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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

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Lyriens Fall

Obwohl der Schatten über dem Land dunkler wurde denn je, als der nächste Winter kam, wurde es ruhig im Schloss der Lyras. Die Jüngeren hatten befürchtet, jetzt alle paar Tage einen Mordversuch von Kelar an seiner Frau aufhalten zu müssen, aber er hatte sein Scheitern scheinbar eingesehen und seit dem Fehlschlag am Fahnenmast nichts weiter versucht. Die beiden lebten in getrennten Welten, so schien es. Sie gingen sich gezielt aus dem Weg und teilten sich nur nachts noch immer das Schlafzimmer oder gar das Bett. Kelar war tagsüber oft außer Haus, entweder wegen seiner Politik in der Provinz unterwegs oder auf der Jagd; offenbar hatte er das Gefühl, sich an arglosen Tieren abreagieren zu müssen, indem er mit seinem Speer nach ihnen warf. Im Mond der Stürme hatte die Familie wenigstens dank seines neuen alten Hobbys mehr als genug Wild zu essen und Tabari hatte kaum zu tun; normalerweise war er für die Jagd zuständig, weil der Vater ja als Herrscher genug um die Ohren hatte.

Dafür hatte der Blonde jetzt mehr Zeit, sich um seinen kleinen Sohn zu kümmern. Puran war im Holzmond fünf geworden und jetzt war es an der Zeit, langsam damit zu beginnen, ihn mit dem Grundwissen über das Jagen vertraut zu machen. In Dokahsan war ein Mann, der nicht jagen konnte, kein echter Mann, es war unwürdig. Seit alters her war es Aufgabe der Männer, ihre Frauen und Kinder mit Nahrung zu versorgen. Die Frauen bereiteten Essen und erzogen die Kinder, dafür wurden sie von ihrem Mann beschützt und verpflegt. Wenn ein Mann nicht jagen konnte, konnte er keine Familie ernähren und war deshalb unfähig. Das war wie ein Schaf, das keine Wolle trug. Daher wurden alle Söhne von ihren Vätern unterrichtet, am besten so früh wie möglich.

Puran war ein aufmerksamer Zuhörer. Er sagte nichts, wenn sein Vater mit ihm über das Fleisch redete, das sie aßen, welche Teile am besten und wertvollsten für die Menschen waren und was man mit dem erlegten Tier machen konnte.

„Die Tiere gehören Mutter Erde, sie sind ihre Kinder, so wie die Geister Vater Himmels Kinder sind. Wenn wir ein Tier erlegen, dann nehmen wir Mutter Erde etwas weg, deswegen beten wir zu ihr und danken ihr für das Opfer. Wir Menschen sind auch Mutter Erdes Kinder.

„Und alle Kinder essen sich gegenseitig auf?“ fragte Puran, als der Vater eine Pause machte und offenbar darauf wartete, dass er etwas sagte.

„Es ist in Ordnung, aber nur, wenn wir nicht übertreiben. Mutter Erde wird zornig, wenn wir mehr jagen, als nötig ist. Wir dürfen nur so viel erlegen, wie wir verwerten können, und nicht nur das Beste herausschneiden und den Rest verschwenden. Das beleidigt die Lebensgeister des Tieres und sie werden kommen und uns verfolgen, bis wir bestraft sind. Wenn wir ein Tier erlegen, müssen wir alles von ihm verwenden, nicht nur das Fleisch, auch die Haut und das Fell sind nützlich, die Knochen, sogar die Sehnen.“

„Das ist ja toll!“ staunte das Kind begeistert und klatschte in die Hände. Tabari tätschelte seinem Sohn zufrieden den Kopf.

„Allerdings. Du wirst bald lernen, was man woraus machen kann, mein Sohn. Und wenn du älter bist, zeige ich dir, wie es funktioniert.“

„Hurra!“ machte der Kleine klatschend, „Das ist sehr toll von dir, Vati!“
 

Während Kelar sich mit dem Wild auseinandersetzte und Tabari seinen Sohn erzog, verkroch Salihah sich schweigend in ihren Seelenmagiebüchern. Wenn man sie fragte, wonach sie eigentlich darin suchte, antwortete sie nicht, sie saß nur tagein, tagaus in der Stube oder in einem der kleineren Zimmer oben und studierte.

So lebten sie schweigend vor sich hin, während die Misere im Land sich verschlimmerte. Am Mittwintertag war das Wild in Dokahsan verschwunden. Selbst Kelar, der sonst sehr geschickt im jagen war, kam am Ende des Wintermondes jeden Tag mit leeren Händen heim.

„Das ist übel,“ kommentierte Tabari das, „Die Herden sind weggezogen, wir können nur hoffen, dass sie im Frühling zurückkehren! Wir müssen sparsamer sein mit den eingelegten Vorräten.“

„Ach, Vorräte!“ schnaubte der Vater, der vor ihm auf und ab schritt und ihn wütend musterte, „Diese Bauern aus den Dörfern fressen uns die Haare vom Kopf!“

„Wie bitte?“ erwiderte Tabari verblüfft und glaubte, sich verhört zu haben.

„Diese Barbaren, die hier vor sich hin wohnen, die haben ein Dutzend Bälger und die fressen unser Fleisch auf!“

„Als ich das letzte Mal durch den Süden von Vikhara gereist bin, waren die Menschen in den Dörfern am Verhungern!“ platzte der Sohn heraus, „Nein, die waren das sicherlich nicht! Aber du hast letzten Mond ganz schön viel hier angeschleppt, Vater, von dem, was wir im Keller haben, könnte ein ganzes Dorf versorgt werden!“ Kelar sah ihn funkelnd an.

„Willst du etwa unser gepökeltes Fleisch an diese Ratten und Würmer verschwenden? Die verdienen das Leben nicht, tse! Wir brauchen die Vorräte jetzt ja, wie du siehst, ich habe vorausschauend gehandelt!“

„Das war zu viel auf einmal, deswegen sind jetzt keine Herden mehr übrig! Mutter Erde ist zornig, Vater, vielleicht verzeiht sie uns, wenn wir den anderen etwas abge-…“ Kelar schlug ihm ins Gesicht und der Jüngere taumelte keuchend rückwärts. In seinem Mund begann etwas zu bluten und er spuckte hustend auf den Boden.

„Wie kannst du es wagen?!“ schrie der Herr der Geister, „Fleisch für die Maden! Du bist es, der Mutter Erdes Zorn weckt, Tabari!“

In dem Moment kam Nalani aus der Stube, weil sie das Gezeter in der Halle gehört hatte. Die Männer sahen zu ihr hin und während Tabari sich keuchend die Lippen hielt und den Kopf wegdrehte sah Kelar sie eiskalt an. „Ich werde sie büßen lassen für ihren Frevel, diese Narren,“ zischte der Herr der Geister und wusste dabei selbst nicht, ob er es Nalani, Tabari oder sich selbst sagte. „Sie werden sehen, was geschieht, wenn sie Mutter Erde erzürnen.“ Er wollte sich gerade abdrehen, da kam Nalani hinterher aus der Stube der kleine Puran gelaufen. Als er den Großvater erblickte, erstarrte er zunächst und beeilte sich dann, sich hinter Nalani zu verstecken und sich an ihren Rock zu klammern.

„Was ist hier eigentlich los?“ fragte die Frau unwirsch und sah dabei Tabari und Kelar abwechselnd an. Der Schwiegervater hatte nur Augen für seinen kleinen Enkel und lächelte jetzt wohlwollend, bis Nalani seinen Blick ebenfalls fing und sich etwas mehr vor das Kind schob. Kelars wohlwollender Blick war falsch, sie wollte gar nicht wissen, was er mit ihrem Kind vorhatte; es war nichts Gutes, das sagten ihr ihre Instinkte. „Was starrst du so, Kelar?“ fragte sie kalt, „Willst du meinem Jungen die Seele aussaugen?“

„Nicht doch, Wachtel,“ lachte er amüsiert, „Wie könnte ich meinem Enkelchen etwas tun?“

„Wolf im Schafspelz,“ grummelte Tabari verhalten und war froh, dass ihn offenbar keiner gehört hatte, denn er wurde gekonnt ignoriert.

Nalani sparte sich einen Kommentar. Vor dem Kleinen wollte sie keinen Streit vom Zaun brechen, er war ohnehin verängstigt genug.

„Hüte dich,“ sagte sie deswegen nur leise, ehe sie Kelar grimmig ins Gesicht starrte, bevor sie sich abdrehte und mit dem Kind die Halle in Richtung Stube verließ.
 

Mit dem Neujahr kam der Frost über das Land. Das Volk hungerte, Kelar war das egal. War die Bevölkerung in den letzten Jahren trotz der massigen Hinrichtungen gewachsen, so schrumpfte sie jetzt wieder enorm. Der Himmel hing dunkel und böse grollend über Dokahsan und die Erde war erfüllt von unruhiger Spannung, als müsste sie jeden Moment aufplatzen und ihr schwarzes Erdblut über das Land ergießen. Oder über die Menschen, die sie erzürnten.

Während Kelar dem Schrumpfen der Bevölkerung weiterhin nachhalf – dann wären weniger Leute da, die ihm die Haare vom Kopf fräßen – überließ er seinem Sohn wieder die Jagd, obwohl die alles andere als erfolgreich ausfiel.

„Das ist alles?“ fragte Sukutai nervös, als Tabari an einem Tag im Hungermond, der seinem Namen in dem Jahr alle Ehre machte, von der Jagd zurückkam und tatsächlich einen kleinen Vogel mitgebracht hatte. Tabari schüttelte sich.

„Es ist scheißkalt da draußen, mir frieren die Finger beinahe ab, wenn ich es wage, da draußen kurz zum Zaubern den Handschuh auszuziehen, ich bin nass bis auf die Knochen, und ja, das ist alles,“ verkündete er dumpf, „Es ist nichts da, Sukutai, kein Aas hat was zu essen hier in diesem Land der zornigen Geister!“

„Ja, vermutlich gehen selbst die Aasfresser leer aus diesen Winter, es gibt nicht mal Aas,“ seufzte die Frau, „Langsam werden selbst unsere großen Vorräte knapp, Tabari… was hat dein Vater mit dem Wild gemacht, dass es verschwunden ist?“ Der Mann ging an ihr vorbei, um die spärliche Beute in die Küche zu bringen, ehe er noch einmal über die Schulter sah.

„Ich habe keinen Schimmer. Die Tiergeister sind wütend und ich weiß nicht, was wir Menschen tun können, um sie zu besänftigen… da mein Vater glaubt, er würde allen befehlen, macht er es nur schlimmer. Langsam vergisst er offenbar, dass auch er nur ein Sterblicher ist wie wir alle.“

„Ja, Sterblicher,“ grummelte die braunhaarige Frau, und er sah sie verblüfft an, als sie sich abdrehte, um in die Stube zurückzukehren. „Ich wünschte, er würde dieser Bezeichnung mehr Ehre erweisen!“
 

Die kleine Alona war krank. Kiuk und Sukutai waren vor wenigen Tagen mit ihr bei Keisha in Tuhuli gewesen; an sich war es eine harmlose Erkältung, aber dem kleinen, eineinhalb Jahre alten Mädchen machte sie schwer zu schaffen. Und die knappe Nahrung machte es nur schlimmer. Aus Angst vor dem Zorn der Erdgeister hüteten sie sich, mehr Holz für die Kamine zu schlagen als nötig, so wurde tagsüber nur in der Küche und in der Stube wirklich viel geheizt, sodass sie das kleine Mädchen in das warme Wohnzimmer gebracht hatten, wo es jetzt fiebernd auf der Couch lag, in alle Wolldecken eingehüllt, die man hatte finden können. Nalani war in der Familie diejenige, die sich am besten mit Medizin auskannte, weil sie in ihrem Jahr in Tuhuli viel von Keisha gelernt und in deren Büchern gelesen hatte, so saß die Tante jetzt bei der kleinen Alona auf dem Sofa und versuchte, ihr Markbrühe einzuflößen.

„Ein grausamer Winter ist das,“ murmelte Kiuk, der auf einem Sessel saß und besorgt zu seiner Tochter und Nalani blickte. Er hatte vor sich auf einem Tisch wieder seine Ahnentafeln und Manuskripte ausgebreitet und war an sich dabei, den Stammbaum weiter zu studieren. Das kleine Kind hatte keinen Appetit auf Markbrühe, wie es schien, es drehte wimmernd da Köpfchen vor dem Holzlöffel weg. „Wenn wir das hier alleine nicht hinkriegen, müssen wir sie nach Tuhuli bringen und so lange bei Keisha lassen, bis sie gesund ist…“

„Das wird nichts bringen,“ nahm Nalani ihm den Wind aus den Segeln, und alle sahen sie an. Sogar Salihah, die in ihrer Ecke mit ihrem Buch saß und bis dahin geschwiegen hatte. „Wir haben Medizin bekommen von Keisha, mehr kann sie nicht für Alona tun im Moment. Das Kind muss Flüssigkeit zu sich nehmen, wegen des Fiebers schwitzt sie. In Tuhuli hungern sie genauso wie überall in ganz Dokahsan, wenn die Kleine nur essen würde, würde es sicher schnell besser werden.“ Sie sah besorgt zu ihrer Nichte. „Alonachen, komm. Du musst Suppe essen, damit du gesund wirst!“ Alona schüttelte erschöpft den Kopf und kniff demonstrativ die Lippen zusammen. „Wenn du den Mund nicht aufmachst, zwinge ich dich,“ drohte die Tante ihr düster, „Und dann tue ich dir weh, das möchte ich nicht! Also mach endlich deinen Mund auf!“ Das Kind ließ sich nicht einschüchtern. Es schüttelte abermals den Kopf.

„Dann zwing sie,“ befahl Sukutai ihrer Schwägerin plötzlich, die wieder in den Raum gekommen war, und jetzt war sie es, die angestarrt wurde. „I-ich… ich kann das nicht, Nalani, es bricht mir das Herz, sie so zu sehen, wie soll ich mich da durchsetzen? Bitte… tu es für mich. Egal wie, sie muss Essen, sie braucht es!“ Verzweifelt ließ Sukutai sich neben ihrem Mann auf einen Schemel sinken und vergrub erschöpft vor Hunger und Sorge das hübsche Gesicht in den Händen. Kiuk versuchte, sie zu trösten, indem er ihr über den Kopf streichelte, während Nalani den Suppenteller auf den Tisch neben sich stellte und Alona auf ihren Schoß nahm. Das Kind jammerte und wehrte sich zappelnd, bis die Tante mit einer Hand ihren Mund aufzwang, sie festhielt und mit der anderen Hand den Löffel in ihren Mund schob. Dann hielt sie der Kleinen den Mund energisch zu und sah sie empört an.

„Iss!“ befahl sie harsch, „Tu es, oder du wirst nicht gesund werden! Ich lasse dich erst los, wenn du gegessen hast!“ Alona jammerte, schluckte dann aber artig, worauf Nalani sie wieder losließ. „Siehst du,“ knurrte sie, „Du lebst noch, so schlimm war es ja nicht. Also, noch mal. Iss fein, die Suppe wird dir gut tun, Alonachen.“ Zur Belohnung, dass sie geschluckt hatte, strich Nalani ihr über den kleinen Kopf. Der nächste Löffel bedurfte weniger Gewalt, um in Alonas Mund zu gelangen, und nach ein paar Löffeln machte die Kleine auch freiwillig den Mund auf und zu.

Der kleine Puran stand am Fenster, bewegte sich nicht und sah schweigend hinaus. Er sprach wenig in der letzten Zeit; auch für ihn war der Winter hart und grausam. Als Alona gegessen hatte, kam Nalani zu ihm und hockte sich hinter ihn, um mit den Händen sanft seine Haare und Schultern zu streicheln.

„Was siehst du, mein Schatz?“ flüsterte sie leise, und er lehnte sich vorsichtig rückwärts gegen sie und ließ sich von ihr festhalten.

„Es ist dunkel,“ nuschelte er zur Antwort und sah jetzt in den düsteren Himmel.

„Ja… das ist es wirklich.“

„Werden böse Geister kommen, Mutti?“

„Ich kann es dir nicht sagen, mein Liebling…“ Sie seufzte und strich ihm erneut durch die weichen Haare. Die Geister waren unruhig und grimmig, das spürte sie, wenn sie schlief ebenso wie wenn sie wach war. Und sie wusste, dass ihr kluger kleine Junge es genauso spürte, nur im Gegensatz zu ihr konnte er das ungute Gefühl nicht benennen oder beschreiben. „Der Schatten wird bleiben…“ murmelte Nalani mehr zu sich selbst und merkte gar nicht, dass der Kleine jedes Wort von ihr mit anhörte. „Bis einer dieses Ungeheuer getötet hat und es endlich wieder Frieden im Land geben wird!“

In diesem Moment kam Tabari zu ihnen in die Stube, der sich trockene Sachen angezogen hatte.

„Hier ist es gleich viel angenehmer,“ erklärte er grinsend und wurde vom Rest der Familie kurz betrachtet. Nalani nahm Puran auf den Schoß und setzte sich mit ihm zur kleinen Alona, wobei sie ihren Sohn aber Abstand halten ließ, nicht, dass er sich noch ansteckte. „Das Land draußen ist wie tot, ich sag es euch. Kein Vieh weit und breit, und die Menschen werden auch weniger… unten in den Dörfern verstecken sich alle, wenn man dem Zaun näher kommt, ich fürchte, sie halten uns endgültig für grausame Massenmörder.“

„Wie furchtbar,“ seufzte Sukutai besorgt. „Dein Vater macht alles kaputt!“

„Dein Vater hat einen Hackenschuss,“ addierte Nalani grummelnd, und Tabari seufzte auch, ehe er sich zu Kiuk stellte und ihm eine Weile mehr oder minder interessiert in die Stammbäume sah.

„Na, ist das nicht langsam langweilig, diese längst toten Deppen in Reih‘ und Glied aufzuschreiben?“ wunderte er sich, und der jüngere Bruder war ganz verwirrt.

„Wie bitte, langweilig? Wenn du wüsstest, was diese Familie alles durchlebt hat, ich sag’s dir, du würdest es auch nicht langweilig finden! Wusstest du, dass der erste Tabari in diesem Stammbaum fast genau zweihundert Jahre vor dir geboren wurde?“

„Nein…“ machte Tabari gedehnt.

„Und sein Vater hieß Kiuk, du wirst lachen.“

„Du bist mein Vater?“ jetzt musste der Blonde tatsächlich lachen, „Das wüsste ich aber, Alter!“

„Und wann gab es den ersten Kiuk?“ wollte Sukutai neugierig wissen. Kiuk durchwühlte eine Weile seine Zettel.

„Mh… noch hundertzehn Jahr vor dem ersten Tabari. Unsere Namen wurden oft wiederverwendet, der erste Tabari und der erste Kiuk müssen ziemlich großartige Männer gewesen sein, deren Namen man noch nach dreihundert Jahren ehrt…“

„In der Tat,“ sagte Sukutai verblüfft, „Wie aufregend! Gab es denn auch einen Kelar vor unserem?“

„Nein, komischer Weise nicht; aber Nalani zum Beispiel hat ihrem Sohn ja auch keinen Namen aus dem Stammbaum gegeben, offenbar hat unsere Großmutter das bei ihren Kindern auch nicht getan.“

„Gibt es nur einen Puran?“ fragte der kleine Puran erstaunt, „Bin ich kein toller längst toter Mann?“ Nalani lachte.

„Nein, du bist ein lebender, viel tollerer Junge und wirst der beste aller Männer sein,“ sagte sie, worauf die anderen glucksten, ehe Nalani sich erhob und den Raum verließ, um die leere Suppenschüssel wegzubringen.

„Kelar wird wohl auch der einzige Kelar im Stammbaum bleiben,“ gab Salihah plötzlich aus ihrer Ecke zu hören, worauf alle verstummten und sie ansahen. Sie sah nicht auf. „Sein Name hat dem Clan statt Ehre nur Schande gebracht, niemand wird seinen Sohn nach ihm benennen wollen. Sieh dir den Stammbaum an, Kiuk, da gibt es mehrere, deren Namen nie wieder auftauchten, und wir können uns anhand der anderen Daten vorstellen, wieso. Warst du schon bei Ulan Lyra, der den Clan beinahe zu Grunde gerichtet hätte?“

„Woher weißt du das denn?“ fragte Tabari unverblümt, „Kennst du den Stammbaum heimlich auswendig oder wie?“

„Ich habe in diese Familie eingeheiratet,“ erwiderte sie, „Dein Großvater Beksem hat ganze Wochen damit zugebracht, mich in die Geschichte seiner Familie einzuführen, damit ich Bescheid weiß, dabei habe ich so einige seltsame Geschichten gehört.“

„Ich hab einen Ulan gefunden in den Manuskripten,“ fiel Kiuk ein, „Aber der hat doch vor fast sechshundert Jahren gelebt, was hat der denn so schlimmes gemacht, Mutter?“

„Stehen in dem Stammbaum nicht die Gene? Der Mann war Schwarzmagier, er hatte erst eine Affäre mit seiner eigenen Schwester und mit ihr ein Kind gezeugt, das geflissentlich ermordet wurde als Blutschande; und dann hat dieser Vollidiot eine Nichtmagierin geheiratet und mit ihr lauter Halbschamanen gezeugt, zum Glück hat einer der Söhne dann eine Schwarzmagierin geheiratet und damit den Clan wieder gerettet; aber es war für die Zeit eine unglaubliche Schande, die reinen schwarzen Gene zu verwaschen mit nichtmagischem Blut, heutzutage sieht man das ja nicht mehr so eng… und in der Generation von Ulans Kindern war dann also ein Halbschamane Oberhaupt des mächtigsten Magierclans Dokahsans, ihr könnt euch denken, wie albern das gewesen sein muss. Deswegen hütet sich heute noch jeder, der davon weiß, diesen Namen zu verwenden, weil er Schande bringen und nur Unheil anrichten würde.“ Die anderen hatten ihrer Geschichte gespannt gelauscht, sogar der kleine Puran, und jetzt sahen sich alle stumm an.

„Dann gehört der Kerl sicher zu den bösartigen Geistern, die den Winter so hart machen,“ kommentierte Tabari das, als Nalani auch zurückkam und sich wieder zu ihrem Kind und Alona setzte. „Und ich will nicht wissen, was mein Vater noch alles treibt, bis die Geister ihren Zorn auf uns herabregnen lassen… es wird nicht mehr lange dauern, ich spüre es ganz genau…“

„Kommen dann wieder böse Dinge, Vati?“ nuschelte der Sohn und kuschelte sich scheu an seine Mutter, die sanft einen Arm um ihn legte. Tabari sah seine Frau und sein Kind nur kurz an, ehe er seufzte und wieder aus dem Fenster starrte.

„Böse Dinge werden sicherlich kommen. Ich weiß nur noch nicht, wann und wie viele…“
 

Nachts grollte der Himmel lauter. Der kleine Puran fürchtete sich vor dem Donner und kam zu seinen Eltern ins Bett gekrabbelt, wo sie ihn zwischen sich schlafen ließen. Das Kind schlief, seine Eltern aber weniger, als sie schweigend im Bett lagen, versuchten, der realen Welt den Rücken zu kehren und feststellten, dass die Geister es ihnen nicht erlauben wollten.

Nalani war unruhig und sie spürte, dass Tabari sich genauso fühlte wie sie. Sie legte müde und ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, einen Arm um ihren kleinen Sohn.

„Die Geister schweigen,“ murmelte Tabari neben ihr dumpf. Sie seufzte.

„Ja. Es ist aber ein falsches Schweigen, ein unangenehmes Schweigen. Es fühlt sich an wie diese Gewissheit, dass etwas anders sein wird, dass etwas geschehen wird, aber ohne zu ahnen, was es sein mag. Tabari… diese innere Unruhe hält seit Tagen an und lässt mich nicht los. Es ist wie ein Fluch, und er ist grausam.“

„Die Geister sind gerne grausam,“ gähnte ihr Mann, ehe er ihr verpennt den Rücken kehrte und auf ein Neues probierte, einzuschlafen.

Er musste eingeschlafen sein, denn er wachte im Morgengrauen von einem zornigen, warnenden Grollen aus dem Himmel auf: Das nächste, das er wahrnahm, als er benommen die Augen öffnete, war eine völlig verzweifelte Sukutai, die im Nachthemd an seinem Bett stand und aufgelöst an seiner Frau rüttelte. Nalani wachte ebenfalls auf und der kleine Puran saß mit einem Mal kerzengerade im Bett zwischen seinen Eltern.

„Vater Himmel ist böse, Vati!“ keuchte er nur, und Tabari setzte sich benommen auf.

„Nalani, schnell, du musst mitkommen!“ rief Sukutai verzweifelt und hörte gar nicht auf, ihre Schwägerin zu schütteln, obwohl die längst wach war, „Alona geht es wieder schlecht, über Nacht muss das Fieber wieder gestiegen sein! Ich habe solche Angst, bitte tu irgendwas… d-du kennst dich im heilen besser aus als ich!“

„Oh nein,“ japste die Schwarzhaarige und hechtete aus dem Bett, „Ich versuche mein Bestes, wenn ich nichts tun kann, müssen wir sofort nach Tuhuli mit ihr, Keisha kennt sich immer noch besser aus als ich…“

„Geh nicht fort, Mutti!“ jammerte Puran, aber Nalani konnte ihm gerade keine Beachtung schenken, immerhin lag seine kleine Cousine im Sterben. Tabari würde schon auf ihn aufpassen.

Tabari war ein schlechter Aufpasser, den wenige Momente später war er samt Puran bei den Frauen und Kiuk an Alonas Kinderbettchen. Das Mädchen fieberte heftiger als zuvor und wimmerte leise im Halbschlaf. Nalani kühlte mit Yira ihre Stirn und ordnete Kiuk nebenbei an, was für Kräuter er in den Tee tun sollte, den er als Medizin bereiten sollte. Kiuk hatte eine ganze Kiste voller Dosen und Schachteln voll mit Medikamenten und Kräutern aus dem Ankleidezimmer seiner Mutter entführt und folgte nervös Nalanis Anweisungen.

„S-sie wird doch wieder gesund, oder?“ schniefte die hysterische Sukutai im Hintergrund, die aufgeregt auf und ab lief, „Was machen wir denn nur, wenn das nicht hilft?!“

„Nimm nicht so viel davon, Kiuk, das ist für ein kleines Kind sonst viel zu stark, es wird sie eher töten als heilen,“ redete Nalani kaltblütig dazwischen, während der kleine Puran völlig verängstigt durch die allgemeine Aufregung an ihrem Nachthemd zerrte und wimmerte, sie sollte doch wieder mitkommen.

„Wo ist Mutter überhaupt, hat die das nicht bemerkt hier?“ wunderte sich Tabari nebenbei.

„Keine Ahnung, im Schlafzimmer war sie nicht,“ schaffte Kiuk neben seiner Beschäftigung zu erklären, „Ist das so gut, Nalani?!“

„Noch weniger, wir können einem kleinen Kind nicht so viel-… Puran, jetzt lass mich bitte mal los! Ich muss hier arbeiten, ich habe gerade keine Zeit für dich, so leid es mir tut! Deine Cousine ist krank, deshalb kümmere ich mich um sie!“ Nalani sah ihren Sohn kurz streng an und er ließ sie augenblicklich erbleichend los. Sie war angesäuert, das merkte er genau, und er wusste, wann es besser war, sie in Frieden zu lassen. So schnappte er nur ein paar Mal ratlos nach Luft und starrte sie an.

„Geh in die Küche, der Küchenjunge spielt solange mit dir,“ sagte Tabari zu ihm und schob ihn behutsam aus dem Kinderzimmer der Cousine, „Du findest den Weg allein, Kleiner. Sei artig, nachher haben wir mehr Zeit.“ Er strich dem Kind lächelnd über den Kopf und Puran schmollte, als er so hinaus geschoben wurde. Er sah ja ein, dass Alona krank war, aber er hasste es, weggeschoben zu werden, wieso durfte er nicht bei allen anderen bleiben? Tabari schloss energisch die Tür und dem Kind blieb nichts anderes übrig, als alleine den Weg zur Küche anzutreten.

Natürlich fand er den Weg alleine, er war schon fünf. Aber wenn niemand da war, war es groß, dunkel und unheimlich im Korridor und auf der Treppe… er war gerade die letzte Stufe hinab gestiegen, da merkte er einmal wieder, wieso es unheimlich war, alleine hinunter zu gehen.

„Sieh an, du ganz allein hier unten, mein Kleiner? Was ist dir denn passiert, hm?“ Puran schrak hoch beim Klang der vertrauten und dennoch gefürchteten Stimme seines Großvaters, der plötzlich in der Schlosstür aufgetaucht war. Am liebsten wäre er sofort wieder nach oben zu seinen Eltern gelaufen, hinter denen er sich sonst versteckte, sobald Kelar Lyra den Raum betrat. Aber er stand wie angewurzelt da und konnte sich nicht bewegen, als hätte der Großvater ihn festgenagelt. Draußen grummelte der zornige Himmel.

„I-ich… m-möchte in… die Küche…“ stammelte der Kleine dann tapfer und sah zu Boden, um ja nicht des Großvaters merkwürdig kaltes Lächeln zu sehen. Er sah ihn oft lächeln und sein Lächeln war ihm noch unheimlicher als die Treppe. Etwas war falsch an diesem Lächeln, etwas daran machte alle Himmelsgeister zornig, er konnte es genau spüren, wusste aber nicht, wieso.

„In die Küche?“ machte Kelar, „Zum essen?“ Das wäre aber seltsam, sonst ließ Nalani ihr Kind doch nie aus den Augen… der Herr der Geister war vor kurzem wieder nach Hause gekommen, hatte niemanden vorgefunden bis auf seinen Enkel jetzt.

„N-nein, ich… soll den Jungen fragen, o-ob er mit mir spielt…“ gestand jener in dem Moment, und Kelar zog eine Braue hoch.

„Den Küchenjungen? Ach, tss, der hat doch keine Ahnung. Haben deine Eltern zu tun? Keiner hat Zeit für dich? Das ist aber nicht sehr höflich von ihnen, du solltest immerhin… an erster Stelle stehen, oder nicht? Du bist doch der kleine Prinz unseres Clans…“ Ehe Puran hätte wegrennen können, hatte der Großvater sich vor ihn gehockt und ihn hochgehoben, um ihn sich auf das angewinkelte Bein zu setzen. Das Kind erstarrte und wagte nicht, sich zu wehren. „Was könnte denn wichtiger sein, als sich mit dir zu beschäftigen…?“

„Alonachen… ist sehr krank, s-sie pflegen sie,“ entschuldigte Puran seine Eltern höflich. Kelar lachte spöttisch.

„Ach, ernsthaft?! Sie ist ein Mädchen, sie ist unwichtig. Sie sollten sich schämen, dich weg zu scheuchen.“

„Aber wenn sie Alonachen nicht pflegen, stirbt sie vielleicht,“ entgegnete Puran entsetzt, „Mutti kennt sich mit Medizin aus, sie wird ihr helfen.“

„Geschwätz,“ brummte der Großvater, stand auf und nahm den Jungen dabei auf den Arm, „Komm mit mir, Puran. Wenn die alle beschäftigt sind… habe ich Zeit für dich. Du bist schließlich mein Lieblingsenkel.“

„Ich… bin ja auch dein einziger Enkel…“ murmelte Puran verunsichert; Alona war schließlich eine Enkelin, das war anders.

„Und zu wertvoll, um dich einfach dir selbst zu überlassen,“ addierte Kelar grinsend und wuschelte ihm väterlich durch die Haare, „Dein Vater erklärt dir sonst immer Dinge vom Jagen, nicht wahr? – Das tut er doch?“ Wenn nicht, würde er Tabari Beine machen, das Jagen war im Land Tradition…

„Ja,“ sagte Puran zu seinem Glück artig. Der Mann trug das Kind hinaus aus dem Schloss. Im Hof setzte er ihn auf ein Pferd und sich selbst dahinter, ehe er einem Stallknecht anwies, das Tor zu öffnen.

„Aber hat er dir je gezeigt, wie das… wirklich funktioniert, das Jagen? Sicherlich nicht…“

„Nein…“

„Was, er war noch nie mit dir draußen und hat es dir gezeigt?“ Kelar seufzte, als das Tor geöffnet wurde und er mit einem spöttischen Grinsen samt Kind hinaus ritt. Was für ein wunderbarer Tag, da ließ Nalani ihr Kind tatsächlich mal alleine; und er hätte jetzt den Rest des Tages Zeit, mit seinem Enkel herum zu reiten und ihn mehr und mehr aus den Fängen der Wachtel zu befreien. Eines Tages würde Puran ihm gehören… er würde lernen, ohne seine Mutter zu leben, aber nicht ohne seinen Großvater. Und so würde er eines Tages genau so über Lyrien herrschen wie sein Großvater es tat. „Das ändern wir, Puranchen. Halt dich fest, wir reiten in den Wald. Ich zeige dir, wie man auf die Jagd geht.“

Puran war verdutzt.

„Gibt es nicht… kein Wild mehr hier?“ fiel ihm ein.

„Dummer Junge, das Wild kommt, wenn ich es befehle. Die Tiergeister folgen alle meinem Befehl… wenn ich sie rufe, werden sie kommen. Das wirst du auch eines Tages lernen, und deine Familie wird nie Hunger leiden müssen.“

„Wieso hast du sie dann nicht vorher gerufen?“

„Deine Mutter ist Schuld,“ erklärte er kalt, „Sie erzürnt mich… sag ihr, sie soll mich nie wieder wütend machen, dann werde ich dafür sorgen, dass die Geister zurück in dieses Land kommen. Deine Mutter ist eine bösartige Hexe und sie hasst mich… das ist ein Fehler gewesen… ihr Hass hat die Geister aus dem Land vertrieben und ihretwegen mussten tausende Menschen verhungern. Schämst du dich für deine Mutter, mein Kleiner?“

Puran antwortete nicht. Er war nur verwirrt und starrte fassungslos in den grauen Himmel über ihm, der ihn auch anzustarren schien. Und der Himmel sprach:
 

„Menschen lügen, um ihre Macht behalten zu können… sieh in sein Herz, dann wirst du es wissen.“
 

Es war nicht leicht gewesen, dem Mädchen das bittere Getränk einzuflößen, aber Nalani hatte es geschafft. Sukutai und Kiuk blieben bei ihr und Nalani machte sich daran, sich um ihr eigenes Kind zu kümmern. Als der Küchenjunge in der Küche nichts davon wusste, dass Puran zu ihm hatte kommen sollen, dachte sie noch, er wäre vielleicht lieber in sein Zimmer gegangen, weil sie wusste, dass er die Treppe nicht mochte und ungern allein hinab ging. Als er aber auch oben nirgends zu finden war, machte sie sich Sorgen.

„Wo ist der Junge?!“ fauchte sie Tabari an, „Wieso bist du Vollidiot nicht bei ihm geblieben?!“

„Ich habe doch nicht ahnen können, dass er gleich verschwindet, wenn wir ihn kurz aus den Augen lassen!“ empörte der Blonde sich, als sie das ganze Schloss erfolglos abgesucht hatten. Nalani wies vorbei kommende Diener an, nach dem Kind zu suchen, je mehr halfen desto besser. „Wieso hat er nicht auf mich gehört und ist in die Küche gegangen?!“

„Du setzt dich doch bei niemandem durch, ich würde auch nicht auf dich hören!“ rief sie erzürnt und er schnappte nach Luft.

„Wie bitte?! Wie redest du mit mir, du tust, als hätte ich ihn versteckt oder entführt!“

„Du hättest besser auf ihn aufpassen sollen!“ Mit diesen Worten rauschte sie an ihm vorbei die Treppe hinunter, laut nach ihrem Sohn rufend. Puran antwortete nicht. Tabari sah seiner Frau grimmig nach. Was dachte die sich, jetzt war er Schuld?

Reg dich ab, sagte er sich dann und seufzte, Sie hat eben Angst, wenn Menschen Angst haben, reden sie dummes Zeug.

Er war gerade dabei, ihr zu folgen, als die Schlosstür aufflog und eines der Dienstmädchen herein gerannt kam.

„Herrin, das Kind ist nicht mehr im Schloss! Der Knecht draußen hat gesagt, Herr Kelar wäre vor einer Weile mit dem Kind hinaus geritten, sie wollten auf die Jagd oder so!“

Nalani, gerade unten angekommen und jetzt von Tabari flankiert, erbleichte.

„Kelar?!“ keuchte sie, „Ausgerechnet der, und mich fragt keiner um Erlaubnis?! Ihr nichtsnutzigen, einfältigen, dämlichen-…! – TABARI!“ Sie fuhr außer sich vor Zorn herum und starrte ihren Mann boshaft an, dass er keuchend zurück trat. Was war das denn jetzt?

„W-was zum-…?!“

„Geh und finde die beiden!“ befahl sie harsch, „Ich würde es selbst tun, aber Alona ist noch nicht über den Berg… ich will, dass unser Kind so schnell wie möglich wieder hier ist, was immer Kelar mit ihm vorhat, es ist sicher nichts Gutes! Dieser Aasgeier starrt Puran doch schon immer gierig an, als wäre er ein Stück Fleisch, ich weiß es genau!“ Tabari japste. Ja, das wusste er… das sah er genau wie sie auch. Nalani war noch nicht fertig. Sie kam zu ihm und packte ihn wütend am Kragen, zerrte ihn an sich heran und sah ihm grimmig ins Gesicht. Er schwieg. „Und ich sage es dir, Tabari, wenn er meinem Sohn auch nur ein Haar gekrümmt hat, dann bringe ich ihn eigenhändig um! Wenn meinem Kleinen auch nur eine Wimper fehlt, dann röste ich deinen verfluchten, grausamen Vater und mache dieser Schreckensherrschaft ein Ende! Und du weißt, dass ich recht habe mit dem, was ich sage…“ Plötzlich verflog ihre Wut und sie senkte dumpf den Kopf, worauf ihre schwarzen Haare in ihr Gesicht fielen. „Du weißt es genau wie ich auch.“ Tabari seufzte. Dann strich er ihr behutsam durch die Haare, ohne sie richtig anzusehen.

„Ja… das Reich Lyrien, das mein Vater zu regieren versucht… steht auf Messers Schneide. Und unweigerlich wird es fallen, noch ehe der Winter vorbei ist. Das… flüstern die Geister im Wind, wenn ich versuche, zu schlafen.“

Er ließ von ihr ab, um ohne weitere Worte ihrem Befehl zu folgen, sich ein Pferd zu schnappen und sich auf die Suche nach seinem Vater und seinem Sohn zu machen.
 

Der Großvater hatte gelogen. Es gab in ganz Lyrien kein Wild mehr, da war der Junge sich sicher, nachdem sie eine halbe Ewigkeit auf dem Pferd durch Vikhara geritten waren. Sie hatten den Fluss überquert und ritten jetzt durch den östlichen Wald von Garor. Es war dunkel im Nadelwald und irgendwo über den Wipfeln der Fichten, Tannen und Kiefern grummelte der behangene Himmel vor sich hin. Mutter Erde war nervös unter den Hufen des Pferdes.

Puran fragte sich, ob der Großvater ihn wieder heim bringen würde; er fürchtete plötzlich, er würde verschleppt werden und in irgendeiner dunklen Höhle im Wald versteckt werden; in dem Moment wurden seine Gedanken von etwas anderem abgelenkt, denn sie fanden mit einem Mal doch Beute; oder auch nicht, denn bei dem kleinen, mageren Reh war ihnen schon jemand zuvor gekommen.

Kelar Lyra hielt das Pferd an, das laut wieherte, stieg und sich dann schnaubend im Kreis drehte, während der Mann finster auf den kleinen, schwarzhaarigen jungen vor sich starrte, der mit fassungslos geweiteten Augen zu ihm hinauf starrte, am Boden kauernd und das erlegte Reh an sich drückend.

„Sieh an!“ schnarrte der Herr der Geister und hielt den kleinen Puran vor sich fest, der ebenfalls auf das fremde Kind hinunter sah und nur nach Luft schnappte. Beinahe hätten sie den Jungen überrannt, er hatte ihn selbst erst im letzten Moment bemerkt. „Sieh an!“ wiederholte Kelar Lyra, „Was sage ich, Enkelchen? Diese Bauern fressen uns die Haare vom Kopf! Da siehst du es, sogar die kleinen Jungen werden zu Räubern und Gesindel!“ Er schnappte seinen goldenen Speer, den er immer bei sich trug, und richtete ihn auf den vor Angst keuchenden Jungen am Boden. „Gib mir das Reh, Knirps! Es gehört mir.“

„W-was?!“ brachte der Junge mit vor Schreck piepsiger Stimme hervor. Er mochte nicht älter als Puran sein. „A-aber ich habe das Reh doch alleine erlegt, w-wieso gehört es dann Euch?!“

„Du Narr!“ Der mann spuckte ihm vor die Füße, „Du darfst hier nicht jagen, alle Tiere gehören hier mir und meiner Familie! Weißt du nicht, wer vor dir steht, du unwürdiger kleiner Mehlwurm?! – Sieh gut hin, Puran, das da unten ist ein dreckiger Wurm, der es gar nicht wert ist, hier in unserem guten Land zu leben!“ Dabei schüttelte er den erstarrten Puran vor sich wieder. „/Und der macht noch die Klappe auf, hat dir deine Mutter nicht beigebracht, wie man sich in Gegenwart von Königen zu benehmen hat?!“

Der schwarzhaarige Junge am Boden erbleichte und machte einen Schritt rückwärts. Noch immer drückte er das Reh an sich.

„I-ihr seid der Herr der Geister, ja…“ kam die Erkenntnis, „I-ich, bitte lasst mir das Reh! Ich habe noch fünf Geschwister und wenn wir nicht essen, werden wir verhungern…“

„Wen schert das?!“ lachte Kelar Lyra, „Glaubst du, das kratzt mich, ob eine Würmerfamilie mehr oder weniger hier lebt?! Ich kenne dich, ich kenne dein Gesicht ganz genau, du bist einer von den Derrans, die sich wie Heuschrecken verbreiten, eine Plage für das Land und eine Schande, weil sie schlechte Magier sind! Ihr seid nicht würdig, dieses Reh zu verspeisen. Gib es mir, bevor ich dich gleich mit als Beute nehme!“ Er drehte den Speer um und stieß den Jungen mit dem stumpfen Ende zu Boden, worauf er samt Reh umfiel und das Tier fallen ließ. Als der Mann die Beute mit dem Speer aufspießen wollte, warf sich der kleine Junge schreiend darüber, als müsste er das tote Reh schützen.

„Nicht!“ schrie er gellend, „Bitte, w-wir müssen doch auch essen, g-genau wie Ihr auch!“

„Das ist mir gleich, gib mir das Fleisch, du darfst hier nicht jagen, tust es dennoch und verweigerst mir meine rechtmäßige Beute?! Was bildest du dir ein, wer du bist, du abscheulicher Wurm?!“ Er wollte zustechen und das arglose Kind töten, das ihm im Weg stand… in dem Moment ertönte neben ihnen plötzlich ein lautes Krachen und der Speer wurde von einem gleißend hellen Blitz erfasst, dem Mann aus der Hand gerissen und zu Boden geschleudert. Sowohl Kelar und Puran als auch der kleine Junge am Boden sahen erschrocken in die Richtung, aus der der Blitz gekommen war. Einen Moment später kämpfte sich Tabari samt Pferd zwischen den nadeligen Zweigen hervor. Purans Herz machte vor Erleichterung, seinen Vater zu sehen, einen kleinen Luftsprung. Endlich nicht mehr mit dem unheimlichen Großvater alleine…

Der kleine Junge am Boden schnappte sein Reh und rappelte sich vor Angst kreidebleich im Gesicht wieder auf, als jetzt zwei Männer zu Pferd vor ihm standen. Der Blonde wandte sich dem älteren zu.

„Das reicht jetzt – Vater!“ mahnte er ihn zornig, „Bist du verrückt geworden, das kleine Kind anzugreifen?!“ Er wandte sich dem Kleinen am Boden zu. „Geh, Junge! Nimm das Reh, es gehört dir. Du darfst es behalten. Lass dich nicht von einem alten Verrückten einschüchtern, der dir das Grüne vom Himmel herunter lügt!“ Kelar Lyra schnaubte entrüstet.

„Wie kannst du es wagen, Tabari…?! Halt jetzt bloß deine Zunge fest, oder ich vergesse mich eventuell!“

„Du hast hier genug angerichtet!“ fuhr Tabari ihn ungewohnt zornig an und selbst Puran schrak zurück. Sein Vater war nie wütend… ihn jetzt so zu erleben war beängstigend, obwohl er wusste, dass die Wut dem Großvater galt und nicht ihm. „Du bist nicht der König der ganzen Welt, Vater!“ schnappte der Blonde weiterhin und riss die Zügel seines Pferdes herum, um es dichter an Kelar zu lenken. Der Kleine mit dem Reh wagte nicht, sich zu bewegen, und erzitterte bloß.

„A-aber-... ... das Reh...?“ wunderte er sich heiser, und der junge Mann seufzte.

„Es gehört dir! Geh schon, lauf. Ihr dürft hier jagen, so viel ihr wollt! Denn die Rehe gehören Mutter Erde, genau wie alle anderen Tiere! Kein Mensch darf es wagen, alle Rehe für sich zu beanspruchen!“ Er sah seinen Vater wieder grimmig an. „Das ist eine Beleidigung der Geister! – Und warum zum Geier hast du Puran mit auf die Jagd genommen?! Er ist noch viel zu klein zum Jagen!“ Der Alte brummte missgelaunt.

„Während ihr alle damit beschäftigt wart, dem unwürdigen Mädchen zu helfen, habe ich mich fürsorglich um meinen Enkel gekümmert, ist das falsch, du Narr?!“ Er schüttelte den Jungen wieder, und dieser hustete bloß.

„I-i-ich will heim zu Mutti-... ...“ stammelte er, und Tabari murrte entnervt.

„Du machst ihm Angst, Vater, merkst du das gar nicht? Du machst allen Angst mit deinem blöden Geschwätz!“ Er bemerkte erst jetzt, dass der kleine Junge immer noch am Boden kauerte. „Junge,“ sagte er ruhig, „Lauf schon. Niemand wird dir ein Leid tun, du darfst dein Reh mitnehmen.“ Das Kind wich zurück und sah die Männer und den Jungen verwirrt an.

„U-und-... ... Ihr werdet mich ganz sicher nicht töten...?“ Er erntete ein Kichern von dem jungen Mann vor ihm.

„Natürlich nicht! Du hast mein Wort. Behalt das Reh und lauf schnell, kleiner Junge. – Und mein kleiner Junge kommt jetzt gefälligst zu mir, bevor mein närrischer Vater ihm den Kopf verdreht!“ Er streckte die Hand nach seinem Sohn aus. „Komm, Puran. Wir gehen nach Hause. Hör nicht auf das, was dein Großvater Kelar sagt. Er ist nicht mehr ganz schussecht.“

Der schwarzhaarige Junge machte, dass er davon kam, und Kelar sah ihm bebend vor Zorn hinterher, während Tabari Puran vor sich auf sein eigenes Pferd setzte. Das Kind war völlig verschreckt und starrte apathisch in die Luft, ehe sein Vater noch einmal zu Kelar sah.

„Es ist vorbei, Vater,“ knurrte er, „Ich werde nicht länger mit ansehen, dass du unser Land in den Ruin reitest und die Geister dermaßen erzürnst! Du hast viel Grausames getan, aber jetzt gehst du zu weit! Vater Himmel und Mutter Erde werden dich strafen für deine Habgier und deinen Machthunger! – Komm, Puran. Lass uns heim gehen.“ Damit kehrte er seinem Vater bitter den Rücken, trieb das Pferd an und machte sich mit dem erstarrten Kind vor sich sitzend auf den Weg zum Schloss.
 

Kelar Lyra fluchte und schimpfte, sobald Tabari und Puran weg waren. Er sammelte seinen Speer wieder auf und jagte dann schnaubend vor Wut dem kleinen Dorfkind mit dem Reh hinterher.

„Denen werde ich es zeigen!“ schwor er, „Die einzige Beleidigung der Geister bist du, Tabari, der du pietätlos deinem eigenen Vater den Rücken kehrst! Und die vermaledeite Wachtel, die deine Frau ist, die alles zerstört, was ich aufgebaut habe! Ich bringe sie um, ich zerfetzte sie und tanze in ihrer Haut, und bis ich wieder zufrieden bin mit dem Land wird es Blut regnen, hah!“ Vor sich sah er den Jungen wieder auftauchen, der in Richtung Fluss rannte. Als er merkte, dass er verfolgt wurde, rannte er schneller, aber es half nichts. Kelar holte ihn ein, stieß ihn abermals mit brutaler Gewalt mit dem stumpfen Speerende zu Boden und entriss ihm jetzt das erbeutete Reh. Er legte es vor sich auf den Rücken des Pferdes und sah zornig auf den kleinen Jungen herunter, der sich den schmerzenden Rücken hielt und heftig keuchte.

„Hast du das wirklich geglaubt?!“ spottete er, „Dass du das Reh behalten kannst?! Die Tiergeister folgen dem, der sie beherrscht, Derran-Balg! Und ihr, du und deine schmutzige, blutschändliche Familie, beherrscht nicht mal ein Staubkorn!“ Er lachte laut auf und spuckte dann gehässig auf das wimmernde Kind herunter, ehe er ihm den Rücken kehrte und mit der Beute davon ritt. Der Junge blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht halb ohnmächtig am Waldboden liegen und sah verschwommen, wie das Pferd mit dem Alten und seiner überlebenswichtigen Beute davon peste.

„Ihr seid Lügner…“ stöhnte er noch benommen, „Ihr gabt mir Euer Wort, Mann vom Lyra-Clan… das ver-…zeihe ich… Euch nie!“ Dann schloss er die Augen und verlor das Bewusstsein.
 

Nalani verfluchte ihren Schwiegervater innerlich, hütete sich aber, viel dazu zu sagen, um die Geister nicht noch zorniger zu machen, sobald sie ihren kleinen Sohn wieder hatte. Sie nahm das zitternde, blasse Kind auf den Arm und drückte es zärtlich an sich heran. Nachdem der Kleine seinen Schrecken los geworden war, erwiderte er die Umarmung auch etwas.

„Wie kann er unserem Kind sowas antun?!“ fragte die Mutter Tabari, „Er ist ja völlig verkühlt und außerdem sitzt ihm der Schreck ja völlig im Nacken!“

„Es ist ein seltsamer Tag,“ war alles, was Tabari murmelnd von sich gab, und sie sah ihn schräg an, weil er ihr offenbar nicht mal zugehört hatte, er zog nur seinen Wintermantel aus und gab ihm einem Diener, der ihn zum Trocknen in die Küche hängen würde. „Himmel und Erde sind unruhig, Nalani…“

„Dann geh und frag die Geister, was wir tun sollen,“ riet sie ihm ruhiger als zuvor. Am oberen Treppenende erschienen Kiuk und Sukutai. Der kleinen Alona ging es offenbar etwas besser. „Ich werde das Kind baden, bevor es auch krank wird wie seine Cousine. Wo ist dein Vater hin, Tabari?“

„Ich weiß nicht,“ machte Tabari ratlos, „Er rennt jetzt schmollend durch den Wald, nehme ich an. Habt ihr eigentlich inzwischen von meiner Mutter ein Lebenszeichen gefunden oder ist die auch vom Winde verweht?“

„Sie hat sich nicht blicken lassen, nein,“ sagte Kiuk oben, „Na, wenigstens Puranchen ist wieder daheim.“ Er grinste müde und strich dem Neffen über den Kopf, als Nalani mit ihm auf dem Arm hinauf kam, um ihn ins Bad zu bringen.

Ein Bad fertig zu machen dauerte immer etwas. Für die Kinder war das Badebecken zu groß, darum hatten sie eine Zinkwanne, in der sie die Kleinen dann badeten. Jetzt im Winter musste das Wasser mit viel Mühe erhitzt werden. Zum Glück gab es dafür den Feuerzauber Vaira.

„Wieso nennt Großvater andere Menschen Würmer?“ fragte Puran verwirrt, als seine Mutter ihn in die Zinkwanne gehoben hatte und sich daneben hockte, um mit einem Lappen sanft seine kleinen Ärmchen zu waschen. Nalani hielt kurz mit dem Waschen inne und sah ihn groß an.

„Dein Großvater ist ein garstiger Mann,“ sagte sie dann langsam. „Würmer sind keine sehr ehrbaren Tiere. Ehrbare Tiere sind vielleicht Bären, Löwen und Hirsche oder Adler. Wenn Großvater zu Menschen Würmer sagt, meint er, sie wären nicht ehrbar. Das ist gelogen, jeder Mensch ist ehrbar auf seine Weise und alle sind geliebte Kinder von Himmel und Erde. Das gilt auch für alle Tiere, sogar für Würmer und Ameisen.“

„Wieso sind die anderen Menschen bei Großvater weniger ehrbar als wir, Mutti?“ fragte der Kleine weiter und schnaubte kurz, als sie mit dem nassen, warmen Lappen über sein hübsches Gesicht fuhr. „Nicht im Gesicht, Mutti, ich mag das nicht…“

„Mach die Augen zu, dann bekommst du auch kein Wasser hinein,“ riet sie ruhig. „Nun, es gibt viele Schamanen hier in Kisara. Manche Familien können sehr gut zaubern und andere nicht so gut. So, wie einige Menschen gut malen können und andere nicht. Unsere Familie ist eine sehr alte Familie und wir sin sehr gute Magier. Dein Großvater ist der Herr der Geister, der Anführer der Geisterjäger. Und du weißt ja, was Geisterjäger sind?“

„Die besten Schwarzmagier der Welt?“ machte er, stolz, das zu wissen, und sie lächelte und nickte.

„Genau. Und es gibt auch Familien, die nicht so begabt sind in Magie. Sie können aber nichts dafür und können dafür vielleicht etwas anderes besser. Jedenfalls ist es falsch und schandhaft, sie nur deshalb Würmer zu nennen. Ich möchte, dass du dir das merkst. Sage niemals Wurm zu einem Menschen, denn es ist ein böses Schimpfwort.“

„Ich merke es mir, Mutti,“ versprach er, jetzt offenbar wieder besserer Dinge. Das warme Wasser taute ihn wieder auf und Mutters Gegenwart vertrieb die Angst vor dem schrecklichen Großvater. Dann begann er zu grübeln: „Wir haben im Wald einen Jungen gesehen, Großvater hat gesagt, seine Familie wäre wie eine Heuschrecken-Plage. Das war sicher auch ein Schimpfwort.“

„Natürlich,“ entgegnete Nalani. „Heuschrecken ärgern uns Menschen manchmal, weil sie kommen und die Ernte wegfressen. Und wenn sie kommen, dann kommen sie mit sehr, sehr vielen. Wenn Großvater zu einer Familie Heuschrecken sagt, heißt das, dass diese Familie sehr viele Menschen hat, sie ist sehr groß.“

„Sind wir auch Heuschrecken?“

„Unsinn, wir sind nicht so viele. Die Bauernfamilien in den Dörfern haben oft sehr viele Kinder. Wir haben hier im Schloss nur zwei Kinder. Manche Bauern haben über zehn Kinder.“

„So viele?!“ staunte ihr Sohn, „Auch manchmal zwanzig oder hundert?“ Nalani lachte.

„Na ja, das wohl eher nicht. Wenn ein Mann mehrere Frauen hat, könnten zwanzig schon mal sein, aber hundert gewiss nicht. Aber die Bauern brauchen auch all ihre Kinder, damit sie ihnen beim Arbeiten helfen. Sie bestellen die Felder, säen, ernten und hüten Vieh, Hühner oder Schweine. Die Bauern haben, anders als wir, nicht genug Geld, um sich Diener leisten zu können, die für sie arbeiten. Wir haben es hier sehr gut, wir müssen Himmel und Erde jeden Tag für das Wohlhaben danken, dass sie uns geben. Viele Menschen sind viel ärmer als wir.“

„Und wieso?“ Die Frau seufzte tief. Er fragte viel…

„Das weiß ich nicht, mein Sohn. Die Geister bestimmen, dass es so ist. Gerecht ist es nicht… wir müssen die Geister in höchstem Maße ehren und fürchten. Sie können uns das Leben retten, aber auch sehr, sehr grausam sein.“
 

„Vater ist also jetzt auch wie vom Erdboden verschluckt?“ fragte Kiuk, als er später gemeinsam mit seiner Frau, Nalani und dem kleinen Puran in der oberen, kleinen Stube saß. Alona schlief jetzt offenbar ruhiger und konnte für eine Weile allein gelassen werden. Sukutai sah aber regelmäßig nach ihrer Tochter.

„Scheint so,“ war Nalanis Antwort und Kiuk seufzte. „Mir gefällt es auch nicht, die Geister zürnen immer noch und Mutter Erdes Haut ist gespannt wie der Bauch einer schwangeren Frau.“

„Wenn dein Vater frei herumläuft, fürchte ich um mein Kind und meine Familie,“ stammelte Sukutai bedrückt und sah unglücklich zu Kiuk herüber, „Wir alle wissen, dass er ein grausamer Mann ist, aber jetzt wird er unberechenbar, wenn er sogar den kleinen Puran entführt!“

„Alona wird er nichts tun, die ist ja unwichtig für ihn,“ sagte Nalani kaltherzig, ohne es böse zu meinen, und Sukutai senkte unglücklich den Kopf.

In dem Moment öffnete sich die Tür und als schon alle in einer plötzlichen Paranoia befürchteten, Kelar würde kommen, war es nur Tabari, der den Raum betrat und von allen verdutzt angesehen wurde.

„Wo hast du denn gesteckt?“ war die Begrüßung seiner Frau. Tabari sagte nichts und das an sich war schon außergewöhnlich; normalerweise erwiderte er irgendetwas Sinnloses, wenn sie so etwas sagte. Nalani zog verwundert über seine Ernsthaftigkeit die Brauen zusammen. Tabari sah einen Moment lang in die Runde.

„Ich werde dem Geisterzorn ein Ende bereiten,“ erklärte er dann todernst, „Das habe ich beschlossen.“

„Ein Ende?“ machte Sukutai, „W-was meinst du?“

„Ich werde meinen Vater finden und seinem Regime ein Ende setzen, meine ich damit,“ entgegnete der Blonde. „Kiuk wird mitkommen.“ In seinen Worten war keine Bitte oder Aufforderung an seinen Bruder, es war eine sachliche Feststellung, als wäre es unumstößlich. Kiuk erhob sich und sah ihn ebenfalls leicht verunsichert an. „Wir sind die Familie und die Erben dieses Mannes, der das Land in ein Chaos voller Tod und Verderben gestürzt hat,“ fuhr der ältere Bruder fort, „Es ist unsere Pflicht, das zu tun; oder meine zumindest als ältester Sohn. Die Geister haben mit mir gesprochen und mir gesagt, dass es so sein muss. Das ist unser Schicksal… mein Schicksal, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

„Du willst dich ihm alleine stellen?“ fragte Nalani ungläubig, „Du hast gegen mich verloren und er ist der Herr der Geister…“

„Du hast mich gehört!“ fuhr er sie ungewohnt scharf an und sie weitete kurz die Augen, als er sie fest ansah und in seinen Augen kein bisschen Zweifel an seinem Vorhaben zu sehen war. Er meinte es ernst… er hatte lange darüber nachgedacht.

Tabari seufzte und grinste dann mit einem Mal, während Kiuk immer noch da stand.

„Ich hasse Kämpfen und habe keine Lust darauf…“ gestand er, „Das ist einfach nicht meine Natur, ich hab mich nie gerne geprügelt oder so. Aber das hier ist anders, Nalani. Das ist der Wille der Geister. Sie werden mich so lange zwingen, es zu tun, bis es vorüber ist. – Kiuk! Komm, ich brauche deinen Teleport, mit dem Pferd zu reiten dauert zu lange!“

„Du weißt plötzlich, wo er ist?“ wunderte sich Kiuk.

„Nein,“ lachte sein Bruder, „Aber die Geister werden uns schon da hin bringen, wohin wir wollen!“

„Wenn du das sagst,“ schnaubte Nalani skeptisch und nahm ihren Sohn auf den Schoß, der verblüfft auf seinen Vater und seinen Onkel sah, die sich zum Gehen wandten.

„Vertrau mir,“ erwiderte ihr Mann, „Das wird schon irgendwie.“ Die Männer verließen die Stube und Sukutai sprang von plötzlicher Panik ergriffen auf.

„Das könnt ihr nicht!“ schrie sie entsetzt, „K-Kelar wird euch beide töten! Nalani, tu doch was…“ Nalani jedoch machte keinerlei Anstalten, sich zu rühren, und blieb sitzen, ins Kaminfeuer starrend. Puran wackelte auf ihrem Schoß sitzend mit den Beinchen.

„Ach,“ sagte die Schwarzhaarige und strich ihrem Sohn zärtlich über den Kopf, „Ich hasse dieses Irgendwie. Und wenn er nicht heim kommt, kann der Mann aber was erleben, das sage ich dir!“
 

Kelar Lyra war nicht weit weg vom Schloss seiner Vorfahren. Er war nach Süden geritten, hatte im Wald etwas Reisig zusammen gesammelt und briet jetzt mitten in der kargen Pampa sitzend das Reh, das er dem kleinen Bauernjungen abgenommen hatte. Er würde es nie alleine aufessen können, aber was scherte es ihn. Seine Familie verriet ihn und selbst Tabari wagte es inzwischen, sich ihm in den Weg zu stellen, das machte ihn zornig. Diese Bastarde verdienten die Gaben Mutter Erdes nicht!

„Oh, der Zorn wird noch größer werden!“ zischte er grantig, während er die gebratenen Stücke Fleisch von den Stöcken riss, an denen er sie über das Feuer gehalten hatte. „Der Zorn der Himmelsgeister! Unwürdige Maden, kriechen werden sie, bis sie blutend im Schlamm liegen und ich sie alle ins Feuer des Himmelsdonners schicken kann!“ So fluchte der Mann, riss mit den spitzen Zähnen das Fleisch entzwei und kaute grimmig darauf herum. In der Nähe krächzte eine Krähe und der Mann schnaubte. Vögel. Er hasste Vögel und vor allem Krähen, denn alle Aas fressenden Vögel waren Schutztiere des Chimalis-Clans. Der Chimalis-Clan war der Clan der Todesvögel, denn einst hatten die Vorfahren dieser Familie einen Pakt mit den Kondorgeistern geschlossen, der ihnen eine grausame und unheimliche Macht verliehen hatte. Mit plötzlicher Wut auf die arglose Krähe packte der Herr der Geister einen Stein und schleuderte ihn nach dem Tier.

„Unwürdiges Stück Aas!“ fluchte er, „Ihr verfolgt mich, Chimalis, ich sehe es ganz genau! Ich bringe euch alle um, dich, deinen dämlichen, Wetten gewinnenden Bruder, deine Schlampe von Tochter und deinen Neffen, der genauso dämlich ist wie sein Vater! Ich werde euch jagen, bis ihr um den Tod betteln werdet, den ihr an sich beherrschen solltet!“

Der Stein verfehlte den Vogel und krächzend flatterte das Tier empor und segelte in Richtung Norden. Kelar saß einen Moment schweigend da und starrte dem Tier nach, als hätte es ihm die Sprache verschlagen, es nicht erwischt zu haben. Es waren schlechte Zeichen.

Als er spürte, wie der Wind hinter ihm auffuhr und ihm die Haare ins Gesicht wehte, erhob er sich, gerade zur rechten Zeit, um aus dem Nichts seine beiden Söhne vor sich auftauchen zu sehen, Tabari vorne und Kiuk mit gekreuzten Armen dahinter.

„So eine Überraschung,“ sprach der Vater kalt. „Kommt ihr zum Festmahl des Rehfleisches? Etwas spät, es ist schon mehr als gar.“

„Garer als du im Kopf zumindest,“ war Tabaris Erwiderung. Der Himmel grollte über ihnen und Kelar sah ihn höhnisch an, als der Sohn zwei Schritte auf ihn zu trat. „Die Geister haben mich zu dir geführt, Vater. Du weißt, wieso ich gekommen bin, wieso wir beide jetzt hier sind… nicht wahr? Du hast davon geträumt, genau wie ich, und es hat dich ebenso rastlos gemacht.“ Kiuk blieb hinten und sah nur verunsichert hin und her zwischen den beiden. Was immer hier gleich laufen würde, er würde seinen Bruder nicht im Stich lassen; Nalani würde ihn häuten, ließe er zu, dass Tabari etwas zustieß.

Kelar sagte lange nichts; dann begann er plötzlich lauthals zu lachen. Tabari wartete seelenruhig darauf, dass er sich ausgelacht hatte. Als Kelar sich beruhigte, riss er plötzlich seinen Speer hoch und hielt ihn seinem Sohn angriffslustig grinsend entgegen.

„Du willst mich herausfordern?!“ spottete er, „Du kannst mich nicht töten, Tabari.“

„Ich will dich nicht töten, ich werde deine Tyrannei ein für alle Mal beenden. Töten kann dich wer will, ich werde es nicht sein.“

„Du kannst mich auch nicht besiegen!“ lachte der Vater, „das spürst du auch, wenn du auf dein Herz hörst, huh? Wir sind… vom gleichen Fleisch und Blut, die Geister haben nicht bestimmt, dass Menschen vom selben Blut sich gegenseitig töten sollen. Oder bekämpfen. Das ist nicht die Natur, Tabari!“

„Was weißt du… von den Geistern, Vater?“ war Tabaris kaltherzige Antwort, „Die du versklaven willst, die du zu beherrschen glaubst… dabei haben sie dir schon vor langer Zeit den Rücken gekehrt. Die Geister… dienen nicht einem Menschenmörder, der es wagt, Herrschaft über die Mächte der Schöpfung, Vater Himmel und Mutter Erde zu beanspruchen!“ Er sah auf des Vaters Speer, als mit einem lauten Krachen plötzlich ein Blitz aus dem Himmel in die Waffe einschlug und Kelar den Speer samt gleißender Blitzkugel empor riss, das Gesicht wahnsinnig verzerrt zu einer Furcht einflößenden Grimasse.

„Du irrst dich, Tabari!“ krächzte er lachend, „Die Geister fürchten sich vor mir und würden nie wagen, mich zu verraten… im Gegensatz zu meiner sterblichen Familie!“

Dann stürzte er sich, Speer voran, auf seinen eigenen Sohn.
 

Tabari riss ein Schwert aus seinem Gürtel und blockte damit rechtzeitig den Speer. Kelar schnaubte.

„So kommst du mir nicht davon! Wenn du es wagst, mich angreifen zu wollen, Sohn, dann stell dich mir wie ein Mann! Und ich werde keine Gnade zeigen…“ Damit riss er den Speer zurück und griff von der anderen Seite an. Tabari sprang zurück und wehrte den zweiten Angriff wieder mit seinem einfachen Schwert ab, so gut er konnte. Er duckte sich unter dem vorbei sausenden Blitz hinweg und ein weiteres Donnern aus dem Himmel ließ ihn zurückfahren, als Kelar wütend seinen Speer herum schwang und ihn wieder angriff.

„Pass auf!“ schrie Kiuk im Hintergrund entsetzt und riss schon alarmiert die Arme empor, um seinen Bruder zur Not weg zu teleportieren und ihn vor dem tödlichen Angriff zu bewahren. Aber der Blonde wusste sich schon selbst zu helfen, wich einem weiteren Speerschlag aus und blockte die goldene Waffe ein neues Mal.

„Tse!“ spuckte Kelar, „Du kannst nur weglaufen, schon bei Nalani bist du immer nur weggelaufen! Was bist du bloß für ein Waschlappen?! Du glaubst ernsthaft, die Macht der Geister wäre mit jemandem wie dir?!“

„Ich kann auch anders,“ machte Tabari, „Ich habe nur keine Lust!“

„Wie kannst du es wagen…?!“ Der Mann blieb stehen und riss seinen Speer in den Himmel. Tabari blieb auch stehen, leicht außer Atem vom hastigen Ausweichen, und fixierte seinen Vater mit einem stummen Blick. „Wie kannst du es wagen, die Geister und mich so zu entwürdigen, Tabari?!“ brüllte Kelar ihn zornig an, „Kämpfe! Oder ich werde mich bis ans Ende allen Lichts und aller Finsternis schämen, dein Vater zu sein!“

Tabari seinerseits hob den Kopf und tat etwas Verblüffendes, als sein Vater sich rasend vor Wut auf ihn stürzte.

Er grinste mitleidig.
 

„Du bist nicht mein Vater. Du bist ein irrer Geist voller Bosheit, der meinen Vater schon vor langer Zeit gefressen hat.“
 

Kelar erreichte seinen Sohn nicht. Als er ihn mit dem Speer aufspießen wollte, und die Macht des Stoßes hätte einen wilden Keiler aufgespießt, schwang Tabari in aller Ruhe sein Schwert herum und von einer unsichtbaren Macht wurde der Gegner durch die Luft geschleudert und zu Boden geworfen. Keuchend rappelte Kelar sich auf und starrte fassungslos auf seinen Sohn.

Wind…?! Hat er gerade aus dem puren Nichts… Wind beschworen?!

Kiuk war ebenfalls verwundert, sagte aber nichts und blieb im Hintergrund. Das war Tabaris Kampf, nicht seiner. Er würde die Geister nur beleidigen, würde er sich unnötig einmischen.

Kelar war aufgestanden und packte seine Waffe von Neuem.

„Dann verleugnest du mich also?“ fragte er kühl, sein Sohn wurde jetzt auch ernster und hob lauernd das Schwert höher.

„Ich verleugne nicht meinen Vater, sondern das, was die Wahnsinnsgeister aus ihm gemacht haben! Das ist eine Krankheit in deinem Kopf und sie breitet sich aus, je länger du lebst befällt sie dich mehr. Du… bist nicht länger Herr der Geister, Kelar. Du wirst das Amt abgeben, um den Zorn der Himmelsgeister zu besänftigen.“

„Einen Dreck werde ich!“ spuckte das gegenüber und stürzte sich brüllend wieder nach vorn, „Ich habe hier die Macht, Tabari! Du wirst kriechen, und wenn ich dich in Stücke reißen muss!“ Schneller als Kiuk gucken und Tabari reagieren konnte war er über ihm und schlug mit voller Wucht mit dem Speer nach ihm. Tabari riss in letztem Moment das Schwert hoch und blockte den gleißenden Blitz ab, den Kelar nach ihm schmetterte, es gab ein ohrenbetäubendes Krachen und von einer gewaltigen Druckwelle aus Macht wurde Tabari zu Boden geschleudert, das Schwert wurde ihm aus den Händen gerissen. Als er keuchend den Kopf hoch riss, war sein Vater über ihm samt Speer, an dessen Spitze das glühende, tödliche Licht erlosch.

„Was zum…?!“ japste Kiuk und trat unwillkürlich zurück, während die Farbe aus seinem Gesicht wich. Tabaris Schwert war nicht mehr zu sehen; an seiner Stelle lagen Metallstücke wie Krümel im verdorrten Gras.

„Die Geister liegen mir zu Füßen…“ zischte der Herr der Geister grimmig, als er den Speer auf Tabari richtete und der japsend die Augen schloss, als die Spitze seine pochende Kehle berührte.

Er würde ihn töten.

Er würde ihn aufspießen und ihm die Haut abziehen, da war er sicher.

Geister des Himmels und der Erde! Rief er die Mächte der Schöpfung in seinem Inneren, Hört mir zu… dieses eine Mal, hört mir zu…

„Und du, Tabari… wirst mir ebenfalls… zu Füßen liegen!“ schnappte der Mann über ihm in diesem Moment, und er holte aus, um mit der Waffe zuzustechen. Kiuk schrie; in dem Augenblick öffnete Tabari die Augen wieder und in dem sonst so friedlichen Grün flammte jetzt der Zorn von Mutter Erde auf, auf der er lag. Er riss blitzartig beide Hände empor und abermals schmetterte er den Vater samt Speer durch die Luft und zurück auf den Boden, wo er sich überschlug und hustend liegen blieb. Der Windstoß erfasste Kelars Lagerfeuer und ließ die Flammen einen bösartigen Tanz tanzen. Der Blonde rappelte sich auf die Beine und keuchte kurz, bis Kelar sich auch wieder aufgestellt hatte, fest den Speer umklammernd und bebend vor Zorn und Hass auf die ganze Welt, die ihn verraten hatte, die seine Macht nicht akzeptierte.

Er würde es ihnen zeigen… er würde sie alle vernichten und sie unterwerfen.

„Mutter Erde wird dich strafen dafür, dass du unschuldiges Blut auf ihrer Haut vergossen hast!“ zischte der Jüngere, „Und Vater Himmel wird dich strafen, weil in seiner Luft der Gestank von Tod und Grauen ist, seit du dich König über dieses Land nennst! Dieses Land, das du Lyrien nennst… sein Name ist Dokahsan! Und hier und heute werde ich… ihm diesen Namen wiedergeben!“

„Und deine Familie für alle Zeiten… entehren!“ raunte der andere und hob die Waffe, um mit einem weiteren Grollen und einem mächtigen Windstoß einen gigantischen Wirbel aus Sturm und Macht an der Spitze des Speers entstehen zu lassen. „Ihr Geister des Windes, Geister des Sturmes, die ihr meine Familie beschützt!“ brüllte er dabei mit in den Nacken gelegtem Kopf, „Zeigt diesen Verrätern, dieser Schande, diesem Abschaum euren Zorn! Vernichtet ihn, diesen abscheulichen Käfer, der es gewagt hat… eure Ehre in Frage zu stellen!“ Er riss den Kopf wieder herab und funkelte Tabari boshaft aus seinen zu Schlitzen verengten Augen an. Tabari sah zurück und für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Stumm sahen sie einfach nur einander an und Tabari erkannte, dass in den Augen seines Vaters nichts mehr war… da war keine Seele, kein Geist.
 

Nur Wahnsinn.
 

„Vergebt mir, Geister allen Lebens,“ murmelte Tabari nur, in dem Moment schleuderte sein Vater seinen Tod bringenden, mächtigen Wirbel auf ihn. Kiuk fuhr zusammen bei dem lauten Krachen und das darauf folgende Beben der Erde warf den Mann von den Beinen. Er sah seinen Bruder, der dieses Mal nicht mehr auswich; stattdessen breitete er die Arme aus, als wollte er den Tod, der unweigerlich auf ihn zu kam, umarmen.

„TABARI, NEIN!“ schrie er, in dem Moment gab es ein weiteres, grauenhaftes Donnergrollen, das aus Himmel und Erde zugleich zu kommen schien, als Kelars Zauber Tabari traf und ihn in den Wirbel einhüllte. Kiuk hustete und rappelte sich trotz des plötzlich aufkommenden Schwindelgefühls auf, als er mit ansehen musste, wie sein älterer Bruder von der furchtbaren Macht der zornigen geister erfasst und verschlungen wurde. Er würde den Augenblick nie vergessen, in dem er wirklich geglaubt hatte, er hätte seinen Bruder verloren.

Doch dann brach der Wirbel mit einem Mal mit einem gleißenden Licht auf und hob sich in den Himmel. Tabari hatte die Macht mit bloßen Händen gefangen und hielt sie fest, die Arme in den Himmel erhoben und jetzt wieder zu seinem Vater starrend, der das Schauspiel ebenfalls entgeistert verfolgte.

Er fing seinen Zerstörer. Er fing die Macht des Sturms mit bloßen Händen. Kein Sterblicher hätte so einen Angriff überlebt, nicht einmal Zoras Chimalis wäre lebendig davon gekommen; als er einmal die größte Macht des Lyra-Clans auf seinen ewigen Rivalen entfesselt hatte, hatte er leider nur seine Schulter erwischt und ihn nicht ganz getroffen…

„Wer bist du…?!“ japste er mit einem Mal erbleichend und starrte auf Tabari, „Wer bist du, Geist, dass du den Wind fangen kannst, als wäre er ein Heuballen…?!“

Tabari reckte den Kopf in die Luft und sah schweigend zu ihm herüber, die gewaltige Macht bebend in seinen Händen haltend.

„Ein Windgeist, Vater,“ sprach er dann, „Und der Erbe des Lyra-Stammes, der in einer späteren Zeit… wieder zu Ehre und Ansehen kommen soll, da du nicht mehr sein wirst.“

Damit schleuderte er die Macht des Sturms zurück auf den Vater, der wie angewurzelt da stand und keine Anstalten machte, auszuweichen. Als der Wind ihn mit voller Wucht erwischte und Tabari die Hände mit einem Ruck zurück zog, erlosch das Licht und der Wirbel verschwand. Der Herr der Geister lag am Boden, vom Zauber war seine Haut blutig zerfetzt und er keuchte schwer. Seine Brust zierten zwei tiefe Schnitte, aus denen dunkles, heißes Blut sickerte und seinen schwarzen Umhang durchnässte.

Kiuk kam herbei gerannt.

„Himmel, Tod!“ rief er nach Luft schnappend, „W-was hast du getan? W-was ist das hier, Tabari…?!“

„Es ist vorüber,“ war Tabaris einziger Kommentar, und er ging in aller Ruhe zu seinem Vater, der am Boden lag, getroffen von der Macht, die er zu beherrschen geglaubt hatte.

Er hatte sich offenbar geirrt. Er hatte die Sturmgeister nie beherrscht… Tabari hingegen tat es mit jeder Faser seines Körpers. Er war ein perfekter Meister der Windmagie.

„Du…!“ war alles, was er röchelnd herausbrachte, als er bebend aus blutunterlaufenen Augen zu seinem ältesten Sohn hinauf sah. Kiuk kam auch dazu, wurde aber nicht beachtet. „Du hast… von den Windgeistern geträumt… die du maßlos… beherrschen kannst… und du hast… gewusst, dass du heute… hier sein würdest mit mir. Dass du… mich… töten würdest, Tabari. Du hast es… schon lange gewusst…“

„Du hast es auch gewusst,“ sagte der Sohn leise. „Aber ich habe dich nicht getötet. Ich habe den Wind erlöschen lassen, bevor er dich zerreißen konnte. Im Namen des versammelten Rates, der mir da zustimmen wird, nehme ich dir den Rang des Geisterjägers. Du bist verstoßen vom Rat und wirst des Landes verbannt für immer und ewig. Setzt du jemals wieder einen Fuß nach Dokahsan, wirst du sterben. Und jetzt sag…“ Er hockte sich hinunter und nahm Kelar mit aller Sorgfalt den Pentagramm-Anstecker ab, den er in seine Tasche steckte, „Bin ich nicht barmherzig, Vater? Du hast keine Gnade verdient, so viele, wie du getötet hast… aber ich bin nicht wie du. Ich kann… dich nicht töten. Erhole dich und verlasse das Land.“ Damit erhob er sich wieder und nahm den Speer seines Vaters an sich, und keuchend versuchte Kelar, sich aufzurappeln, schaffte es aber nicht. Blut spuckend blieb er auf der Erde liegen, als Tabari sich gefolgt von Kiuk von ihm entfernte.

„Das wagst du nicht…“ stöhnte er, „Du kannst mich nicht verbannen…“

„Doch,“ seufzte Tabari und sah noch einmal über die Schulter, „Da du deines Amtes enthoben bist, bin ich als dein Sohn der Erbe deines Reiches Lyrien. Das heißt, ich habe das Sagen. Lebe wohl… Kelar.“

Er gab seinem Bruder ein Zeichen, worauf der ihn artig zurück zum Schloss teleportierte. Kelar blieb allein in der Einöde zurück, schwer verwundet und unbewaffnet den bösartigen Mächten der Natur ausgesetzt.
 

Aus dem Himmel kam ein dunkles, langgezogenes Grummeln, als in der Stube der kleine Puran plötzlich den Kopf drehte und orakelte:

„Vati und Onkel Kiuk kommen zurück!“

Nalani stand auf, sie hatte es ebenfalls gespürt. Die Unruhe der Geister hatte sich verändert… sie konnte nicht sagen, ob zum Guten oder zum Schlechten. Aber dass Tabari zurück kam, war ein gutes Zeichen. In dem Augenblick erschienen er und sein Bruder aus dem Nichts in der Stube, worauf Sukutai auch aufsprang.

„Hallo Vati!“ grüßte Puran Tabari guter Laune und froh darüber, dass er zurück war; er verstand selbst nicht, was ihn beunruhigt hatte, aber mit dem Verschwinden der beiden Männer war die Nervosität der Geister gewachsen. Tabari grinste ihn an.

„Hallo, mein Söhnchen!“

„Wo ist dein Vater?“ wollte Sukutai wissen und war sich nicht sicher, ob die Frage Kiuk oder Tabari galt.

„Mein Vater ist da!“ behauptete Puran und Nalani erklärte ihm behutsam:

„Der war auch nicht gemeint. Sei bitte still, das ist sehr wichtig für uns.“ Sie sah auch zu Tabari und ihr Blick wurde kalt, als er nichts sagte und den Kopf weit senkte, allen Blicken ausweichend.

„Weg,“ war dann alles, was er von sich gab. „Es ist vorüber.“

„Dann hast du ihn getötet?“

„Nein,“ schnaubte der Blonde, „Das überlasse ich den Schicksalsgeistern. Er ist keine Gefahr mehr, seine Macht ist dahin und er weiß es. Ich habe seinen verfluchten Speer… sei stolz, Nalani!“ Er war plötzlich grimmig, als er wieder zu ihr sah, ehe er ihr achtlos die Waffe seines Vaters vor die Füße warf. Sukutai fuhr erschrocken zurück und Kiuk keuchte. Er nahm seine Frau an der Hand.

„Gehen wir,“ murmelte er, „Ich möchte nach Alonachen sehen. Geht es ihr besser? – Komm mit, Puran, wir besuchen deine Cousine.“ Ohne auf die Einwilligung des Jungen zu warten nahm Kiuk ihn an der anderen Hand und ging mit ihm und Sukutai hinaus. Er hatte keine Ahnung, was das zwischen seinem Bruder und seiner Schwägerin gerade war, aber sein Gefühl sagte ihm, es wäre besser, zu gehen.

Nalani sah stumm auf den goldenen Speer zu ihren Füßen, als die Tür ins Schloss gefallen war.

„Du weißt, dass ich dich nicht anlügen würde,“ zischte Tabari und fing an, grantig vor seiner Frau auf und ab zu gehen. Sie sah wieder hinauf und ihre Blicke trafen sich mit einem angespannten Funkeln von beiden Seiten.

„Du sagst, die Gefahr ist gebannt, aber ist das gewiss?“ antwortete sie kalt, „Er ist noch am Leben und kann auch ohne Speer Unheil stiften.“

„Das ist nicht meine Aufgabe, du weißt das genauso gut wie ich!“ fuhr er sie empört an, „Was verlangst du da von mir?! Ich tue, was die Geister mir befehlen, Nalani, nicht mehr oder weniger!“ Sie verengte die Augen zu Schlitzen, als er auf sie zu kam und dann direkt vor ihr stehen blieb, sodass sie ein klein wenig den Kopf recken musste. Für eine Frau war sie ziemlich groß und daher nicht sehr viel kleiner als ihr Mann. „Ich bringe dir des Monsters Speer, das bestialische Ding, mit dem er Tausende von Menschen getötet hat, Nalani. Du… solltest stolz sein.“

„Es war Wille der Geister, was du getan hast, darauf muss nicht ich stolz sein,“ seufzte sie und wollte sich abdrehen, aber er packte unsanft ihren Arm.

„Ich habe das nicht für die Geister getan oder für das Land Dokahsan!“ schnappte er, „Ich habe es für dich getan, Nalani!“

Sie sah ihn an und weitete die Augen wieder, als er von ihr zurück trat und den Blick auf den goldenen Speer senkte.

„Der goldene Speer ist ein Geschenk der Geister an die Königin der Geisterjäger,“ erklärte er todernst und sie blinzelte. Königin? „Du solltest ihn verstecken oder für immer wegsperren, damit niemand mehr heran kommt.“ Sie würdigte das Geschenk keines Blickes, sondern sah zu ihm hinüber. Als sie sprach, war ihre Stimme leise und anders als er sie kannte.

„Wenn das Geschenk von den Geistern kommt… was bist dann du, der es mir gebracht hat?“

Tabari grinste jetzt.

„Unwürdig, dich zu besitzen, wenn ich dich nicht beeindrucken kann, denke ich…“ Sie schnappte nach Luft und starrte ihn an. Dann schlug sie ihm ohne Vorwarnung ins Gesicht und schubste ihn dadurch ein Stück zurück. Er hustete. „W-wofür war das denn bitte?!“

„Du bist ein absoluter Hornochse!“ schrie sie aufgewühlt, „Du sagst so einen Unfug und merkst über Jahre hinweg nicht, dass ich stolz auf dich bin, du Idiot! Muss man Euch alles unter die Nase reiben, Herr Tabari, seid Ihr etwa immer noch blind?! Zumindest blind für meine Gefühle, die ich für Euch habe, wie es aussieht, ja, unwürdig, in der Tat!“

„W-was?“ stammelte ihr Mann perplex über ihren Ausbruch, und sie gab ihm noch eine Ohrfeige und schubste ihn entrüstet an die Wand, sodass er keuchte.

„Ich würdige das, was du tust, was du getan hast, und ich könnte mich schon wieder dafür vierteilen, dass ich für einen solchen Deppen Gefühle habe, der nicht mal merkt, dass es so ist! Elender Blindfisch, ich verdresche dich jetzt so lange, bis die Blindheitsgeister aus dir geflohen sind, sie werden mich fürchten lernen!“ Damit packte sie ihn unsanft am Kragen und er schnappte nach Luft.

„Ja, tu das!“ verlangte er plötzlich enthusiastisch, ehe er sich von ihr gegen die Wand stoßen ließ und ihr Kinn packte, um ihr Gesicht zu seinem zu zerren und sie heftig zu küssen.
 

Es dämmerte. Eine unheimliche Dunkelheit schlich über das Land; jetzt, im Hungermond, wurde es früh dunkel und spät hell, eigentlich ging die Sonne nur auf, um danach sofort wieder unterzugehen. Kelar Lyra lag noch immer mitten in trockenem Gras am Boden und starrte heftig atmend hinauf in den sich verdunkelnden Himmel. Die Wolken zogen rasch vorüber, der Wind kam aus dem Osten und trieb sie nach Westen, hinüber nach Aledyn oder dem Rest von Rodril, der noch übrig war.

Ein Krähen erfüllte die Luft und als der Mann weiterhin in den Himmel sah, erkannte er die Krähe von zuvor wieder, die zurück kehrte und sich auf einem kahlen Strauch in der Nähe niederließ.

Er startete einen neuen Versuch, sich aufzurappeln, als er plötzlich ein Geräusch hinter sich hörte. Seine Instinkte versagten und verrieten ihm nicht, was er zu hören glaubte oder ob er sich in acht nehmen sollte. Keuchend stützte er sich auf die zitternden Ellenbogen und die Wunden auf seinem Oberkörper schmerzten. Dann fiel mit einem Mal ein Schatten über ihn und er wusste, dass jemand hinter ihm stand.

„Du musst nicht aufstehen,“ sagte eine vertraute Stimme und er keuchte und spuckte vor Verblüffung Blut. „Bleib liegen, du wirst noch verbluten.“ Der Schatten beugte sich mit einem zärtlichen Lächeln über ihn und als er die Augen verdrehte und hinauf starrte, schnappte er röchelnd nach Luft und versuchte nur energischer, aufzustehen.

„Wieso… habe ich dich nicht kommen gesehen…?! Wieso haben mir… die Geister verschwiegen… dass du kommen würdest?“

„Weil deine Macht dahin ist, mein Lieber,“ war die ruhige Antwort und er spürte eine Hand über seine Haare gleiten. Er schnaubte, hustete und schaffte es, sich aufzusetzen, um den Kopf richtig herumdrehen zu können. „Die Geister kehren… dir den Rücken. Das tun sie schon lange und tief in dir hast du gewusst, dass es so kommen würde. Und es wurde dir wiederholt gesagt… zuhören wolltest du noch nie sonderlich gern, ich weiß.“

„Warum bist du hier?!“ schnaufte der Mann und fasste bebend nach seiner verwundeten Brust, „Wo… wo ist Tabari?! Was… hat diese Wachtel mit ihm gemacht, dass er…?!“

„Shhh… reg dich doch nicht auf, das verschlimmert die Schmerzen. Tabari ist bei seiner Frau. Und er hat recht getan und hätte es früher tun sollen, es war keine leichte Aufgabe. Lyrien… ist gefallen. So… wie ich es vor Jahren schon prophezeit habe. Habe ich nicht recht, mein lieber Gatte, Kelar?“

Er sah Salihah aus verengten Augen grimmig und hasserfüllt an, wie sie vor ihm stand, erhobenen Hauptes. Sie war alt geworden… das waren sie beide. Gemeinsam und dennoch getrennt waren sie das. Und sie sah krank und erschöpft aus, und auf seltsame Weise dennoch noch so schön, wie sie immer gewesen war. Und sie war so ziemlich die Letzte, die er jetzt sehen wollte.

„Warum bist du… gekommen, Weib?“ raunte er und keuchte, als die Schmerzen wieder zunahmen. Sie setzte sich in aller Ruhe neben ihn auf den Boden und rückte ihren Mantel zurecht.

„Das weißt du nicht?“ wunderte sie sich, „Oh, wie furchtbar. Ich habe die letzten Wochen und Monde damit verbracht, zu studieren und ich bin jetzt am Ende meines Studiums angekommen. Die Geister erzählten mir von dem, was hier vorgefallen ist, da kam ich auf schnellstem Wege hierher.“

„Ich hätte gedacht, du würdest Chimalis auf mich hetzen, damit er mir den Hals umdreht,“ knurrte er, „Ich stelle fest… dass ich dich nicht mehr verstehe, Salihah. Ich habe keine Ahnung, was du hier machst und was du denkst. Das ärgert mich. Ich sitze hier am Boden und… bin ein Nichts, ich habe keine Waffe, keine Kraft und in Kürze wohl auch keinen Lebensgeist mehr, es sei denn, du wärst gekommen, um das zu verhindern, und das, so weit kenne ich dich noch, ist nicht deine Natur.“ Sie lachte leise und zog aus ihrer Manteltasche ihre Laudanumflasche. Sie hatte sogar ein Schnapsglas dabei, füllte es mit etwas Medizin und Wasser und stellte es ins Gras, ehe sie noch ein zweites Glas füllte.

„Du sagst, du verstehst mich nicht mehr?“ seufzte sie, „Nein, das hast du noch nie getan. Hier, trink das. Das hilft gegen die Schmerzen.“

„Ich trinke dein Höllenzeug nicht!“ empörte er sich und bereute es darauf, so laut gesprochen zu haben, als der Schmerz heftiger wurde und er zurück zu Boden kippte. Er hustete und Salihah nahm mit aller mütterlichen Sorgfalt, die sie besaß, seinen Kopf auf den Schoß, strich ihm über die Wange und nahm das Glas hoch.

„Du wirst es trinken,“ befahl sie streng, „Medizin schmeckt immer scheußlich.“ Sie hob das zweite Glas auch und leerte es selbst, bevor sie Kelars Kopf mit sanfter Gewalt anhob und ihm das Laudanum in den Mund goss. Er hustete und wollte es ausspucken, aber sie hielt seinen Mund solange zu, bis er geschluckt hatte. Er wollte sich aufsetzen und wütend nach ihr schlagen, aber plötzlich benebelte das grausame Getränk seine Sinne und ihm schindelte.

„Himmelsdonner!“ zischte er und hustete, „D-du sollst zum Himmelsdonner fahren, Salihah! Abartiges Gesöff…“

„Du solltest mir lieber dankbar sein,“ flötete sie und zwang ihn, sich wieder hinzulegen. „Ich bin keine Heilerin, aber die Medizin wird die Schmerzen lindern. Es muss grausam wehtun, ich gebe dir lieber noch ein Glas…“

„Nein!“ rief er empört, riss ihr das Glas mit mobilisierter Kraft aus der Hand und schleuderte es fort. Salihah hielt inne und ihr Lächeln verschwand. Ihm wurde beinahe schwarz vor Augen vor Benommenheit und die Geräusche um ihn wurden dumpf. Er fühlte sich plötzlich wie in einer anderen Welt gefangen, und durch eine hauchzarte Glasscheibe war er von der realen Welt getrennt, in der seine verhasste und dennoch begehrte Frau saß und jetzt kalt und herzlos auf ihn herab blickte.

Es war in diesem Moment, dass die Geister ihn zum letzten Mal ihre Stimmen hören ließen.
 

„Der Clan wird fallen… Lyrien ist am Ende, genau wie sein König. Jetzt… kommt Schatten über deine Welt, Herr von Lyrien, blutrünstiger Dämon.“
 

Du wirst sterben.
 

Er keuchte und sah fassungslos in das Gesicht seiner Frau, blass und kühl und mit der Erhabenheit einer wahren Königin, als sie die Lider senkte und arrogant zu ihm herunter sah.

„Du… kannst… das nicht, Salihah…“ keuchte er und riss die Augen auf, „Du kannst das Band… g-genau so wenig zerstören wie ich es… konnte!“

„Was, denkst du, habe ich studiert?“ fragte sie und lächelte plötzlich wieder; aber es war ein anderes Lächeln, ein falsches, blutrünstiges Lächeln, voller Triumph und voller Gier, wie ein Raubtier, das unermüdlich fressen musste und nie genug bekam. „Pilzkunde? Wohl kaum. Du bist unfähig, das Band zu zerreißen, weil du Schwarzmagier bist. Bänder sind seelisch, Kelar, keine Kontrolle über tausende von geistern und Winden könnte sie zerstören. Aber die Kontrolle einer Seele vermag es… und Ahnen aus meinem Clan können es. Es gibt eine seltene Technik zur Kontrolle einer Seele, die einer Seele befiehlt… eigentlich basiert die Idee auf der Magie der Zuyyaner, die können damit ein ganzes Volk manipulieren, Gehirne waschen und Unterbewusstsein und Veränderungen auslöschen oder verändern, wie sie wollen. Auf diese Weise vermögen wir Schamanen diese Kraft nicht nachzuahmen, aber ich habe einen Weg gefunden, meine eigene Seele auf dieselbe Weise zu kontrollieren… ihr zu befehlen. Und jetzt rate mal, was ich mir befohlen habe, zu tun…“ Sie holte die Laudanumflasche wieder hervor und Kelar starrte sie verschwommen an, versuchte schwindelig, sich aufzurichten, was ihm abermals misslang.

„D-du Monster… d-du bist… eine so furchtbare Sadistin, Salihah, du bist krank, pervers und abartig…!“

„Natürlich,“ sagte sie in aller Ruhe, „Ich habe meinem geist befohlen… das Band zu zerreißen. Und genau das… tut er in diesem Moment. Wenn du das Glas nicht willst, trinkst du eben aus der Flasche, das macht auch nichts. Sturer Bock…“ Er schnappte nach Luft und drehte den Kopf weg, als sie ihm das abscheuliche zeug direkt aus der Flasche in den Rachen kippen wollte.

„Das kannst du nicht!“ wiederholte er japsend, und sie seufzte und ergriff sein Kinn, um sein Gesicht wieder festzuhalten.

„Na, na, na,“ tadelte sie ihn wie ein unartiges Kind, „Du solltest deine Medizin schon trinken, ich bin gnädiger zu dir als du verdienst… mein Lieber.“ Er starrte sie benommen an, da setzte sie sich die Flasche selbst an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck der Medizin in den Mund. Kelar war unfähig, sich zu rühren, als sie die Flasche absetzte und sich dann über ihn beugte; mit beiden Händen erfasste sie seine Wangen und hielt ihn fest, bevor sie ihn leidenschaftlich küsste. Dabei flößte sie ihm das pure Laudanum ein und Kelar versuchte sie keuchend loszureißen, fand aber die nötige Kraft nicht. Sie ließ von ihm ab, als er nicht anders konnte als zu schlucken und darauf leise keuchend zurück zu Boden sank, nachdem sie sich aufgerichtet hatte. Die Benommenheit wurde stärker und das Licht um ihn immer dunkler, wie ein grauer Vorhang, der sich vor seine Augen zog. Er konnte sich nicht mehr bewegen, gelähmt von der Macht des Opiums und geblendet von der Dunkelheit, sie nach ihm angelte mit langen, dünnen Armen. Er wehrte sich mit aller geistigen Kraft, die er noch übrig hatte, aber der Seelenfänger, das Geschöpf, das die Geister der Toten sammelte und ins Geisterreich brachte, war schon über ihm und versperrte ihm den Weg.

„Nein…!“ stöhnte er kraftlos, als Salihah sich ruhig erhob, „Du elende… du Hure… ich verfluche dich…!“

„Wie romantisch,“ seufzte sie theatralisch. „Eigentlich wollte ich dich zusammen mit dem Rest deines Rehs in Öl braten, aber das erschien mir stillos und überholt. Aber wer in der Geisterwelt wird schon behaupten können, zu Tode geküsst worden zu sein? Du bist und bleibst eben etwas Besonderes… Kelar.“ Damit kehrte sie ihm den Rücken. Er streckte keuchend und zitternd die Hand nach ihr aus und stöhnte, als die Benommenheit und die Dunkelheit zunahmen.

„D-das wagst… du… nicht!“ schnappte er, „Nein, Salihah! Du… nicht!“ Sie drehte noch einmal den Kopf und ihre hellen, müden Augen trafen seine. Das letzte, was er im Leben von seiner schönen Frau sah, war ihr lächelndes Gesicht.

„Ich muss gehen, ehe meine Seelenbeherrschung sich auflöst,“ sagte sie. Lächelnd wandte sie sich wieder ab und bevor sie sich davon teleportierte sprach sie noch: „Vergib mir, mein Lieber.“

Sobald sie weg war, flatterte die Krähe nach Norden davon.
 

Die Dunkelheit umfing ihn, als es plötzlich ganz still war. Er keuchte und schnappte nach Luft, was zunehmend schwerer fiel, während er spürte, wie ihn das pure Gift aus der bösartigen Flasche lähmte. Verschwommen sah er blitzende Lichter über den Himmel tanzen und er fragte sich, ob es wirklich war oder nur eine Halluzination, die ihm das Laudanum vorgaukelte. Die Lichter tanzten oben am Himmel und wechselten die Farben. Zitternd versuchte er sich auf die Seite zu rollen, was aber erfolglos blieb. Es wurde wieder dunkler und als die tanzenden Lichter vor seinen Augen fast verblasst waren, hörte er die Stimme des Tod bringenden Seelenfängers, während er mit dem Tod kämpfte.

„Ich bekomme deine Seele… jetzt gleich,“ sagte die Schattengestalt. „Du wirst sie mir geben, wenn ich dich zwinge… Kelar.“

„Nein!“ zischte er benommen und schüttelte mit aller Macht den Kopf, als er spürte, wie der Tod nach ihm griff, „Ich bin noch nicht tot, ich kämpfe! Verschwinde, Seelenfänger, ich bin allmächtig! Ich werde auch dich bezwingen!“ Doch die kalten, eisigen Klauen des Seelenfängers packten sein Gesicht und er spürte, wie sie ihn berührten, zuckte zusammen und starrte hinauf in die verschwommen tanzenden Lichter, die greller geworden waren. Dann erkannte er über sich das Gesicht eines Jungen, der ihn rüttelte.

„Ihr seid verletzt, Herr, kann i-ich Euch helfen?“

Der Mann keuchte und starrte den Jungen an, für einen Moment sah er wieder klar und kämpfte mit aller Kraft gegen die Übermacht des Giftes, das seinen Körper immer mehr lähmte und tötete.

„W-was zum…?!“ röchelte er, „Was bist du denn für ein Knirps?!“

„Ich komme vom Dorf Canulo im Süden, i-ich sollte nach Wurzeln graben, wir haben nichts zu essen… da fand ich Euch hier liegen!“ erklärte der Junge und versuchte, den älteren Mann aufzusetzen; es war nicht ganz einfach und nach einigen Versuchen gab er es keuchend auf und raufte sich die mausbraunen Haare. Kelar schnaubte. Ein Wurzeln sammelndes Kind kam, um ihm zu helfen, war ja großartig.

„Hau ab!“ raunte er, „Ich brauche keine… Hilfe!“ Er röchelte und hustete plötzlich und schaffte es mit plötzlichem Schwung, sich zur Seite zu rollen und weiter schwer nach Luft zu schnappen. Jetzt wurde die Dunkelheit wieder tiefer um ihn herum und er fasste nach seinem Hals, als ihm mit einem Mal die Luft wegblieb.

„I-ihr sterbt, von wegen keine Hilfe!“ schrie der Junge entsetzt und sprang auf die Beine, „Ich hole Leute aus dem Dorf, bleibt, wo Ihr seid!“ Kelar fand die Kraft, ihm röchelnd zu antworten.

„Wie kannst du es wagen, mir zu… befehlen…?! Weißt du nicht, mit wem… du hier redest?!“ Er stierte das Bauernkind vernichtend an und der Kleine riss perplex du ahnungslos den Mund auf, um zurück zu starren; in diesem Moment hielt Kelar plötzlich wie versteinert inne, als er im Mund des Jungen die eigenartig spitzen Eckzähne erkannte.

„Warte… Junge…“ keuchte er und hustete. Das Kind rührte sich nicht von der Stelle und Kelar starrte ihn perplex an, so weit er konnte. Seine Sicht wurde schlecht und er sah das Bild des Jungen verschwinden vor seinen Augen. „Aus Canulo kommst du…?!“ Der Junge nickte verwirrt, als sich das Gesicht es verletzten Mannes plötzlich veränderte. Er begann zu lachen, sofern er das konnte, sein Gesicht verzog sich zu einer furchtbaren, grinsenden Grimasse.

„W-was… was habt Ihr…?“ fragte er entsetzt über diesen Ausbruch und hustend hob Kelar plötzlich den Kopf und schaffte es trotz der jetzt kompletten Finsternis um ihn herum, die Hand zu heben und sie nach dem Kind auszustrecken.

„Du hast… komische Eckzähne…“ raunte er dabei, „Hat einer deiner Eltern die auch…? Würde mich nicht wundern…“

„Meine Mutter,“ sagte der Junge verwirrt, „Aber was hat das damit zu tun…?“

„Viel,“ entgegnete Kelar und öffnete die Augen, die bereits glasig und trübe geworden waren, als das Gift begann, ihn endgültig umzubringen. Er verfluchte seine Frau innerlich und ihr verseuchtes Laudanum; er hatte sie davon abhängig gemacht und nun hatte ihn das selbst getötet.

Wie dumm.

„Ja, viel…“ wiederholte er sich und grinste höhnisch, „Und jetzt stirb, dummes Dorfkind.“ Mit diesen letzten Worten, die er jemals von sich gab, schleuderte er aus der Hand einen Blitz auf das Kind, der es am Kopf kraft und zu Boden riss. Das Kind schrie auf und zappelte, versuchte, den Blitz abzuschütteln und sich gegen die Schmerzen zu wehren, bis aus seiner Nase und seinen Ohren Blut rann und es schließlich mit halb geschlossenen Augen am Boden liegen blieb, mehr tot als lebendig.

Kelar ließ die Hand zu Boden fallen, als er keuchte und heftig nach Luft schnappte, zum Himmel hinauf sehend mit erblindeten Augen. Gelähmt vom Gift und jetzt endgültig in die Dunkelheit übergleitend zeigte er dem Seelenfänger vor sich ein hämisches Grinsen.

Du… bekommst meine Seele nicht… Todesgott! Du hast dich geirrt, Salihah, wenn du dachtest, mich… getötet zu haben!

Dann lähmte das Laudanum seine Lunge. Als Kelar Lyra zu atmen aufhörte, zuckte der kleine Finger des Kindes für einen Moment, ehe auch es erstarrte.
 

Nalani hob keuchend den Kopf in dem Moment, als ihre Instinkte sich mit einem Stich in ihrem Kopf meldeten. Tabari schnappte unter ihr auf der Couch liegend ebenfalls nach Luft und blinzelte, als sie auf ihm sitzend inne hielt.

„Es gibt eine Veränderung,“ murmelte seine Frau und fuhr sich durch die jetzt offenen Haare, „Die Geister sind nervös…“

„Ich spüre es auch,“ entgegnete er und keuchte kurz, als er sich mit ihr auf dem Schoß aufsetzte und sie dann etwas zurück schob. „Rasch, Nalani. Was auch immer hier passiert, mein Vater ist Schuld und wir sollten ihn so schnell wie möglich finden!“ Er erhob sich schnell und fing in Windeseile an, sich anzuziehen, sodass Nalani sich schnaubend ebenfalls aufrichtete und ihre zerzausten Haare zurückwarf.

„Was du nicht sagst, kommandiere mich nicht herum!“

Kiuk und Sukutai kamen ihnen schon entgegen, als sie halbwegs zurechtgemacht aus dem Zimmer kamen.

„Was ist passiert?!“ fragte Letztere entsetzt und Kiuk räusperte sich beim Anblick seiner Schwägerin und seines Bruders, die sich offenbar beeilt hatten, die Stube zu verlassen.

„Ist Kelar aufgetaucht?“ fragte Nalani zurück und Sukutai blinzelte, „Oder wenigstens Salihah?“

„Weder noch,“ antwortete die Schwägerin perplex. „W-wartet, wo wollt ihr hin?!“

„Vater suchen!“ Mit diesem Worten rannte Tabari voraus zur Treppe, gefolgt von seiner Frau und seinem Bruder, der Sukutai zurief:

„Pass auf die Kinder auf!“

„W-was, ich alleine?! – Puran, bleib hier!“

„Wieso gehen immer alle ohne mich fort?!“ meckerte der Kleine entrüstet, als seine Tante ihn festhielt, bevor er Nalani und seinem Vater folgen konnte. Die beiden und Kiuk verließen das Schloss, die Tür krachte.

„Wir bleiben fein daheim bei Alona,“ erklärte Sukutai ihm ernst, „Deine Eltern und Kiuk haben zu tun.“

„Und…“ Puran wurde jetzt still und sah mit einem Mal verdrossen zu Boden, „Und die bösen Dinge, Tante…?“ Sukutai sah auf ihn herunter.

„Haben die Geister… mit dir gesprochen?“ Das Kind sagte nichts. Die Tante versteifte sich und verengte vorsichtig die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Was haben sie zu dir gesagt?“ Erst sagte er nichts, erst als Sukutai ihn weiterhin ansah, hob er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Als er sprach, waren seine grünen Augen vor Verwirrung geweitet und die Augen seiner Tante taten es ihnen gleich.
 

Das Monster war tot.

Nalani, Tabari und Kiuk standen vor dem toten Körper des Mannes, der im Gras lag, fast an derselben Stelle, an der Tabari ihn zurückgelassen hatte.

„Was ist denn das hier für ein Junge?!“ fragte Tabari verdutzt und zeigte auf den Dorfjungen, der knapp neben dem Herrn der Geister am Boden lag, vermutlich genauso tot. „Scheiße, der Kleine ist verwundet, hat er mit seinem letzten Atemzug noch ein Kind umgebracht…?!“ Nalani beugte sich rasch zu dem Jungen, untersuchte die Wunde und fühlte seinen Puls.

„Er lebt noch!“ rief sie und begann mit ihren dürftigen Lira-Künsten, das Gröbste zu verschließen, damit nicht noch mehr Blut austrat. „So geht das nicht, wir müssen ihn mit ins Schloss nehmen, er braucht Verbände und Medizin…“

„Dann rasch,“ machte Kiuk und winkte seine Schwägerin zu sich herüber, die das Kind hoch nahm, dabei aufpassend, dass die Wunde nicht größer wurde. Tabari rührte sich nicht, auf seinen Vater herunter sehend. Der Himmel war duster geworden, die Nacht war gekommen.

.„Ich frage mich, ob er an den Wunden gestorben ist…“ murmelte er kleinlaut.

„Komm!“ machte seine Frau, „Der Junge braucht Arznei, und zwar schnell… wir sollten Kelar mitnehmen, wir können ihn hier nicht liegen lassen… nachher wacht er wieder auf…“

„Das würde ich nicht mal dem zutrauen,“ murmelte Kiuk, „Aber du hast wohl recht, Nalani. – Tabari?“ Tabari hob den Kopf und sah leicht apathisch hinüber.

„W-was?“ stammelte er. Nalanis Gesicht wurde kalt.

„Nimm ihn mit, komm,“ forderte sie ernst. Er sah in ihr schönes Gesicht und schlug dann wie um den Befehl anzunehmen die Lider nieder, ehe er ihrer Forderung nachkam und den Leichnam hochnahm, ihn sich über die Schulter werfend.

„Gehen wir,“ erklärte der Blonde dann und Nalani hielt Abstand von ihm und vor allem von seinem Vater, dem sie selbst wenn er tot war nie wieder zu nahe kommen wollte.

Gerecht ist es so, abscheuliches Monster, sagte sie zu dem toten Mann, Der Himmel hört schon auf zu zürnen…
 

Die Krähe landete auf der Spitze des Wachturmes von Tuhuli, als es aus dem Himmel grummelte und ein seltsames Wetterleuchten die Nacht erhellte. Zoras Chimalis hob schweigend den Kopf gen Himmel.

„Gewitter im Winter, das haben wir selten,“ war sein Kommentar, „Dann ist es vorüber?“ Die letzte Frage galt der Frau neben ihm, die nur stumm nach Norden sah.

„Ein komisches Wetter ist das,“ entgegnete Salihah ernst. „Die Geister sind immer noch unruhig. Kelar hat viel Unheil gestiftet. Das zu regeln ist Tabaris Aufgabe, er wird nach Kelars Tod das Clanoberhaupt sein.“ Zoras sah sie kurz an.

„Du tust so kalt,“ seufzte er, „Berührt dich sein Tod nicht mal ein kleines Bisschen? Selbst ich habe Mitleid, letztlich war er nur ein Opfer seines Irrsinns…“

„Mitleid…“ seufzte Salihah, „Ich habe einst mein Mitleid meinem Mann geschenkt in einer Zeit, in der er noch ein Mensch war… es muss jetzt mit ihm gestorben sein. Ich bin nie sehr emotional gewesen bei Toden. Als Kind hat man mich herzlos geschimpft, weil ich nicht über den Tod meiner Eltern geweint habe. Ich sehe zu viel… meine Augen finden keine Tränen mehr für so etwas.“ Er sagte nichts dazu. Ja, sie war kalt, aber nicht herzlos, das wusste er.

„Was suchst du im Norden, Salihah?“ wunderte er sich dann, „Du starrst, seit du zurück gekehrt bist…“ Er unterbrach sich, um in den wieder erleuchteten Himmel zu blicken, als das Wetterleuchten unruhig in eigenartigen Farben zurück kehrte.

„Aus dem Norden kommen die Dunkelheit und die Bosheit,“ erklärte sie sachlich, „Ich suche nach Zeichen, die ich übersehen haben könnte.“

„Du solltest zurück zum Schloss, Salihahchen. Die anderen werden sich fragen, wo du warst.“

„Wo soll ich gewesen sein? Ich war hier.“ Sie lachte ein seltsam hohles Lachen und fasste nach ihren Kopf, als sie plötzlich einen unangenehmen Schmerz spüren konnte. Sie angelte unruhig nach ihrer Medizin, aber sobald sie die Flasche in der Hand hielt, nahm Zoras sie ihr kopfschüttelnd ab.

„So nicht, du nimmst zu viel von diesem Zeug, das wird dich töten… ich bringe dich lieber noch mal zu Keisha… und danach nach Hause, bevor du unterwegs umfällst.“ Damit ergriff er sanft ihren Arm, um sie mit sich zu ziehen. Sie sträubte sich nicht, seufzte aber kurz.

„Du kannst mir nicht immer Gutes tun…“

„Siehst du doch,“ feixte er, „Ich würde der ganzen Welt Gutes tun und an erster Stelle immer dir, Salihahchen, meine Hübsche.“ Gegen ihren Willen wurde sie rot im Gesicht und wich leise atmend seinem Blick aus, bevor sie sprach.

„Du kannst nicht zur ganzen Welt gut sein, Zoras. Sie ist zu groß… selbst für dich.“
 

„Er ist tot,“ begrüßte Sukutai die anderen, die zurück zum Schloss kamen. Während Nalani sofort mit dem verwundeten Kind in die Stube eilte, schickte Tabari ihr einige Dienerinnen zu Hilfe.

„Bringt Wasser und Verbände,“ ordnete er an, „Und du da, suche nach meiner Mutter, da sie nirgends hier ist, ist sie vermutlich in Tuhuli, wenn sie dort nicht ist, bitte Zoras Chimalis, dir beim Suchen zu helfen. Es kann nicht sein, dass sie verschwunden ist, während wir uns um dieses Desaster kümmern!“ Er raufte sich genervt die blonden Haare, während er den Hofstaat herum scheuchte, dann erst sah er zu Sukutai, die noch immer vor ihm stand undverwirrt schaute. „Was ist?“ wunderte er sich. „Wir haben Vater gefunden und-… Moment, woher wusstest du, dass er tot ist, ehe wir kamen?“

„Dein Sohn hat es mir gesagt,“ antwortete Sukutai, und Tabari raufte sich abermals die Haare.

„Ah, so, hmm,“ machte er, ehe ihm klar wurde, was sie da gesagt hatte. „Wie bitte?! Puran hat dir das gesagt?! A-aber er kann das auch nicht-… Moment, wo ist das Kind?“

„Ich habe ihn mit einer Dienerin oben bei Alona gelassen. Dein Kind ist sehr begabt, ich glaube, er hört Stimmen im Wind.“

„In seinem Alter ist das völlig ausgeschlossen,“ entgegnete Tabari, „Er ist erst fünf! Wobei, er ist der Enkel meiner Mutter… wir sollten mit ihm zu Nomboh gehen, er als Lehrer kann sicher mehr dazu sagen.“

„Wo ist Kiuk?“ fragte die Frau besorgt, „W-was habt ihr mit Kelar vor, wenn er doch…?“

„Das wissen wir auch noch nicht…“ grübelte der Blonde und schritt eilig an ihr vorbei, „Das besprechen wir, sobald wir Mutter gefunden haben. Kiuk ist im Hof mit den Knechten, um den Leichnam zu bewachen… sieh du nach den Kindern, ich muss zu meiner Frau… das Kind, das wir mitgebracht haben, lag dicht neben meinem Vater, wir wissen nicht, ob er es verletzt hat oder was passiert ist…“

„Wie furchtbar,“ sagte Sukutai unglücklich, „Ein Dorfkind?“

„Vermutlich, vielleicht aus Nehawa oder Canulo, die liegen am nächsten dran… sobald der Kleine zu sich kommt, fragen wir ihn.“ Damit ging er in Richtung Stube. Sukutai sah ihm hinterher und sprach noch einmal.

„Dann hast du ihn getötet, Tabari… dann hast du das ganze Land von einem Monster befreit. Das Volk sollte dich… in höchstem Maße ehren.“ Demonstrativ senkte sie den Kopf, um sich leicht zu verneigen. Tabari sah sie nicht an, blieb aber stehen. Dann sagte er:

„Ich… habe ihn nicht getötet.“
 

„Und? Kommt er durch?“

„Ich denke schon. Die Wunde war schlimm, wir sind offenbar keinen Moment zu früh gekommen. Er fiebert, er sollte über Nacht hier bleiben.“

„Ich frage mich, wieso Vater im letzten Moment noch ein kleines Kind töten wollte… absurd, vollkommen.“

„Es mag vieles geben, das wir an deinem Vater nichtverstanden haben, Tabari. Jetzt ist es egal.“

„Hmm. Das ist wohl wahr.“

Der Junge hörte mit geschlossenen Augen dem Gespräch zu. Er kannte die Stimmen nicht und dennoch erschienen sie ihm auf merkwürdig ferne Weise vertraut. Er vermochte sie nicht einzuordnen. Sein Körper schmerzte abscheulich und er war verbunden worden. In dem Raum, in dem er zu sein schien, war es außergewöhnlich warm und er fand sich auf etwas Weichem liegen.

Eine Hand fühlte nach seiner Stirn, dann nach seiner verbundenen Brust, worauf das Kind zuckte ob eines üblen Schmerzes. Der Junge fragte sich, was passiert war… alles, woran er sich erinnerte war, dass er Wurzeln suchen gegangen war… da war ein alter Mann verletzt am Boden gewesen…

„Oh, er wacht auf,“ ertönte da die Stimme der Frau über ihm und der Junge öffnete langsam die Augen. Als erstes sah er über sich das Gesicht der schwarzhaarigen Frau, daneben tauchte jetzt ein blonder Mann auf.

„Und?“ fragte der Mann offenbar die Frau, die darauf brummte und nach den Lidern des Jungen griff.

„Was und?“ empörte sie sich, „Seine Augen sind kaum fiebrig, es geht bergauf. Nimm deinen Schädel da aus dem Weg, Tabari, verdammt!“

„Wo… bin ich?“ stöhnte der Junge jetzt leise, als der Mann sich aufrichtete und die Frau ihn ansah.

„Bei uns in der Stube. Wir haben dich verletzt auf der Wiese gefunden und ich habe deine Wunde versorgt. Bleib liegen,“ mahnte Nalani das Kind, als es sich aufrappeln wollte, „Du solltest dich ausruhen.“

„Stube?“ keuchte der Junge, „W-wo? Und wer seid Ihr? Ich muss heim u-und meiner Familie Wurzeln bringen… was habt Ihr mit dem verletzten Mann gemacht? Ist der auch hier?“ Die Erwachsenen sahen sich kurz an.

„Er ist tot,“ verkündete die Frau dann kühl. „Hat er dir das angetan?“

„Ich kann mich an nichts erinnern… nur daran, dass ich Wurzeln sammeln wollte und… d-da war dieser Mann…“ Japsend griff der braunhaarige Junge nach seinem Kopf.

„Shht, beruhige dich,“ Die Frau strich ihm über die Stirn und hielt ihm eine Tasse Tee hin. „Das ist Kräutertee, der beschleunigt die Heilung. Trink rasch, bevor er kalt wird.“ Dazu musste das Kind sich aufsetzen und trank artig den Tee. „Woher kommst du, Junge? Aus der Gegend?“

„Aus Canulo,“ antwortete er benommen. Tabari erhob sich.

„Du wirst über Nacht bei uns bleiben, morgen bringt dich jemand heim. Ruh dich aus. Du bist hier sicher. Der alte Mann wird dir nichts mehr tun…“ Der Junge aus Canulo hob den Kopf, um zu Tabari hinüber zu sehen. Für einen Moment verharrten sie mit den Blicken aufeinander und keiner von beiden vermochte später das Gefühl zu beschreiben, das siegehabt hatten bei ihrem ersten Blickkontakt. Es war seltsam, es war verkehrt und Tabari machte es plötzlich aus unerfindlichen Gründen unruhig. Draußen grollte der Himmel erfüllt von derselben Unruhe.

Tabari wandte den Blick von dem Kind ab.

„Gut,“ sagte er dann etwas apathisch, „Ich muss gehen, Nalani. Sobald wir Mutter gefunden haben, müssen wir nach Yiara und die Politik klären…“

„Kanntet Ihr den alten Mann?“ fragte der Junge dazwischen, und beide sahen ihn an. Tabari nickte.

„Ja. Er… war mein Vater. Mein Name ist Tabari Lyra, ich bin… jetzt Herr dieses Hauses. Hab keine Sorge, Junge. Das ist meine Frau Nalani.“

„Lyra?“ keuchte der Junge, „Die Lyras?! Dann seid Ihr König?!“ Verdutzt starrte er Tabari an, dieser lachte hohl.

„Nein… ich bin auch nur ein Sterblicher, genau wie du. Dokahsan braucht keinen König. Wie ist dein Name, Kind aus Canulo?“ Das Kind senkte ebenfalls höflich den Kopf. Es sah so nicht, wie alle Farbe aus Tabaris Gesicht wich, als er sprach.

„Ulan Manha, Herr.“
 


 

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oder auch das Kapi, in dem man lauter Random-Jungen trifft, die alle absolut NICHT random sind, beide werden wichtig... der erste ist klar, wer außer denen die das eh wissen erkennt den zweiten trotz anderes Namens? xD



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Decken-Diebin
2009-07-22T20:31:07+00:00 22.07.2009 22:31
Hm, ich denke, ich weiß ebenfalls, wer Ulan Manha ist^^...
Ich hoffe, du hast dich jetzt nicht unter Druck gesetzt, nur weil ich so sehnsüchtig gewartet habe. Genau das wollt ich nämlich ncoh in dein Gästebuch schreiben, aber da war das neue Kapitel schon da.
War ja ziemlich viel Inhalt. Alonachen ist krank, alle kümmern sich um sie, so wird Puranchen zum Jagen mitgenommen und sieht mit an, wie Kelar Ram ein Reh wegnimmt, sodass Hotah sterben wird, nicht viel später entscheidet Tabari sich ihn zu besiegen und verbannen und es klappt, Salihah tötet ihn mit einem Kuss, kurz vor seinem Tod trifft er auf einen Jungen mit merjwürdigen verhängsnivollen Namen, braunen Haaren und spitzen Eckzähne, die er von seiner Mutter geerbt hat...
Huuuh, und von wem hat die Mutter sie? xD Naaa, wer weiß es XD
Im Übrigen. Ich benutz jetz auch mal das Stammbaumprogramm von meiner Mutter und hab mal angefangen die Stammbäume von dir einzutragen XD Das ist verdammt viel und ich hab noch nicht mal ältere als Kelar eingetragen XDD Ich muss die ganze Zeit auf deine Stammbäume gucken und da fiel mir auf: Kriegen Simu und Eneela keine Kinder? ö.ö Sie sind nirgends verzeichnet...
Nyo ^.^
LG, Hina
Von:  Kimiko93
2009-07-22T09:54:55+00:00 22.07.2009 11:54
yay, Ulan XD

Und hah. Hahahahaha. Hahahahahahahahaha. Stimmt, die Identität von Killar war nicht überraschend. Oder zumindest von dem Moment an, in dem sie nicht mehr auffindbar war, war ich mir ganz sicher. Klar, studieren und so. Aber uhm, musste sie dafür gleich ihr Laudanum verschwenden? pffh...

Und omfg, surprise, Puran hört stimmen ö,ö wer hätte das erwartet? Und klein Alona ist krank, yay, was ein zufall, dass sie genau dann krank wird, wenn nalani viel besser kelar hätte verdreschen können. Hach ja.

In diesem Kapitel habe ich beschlossen, Tabari irgendwie lieber zu mögen als Nalani. Ich weiß auch nicht... seit Purans Geburt ist sie irgendwie... Doof geworden. Irgendwie. Keine Ahnung.

Und uuuh, Stammbaumlehre, einself. Hierbei möchte ich nochmal erwähnen, dass ich ein Drittel des Stammbaums erstellt habe. Jaaah. Na ja, nicht wirklich, aber... Jaaah.

Rams Auftritt war sehr dramatisch. Melodramatisch. Überzogen… Aber gut, kleine Kinder sind nunmal melodramatisch. Aber wieso ist Puranchen zu klein zum jagen, Ram aber nicht? Kommt er da sich nicht irgendwie verarscht vor? Also, nur mal so am Rande…

Und so geht Kelarlein also dahin. Oder auch nicht. Und während er dahinschindet, von seiner eigenen Frau zu Tode geküsst wird, die danach munter zu ihrem Liebhaber abhaut, den sie in diesem Kapitel viel zu wenig lieb hat, treiben es sein Sohn und dessen Frau munter auf der Couch. Na ja, wenigstens haben sie sich vorher gehauen, auch wenn ich da zum so ziemlich ersten Mal irgendwie auf Tabaris Seite war.
Obwohl er seine Frau vor sechs Jahren zweimal vergewaltigen sollte. Dafür sollten wir ihn mit nem Rohrstock verprügeln. Bei Gelegenheit.

Aaarg, ich bin so müde. Und das alles nur, weil ich wegen einer beschissenen Unwetterwarnung vollkommen umsonst viel zu früh aufgestanden bin ~~ und was ist? DIE SONNE SCHEINT.

Aber mein Kommentar ist länger als Izzys. Hah.


Von:  -Izumi-
2009-07-21T23:20:07+00:00 22.07.2009 01:20
Jaaa, ich weiß, wer das ist, obwohl ich nicht geinfot war ù___ú
Sehr süßes Kind, wirklich.
Und der andere noch mehr, hach... ~ *schwärm*
Er ist soooo süüüüß >///<
Und mutig, sich so Kelar zu stellen und um sein Reh zu kämpfen <3
Tabari war voll poser ö.ö
Hat mich sehr beeindruckt, Puran auch, er ist der Mini-Poser, der eigentlich ja nix macht, außer gruselige Sachen zu sagen oô
Na ja, egal XD
Und die arme süße kleine Alona ist krank, aww .-. *sie knuff*
Wird ja wieder ^///^
Na ja... und Nalani und Sukutai waren halt da und.... irgendwie wäre keinem aufgefallen, wenn sie nicht da gewesen wären, die waren so sinnlos Oo Besonders bei Nalani überrascht es mich, der ist voll scheiß egal gewesen, was die Anderen da mit Kelar gemacht haben O___o
Erst spielt sie sich 14 Kapitel (glaub ich ^^') so auf und dann... also die ist echt mal ne Wachtel, da hatte Kelar schon Recht Xx *Kopf schüttel*
Nebenbei, Kelar, der arme alte Sack, der ist sehr glanzlos gegangen.
Und Salihah, ja, war klar, dass sie ihn umbringt úù
Mit einem Kuss, das war irgendwie süß ^///^
Was noch?
Ah ja, Kiuk und Sukutai. Ja, Sukutai ist Sukutai, die macht ja eh nicht viel, ich mag sie trotzdem, ich bin ein Fan von ihr, sie ist süß. ihr Mann auch, er hat zwar nicht all zu viel gemacht, aber ich konnte mich gut in die arme Sau hineinversetzen, er muss sich furchtbar gefühlt haben úû
So, nun weiß ich nix mehr XD


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