr als nur riesig wirkten, anstarrte.

Simon war die ganze U-Bahnfahrt lang sehr still gewesen und hatte die Leute aus wilden Augen angeschaut. Klar, die meisten von ihnen waren weder reich, noch konnten sie sich wahrscheinlich ein Auto leisten, aber ich fragte mich, ob der Junge überhaupt schon mal mit der U-Bahn gefahren war.

Misstrauisch beäugte er sie alle: Jugendliche, die höchstwahrscheinlich gerade die Schule schwänzten und Igelfrisuren hatten - ja, auch die Mädchen -, schwangere Frauen, alte Omas mit Gehstöcken, Obdachlose, von denen kein besonders wohlriechender Duft ausging, ein paar wenige Businessmänner in Anzügen, die allesamt beschäftigt und wie Mr. Cooper aussahen, kleine Kinder, die jammernd an den Händen ihrer Mütter hingen und den Rest. Der Rest bestand aus solchen Leute wir mir, nicht besonders auffällig, jung, in bequemeren, legeren Klamotten und allesamt mit einem gehetzten Gesichtsausdruck und einem Pappkaffeebecher in der Hand. Vielleicht sogar Studenten.

Wahrscheinlich hatte Simon noch nie so viele "einfache" Menschen auf einem Haufen gesehen und war von dem Anblick schier erschlagen. Ja, da draußen gibt es sie wirklich, die Annas dieser Welt, die nicht in privilegierten Verhältnissen groß werden und auf teure Privatschulen verzichten müssen.

Auch, als wir ausstiegen und eine Weile durch die Gegend liefen, betrachtete der Junge genauestens seine Umgebung. Alte, leerstehende Fabrikgebäude, verkommene Vorgärten, ungepflegte Reihenhäuser, verschmutzte Straße und nirgends ein Park oder eine Grünanlage in der Nähe. New York für das gewöhnliche Volk eben. Wenn man zu der oberen Schicht gehörte, sah es nicht so aus, natürlich nicht, aber hier lebte ich - ein gewöhnlicher Mensch in einem gewöhnlichen Stadtteil für gewöhnliche Leute.

Wenn ich das alles so mit Simon's Augen betrachtete, war es wirklich ein trostloses Plätzchen. Aber seine Augen sahen nicht alles und ich kannte zum Glück auch die schönen Seiten dieser Gegend. Zumindest brachte es einige Vorteile, und wenn man sich auskannte, war es gar nicht mal so übel. Immerhin war es immer schön ruhig und niemand randalierte, die Miete war vergleichsweise günstig und die vielen kleinen Läden hatten Persönlichkeit und - ja, sie waren auch günstig!
 

Wir sahen uns irgendeinen Animationsfilm mit sprechenden, chaotischen Tieren aus dem Weltall an, der ganz lustig war, und wie ich vorhergesagt hatte, waren wir beide – mal abgesehen von den zwei knutschenden Teenagern in der dunkelsten Ecke des Saals - die einzigen Besucher an diesem Vormittag, was eigentlich wenig verwunderlich war.

Im Supermarkt um die Ecke kauften wir ein wenig ein, nur das nötigste für das Abendessen. Mr. Cooper hatte mir zwar zu Anfang gesagt, das sich ihm Einkaufszettel schreiben könnte, wenn ich etwas für den heimischen Kühlschrank anschaffen wollte, aber das hatte ich mich bis jetzt noch nie getraut. Stattdessen versuchte ich immer, etwas aus den bestehenden Zutaten zu zaubern und da die Coopers genug davon vorrätig hatten, war ich noch nie in Bedrängnis gekommen. Ich musste ja auch kaum kochen, mal abgesehen für das Abendessen. Die erste Zeit war ich immer furchtbar nervös gewesen, da Mr. Cooper auch aß, was ich kredenzte, aber er hatte sich nie beschwert, also sah ich keinen Grund dazu, etwas härtere Geschütze aufzufahren. Vorerst würde es also bei Spaghetti, Kartoffelbrei und Reis bleiben, natürlich alles mit gesundem Gemüse und ein wenig Fleisch, der Kinder wegen. Ich hasste Gemüse, aber ich musste es ja auch nicht essen. Die Kinder hassten es übrigens auch.
 

Wir waren erst am Nachmittag wieder zu Hause, und da dauerte es auch nicht mehr lange, bis die Mädels aus der Schule kamen. Mit Simon, der sich jetzt nach oben verzogen hatte, um freiwillig ein bisschen für die Schule zu arbeiten, hatte ich nicht darüber reden können, deshalb kam mir Nicky jetzt ganz gelegen, als sie sich, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester, zu mir ins Wohnzimmer setzte, während ich mir beim Bügeln eine spanische Telenovela anschaute. Nicht, dass ich so etwas mochte, aber irgendwie musste man sich ja die Zeit vertreiben und diese höchst melodramatischen Ereignissen, die den Figuren da zustießen, lenkten mich einigermaßen von meinem trostlosen Kindermädchendasein ab.

"Wie war es gestern?", fragte ich neugierig und stellte den Ton des Fernsehers leiser, damit mir auch ja keine pikanten Details entgingen.

Nicky sah so aus, als schien sie nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben. "Schreeeeckliich!", verkündete sie mit genervter Miene. "Ich wäre lieber mit dir zu deiner Pizza mitgegangen, anstatt mir einen so langweiligen Abend anzutun."

Maddy schaute ratlos von Nicky zu mir und wieder zurück, kletterte dann auf das Sofa und hockte sich im Schneidersitz hin. "Daddy hat gesagt, Nicky war sehr unhöflich", informierte sie mich ernst und warf ihrer Schwester einen vorwurfsvollen Blick zu. "Er hat mir ihr geschimpft, das hab ich gehört."

Nicky schnaubte. "Dad hat keine Ahnung. Diese verklemmte Tussi aus der Park Avenue glaubt, sie könnte sich hier alles unter den Nagel reißen, aber nicht mit mir!", rief sie entschlossen aus, die Hände zu Fäusten geballt. Ich hatte Mühe, mir das Kichern zu verkneifen ob ihrer kindlichen Entschiedenheit.

"Ich glaube", versuchte ich sie zu besänftigen, "sie wollte euch nur mal kennenlernen."

"Du bist genauso blauäugig wie Dad, Annie. Ich hätte von dir erwartet, dass du dieser Sache mehr Aufmerksamkeit entgegenbringst." Verächtlich starrte sie mich an.

"Bitte?"

"Ja." Nicky lächelte unheilvoll. "Wenn hier eine Frau ins Haus kommt, dann wirst du nicht mehr gebraucht. Und dann bist du arbeitslos. Das ist dir doch klar, oder?"

Maddy machte große Augen. "Annie, musst du dann gehen?", fragte sie verzweifelt und legte mit vorgeschobener Unterlippe den Kopf schief, was mir fast das Herz brach.

"Nein, nein, Schätzchen. Deine Schwester hat nur eine lebhafte Fantasie, weißt du." Ich zwang mich zu einem Lächeln. "Noch bleibe ich für eine Weile hier." Hoffte ich zumindest... "Außerdem", fügte ich hinzu, obwohl ich mit Nicks eigentlich nicht darüber diskutieren wollte, "hat Miss Ashworth bestimmt einen Job und überhaupt keine Zeit, den ganzen Tag auf euch aufzupassen." Und bestimmt auch nicht die Nerven dafür...

Nicky grinste, was nichts Gutes hieß. "In welcher Welt lebst du eigentlich, Anna? Park Avenue-Frauen haben keine Jobs. Sie sind einfach nur reich und leiten irgendwelche Wohltätigkeitsorganisationen und lassen ihre Hunde in Limousinen spazieren fahren und süffeln den ganzen Tag Cocktails. Das steht alles in der Vogue. Liest du denn keine Zeitung?"

Die Vogue oder andere Tratschblättchen als Zeitungen zu bezeichnen... nun ja, sie war eben erst vierzehn. In Büchern hatte ich von solchen Frauen gelesen, aber dass mir gestern Abend tatsächlich einen von denen über den Weg gelaufen sein sollte? Obwohl... ihr Chauffeur und die schwarze Limo vor dem Haus sprachen eine ganz andere Sprache... Vielleicht hatte Nicky doch Recht. Sie war zwar schrecklich rechthaberisch und altklug, aber auch ziemlich clever und stets auf dem neuesten Stand.

Maddy kicherte leise, als erinnerte sie sich an etwas Lustiges aus der Vergangenheit. "Nicky hat Miss Ashworth gestern gefragt, wo sie arbeitet."

Ich horchte interessiert auf. "Und?"

"Sie hat fast vor Schreck ihr Glas fallen lassen", erwiderte Nicole trocken und verdrehte die Augen. "Und dann hat sie doch tatsächlich gesagt, dass Frauen nicht arbeiten."

Wir starrten und einen Moment lang schweigend an, keiner verzog eine Miene. War es wirklich das, was solch privilegierten Kindern beigebracht wurde? Das konnte doch nicht wahr sein!

"Und was denkst du darüber?", hakte ich vorsichtig nach. Ich durfte jetzt in kein Fettnäpfchen treten und entschieden meinen Standpunkt verteidigen, sonst würde das noch an den Oberboss weitergetragen werden und ich konnte Goodbye sagen zu meinen drei kleinen Blagen.

"Wenn ich groß bin, werde ich auf jeden Fall arbeiten gehen", erklärte Nicky mir ernst. "Wenn man etwas will, dann muss man auch etwas dafür tun, sagt Dad immer. Und ich werde Journalistin."

Interessant, welche Ansichten Dad so hatte... Ich hätte eher gedacht, er war einer dieser konservativen Männer, die nur eine Nanny einstellten und sich nie bei ihren Kindern blicken ließen, genauso spießig und ätzend wie die ganzen anderen reichen Mistkerle. Aber anscheinend versuchte er auch noch, seinen Kindern ein bisschen Realitätssinn zu vermitteln.

"Daddy hat auch gesagt", mischte sich Maddison nun auch mit ins Gespräch ein, "dass Mummy deshalb gegangen ist, weil sie nicht gearbeitet hat."

Meine Ohren spitzten sich wie von selbst und mein Blick heftete sich auf die kleine Maddy, die ganz arglos da saß und gar nicht wusste, dass sie soeben etwas Hochexplosives von sich gegeben hatte. Nicky senkte den Kopf und schien auf einmal ganz befangen. So kannte ich sie gar nicht, aber es wunderte mich nur am Rande, da ich so überrascht von Maddy's Ansage war. Noch nie zuvor hatte irgendjemand aus diesem Haushalt die Mutter der Kinder erwähnt, was mich verständlicherweise immer neugieriger gemacht hatte. Und natürlich würde ich niemals danach fragen, also war das hier fast schon eine Sensation.

"Eure... Mutter?", stammelte ich überwältigt.

Die Kleine nickte. "Daddy hat mir gesagt, dass sie sich gelangweilt hat und-"

"Halt die Klappe, Maddy!", schrie Nicky erregt und starrte ihre Schwester mit wutverzerrtem Gesicht an. "Das interessiert Anna doch überhaupt nicht! Das interessiert überhaupt keinen!"

"Aber...", wimmerte Maddy, die es mit der Angst ob des plötzlichen Ausbruchs ihrer Schwester bekommen hatte.

"Schon gut", unterbrach ich sie lächelnd. Anscheinend hatte sie eben einen wunden Punkt bei Nicky getroffen, obwohl ich nicht wusste, was genau dieser Punkt war. Nur, dass es mit ihrer Mutter zu tun hatte. "Willst du nicht nach oben gehen und Hausaufgaben machen? Wenn du Schwierigkeiten hast, helfe ich dir, okay?"

Zögernd rutschte sie von der Sofakante und warf ihrer grimmigen Schwester einen unsicheren Blick zu. "Na gut...", murmelte sie nicht gerade überzeugt und trollte sich aus dem Zimmer, sehr wohl in dem Bewusstsein, dass gerade etwas schrecklich schief gelaufen war und erst mal geklärt werden musste.

Ich trat zu Nicky heran, die sich dem Fernseher zugewandt hatte und meine Telenovela wegschaltete. Einige Sekunden lang zappte sie lieblos durch die Sender, bis sie, wieder angekommen bei meiner Soap, die Fernbedienung sinken ließ.

"Nicky? Alles okay?", wollte ich besorgt wissen, aber sie schien sich wieder gefangen zu haben und nickte nachdrücklich.

"Maddy erzählt manchmal so einen Schwachsinn", erklärte sie mir abfällig. "Hör einfach nicht auf sie."

Ich nickte verwirrt und versuchte, erfolglos durch ihre Fassade hindurchzublicken, aber sie gab sich keinerlei Blöße und mein supermanmäßiger Röntgenblick schien nicht zu funktionieren. Was war da nur im Busch? War die Mutter der drei wirklich abgehauen? Aus Langeweile? Und wieso erzählt Mr. Cooper seiner kleinsten Tochter so etwas? Ich verstand es einfach nicht.

"Wart ihr echt im Kino?", unterbrach Nicky meine Gedanken und schaute mich ein wenig neidisch an. Abermals nickte ich, nicht ganz bei der Sache, doch dann besann ich mich eines Besseren.

"Aber sag nichts deinem Vater..." Herrje, wie armselig klang das denn? Erst der Junge, und nun bat ich auch noch seine Schwester, ihren Vater anzulügen! Ich war das Allerletzte. Zumindest jetzt gerade im Moment. "Bitte", fügte ich unglücklicherweise noch unterwürfig hinzu.

Nicky zuckte nur gleichmütig mit den Schultern. Ich hatte nicht erwartet, dass sie so gelassen reagiert, allerdings schien auch sie ein wenig geistesabwesend zu sein. "Klar, ich weiß schon. Dad ist nicht so der spaßige Typ, was?"

Ich grinste verlegen, unfähig, mit meiner Meinung über ihn hinter dem Berg zu halten. "Ich... ja, gut möglich", druckste ich herum. Sie war schließlich seine Tochter und liebte ihn nichtsdestotrotz. Egal, was für ein Langweiler er auch war.

"Dafür bist du ja hier", seufzte sie, nicht, weil sie genervt von mir war, sondern vor Erschöpfung. Sie sah auch plötzlich ganz müde aus. "Ich glaub, ich geh hoch, bevor Nate rüberkommt. Er hat das neue Gameboy-Spiel bekommen und will es mir zeigen." Sie sagte mir noch den Namen des Spiels, aber ich hörte nicht recht hin, obwohl sich irgendwie tief in meinem Inneren eine kleine Stimme meldete - eine wirklich sehr, sehr leise Stimme, die kaum zu hören war -, dass ich als verantwortungsvoller Erwachsener zumindest die Altersfreigabe des Spiel kontrollieren sollte. Aber ich war heute mit einem zwölfjährigen, von der Schule suspendierten Jungen, durch Brooklyn gezogen und hatte ihn illegalerweise zum Kino verführt, also wo bitteschön war die pflichtbewusste Erwachsene, die ich so dringend sein müsste?
 

Den Rest des Tages verbrachte ich abwechselnd mit bügeln - unfassbar, wie viele Klamotten diese Kinder hatten! - und darüber nachzudenken, worüber Mr. Cooper wohl am Abend mit mir sprechen wollte. Gut, ich muss zugeben, die meiste Zeit über tat ich beides gleichzeitig. Ich war mir sicher, er wollte mir Vorhaltungen machen über Nicky, die anscheinend viel zu unfreundlich zu Miss Ashworth gewesen war, oder aber über ihr plötzliches Verschwinden und dass ich zu nachlässig mit ihr war, was das Aufpassen anging. Was auch immer es war, er würde mir jedenfalls keinen Orden für das weltbeste Kindermädchen der Welt überreichen und mir eine Gehaltserhöhung zugestehen. Und, wie wir alle wissen, "Wir müssen reden" oder "Ich muss mit Ihnen reden" und ähnliches, waren, egal in welcher Sprache auch immer, immer ein Zeichen dafür, dass darauf etwas Negatives folgte.

Je länger ich wartete, je später es wurde, desto nervöser wurde ich. Ich spielte die Gespräche, wie sie möglicherweise stattfinden könnten, in meinem Kopf ein paar Mal ab, sah dabei aber immer nur den grimmigen, schlechtgelaunten Mr. Cooper, der mich nicht allzu freundlich auf meine ganzen Verfehlungen aufmerksam machte und mich im Nachhinein feuerte. So spielte es sich immer ab. Ich wusste nicht, warum er so eine Wirkung auf mich hatte, und ein rationaler Teil von mir wusste auch, dass er mir nichts abhaben konnte, aber seine Strenge und seine Ernsthaftigkeit schüchterten mich immer wieder ein. Und je mehr ich mich in das Ganze hineinsteigerte, desto schlimmer wurde es. Zudem war mir seine Anwesenheit immer stets unangenehm. Ich wusste nie, was ich sagen sollte oder durfte, und auch er schwieg eisern, was das Ganze noch viel, viel unangenehmer machte. Im Klartext: ein sehr unangenehmer Mann! Wie hielt es diese Miss Ashworth nur mit ihm aus? Wenn deren Beziehung nur aus Schweigen und schlecht-gelaunt-sein bestand, würde mich das kaum wundern!

Die Minuten gingen dahin, irgendwann kam Nate vorbei und ich hörte ihn und Nicky in der Küche um das Gameboy-Spiel streiten, danach verlagerten sie ihren Aufenthaltsort zu mir ins Wohnzimmer. Ich räumte die Bügelsachen und die frischen Kleider weg, Simon kam auch herunter, gefolgt von Maddy. Nate versuchte, Simon zum Baseball zu überreden, Nicky war strikt dagegen und machte sich ein wenig über ihren Bruder lustig - keine Sportskanone und so -, Maddy hingegen, sich in jedes Gespräch einmischend, war hellauf begeistert von der Aussicht, einmal mitspielen zu dürfen, doch in dieser Hinsicht waren Nate und Nicky eine geeinte Front und lehnten die Kleine entschieden ab. Ich hörte mir das Geplänkel zwischen den Kindern an und musste hier und da kurz einschreiten - beispielsweise, als Nicky gerade im Begriff war, ihren Bruder als Versager zu betiteln -, doch alles in einem war ich froh, dass die drei sich zumindest hin und wieder wie normale Kinder verhielten, aufgeweckt und sich neckend, aber trotzdem im sozialen Kontakt miteinander.
 

Doch das Grauen kam.

Ich sah durch die halboffene Tür ganz genau, wie er seine Tasche abstellte, die Schuhe abstreifte und sein Jackett an den Haken hängte. Und ich war extrem nervös. Was wollte er von mir? Was wollte er mir sagen? Doch nicht etwa, dass ich meinen Job los war, oder?

Etwas verloren stand ich zwischen Wohnzimmer und Diele, während die Kinder auf dem Sofa herumlümmelten und sich um die Fernbedienung stritten. Maddy wollte sich einen Disney-Zeichentrick anschauen, Simon die Ninja Turtles und Nicole, ganz die erwachsene, reife Schwester, zog es zu einer Quizsendung, zu der ihr, glaube ich, Nathan geraten hatte, als er vorhin da war. Aber es gab nur einen Fernseher und das Gezeter war groß.

Ich achtete gar nicht auf die Drei, sondern war ganz in meine eigenen Gedanken versunken. "Was möchte er wohl mit mir besprechen?", fragte ich abwesend murmelnd, redete eher mit mir selbst, aber Simon war so gütig, mir trotzdem zu antworten: "Nicky hat ihm heute morgen erzählt, dass du auf ihn stehst." Er sagte es so ruhig und desinteressiert, dass ich anfangs Probleme hatte, den einschlägigen Inhalt seiner Aussage herauszufiltern.

Sprachlos starrte ich ihn an - und dann Nicky, die meinem Blick auswich und somit bestätigte, dass Simon die Wahrheit sagte. "Was?", krähte ich verzweifelt und stellte mich zwischen die Couch und den Fernseher, meine volle Aufmerksamkeit auf Nicky gerichtet. "Du hast WAS getan?"

Sie sah mich entschuldigend an. "Mir blieb keine andere Wahl", verteidigte sie sich kleinlaut. Sie glaubte doch selbst nicht an das, was sie da sagte?! Mit offenem Mund wartete ich auf weitere Erklärungen. "Gestern Abend war eine Katastrophe... diese doofe Frau..." Sie flüsterte, damit ihr Vater es nicht hören konnte. "Sie ist so... langweilig. Also habe ich ihm gesagt, dass er sich nicht mehr mit ihr treffen darf." Sie hielt inne und sah mich an, als erklärte das bereits alles. Ich hob ungeduldig beide Augenbrauen und signalisierte ihr, dass dem nicht so sei. "Und er wollte wissen, warum", fuhr sie also fort und klang ganz so, als hätte sie nicht mit dieser Frage gerechnet. "Da hab ich eben gesagt, dass du auf ihn stehst. Tut mir leid, Anna", bat sie flehend.

Mir blieb die Luft weg. Dieses Mädchen hatte meinem griesgrämigen, mürrischen, furchteinflößenden, wortkargen CHEF erzählt, dass ich ihn mochte! Ich war geliefert. Ich war so was von tot. Ich wurde ganz bleich und konnte mich plötzlich mehr von der Stelle rühren...

Aber ich musste.

"Anna? Schön, dass Sie noch da sind." Mr. Cooper betrat das Wohnzimmer und ließ seinen Blick über seine Kinder gleiten. Nicky, die Verräterin, kicherte schadenfroh und Simon vermied jeglichen Blickkontakt, als fürchtete er, es stand ihm auf der Stirn geschrieben, dass er den Tag über etwas Unerlaubtes getan hatte. Nur Maddy strahlte ihn fröhlich an.

"Daddy, heute gibt es Schokopudding zum Nachtisch!", verkündete sie aufgeregt und er rang sich ein kurzes Lächeln ab, das ihn fast menschlich erscheinen ließ. Ein ganz kurzes Lächeln, aber ich sah es trotzdem. Ich fühle mich, als hätte ich etwas Verbotenes gesehen.

"Das ist schön." Er wandte sich mir zu und ich konnte praktisch hören, was er denken musste: "Mein Kindermädchen ist in mich verliebt." Oh mein Gott!! Ich war eine wirklich bemitleidenswerte Kreatur!

Mit eingezogenem Schwanz und hängendem Kopf trottete ich hinter meinem Boss her in den Flur und positionierte mich möglichst nah an der Haustür, um im Falle eines Falles schnell verschwinden zu können. Das hier würde peinlich werden!

Er räusperte sich und sah mich kein einziges Mal an. Anscheinend war ihm das Ganze genauso unangenehm wie mir.

"Also, Anna... Sie wissen, dass Sie eine wertvolle Bereicherung unseres Lebens sind... äh..." Ein Räuspern. "Für die Kinder, meine ich natürlich. Und... ich weiß, ich bin nicht besonders gut darin, aber... Ich möchte wirklich nicht, äh, undankbar erscheinen und ihre Gefühle verletzen, aber..."

Oh Gott, das war das Peinlichste, was mir je im Leben passiert ist! Er wand sich, ich wand mich, und ich wusste nicht recht, wer von uns beiden lieber im Erdboden versinken wollte. Und dann versuchte er auch noch, so höflich zu sein. Lächerlich, aber höflich. Unfassbar...

Mr. Cooper schien sich einigermaßen wieder zusammenzureißen und probierte jetzt, in ganzen Sätzen zu sprechen. "Tatsache ist doch, dass ich zu alt für Sie bin, Anna. Ich könnte theoretisch ihr Vater sein!"

Er errötete ein wenig, was ich kaum wahrnahm, da ich vollkommen fasziniert von seiner Taktik war. So fasziniert, dass ich ganz vergaß, diese ganze unglückselige Sache abzustreiten. Stattdessen überschlug ich kurz die Zahlen in meinem Kopf. Er war 35, soweit ich wusste. "Dann müssten Sie ja schon mit zehn Jahren Vater geworden sein", bemerkte ich verwundert und, ich muss zugeben, auch etwas belustigt.

Doch Mr. Cooper blieb ganz ernst, was für ihn sicherlich kein allzu großes Kunststück war. Der Mann wurde ernst geboren! Bestimmt hatte sich sogar schon der zuständige Arzt von seiner natürlichen Autorität einschüchtern lassen. "Sie wissen, wie ich das meine", sagte er streng und ich fühlte mich wieder wie ein kleines Kind, das unangemessene Witze in einer unpassenden Situation machte.

"Ja, Sir", sagte ich unterwürfig und senkte den Blick. Dieser Mann machte mich psychisch einfach fertig.

"Jack", korrigierte er mich, wie immer.

"Jack", wiederholte ich, wie immer, etwas widerwillig. Es wurde Zeit, diesem Spektakel ein Ende zu bereiten und uns beide zu erlösen. "Hören Sie, das ist alles ein großes Missverständnis."

"Was?"

Ich hoffte nur, ich hörte mich nicht an wie jemand, der die offensichtliche Wahrheit aus Verzweiflung abstritt. Obwohl das ja nun wirklich nicht die offensichtliche Wahrheit, sondern eine glatte, dreiste Lüge war. "Das, was Nicky gesagt hat. Ich habe nie behauptet, dass... ich meine... Sie wissen schon." Ich musste schlucken und wurde von Wort zu Wort nervöser. "Nicht, dass sie kein attraktiver Mann wären", versuchte ich schnell, ihn zu besänftigen, falls er sich irgendwie angegriffen oder zurückgewiesen fühlen sollte, "oder nicht begehrenswert. Das sind Sie sogar sehr... ääh..." Das passierte mir immer. Ich redete mich immer weiter in die Bredouille hinein, wenn ich so durcheinander war. "Ich meine...", stotterte ich, ohne Hoffnung auf Besserung. Herrje, jetzt hatte ich es echt versiebt.

Mr. Cooper, der so freundlich war - haha - mich nicht zu unterbrechen und mir die ganze Zeit über geduldig und aufmerksam zugehörte hatte, kratzte sich kurz unbehaglich am Nacken - eine Geste, die mir total neu war. "Aha. Ich verstehe schon." Er klang irgendwie... abweisend? Ach was! So klang er doch immer!

Ich ließ schuldbewusst den Kopf hängen. "Es tut mir leid." Was genau mir leidtat, oder mir leidtun sollte, wusste ich nicht, aber ich fühlte mich verantwortlich. Ich fühlte mich, als hätte ich gerade meinem Chef einen Korb gegeben! Wie konnte das sein? Wieso war ich in dieser vermaledeiten Situation?

"Nein, mir tut es leid. Ich habe Sie in Verlegenheit gebracht", gab er zu, doch sein Gesichtsausdruck, der zur Abwechslung mal etwas anderes zeigte als absolute Starrheit, sagte noch viel mehr: Und dass ich aus mir einen totalen Vollidioten gemacht habe.

Ich lachte nervös und winkte ab. "Schon gut, passiert mir ständig."

Passiert mir ständig?? Was zum...? Ich musste dringend hier raus.

"Sie... ich meine... macht es Ihnen etwas aus, wenn ich...? Ich muss... nach Hause", würgte ich hervor, ganz ohnmächtig in seiner Anwesenheit.

"Ja... ich meine, nein. Natürlich, gehen Sie. Ich habe Sie schon lange genug aufgehalten."

Ich schluckte. Warum starrte er mich immer noch so an? "Danke..."

"Und ich werde Nicole natürlich sagen, dass sie solche... Märchen nicht einfach so erzählen darf. Nochmals Entschuldigung."

"Tja, schon gut...", murmelte ich und schnappte mir meine Jacke und meine Tasche, die an der Garderobe hingen, vermied den Blickkontakt mit Mr. Cooper, der immer noch leicht unschlüssig im Weg herumstand. "Auf Wiedersehen."

Er nickte. "Bis morgen dann."

Uff! Endlich! Morgen würde Nicky dran glauben müssen!

Erst, als ich draußen an der frischen Luft war, musste ich unwillkürlich grinsen, während mein Kopf immer noch hochrot war und dampfte wie der Kochtopf eines Fünf-Sterne-Kochs. Hatte dieser Mann, mal abgesehen davon, dass er uns beide total blamiert hatte, etwa tatsächlich zugegeben, dass ich eine "Bereicherung" für seine Familie war? Das musste ich mir erst mal langsam auf der Zunge zergehen lassen...



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  RaMonstra
2009-06-06T21:35:06+00:00 06.06.2009 23:35
Ich muss immer noch grinsen bei dieser Peinlichkeit, die den beiden passiert ist.
Mir fällt immer nix ein, was ich in einem Kommantar schreiben soll, außer, dass es mir gefallen hat.
Ich bin ein Fan deiner Geschichten.

lg
Von:  P-Chi
2009-06-05T16:35:54+00:00 05.06.2009 18:35
Huiii, das war ja mal wieder ein endgeiles Kapi!
Besonders der Schluss!! Zum totlachen!!! xDDDDDDDD *schnatter*
Nuun~ ich hab drei fehler entdeckt, aber ic hab vergessen wo...sorry. ^^'
*kicher*
Ui war das peinlich...für beide Beteiligten xDD
Nicole wird mir immer sympathischer x33
Ich frag mich ob die Clementine wirklich so eine Avenue-tussi ist...?
Hm, aber ich denke mir mal ein Feiertag oder so würde sich gut in die Story einbauen lassen... Ein Geburstag eines der Kinder oder so...das wäre echt supa xDD (aber ich will der nichts vorschreiben)
Hoffentlich wird Simon nicht so verkorkst wie sein Vater...das wäre schrecklich...o_o
Nun denn, fröhliches Schreiben noch^^


Lg Angels *knuffz*




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