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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

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Die Schatten im Osten

Zweimal kam der Winter und ging wieder. Und jeder Sommer, der auf den Winter folgte, war wieder genauso heiß und unangenehm wie der vergangene. Leyya hatte sich an die Hitze des Sommers gewöhnt. Solange man nicht in der Mittagshitze hinausging und leichte, luftige Kleidung trug, sich die Haare hochsteckte und sich nur wenig bewegte, war es erträglich. Wie viele Jahre wohnte sie nun schon hier in Lorana? Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen, dass ihr erster Sohn Karana geboren worden war… jetzt war er bereits zwölfeinhalb und seit einigen Monden fertig mit der sechsjährigen Schulsausbildung. Es schmerzte sie irgendwie, daran zu denken, dass er bald ein Mann werden würde… er würde eines Tages erwachsen sein und bräuchte sie dann nicht mehr, ebenso wie Simu und Neisa. Die Frau seufzte traurig und sah betrübt auf ihren einwandfrei flachen Bauch, in dem nach wie vor einfach kein Leben wachsen wollte. Ein teil ihrer Seele hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass sie jemals wieder schwanger würde, ein anderer klammerte sich an jeden noch so kleinen Strohhalm, der das Gegenteil versprach… wie ihren Mann, der noch immer zuversichtlich auf sie einredete, wenn es darum ging, wenn sie sich nachts das Bett teilten und dabei noch vor Ekstase japsend die Erdgeister um Gnade anflehten, ihnen noch einen Kindeskeim zu gewähren.

„Gib nicht auf, Liebes. Eines Tages werden die Geister unsere Gebete erhören, ich glaube daran.“, sagte er dann immer tapfer und grinste sie befriedigt an, während er sich von ihr herunter rollte und sie in seine Arme zog, und die Frau kuschelte sich jedes Mal schutzsuchend an seine nackte Brust, ohne etwas zu sagen.

Wie gerne würde sie seinen Worten Vertrauen schenken…

Ihre Gedanken kamen zu Karana zurück, worauf sie das Messer auf das Holzbrett legte, auf dem sie Gemüse für das Mittagessen geschnitten hatte. Gemüse essen war mit Kindern nie leicht; Simu aß gerne Gemüse, die anderen beiden schlugen da mehr nach ihrem verwöhnten Vater, vor allem Karana war der pure Fleischfresser… Gemüse könnte ja gesund sein, Himmel, nein.

„Simu? Simu, bist du da?“, rief die Mutter in den Flur und erntete aus der Stube ein Brummen – kurz darauf erschien ihr Ziehsohn eifrig lächelnd in der Tür zum Flur, in seiner Hand eine Landkarte, auf der er herum gemalt hatte.

„Ja?“

„Sag, ist Karana immer noch im Bett? Es ist ja schon Mittag durch, könntest du ihn endlich mal wecken, diesen elenden Faulpelz? Neisa kommt bald aus der Schule, dann wollen wir essen! Und dein Faulpelz von Bruder pennt immer noch, das darf doch nicht wahr sein! Er ist ja noch schlimmer als sein Vater, wenn man den lässt, schläft er auch bis Mittag!“

„Ich weiß, haha.“, kicherte der blonde Junge gehorsam, bevor er behände die Treppe hinauf sprang, „Ich gehe ihn holen, keine Sorge. Darf ich ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf kippen? Das wollte ich schon immer mal.“

„Lieber nicht, sonst ist ja sein Bett klitschnass, und dann schläft er bei mir, nein, ich will meine Ruhe, wenn euer Vater nicht da ist… ach, und was passiert mit dem verflixten Hund, war irgendjemand mit dem draußen?!“

„Na ja.“, machte der Junge während er hinauf hüpfte, „Da Karana gestern Nacht mit Sagals herum getobt ist und Aar mit war, wird er wohl genug Auslauf gehabt haben…“

„Ach!“, jammerte Leyya unten weiter, „Wenn ich nicht genau wüsste, dass Tilan Sagal vermutlich der einzige Junge in eurem Alter ist, dem ich euch wirklich anvertrauen kann, würde ich nachts kein Auge zutun, während ihr da herum turnt und der Geier was macht…“ Sie meckerte noch weiter vor sich hin und der Junge verdrehte wohlwollend die Augen – es war kein Wunder, dass sie so durch den Wind war. So war sie immer, wenn der Vater weg war; außerdem musste sie in einigen Tagen selbst nach Vialla, weil der Rat der Heiler ebenfalls tagte. Vermutlich würde sie aber dieses Mal wenigstens ihren Mann dort treffen, weil die Versammlungen der beiden Schamanenräte zufällig im selben Zeitraum lagen.

Karanas Zimmer war ein Chaos, wie immer, als Simu die Tür ohne zu klopfen öffnete und herein kam. Der Hund, Aar, sprang ihn sofort fröhlich an und wollte ihn ablecken, doch Simu war schlau genug, zurückzuweichen und das schwarze, zottige Tier zu beruhigen, ehe es ihn umwerfen konnte – in den zwei Jahren war der Hund gewaltig gewachsen. Aber obwohl er so einen wilden, gefährlichen Eindruck machte, musste man ihm lassen, dass er Karana aufs Wort gehorchte. Immer, ausnahmslos. Es war wirklich faszinierend zuzusehen, wenn Karana mit dem wuschigen Hund durch die Gegend zog – womit er sich schon diverse panische Schreie, schiefe Blicke und Getuschel eingefangen hatte, was weder ihn noch seinen Hund zu stören schien. In Thalurien war es ungewöhnlich, Tiere wie Hunde als Haustiere zu halten; man munkelte, Karana würde den Geist des Tieres kontrollieren und ihm seinen Willen aufzwingen, daraus folgten dann Gerüchte darüber, dass der Junge tatsächlich der Sohn eines Herrn der Geister mit gewaltiger Macht sein musste. Was Karana ziemlich gut gefiel und seinem Bruder und dem Rest der Familie nur Sorgen machte. Zu viel Lob bekam ihm nicht gut, er drehte immer so durch…

„Ist ja gut, Aar. Aus, los, mach Platz!“, empörte der Blonde sich und versuchte mit etwas Mühe, den hechelnden, fröhlichen Hund loszuwerden – von seinem Gemurre und Aars Bellen wachte Karana auf, der auf dem Bauch in seinem Bett lag und jetzt verpennt den Kopf aus dem Kissen hob.

„Was willst du denn?“, gähnte er dann und Simu schnaufte, während Aar endlich von ihm abließ und der Junge einen Blick auf seinen Bruder werfen konnte.

„Du fauler Sack, du schläfst den gesamten Vormittag, es gibt gleich Essen. Mutti hat mich geschickt, dich zu holen. – Aar, lass meine Hose in Frieden, verschwinde!“ Der Hund bellte und Karana ließ stöhnend einen Arm aus dem Bett hängen, um ihn nach dem Tier auszustrecken. Sofort kam es schwanzwedelnd zu ihm herüber und leckte seine Finger, worauf der Junge herzhaft gähnte.

„Hau ab, Simu, ich will pennen.“ Der Junge zog seinem Bruder unsanft die Decke vom Körper, worauf der sich jammernd zusammenzog wie ein Igel.

„Aufstehen, Mutti schimpft sonst! Was hast du gestern Nacht mit Tilan und Azan gemacht?“

„Wir haben zaubern geübt, was sonst? Das macht im Dunkeln viel mehr Spaß, da leuchtet alles…“ Der Blonde verdrehte die Augen.

„Du leuchtest auch gleich, und zwar in allen Farben, Mutti schlägt dich. Vati hat heute morgen, bevor er weggefahren ist, noch gesagt, er hätte gehört, wie du heim gekommen bist, weil du mit Aar geredet und auf der Treppe herum gestampft bist, er hat gesagt, er wäre beinahe aufgesprungen und hätte dir den Hals umgedreht.“ Da schreckte der Junge plötzlich aus dem Bett hoch und japste, sich hastig durch die Haare fahrend.

„Vati ist schon weg?! Oh nein, verdammt, ich wollte mich doch noch verabschieden! – Ach, Kacke… Alter, Simu, du elendiger Wurm, wieso hast du mich nicht eher geweckt?!“ Der Blonde starrte ihn lange schweigend an und Karana zischte und verengte die grünen Augen zu schmalen Schlitzen.

„Bist du schwanger? Oder was soll diese Wechselhaftigkeit?“ Darauf hatte Karana keine Antwort, er fauchte nur, sammelte dann seine Kleidung zusammen und zog sich meckernd an. Der Blonde hatte seinen Bruder gern… aber mitunter war er wirklich komisch. Im einen Moment ließ er den Tyrannen raushängen und wollte, dass alle krochen und seine Füße küssten, dann ganz plötzlich war das alles wie weggeblasen und er war mit einem Mal ein ganz anderer Mensch; der übrigens viel erträglicher war als der herrische Mistkerl, der er sonst war. Der Blonde fand das faszinierend und beunruhigend zugleich und fragte sich, ob seinen Eltern das eigentlich auch aufgefallen war.
 

Puran hatte keine Gedanken für seinen bockigen Erstgeborenen übrig, er war genug mit anderen Dingen beschäftigt, die ihn reizten. Unter anderem die alljährliche Hitze, die er wüst verfluchte, wie er es immer tat, während er aus der Kutsche die Treppen hinauf in den Palast eilte, in dem wie immer der Rat stattfinden würde. Und das früher als geplant, warum auch immer, was ihn im Übrigen auch etwas nervte. Da lagen der Rat seiner Frau und sein eigener einmal im selben Zeitraum und dann wurde die Versammlung der Geisterjäger nach vorne verschoben. Dabei hatte er sich schon darüber gefreut, einmal mit Leyya zusammen in Vialla sein zu können – so ein paar Nächte ohne Kinder und bellenden Hund würden so gut tun…

Obwohl er gleich im Morgengrauen abgefahren war, war es bereits schwül und heiß in der Stadt, als er ankam, und obwohl er vor der Mittagshitze gefahren war, klebten ihm die Kleider wie immer schweißnass am Körper, wofür er sie, sich selbst und den Sommer abermals verfluchte. Zum Glück hatte er für solche Situationen ja Untergebene im Rat, die er mit seiner schlechten Laune schikanieren konnte.

„Ich brate dich am Spieß, Neron Shai! Oh ja, das tue ich, und ich warne dich, wenn du mich noch einen Moment länger angrinst oder auch nur einen Gedanken daran verschwendest, dass ich scheiße aussehe!“, schimpfte er, als er seine Kollegen im Ratssaal des Palastes vorfand, wo Tare Kohdar sich genüsslich eine Zigarette ansteckte und Neron schon dabei war, allen Gläser zu füllen. Der Schwarzhaarige grinste und Saja und Henac Emo, die schweigend am Tisch saßen, machten blöde Gesichter.

„Ah, dir auch einen wunderschönen guten Tag, Herr Ratsführer!“, feixte Neron, „Komm, setz dich, entspann dich und ich geb dir ein Glas Wein, das hilft.“

„Bleib mir vom Leib mit deinem Wein!“, schnaufte Puran empört.

„Der ist aus Janami, nicht das Scheißzeug aus dem Süden, das ist richtig guter Wein.“

„Sag das doch gleich, dann ist gut. Aber nur ein halbes Glas, du weißt, ich werde peinlich, wenn ich zu viel trinke.“ Neron kicherte und der Ratsvorsteher ließ sich mürrisch auf seinen Platz am Kopf des Tisches fallen, ehe ihm ein halb gefülltes Weinglas hingeschoben wurde. Gut, dass Mittag inzwischen durch war – und vielleicht auch gut, dass Leyya nicht hier war, denn so früh am Tag Wein zu trinken widerstrebte ihm normalerweise.

„Was ist denn, warum schimpfst du eigentlich so?“, wollte Saja dann wissen, „Doch nicht wieder wegen der Hitze? Mensch, du stellst dich aber auch wirklich an, Puran.“

„Ach, nicht nur das!“, meckerte der Mann, hielt es aber für sinnvoll, nicht vor dem Rat über seine doch eher privaten Probleme wegen der Zeitverschiebung zu sprechen. Neron würde ihn nur auslachen, dieser Idiot. Darauf ansprechen musste er dennoch. „Was soll eigentlich die Verschiebung? Und wo steckt eigentlich Meoran?“ Er nippte an seinem Wein und die anderen sahen sich an.

„Wenn wir das wüssten.“, meldete sich Tare zu Wort, „Kippe, Puran?“ Der Jüngere nickte und der Herr des Feuerclans schob ihm seine Schachtel mit Tabak über den Tisch. „Aber das war Meorans Idee, soweit ich weiß.“

„Was denn?“, schnaufte Puran, „Dem werde ich aber was husten.“

„Vielleicht hat er Angst, nicht mehr lange genug zu leben, und will es deswegen vorher machen.“, grinste Henac Emo und erntete von allen böse Blicke. „Ach, seht ihn euch doch an, vermutlich ist es wirklich nur noch eine Frage der Zeit, bis er den Löffel ab-…“ Er kam nicht weiter und hielt mit Zigarette im Mund inne, als die Tür des Saals aufflog und der fragwürdige Grund für das Verschieben des Termins höchstpersönlich hereinkam, in Begleitung seiner bildschönen Tochter. Die anderen drehten sich auch zur Tür und Puran schluckte hastig alle bösen Sprüche für Emo herunter, als er seinen Lehrmeister und Saidah erblickte. So sehr er Emo auch verachtete und besonders seine Worte – sie waren vermutlich weniger unwahr, als sie alle sich wünschten.

Jedes Mal, wenn Puran seinen Freund und Meister nach einem Vierteljahr wiedersah, sah er fürchterlicher aus. Jedes Mal war er noch blasser, eingefallener und kränklicher, jedes Mal röchelte er mehr bei jedem Schritt, den er tat. Inzwischen hatte Meoran einen Gehstock, den er gekonnt als Statussymbol tarnte – aber jeder Blinde hätte gemerkt, dass der Geisterjäger seinen Stock noch mehr als Dasan Sagal wirklich als Stütze brauchte… ebenso wie seine schöne Tochter, die ihn am Arm festhielt. Wenigstens in dem Punkt war er einsichtig geworden – er war nicht mehr stark genug, um ohne Hilfe zurecht zu kommen. Und es musste seinen Stolz wirklich sehr ankratzen, sich so von seiner eigenen Tochter wie ein Greis umher führen lassen zu müssen… aber er war jedes Mal tapfer und schaffte es trotz seiner zunehmend heftigen Krankheit, deren Ursache offenbar kein Heiler bekämpfen konnte, nicht einmal Leyya, dem versammelten Rat ein flüchtiges Grinsen zu schenken, wobei sein linkes Auge wie immer ungesund nach außen schielte.

„Entschuldigt… wir sind etwas spät dran, mein Fehler. Ich hoffe, ihr wartet noch nicht zu lange…“

„Kein Problem, da du ja nur noch kriechen kannst, haben wir dafür Verständnis.“, sagte Emo leise, wurde aber überhört. Puran erhob sich.

„Meister.“, begrüßte er seinen alten Freund mit einem warmherzigen Lächeln, obwohl die Hitze ihn stresste, „Dann sind wir ja vollzählig. Wie geht es dir, Meoran?“ Der Ältere seufzte und sie umarmten einander kurz.

„Na ja, ich lebe noch, wie du siehst…“ Puran schenkte ihm ein kurzes Grinsen, ehe er sich Saidah widmete, während deren Vater mit Hilfe seines Gehstocks zum Tisch taumelte, um auch den Rest zu begrüßen – ausgenommen Emo, den alle ignorierten und der in aller Ruhe weiter rauchte.

„Ich sehe dich so selten, Saidahchen.“, seufzte der Herr der Geister und umarmte sie auch, ehe er sie kurz auf die Lippen küsste. „Du wirst jeden Tag hübscher.“

„Schleimer.“, tadelte sie ihn leise lachend, „Vor einigen Jahren hätte ich nackt auf dem Tisch getanzt, wenn du mich dafür so geküsst hättest.“

„Ich weiß… und ich tue es jetzt auch nur, weil ich weiß, dass ich keine Blicke mehr befürchten muss, die mir die Kleider vom Leib reißen… denk nichts Falsches von mir.“ Sie kicherte und beide setzten sich wieder zu den anderen an den Tisch, Saidah zu ihrem Vater, der gerade empört Nerons Wein und Tares Zigaretten ablehnte.

„Nein, nein, bitte, verschont mich, es sei denn, ihr wollt mich noch früher los werden.“, lachte er dabei, „Ich hätte nur gerne eine Tasse für meinen abscheulichen Tee. Er ist abscheulich, hilft aber gegen den Blutdruck; und das Rauchen habe ich auch aufgegeben, ohne Scheiß. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber ich… brauche jede Zeit, die ich noch habe. Wer soll sonst meiner Tochter alles beibringen, das sie wissen muss, wenn sie einmal meinen Platz einnehmen wird?“ Saja, Puran und Tare Kohdar tauschten einen bedrückten Blick, Neron ließ sich nicht klein kriegen.

„Ach, nun jammere doch nicht so, als stündest du mit einem Fuß im Grab, Meoran.“, kicherte er aufmunternd, „Dann bist du ja wirklich zum Vorbild aller mutiert – kein Alkohol, kein Tabak, keine Frauen, meine Güte, du bist ein Heiliger.“ Er grinste blöd und Henac Emo pustete auf der anderen Tischseite den Rauch aus seinem Mund.

„Ja, sieh an, an wem du dir mal ein Beispiel nehmen solltest, du Säufer…“ Er grinste und Neron streckte ihm unbekümmert die Zunge heraus. Meoran räusperte sich und unterbrach das Gerede.

„Wie auch immer, es gibt einen Grund, warum ich… zu eurem Leidwesen, wie ich fürchte… die Sitzung verschieben lassen habe. Als ich neulich ohnehin aus geschäftlichen Gründen aus Minh-În hier war, habe ich den König gleich danach gefragt, ich hoffe, ich habe niemandem zu sehr die Pläne versaut. Es… geht um meine Tochter. Ich möchte, dass sie die Prüfung macht… sie ist reif genug dafür und es wird dringend Zeit, dass ich einen Vertreter im Rat bekomme.“

Darauf erntete der Mann stumme Blicke, selbst Neron Shai war plötzlich still. Puran wollte gerade etwas sagen, da fiel ihm Emo ins Wort.

„Saidah? Geisterjägerin? Jetzt schon? Wie alt ist sie noch gleich?“

„Dass das Alter kaum eine Rolle spielt, beweisen diverse Anwesende, oder?“, fragte Saja Shai verblüfft und sah dabei vor allem Puran und Tare Kohdar an, welcher ungeschlagen den Rekord hielt als jüngster Bestehender der Prüfung. Jetzt war er zwar nach Meoran der Älteste im Rat, aber das änderte nichts daran, dass er schon mit fünfzehn die Prüfung gemeistert hatte – im selben Jahr wie sein zwei Jahre älterer Bruder Barak. Und der amtierende Herr der Geister lag mit seinen siebzehn Jahren, mit denen er dem Rat beigetreten war, auch kaum dahinter.

„Ach, und deshalb sollten wir alle früher kommen? Wie clever von dir, wenn wir Saidah jetzt drei Tage auf Isolation schicken, ist sie pünktlich zum eigentlichen Ratstermin wieder da und da sicher keiner von uns Bock hätte, noch mal herzufahren, wird sicher keiner etwas dagegen haben…“, orakelte Tare Kohdar mit Blick auf den Ratsältesten, der darauf nur feixend grinste.

„Oh, du hast mich durchschaut…“

„Na ja, warum sollten wir auch dagegen sein?“, kicherte Neron und schenkte sich neuen Wein ein, „Mehr Frauen im Rat ist doch was Gutes!“ Er erntete einen Schlag auf den Kopf von seiner blonden Frau Saja.

„Ist gut, und ich freue mich dann auf Karana, mehr hübsche junge Männer im Rat, genau.“, sagte sie spöttisch und Puran hustete, während Neron Shai vor sich hin maulte und die anderen verstohlen kicherten.

„Soll das heißen, ich bin hässlich, Saja?“, jammerte ihr Gatte dann, und sie schnaubte ihn an.

„Potthässlich.“

„Dann hast du wohl einen sehr erlesenen Geschmack, meine Teuerste!“

„Wie auch immer…“, unterbrach Puran die beiden Meckerpötte, die ihre kleinen Zankereien für gewöhnlich nie ernst meinten. Er wandte sich Meoran zu und räusperte sich mit Blick auf Saidah.

„Bist du sicher, dass sie das jetzt machen soll, Meister?“ Meoran richtete sein eines Auge auf seine Tochter und nickte.

„Wir haben bereits darüber gesprochen, wir haben viel geübt in Minh-În. Sie wird dich nicht enttäuschen, Puran.“ Puran kam abermals nicht zu Wort, weil Emo ihn kichernd unterbrach.

„Sag mal, Meoran, während du das Gehen verlernst, hat deine Tochter neben dem Kinder gebären wohl auch das Sprechen verlernt? Kann sie nicht selbst für sich sprechen?“ Meoran senkte bedrohlich die Brauen.

„Halt den Mund, Emo, oder habe ich dich um deinen Senf gebeten?“

„Man wird ja wohl noch mal fragen dürfen, liebe Güte… was ist dir über die Leber gelaufen, Meoran?“, grinste der Jüngere, und Meoran zischte gefährlich.

„Um ehrlich zu sein möchte ich jedes Mal kotzen, wenn ich deine Visage nur sehen muss, und wenn du jetzt fragst, warum, nehme ich keine Rücksicht auf Verluste und springe dir an die Gurgel.“ Der Schwarzhaarige gluckste wenig beeindruckt.

„Ach, Meoran, du musst uns deinen Verlust doch nicht früher als ohnehin schon darbringen…“ Puran schlug mit der Faust auf den Tisch, sodass alle verstummten und ihn anstarrten.

„Himmel, Puran. Keine Gewalt im Schloss, sonst kriegen wir Hausverbot!“, rief Neron, „Es wäre schade um den guten Braten, den es hier gibt…“

„Jetzt reicht es, verflucht!“, nörgelte der Ratsvorsteher, „Ja, Saidah, dann mache die Prüfung, natürlich lasse ich das zu. Wir fangen am besten sofort damit an, du wirst vermutlich von Meoran gehört haben, was auf dich zukommt?“

„Ja.“, sagte Saidah nickend und Emo warf theatralisch die Hände in die Luft.

„Ein Wunder, sie spricht!“ Meoran war drauf und dran, aufzubringen und ihn umzubringen, so fürchtete der Rest der Versammlung, als Saidah ihren Kopf drehte und den Schwarzhaarigen mit einem langen, kalten Blick bedachte.

„Noch freust du dich darüber, Spaltzüngler. Eines Tages wirst du vor mir kriechen und mich anflehen, nie wieder zu sprechen.“

Puran wusste nicht, worüber er sich mehr Sorgen machen sollte – dass sie so mit ihm sprach und ihn offenbar absichtlich provozierte, oder dass der ungeliebte Schattenmagier tatsächlich darauf den Mund hielt und sie ihr Duell stumm in Blicken weiter auszufechten schienen. Blicke, die Puran nicht verstehen konnte, weil die Geister ihn anschwiegen; aber es macht ihm Unbehagen und ließ einen eisigen Schauer über seinen Rücken fahren, der selbst die affige Hitze im Saal für einen Moment komplett verjagte.
 

Als Leyya drei Tage später für ihre eigene Ratsversammlung in die Reichshauptstadt kam, war sie verblüfft, ihren Mann im Palast anzutreffen und zu hören, dass der Rat der Geisterjäger noch gar nicht vorbei war.

„Wie, dann bleibst du ja doch noch in Vialla?“, fragte sie ihn verwirrt, als sie sich so auf dem Korridor getroffen hatten und einander intim umarmten. Er küsste ihren Hals herunter.

„Ich vermisse dich ganz schrecklich.“, stöhnte er dabei, „Ja, wir machen gleich Saidahs Prüfung, es ging deswegen drei Tage früher, damit sie noch für die Isolation weg kann. Das heißt, ja, ich habe jetzt drei Tage hier in Vialla herum gehockt, mich mit Nerons Wein besoffen und bin jetzt gerade wahnsinnig vor Lust auf dich, meine Hübsche. Zu dumm, dass wir bis heute Abend warten müssen.“ Sie errötete in seinen Armen und drückte sich mit einem leisen Seufzen an seine Brust.

„Saidah macht jetzt die Prüfung? Ach, wie aufregend – dann gibt es heute also den Kampf? Habt ihr schon gelost, wer es machen muss?“

„Nein, noch nicht, Tare hat alle Streichhölzer aufgebraucht, der Sack. Ich hoffe, es geht nicht zu viel kaputt, der König leiht uns extra seine Schlossgärten – ich habe ihn gewarnt, dass das nicht lustig ist, aber du kennst ja den König. Er war völlig aus dem Häuschen und will unbedingt zugucken und die Gärten könne man ja restaurieren…“ Leyya musste leise lachen, während sie immer noch in einem schattigen, etwas versteckten Winkel des Korridors standen und die Frau sich zärtlich an ihren Gemahl schmiegte.

„Der König hängt eben so an dir, Puran… wie so ein kleiner Bruder, denke ich manchmal, wenn er dich so anhimmelt.“

„Kleiner Bruder? Der ist doch viel älter als ich…“, gluckste ihr Mann, beugte sich herab und küsste sie innig, indem er sie an die kühle Wand hinter ihr drückte. Sie seufzte in den Kuss hinein und schlang die Arme um seinen Nacken, während sie ihr rechtes Knie leicht anhob und forschend gegen seinen Schritt rieb. Er keuchte und löste sich aus dem Kuss, um errötend den Gang hinunter zu spähen, ob jemand käme. „Himmel, du Luder, wir sind doch hier mitten auf dem Flur… und was wird aus deinem Heilerrat?“

„Nun.“, flüsterte sie verschwörerisch, „Ich denke, uns bleibt noch genügend Zeit für etwas kurzes zwischendurch… was meinst du, Liebster?“ Er hüstelte, sein Husten ging aber mehr in ein erregtes Stöhnen über, als sie ihr Knie erneut gegen seinen Schritt drückte und dann flink zwischen allen Umhängen und Kleidern, die sie trugen, hindurch mit einer Hand zum Verschluss seiner Hose wanderte. Er lehnte den Kopf in den Nacken und riss sich zusammen, um die Lautstärke gedämpft zu halten, während er sich hastig mit beiden Händen hinter ihr an der Wand abstützte, als ihre Finger in seine Hose glitten und sie begann, ihn auf so vertraute und erregende Art zu bearbeiten.

„Heute Nacht gehen wir in die Wohnung und machen es richtig.“, brummte er dabei und neigte das Gesicht zu ihrem, um sie verlangend zu küssen und damit zu verhindern, dass er lauter stöhnte, während sie ihn geschickt mit den Händen befriedigte. Sie waren beide geübt darin, so dauerte es kaum wenige Momente, bis er den Höhepunkt erreicht hatte und sie beide scheinbar unschuldig ihre Kleider wieder richteten, um hinter ihrer Säule hervor zu treten – und Puran erschrak beinahe zu Tode, als plötzlich wie aus dem Nichts der König höchstpersönlich mitten auf dem Gang stand und ihn freudig anstrahlte. Leyya erstarrte ebenfalls, als der Monarch aufgeregt wie ein kleines Kind mit der Hand nach Osten wedelte.

„Da seid Ihr ja, ich kam gerade hinauf und dachte, ich schaue mal nach Euch, Herr! – Wie ich sehe, ähm, ist Eure Gemahlin auch schon hier, willkommen.“ Leyyas Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an, während Puran erbleichte. Moment, hatte der König etwa gehört, wie sie…? Er räusperte sich schnell und bemühte sich, Worte zu finden, um von diesem peinlichen Moment abzulenken.

„Ja, äh – Eure Majestät, verzeiht bitte, ich, ähm… habe gar nicht gemerkt, dass Ihr gerufen habt.“ Der König lächelte erfreut.

„Habe ich ja auch nicht, keine Sorge. Weshalb ich kam – die Tochter des Botschafters ist zurückgekommen, Eure Kollegen versammeln sich jetzt im Garten. Ich habe Tee bringen lassen und Kaffee, und die Feuerwehr, zur Sicherheit. Das wird sicherlich aufregend, Herr.“ Puran grinste gekonnt und verdrängte die Verlegenheit, während seine Frau sich mit einem höflichen Lächeln verneigte.

„Sehr gut, dann sollte ich wohl auch hinunter gehen. Ich danke Euch demütigste, Majestät. Leyya, geh jetzt besser zu deinen Heilern, die weinen sonst. – Majestät.“ Er verneigte sich auch und der König machte eine lässige Handbewegung.

„Himmel, Herr, ich bitte Euch. Ihr seid vermutlich der einzige Mann hier, der sich erlauben kann, sich nicht vor mir zu verneigen. – Sagt das besser nicht weiter. Aber, ganz unter uns, Herr…“ Er räusperte sich jetzt sehr kleinlaut, linste hinab und beugte sich dann zu Puran herüber, der ihn um ein großes Stück überragte, „Vielleicht solltet Ihr Euren Gürtel zu binden, bevor wir gehen.“
 

Saidahs Gegnerin im Prüfungskampf war Nerons Frau Saja. Das war unterhaltsam – dass eine Frau so einen Kampf bestritt, war schon sehr selten – vor Saja war Nalani die einzige Frau im Rat gewesen – aber dass zwei Frauen gegeneinander kämpften, hatte bisher niemand erlebt. Und während der sagenhafte Kampf zweier weiblicher Geisterjäger (wobei eine noch keine wirkliche war) im Garten lief, saßen die Männer guter Laune am Rand außerhalb der Schussweite – so hofften sie, tranken einen weiteren guten Wein aus Janami (den dieses Mal Meoran gestiftet hatte, obwohl er selbst nur Wasser trank) und amüsierten sich. Ausgenommen Puran, der als Herr der Geister den Schiedsrichter spielen musste, sofern keiner seiner unmittelbaren Verwandten am Kampf beteiligt war. Als Leyya gemeinsam mit ein paar ihrer Heilerkollegen nach ihrer Versammlung dazu stieß, war schon beinahe alles vorüber.

„Leyyachen!“, wurde die kleine Frau fröhlich von Neron begrüßt, der etwas angeheitert gackerte, „Du hast den Zickenkrieg fast verpasst, lange geht das bestimmt nicht mehr!“ Dann stieß er Meoran kameradschaftlich an, der darauf fast umgefallen wäre und entrüstet keuchte, als er sich gerade noch auf seinen Gehstock stützen konnte. „Sie is’ gut, deine Kleine, Meoran, weißt’e? Na ja, an sich ja kein Wunder, wir wissen ja, wo sie herkommt.“

„Du könntest wirklich seriöser bei der Sache sein, warum betrinkst du dich, wenn deine eigene Frau sich abrackert, du Unhold?“, tadelte ihn Tare Kohdar grinsend und zog ihn am Kragen, „Lass Meoran stehen, Mann. Kippe? Komm, ich geb dir Feuer, Alter.“

„Na ja, ich würde mich auch eher betrinken als mit ansehen zu müssen, wie meine Frau von einer Jüngeren geschlachtet wird.“, meinte Henac Emo amüsiert und kicherte, „Eins muss man dir lassen, Meoran. Du hast zwar nur eine Tochter gezeugt, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren.“

„Damit habe ich immer noch eine Tochter mehr gezeugt als du.“, entgegnete der Ältere und hob sein Wasserglas, „Wenn dir Familie egal ist und du lieber die Weltherrschaft anstrebst, deine Sache, aber dann bewerte nicht andere Männer danach, wie viele Söhne sie gezeugt haben, das ist irgendwie unpassend.“

„Gut, ich werde es mir merken, Väterchen. Und was heißt hier Weltherrschaft?“ Der Schwarzhaarige sah zu Puran herüber, „Er ist doch hier der allerbeste Lieblingsfreund des Königs von Kisara. Ernsthaft, wie macht er das? Ich hätte ihn wirklich für treu seiner Frau gegenüber gehalten.“ Meoran schnaubte.

„Nicht jeder springt hier mit demjenigen ins Bett, von dem er die beste Stellung zu erwarten hat. – Verdammt, das mit der Stellung war zweideutig. Ich rede von Ansehen, Emo, du weißt das.“ Emo gackerte los.

„Aah, ja, aber du und dein schwules Kindermädchen.“

„Wie ich sagte, nicht jeder ist so gepolt wie du, Emo.“ Er schenkte dem ungeliebten Kollegen einen scharfen Blick. „Liegst du eigentlich auch mal oben oder nimmt Scharan dich immer nur durch?“ Er bekam keine Antwort – und hatte auch nicht wirklich eine gewollt – weil in dem Moment ein Donnern aus dem Himmel ihre Aufmerksamkeit nach vorne riss. In dem Moment hatte Saidah ihre Arme in den Himmel gerissen und mit Hilfe einer einzigen Kondorfeder alle elementaren Zauber ihrer Gegnerin im Nichts zerschmettert. Saja strauchelte und ehe sie hätte fallen können, war die Jüngere über ihr und die blonde Frau hatte jäh die Feder am Hals, worauf sie japste und ihre Waffe ebenfalls empor riss, sie der Jüngeren an die Kehle pressend. Stille kehrte über den Schlossgärten ein, als beide Frauen einander kurz schweigend anstarrten, dann erhob Puran das Wort und eine Hand.

„Ist gut, ich denke, das reicht langsam. Wenn ihr noch lange so weiter macht, seid ihr erschossen, ich denke, wir belassen es bei einem Unentschieden. Das heißt, Saidah hat die Prüfung bestanden und ist hiermit in den Rat aufgenommen.“ Es folgte eine weitere Stille und dann ein Grummeln aus dem bewölkten Himmel, als die gerufenen Gewitterwolken wieder verblassten und sich wieder Sonnenschein ausbreitete. Saja taumelte und stürzte zu Boden, die Waffe fallen lassend, während Saidah ihre Feder sinken ließ und sich vor dem Rest des Rates verneigte, ebenfalls sichtlich aus der Puste dank der vorangegangenen Aktion.

„Hurra, ein neues Ratsmitglied!“, freute sich Neron dann schon und schwenkte sein leeres Glas, „Applaus für Saidah!“ Die anderen jubelten, ebenso der König, der mit seiner Leibgarde und einigen anderen Schaulustigen auch dabei war, und Puran seufzte und raufte sich die Haare. Seine Frau kam strahlend zu ihm herüber und hängte sich an seinen Hals.

„Mist, ich habe das Beste verpasst – aber sie hat es geschafft! Ist das nicht toll?“, freute sie sich, und er gluckste und umarmte Leyya flüchtig, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und seufzte erneut.

„Ach, ich wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn sie es nicht hätte! Hör mal, sie ist die Erbin des Chimalis-Clans. Himmel, hat das gedauert. Saidah und Saja waren einander wirklich überraschend ebenbürtig. Und gegen Saja zu kämpfen ist extremst mühsam, du erinnerst dich sicher noch an den letzten armen Schlucker, der letztes Jahr versucht hat, die Prüfung zu meistern, und kläglich an ihr gescheitert ist…“ Leyya musste lachen.

„Ja, der hatte es nicht leicht. Was passiert eigentlich, wenn man es nicht schafft? Darf man es dann einfach noch mal probieren?“

„Klar.“, machte ihr Mann, während die beiden Frauen jetzt zu den anderen stießen und Saidah von den meisten überschwänglich beglückwünscht wurde. „Nur sind die meisten demotiviert genug, es zeitlebens sein zu lassen, oder sie versuchen es in Janami. Wir sind ja nicht der einzige Rat von Schwarzmagiern… der Rat in Kisara gilt nur als der mächtigste und beste im Zentrum. Das heißt, wer es hier nicht schafft, versucht es in Janami, die haben auch einen Rat, sozusagen die zweite Klasse, aber immer noch gut genug, um Ansehen zu erlangen, wenn du als Schwarzmagier irgendetwas zu sagen haben willst. Die Leute in Janami sind ziemlich gut, musst du wissen.“ Er lächelte, küsste ihre andere Wange und schob sich dann mit ihr in Richtung der Traube, die sich bei den anderen gebildet hatte. „Komm, wir sollten auch mal ein Wörtchen sagen, denkst du nicht? Es gibt was zu feiern, das ist doch mal was.“
 

Es war immer wieder gut, dass Puran und der König sich so gut verstanden, fanden alle, als sie am Abend die kleine Feier für Saidahs Eintritt in den Rat im Schloss abhielten. Als Ratsvorsteher musste Puran eine kleine Rede halten, um das neue Mitglied willkommen zu heißen – eine Arbeit, bei der er wesentlich seriöser herüberkam als sein Vater seinerzeit – ehe die junge Frau einen eigenen Umhang und einen Anstecker bekam. Der aufgeregte kleine König hatte für genügend Essen und Getränke gesorgt; lange dauerte es nicht, bis Saja Shai ihren völlig betrunkenen Mann meckernd und murrend aus dem Raum schob.

„Ich gehe nie wieder mit dir auf eine Feier, Neron!“, zeterte sie, indem sie ihn weg schob, „Wir fahren jetzt heim nach Skelrod! Und elender Saufbold, Himmel noch mal!“

„Er sollte auch zu Wasser übergehen.“, seufzte Meoran, der in einer Ecke des Salons in einem gepolsterten Sessel saß, „Wirklich, ich hätte das auch früher tun sollen.“ Seine Tochter, die neben dem Sessel am Boden hockte, musste leise lachen und tätschelte seinen Arm.

„Ja, du bist ein gutes Vorbild, Vati.“

„Na ja, zumindest jetzt, auf den letzten Drücker. Vergib mir, Saidah… ich war dir an sich nie ein gutes Vorbild. Statt dir ein guter Vater zu sein, habe ich immer nach deiner Mutter gejammert… ach, sie ist so stolz auf ihr großes Mädchen. Vorhin, als ich dir zugesehen habe, hatte ich das Gefühl… sie stünde hinter mir und würde mir ins Ohr flüstern, wie stolz sie ist.“ Saidah hielt neben ihm inne, als er sein Wasserglas austrank, dann zu husten anfing und am Kragen seiner Uniform zu nesteln begann. „Ach, verdammt, dieser Kragen ist immer so grausam eng! Oder ich werde langsam fett…“ Saidah half ihm und öffnete den Knopf am Kragen, während er weiter hustete und bebend die Hand an seine Brust presste.

„Sprich nicht so.“, wisperte sie, „Du warst mir immer ein guter Vater. Shht, entspann dich, bitte. Hast du Schmerzen?“

„Das Übliche.“, seufzte er und sie sah auf seine zitternden Hände, ehe sie sich vorsichtig aufrichtete. Besorgt fasste sie ihm auch auf die Brust und zog die Stirn in Falten.

„Ich mache dir besser noch einen Misteltee… dein Herz schlägt so ungesund schnell, das macht mir Angst.“

„Ach, bitte.“, stöhnte ihr Vater und lehnte den Kopf zurück, als sie schon dabei war, zu gehen, „Ich hasse diesen Tee. Er schmeckt scheußlich! Ach, was gäbe ich jetzt für ein gutes Glas Wein? – Vergib mir, dass du meinetwegen Mühe hast, Saidah.“ Sie lächelte ihn müde an.

„Ach was, Mühe. Im Gegensatz zu dir strengt es mich nicht an, zu gehen oder zu sprechen… ruh dich aus. Wir fahren auch bald heim, der Weg ist lang.“ Sie eilte hinaus, um einem Diener aufzutragen, Tee zu kochen, und als sie weg war, richtete Meoran sich in seinem Sessel etwas auf und verlangte nach Puran, der mit Tare Kohdar Zigaretten gedreht hatte.

„Ach, Meister!“, kam es wehmütig von seinem besten Freund, „Du sitzt hier so kränklich herum, ich komme mir immer so ungerecht vor, weil ich nicht deine Probleme habe. Wo ist Saidah?“

„Sie lässt Tee machen. Und guck mich nicht so treudoof an, Puran, das ist irgendwie demütigend, wenn man weiß, dass einen alle bemitleiden. Der Fürst in Minh-În kann das auch sehr gut, ich würde ihn jedes Mal gerne mit meinem Statussymbol verprügeln, wenn er so guckt!“ Er tätschelte seinen verzierten Gehstock und grinste schräg, während Puran sich beschämt räusperte.

„Vergib mir, ich hab es nicht böse gemeint…“

„Ich weiß doch. Hör mir zu. Bitte, hör einfach nur zu. Wenn du mich unterbrichst, verprügele ich dich mit dem Stock. – Der nächste Rat ist erst in drei Monden. Das ist eine lange Zeit, und ich habe schon eine lange Zeit gelebt, Puran. Wir beide wissen das. Wenn mir etwas zustößt… bitte pass ein bisschen auf Saidah auf. Sie ist erwachsen und braucht keinen Vater mehr, das weiß ich… aber sie ist alles, was ich habe, sie ist mein ganzer Stolz und meine ganze Liebe gehört ihr. Es würde mich so grämen, wenn ich einst nicht mehr auf sie aufpassen kann, nicht zu wissen, was aus ihr wird. Ich verlange nicht… dass du sie bemutterst oder bei dir aufnimmst, das würde sie auch nicht wollen. Aber bitte sprich mit ihr und… zeig ihr, dass du für sie da bist. Bitte sag nichts, Puran… ich bitte dich wirklich. Du spürst es, tief in deinem Inneren, genau wie ich es seit langem spüre, dass ich… nicht ewig hier sein werde. Saidah… wird meinen Platz im Rat vermutlich bald ganz übernehmen, damit auch den Posten des Lehrmeisters. Sie muss tapfer sein, es ist viel verlangt von ihr, das weiß ich. Ich komme mir schäbig vor, dich um so viel zu bitten… wo ich dir gar nichts zu bieten habe, Puran. Du hast dir… meinen größten Respekt verdient, und ich respektiere nicht schnell Menschen. Und es erfüllt… mich mit so viel Stolz, wenn ich jemandem sagen kann, dass ich es war, der dich ausgebildet hat, als du noch ein dummer, kiffender Junge warst.“ Der Mann schmunzelte, während sein Gegenüber ihn erbleichend anstarrte und die Hände unmerklich zu verkrampften Fäusten ballte, sich schwer zusammenreißend, um nicht zu sprechen. „Ja, und jetzt sieh dich an. Was für ein Mann bist du geworden… ich habe deinen Vater immer sehr gemocht, deswegen kommt es mir barbarisch vor, so zu denken, aber in den vergangenen zwölf Jahren habe ich mit jedem Mal, das ich dich traf, mehr geglaubt, du seist… der Sohn, den ich nie gehabt habe. Ein Sohn, auf den ich stolz bin, Puran… du weißt das.“ Jetzt schwieg er und der Herr der Geister senkte zitternd den Kopf, bis ihm die Haare wirr ins Gesicht fielen. Der Tag war lang gewesen; seine mühevoll gewachsten Haare begannen langsam, sich zu dem wuscheligen Wirrwarr aufzulösen, das sie eigentlich waren.

„Ich weiß… was du meinst. Mir geht es genauso… nachdem mein Vater gestorben ist, bist du mir so wichtig geworden, wie… es nur ein Vater sein könnte.“ Er rang mit sich, um weiter zu sprechen. Er wollte empört schreien, er sollte nicht so reden; er würde doch noch leben und würde das auch noch lange tun, es gäbe keinerlei Grund, so eine dramatische Rede zu halten.

Aber er wusste genauso gut wie sein Meister, dass es gelogen gewesen wäre, so zu sprechen. Meoran war schwer krank, und das schon lange. Dass er die nächsten drei Monde noch überlebte, war wirklich vermutlich reines Wunschdenken… aber der Gedanke an das Gegenteil war so grauenhaft und schmerzte so sehr, dass Puran ihn einfach nur verdrängen und wegschließen wollte.

Aber er musste jetzt etwas sagen… etwas sagen und damit den Wunsch seines zweiten Vaters akzeptieren. Er holte tief Luft und war empört über sich selbst, als aus seiner Kehle nur ein wässriges Piepsen kam, das nur allzu deutlich seine schmerzhaften Gedanken verriet, egal, wie sehr er sich um Fassung bemühte.

„Ich… werde mich um deine Tochter kümmern, als wäre sie meine eigene. Ich verspreche es dir, Meoran.“ Er erhob sich zitternd, als er aus dem Augenwinkel besagte Tochter mit Tee wieder herein kommen sah, und Meoran räusperte sich mit einem flüchtigen Lächeln.

„Puran – warte.“ Der Jüngere drehte noch einmal das Gesicht zu ihm und unterdrückte mit aller Macht die Tränen, die ihm schon schmerzhaft im Halse steckten. „Ich gebe dir einen Rat, mein Junge. Heul nicht andauernd.“ Der Senator zwang sich zu einem Lächeln und verneigte sich.

„Ich werde mir die größte Mühe geben… das verspreche ich auch.“
 

„Was hast du dem armen Puran erzählt, während ich vorhin Tee gekocht habe?“, fragte Saidah ihren Vater amüsiert und lächelte, als sie in der Nacht gemeinsam in der Kutsche saßen, die sie zur Grenze von Janami bringen sollte. Dort würden sie die Kutsche wechseln und mit einem janamischen Kutscher weiter nach Minh-În fahren. Der Weg war weit, sie würden sehr lange unterwegs sein und Saidah hasste die langen Kutschfahrten. Irgendwann tat einem der Hintern weh vom vielen Sitzen und die Sitzbänke in den Kutschen waren nie sonderlich bequem. Selbst dann nicht, wenn sie vom König Kisaras persönlich gestellt wurden.

Die Nacht war sicher schon halb herum, dachte die junge Frau, als sie die Beine überschlug und hinaus spähte. Der Morgen würde längst da sein, ehe sie die Grenze erreichten.

„Was?“, riss ihr Vater sie aus ihren Gedanken, der etwas langsam auf ihre Frage reagierte und jetzt den Kopf drehte. „Wie, Puran?“

„Er sah so mitgenommen aus, als ich wiederkam, so, als hättest du ihm irgendetwas Gemeines gesagt. Irgendwie war er den Rest des Abends so neben sich, muss ja was Furchtbares gewesen sein.“ Sie gluckste und Meoran lächelte flüchtig, während er sich mit einem tiefen Seufzen zurücklehnte.

„Ich habe ihm gesagt, er solle sich zusammenreißen und nicht immer flennen.“, erwiderte er dann, „Vielleicht hab ich ihn damit unabsichtlich verletzt. Aber es täte ihm wirklich besser, er lässt sich für seinen Beruf einfach viel zu schnell aus der Bahn werfen von seinen Emotionen, Das Problem hatte er schon immer… das hat er von seinem Vater. Tabari war auch eine ziemliche Mimose mitunter.“ Seine Tochter sagte nichts und lächelte ebenfalls.

„Du solltest etwas schlafen, wenn du kannst, Vater. Wir fahren noch lange… wir müssten gleich bei den Stadttoren sein.“ Meoran drehte schweigend den Kopf zum Fenster der Kutsche und sah eine kurze Weile hinaus. Als er sprach, war seine Stimme belegt von einer seltsamen Apathie, die Saidah stutzig machte und sich aufrichten ließ.

„Der Schatten… wird über das Reich kommen. Ich kann es… in jedem Knochen spüren, es sind nicht nur die Gerüchte aus Fann, die sagen, die Bosheit regt sich im Land der blutigen Sonne. Wenn es… soweit ist, Saidah… ist das der Vorbote vom Ende der Welt. Merke es dir gut… es ist wichtig.“ Sie starrte ihn an.

„W-was sagst du? Wovon redest du?“

Es war in dem Moment, dass sie den Schatten selbst spüren konnte. Er kroch ihr wie eine furchteinflößende Kälte und schnürte ihr die Kehle zu, als sie keuchend die Augen weitete und die Himmelsgeister in ihrem Kopf wispern hörte. Sie wisperten von Schicksal… es war ein böses, lauerndes Zischen, das sie vernahm, das Zischen des Seelenfängers, der kam, um die Seelen der Lebenden ins Reich der Geister zu bringen.

„Ich habe oft davon geträumt, Saidah…“, murmelte ihr Vater da und sah sie verklärt an, sein Auge richtete sich nicht wirklich auf sie, sondern blickte durch sie hindurch auf etwas anderes. „Vom Schatten, der die Welt mit Flammen und Tod verschlingen wird… dein Schicksal liegt… im Schatten…“ Dann klärte sich sein Blick etwas und er sah sie direkt an… für einen kurzen Moment, in dem die Kutsche dahin nach Osten rollte. Und Saidah hielt die Luft an und starrte nur in seine dunklen Augen, in der Dunkelheit der Nacht nicht viel mehr als seine vom Mondlicht erleuchtete, bleiche Gestalt erkennend. In ihr zog sich etwas zusammen und löste die Angst in ihr aus, als er plötzlich zusammenzuckte und sich heftig keuchend an die Brust fasste. „S-sag… mir noch einmal meinen Namen… ein letztes Mal.“

„Vater?!“, japste seine Tochter panisch und fasste nach seinen Wangen, als er abermals zusammenfuhr und plötzlich schrie, die Hand fester gegen seine Brust pressend und dabei nach vorne kippend. Er schnappte hustend nach Luft und Saidah schrie auf. „Um Himmels Willen! ANHALTEN, SOFORT ANHALTEN!“ Als der Kutscher vorne hastig bremste und panisch fragte, was passiert sei, japste Meoran erneut und starrte durch Saidah hindurch, als sie ihn panisch wimmernd wieder hoch zog und sein Gesicht zu sich drehte.

Entsetzenderweise lächelte er verzerrt.

„Sag… meinen Namen… meine liebe Ruja…“
 

Puran wurde das üble Gefühl nicht los, das er seit dem Abend mit sich herum schleppte, seit Meoran mit ihm gesprochen hatte. Der Gedanke an seinen Tod war fürchterlich… er versuchte den ganzen Abend, es zu verdrängen, sich abzulenken und an irgendetwas anderes zu denken, aber immer wieder kamen die unheilvollen Worte zurück in seinen Geist.

„Pass auf meine Tochter auf.“

Der Schatten, der sich seiner bemächtigte, war zu groß für ihn, das spürte Puran ganz deutlich, als er nach der Feier beim König zusammen mit seiner Frau in die kleine Wohnung im Beamtenviertel kam, wo sie noch eine Nacht verbringen würden, ehe sie zurück nach Lorana kehrten. Nicht einmal das konnte ihn wirklich beruhigen… das beste Zeichen dafür, dass der Schatten zu stark war.

Er hatte panische Angst, die ihn aufwühlte… weil er das Gefühl nicht los wurde, dass die Geister ihm unschöne Dinge zu sagen hatten. Er hätte sich ohrfeigen können für seine andauernde Ohnmacht, seine Unfähigkeit, den Geistern einfach ins Gesicht zu sehen und zu akzeptieren, was sie sagen würden. Unruhig murrend schob er seine Frau verstört ein wenig zur Seite und schnappte nach Luft, worauf sie ihn schnaubend ansah.

„Himmel, was ist eigentlich los mit dir?“, beschwerte sie sich, „Wieso bist du denn so aufgewühlt…? Ist irgendwas nicht in Ordnung?“ Sie saß breitbeinig auf seinen Oberschenkeln mit nicht mehr an als ihrer Spitzenunterwäsche (die sie extra für diese eine Nacht fern von allen Kindern angezogen hatte) und schenkte seinem Unterleib, den sie gerade noch fleißig zu motivieren versucht hatte, einen schüchternen Blick. Puran stöhnte.

„Tut mir leid, Liebes, ich… fürchte, ich… kann heute nicht…“

„Ja, das sehe ich.“, seufzte sie schmollend, „Was ist los?“ Er stöhnte nur wieder und strich ihr entschuldigend über die Oberschenkel, bevor sie sich von ihm erhob und er sich im Bett aufsetzte, sich die zerzausten Haare raufte und seine Hose wieder zu knöpfte.

„Schatten.“, war alles was er sagte und Leyya weitete in stummem Entsetzen die Augen bei seiner Abgeschlagenheit. Sie spürte, dass es etwas sehr Ernstes sein musste, wenn er so knapp sprach…

Sie kam nicht dazu, weiter zu denken, denn in diesem Moment sprang ihr Mann plötzlich, die Hose jetzt zu, wie gestochen vom Bett auf und japste panisch – in dem einen Moment spürte selbst sie als Heilerin das Unheil, das die Geister verbreiteten. Die dunkle Ahnung, dass etwas Schlimmes geschehen würde –

Einen Augenblick später hämmerte es plötzlich wie wild an der Wohnungstür. Jemand schrie panisch um Hilfe und hämmerte und schlug gegen die Tür, als gäbe es kein Morgen. Als Puran zur Tür hechtete, hätte die Person, die davor stand, ihm beinahe ins Gesicht geschlagen. Sie beherrschte sich gerade noch und Leyya zog rasch ihr Nachthemd über, ehe sie dazu eilte. Sie schnappte nach Luft.

„Saidah?! W-was machst du denn hier?“

Eigentlich war keine Antwort nötig – sie war aus dem Gesicht der jungen Frau zu lesen, sie heulend und schreiend an Purans Schultern rüttelte, ergriffen von Frucht und einem fürchterlichen, seelischen Schmerz.

„Puran!“ wimmerte sie und brach ohne ein Halten in Tränen aus, ohne auch nur ein weiteres Wort heraus zu bringen, und der Geisterjäger wusste keine andere Lösung, als sie reflexartig in seine Arme zu ziehen und davor zu bewahren, dass sie zusammenbrach. „Um Himmels Willen, d-du bist da… Himmel sei Dank bist du da… i-ich weiß nicht, was ich tun soll…“

„Was ist passiert?“, krächzte der Mann und war verwundert, überhaupt Stimme zu haben – Er wusste genau, was passiert war. Er hatte es gewusst in dem Moment, in dem er Saidahs vor Gram und Panik verzerrtes Gesicht gesehen hatte.

In dem Augenblick, in dem die Geister in seinem Inneren verstummt waren und der Schatten sich über ihn legten, bereit, ihn niemals wieder frei zu lassen. Er sah Leyya im Hintergrund zusammensinken, als Saidah sprach.

„M-mein Vater ist gerade gestorben…“
 

Puran war überrascht, dass er noch stehen konnte. Dass er noch atmete und nicht einfach umfiel, genauso tot, nachdem er diese Nachricht erhalten hatte. Es war eigentlich nicht so, dass er es nicht geahnt hätte. Aber gerade das machte es noch schlimmer… das Gefühl, genau zu wissen, was das Gegenüber gleich sagen würde – und dennoch innerlich so fest zu hoffen, dass es etwas anderes zu sagen hätte.

Falsch gehofft.

Er ignorierte das Gelächter der zischenden Geister, als er sich an Saidah vorbei aus der Wohnung drängelte, in die Dunkelheit des Hofes. Er ignorierte seine Frau, die am Boden zusammengebrochen war und sich die Seele aus dem Leib zu schreien schien. Alles, was ihm durch den Kopf ging in diesem einen, leeren Moment, war die Nachricht.

Meoran ist tot.

Er brauchte eine ziemliche Weile, bis er sich gesammelt hatte, nach Luft schnappte und sich zitternd wieder zu Saidah herum drehte, die so verloren und wimmernd im Türrahmen stand und ihn fassungslos anstarrte.

Kümmere dich um meine Tochter, hatte Meoran gesagt. Und da stand sie, hilflos und ohne den Hauch einer Ahnung, was sie machen sollte… Puran wimmerte ebenfalls und überwand den Abstand zwischen ihnen wieder, um sie in seine Arme zu schließen. Saidah fing an seine Brust gepresst hemmungslos zu weinen an.

„W-wie… ist das passiert? Gerade eben?“, brachte der Senator gepresst heraus, indem er sich an den Türrahmen lehnte, versuchte, das Weinen noch so lange zurückzuhalten, bis er der armen Saidah etwas Halt hatte geben können… sie war viel ärmer dran als er. Es war ihr Vater gewesen… der einzige aus ihrer Familie, der ihr geblieben war. Die junge Frau kam nicht zum Sprechen und Puran sah es ihr nach. Er sah aus dem Augenwinkel die arme Leyya, die krampfhaft versuchte, sich aufzurappeln. „Wo ist er, Saidah?“

„I-in… der Kutsche, ich… es ist… einfach passiert, sein… Herz hat ganz plötzlich aufgehört… zu schlagen… ich habe den Kutscher s-sofort… u-umdrehen lassen, ich… ich weiß nicht, was ich machen soll, i-ich kann doch so nicht heim fahren… d-das passiert doch nicht einfach! Mitten auf der Fahrt und-… i-ich… kann nicht fassen, dass das… passiert… ich… fühle mich wie in einem bösen, furchtbaren Traum…“ Puran jammerte schmerzhaft und drückte sie fester an seine Brust.

„Es ist kein Traum… ich wünschte, es wäre einer. Aber du wirst… n-nicht aufwachen… ich weiß… wie das ist, seinen Vater zu verlieren. Glaub mir… es… es tut mir so leid…“
 

Er war unfähig. Er konnte nichts zu ihr sagen, das ihr geholfen hätte… er kam erst später zu dem Entschluss, dass es auch nichts gab, das ihr geholfen hätte. Keine Worte konnten Meoran wieder zurück ins Leben rufen… keine Umarmung konnte den Schmerz aus Saidahs Seele verbannen, kein Tut mir leid, keine Versprechen, zu helfen, für sie da zu sein, was auch immer… Puran selbst hatte das auch nicht geholfen, als seine Eltern gestorben waren. Er erinnerte sich mit Grauen an die Zeit zurück, die er so gut überwunden hatte… jetzt ging es erneut los.

Der Senator konnte die Leiche schlecht über Nacht in seiner Wohnung lassen, die einzige andere Lösung, die ihm kam, war der Palast; während er die beiden Frauen im Beamtenviertel zurückließ, ließ er sich von der Kutsche, die eigentlich nach Janami hätte fahren sollen, zurück zum Palast bringen. Sein Lehrmeister sah ganz unversehrt aus, wie er noch zurückgelehnt in der Kutsche saß, in der er gestorben war. Es war, wie Saidah gesagt hatte, es musste das schwache, kranke Herz gewesen sein, das jetzt aufgegeben hatte, nicht mehr bereit, länger zu kämpfen. Das Gesicht des Mannes war erstarrt, es zierte aber ein flüchtiges Lächeln, wie Puran im Dunkeln erkannte, während er mit der Leiche zurück zum Schloss fuhr.

„Niemand verübelt dir das, mein alter Freund…“, flüsterte er dabei dumpf und unterdrückte mit aller Macht das Zittern, während er eine Hand hob und Meoran über die Haare strich. „Du bist… jetzt die scheußliche Krankheit los. Und du hast… endlich deine geliebte Ruja zurück… deswegen lächelst du, nicht wahr, Meister?“ Er zwang sich zu einem Lächeln, spürte aber bereits den quälenden Schmerz in seiner Kehle, weil die Trauer so groß war, dass jedes noch so bittere Lächeln sich falsch anfühlte. „Es… es tut mir so leid…“, stammelte er dann und schnappte nach Luft, ehe er auf der Bank der Kutsche neben seinem Freund zusammenbrach und die Trauer ihn übermannte, „Ich – ich kann mein Versprechen nicht halten, nicht mehr zu heulen, verdammt! Du fehlst mir so schrecklich… es zerreißt mir… so dermaßen das Herz, dich niemals… niemals wieder sprechen hören zu können… ich kann… das nicht, Meoran. Bitte vergib mir… ich bin nicht… stark genug dafür… du hättest mir… da mehr Zeit mit lassen sollen…“ Es war nicht wirklich ein Vorwurf. Er hatte keine Vorwürfe, die er seinem Meister hätte machen können… er war immer gut zu ihm gewesen. Der Gedanke schmerzte und fühlte sich scheußlich an, dass er es niemals wieder sein würde… wie sehr wünschte Puran sich, sein Freund würde jetzt aufwachen und antworten? Ihm grinsend erzählen, er hätte doch bloß geschlafen… auch, wenn das ein wahrlich makaberer Scherz gewesen wäre, die Erleichterung darüber, dass er lebte, wäre so viel größer gewesen als es jede Wut jemals sein könnte.

Aber er wachte nicht auf. Er würde nie wieder aufwachen… und Puran auch nicht, um festzustellen, dass er nur geträumt hatte. Für einen Traum war das Zischen der Geister zu leise… sie waren komplett verstummt. Es war einer der seltenen Momente, in denen Puran sich wünschte, sie würden sprechen und wenigstens so tun, als würden sie ihn trösten wollen…
 

Der König war entsetzt, ebenso die übrigen Geisterjäger (mit Ausnahme von Emo, den niemand kontaktieren wollte), die als nächstes Nachricht von Meorans Tod erhielten. Wenn jemand starb, hatte Puran gelernt, ging es in erster Linie um Nachrichten. Er musste ebenso einen Eilboten nach Thalurien schicken, damit über das Sagal-Netzwerk so schnell wie möglich die Nachricht zu seinen Kindern kam, dass er und Leyya erst ein paar Tage später heim kommen würden. Die drei waren alt genug, um für sich selbst zu sorgen, zur Not würde der alte Sagal oder Chata Anso ihnen schon helfen.

Der Mittag war vorüber, als Shais und Tare Kohdar zurück nach Vialla gekommen waren und der Rat sich erneut im Salon traf, allerdings nicht zum Beraten, sondern für die Bestattungszeremonie ihres Kollegen. Für die anderen war es auch nicht leicht, sich richtig zu verhalten. Während Neron und Saja ganz und gar untröstlich waren und hundertmal bekundigten, wie furchtbar das wäre und dass es ihnen leidtat, sagte Tare kaum etwas dazu, als er zu Saidah ging, die zwischen Puran und Leyya auf dem Kanapee des Salons saß, den Kopf gesenkt hielt und sich mit ihren Armen selbst umschlang, als würde sie frieren.

„Das ganze Gequatsche hilft dir nicht weiter, Saidah.“, meinte er bloß, „Darum werde ich auch nichts sagen, was du ohnehin noch oft genug hören wirst, ob du willst oder nicht. Mir hat ein Gedanke damals, als mein eigener Vater starb, sehr weitergeholfen… denk daran, dass er nicht für immer stirbt. Er lebt doch in dir weiter, du bist sein Kind, du bist ein Teil von ihm. Für mich bist du das jedenfalls, und wenn wir uns viermal im Jahr zum Rat treffen, wird dein Vater durch dich auch anwesend sein, so wie Purans Eltern mit ihm und mein Vater mit mir. Und eines Tages wird vielleicht jemand seinen Sohn Meoran nennen und dann wird dein Vater wieder zurück in diese Welt kehren… bis dahin hat er wenigstens seine Frau wieder, Himmel, wie er die doch vermisst hat… es ist recht so, Saidah, glaub mir.“

„Ich danke dir, Tare.“, nuschelte sie beklommen und neigte den Kopf noch tiefer, „Ich… danke dir wirklich… ich danke euch allen, weil ihr… einfach nur da seid.“
 

Der König hatte einen Telepathen dafür bezahlt, dass er sich nach Minh-În teleportierte und das Kindermädchen Tanuq noch mitbrachte; schließlich würde auch er dabei sein wollen, wenn sein Arbeitgeber die letzte Ehre erhielt. Die Runde war klein, als sie im Innenhof des Palastes nach vielen Jahren einmal wieder einen Scheiterhaufen errichteten, auf dem Meoran jetzt ordentlich lag, die Hände über dem Bauch zusammengelegt und die Augen geschlossen, seinen Umhang und den Anstecker noch tragend, um mit allen Ehrenbeweisen ins Geisterreich zu gelangen.

Leyya weinte bereits, als sie an Purans Arm klammerte und vom Rande aus zusah, wie Saidah auf das Podest stieg und die Fackel in ihrer Hand mit Vaira entzündete. Saidah war so tapfer… die Heilerin war sicher, sie könnte niemals den Menschen anzünden, der ihr am meisten auf der ganzen Welt bedeutete, auch nicht, wenn er tot war. Den Gedanken, dass auch ihr geliebter Gatte eines Tages sterben würde, und dank des Altersunterschiedes mit großer Wahrscheinlichkeit vor ihr, sodass sie ihn zu Grabe tragen müsste, verdrängte sie sofort wieder… es machte nichts besser.

„Es ist… so komisch, zu denken, dass Meoran jetzt… wirklich tot ist.“, murmelte sie wimmernd und kuschelte sich an Puran, der nur traurig einen Arm um sie legte und sie streichelte.

„Frag mich mal. Ich kenne ihn viel länger als du… mich schmerzt es auch.“

Und das war weit untertrieben… er hatte sich in dem Tag, der vergangen war, seit Meoran gestorben war, gefragt, wieso er immer noch stehen konnte… wie lange er es wohl noch tun würde, bevor seine Füße nachgaben und er in das schwarze Loch fiel, das der Tod seines besten Freundes in seinem Geist hinterlassen hatte. Die Trauer war schneller verschwunden, als er gedacht hatte… aber zurück blieb eine eiserne Leere, ein Loch, in dem nichts war, das sich einfach wie der Schlund eines riesenhaften Raubtieres auftat und alles verschlucken würde, was jemals an Glückseligkeit kommen würde. Und die Gedanken daran, dass es auch noch Gutes im Leben gab, trösteten ihn nicht wirklich. Er liebte seine Frau und seine Kinder, aber auch die Gewissheit, dass sie – im Gegensatz zu Meoran – noch da waren, war nicht hilfreich. Vielleicht war es egoistisch, so zu denken… er war nicht der Einzige, der über den Verlust leiden musste. Sein Blick schweifte hinauf zu Saidah, die bebend die Fackel in der Hand in die Luft hielt, herab sehend auf ihren Vater, dessen sterbliche Überreste sie gleich in Brand stecken würde.

Sei tapfer, Saidah. Ich habe deinem Vater versprochen, auf dich aufzupassen… es war sein letzter Wunsch und ich werde mein Versprechen so gut halten, wie ich kann. Nach allem, was dein Vater für mich getan hat im Leben, bin ich ihm das mehr als nur schuldig.

„Geister von Himmel und Erde!“, durchschnitt Saidahs erstaunlich feste, kalte Stimme den kühlen Sonnenaufgang, an dem sie auf dem Hof standen, und sie hob ihre Fackel bebend ein Stück höher, dabei den Kopf in den Nacken werfend. „Hört mich an! Öffnet… jetzt die Tore zur Geisterwelt!“ Sie schnappte zitternd nach Luft, ehe sie den Kopf wieder senkte und die freie Hand nach ihrem Vater auf dem Scheiterhaufen ausstreckte, um sein Gesicht zu streicheln. Er war so kalt… es fühlte sich komisch an. „Geh zu Mutter, Vatilein. Sie… wartet auf dich… du musst nie wieder nachts im Bett nach ihr weinen… das… ist ein schöner Gedanke.“ Sie zeigte ein trauriges, sehnsüchtiges Lächeln, bevor sie die Fackel in den Scheiterhaufen steckte und das Holz damit entzündete. Sie erhob die Stimme, obwohl sie zittrig wurde und der Wind sie davon trug. „Geh, Geist von Meoran! Geh zu deinen Ahnen ins Reich der Geister! Möge der Seelenfänger dich wohlbehalten dorthin bringen…“ Sie trat mit gesenktem Haupt vom Podest zurück und kletterte schließlich herunter, während die Flammen das Holz und den toten Körper fraßen und den Sonnenaufgang hell und gefährlich erleuchteten. „Ich hab… dich lieb, Vater.“
 

Die Flammen ragten hoch in den Himmel hinaus. Das Feuer würde sicher den ganzen Tag brennen; jetzt war es an Saidah, der einzigen verbliebenen Chimalis, die fünftägige, traditionelle Totenwache für die Seele ihres Vaters zu halten, um aufzupassen, dass diese auch ins Geisterreich gelangte. Puran blieb mit Leyya bei ihr, während die anderen sich nach und nach alle verabschiedeten. Als die Sonne unterging, waren sie allein und saßen auf den Treppenstufen, die zum Schloss führten; einem Ort, an dem sie so oft gesessen hatten, mit verschiedenen längst toten Ahnen. Das Feuer brannte noch immer und die Hitze des Tages schwang langsam dahin, während der grüne Himmel sich langsam orange färbte. Aus dem Osten zog der Schatten herauf, der die Nacht bringen würde.

Leyya schlief mit dem Kopf auf Purans Schoß, während er ihr zärtlich versonnen durch die dunklen Haare streichelte und auf den brennenden Scheiterhaufen starrte, Saidah neben sich. Ein Diener des Königs hatte netterweise Kaffee gebracht.

„Es wird dunkel.“, stellte die schwarzhaarige Frau beklommen fest und sah dabei gen Osten, am Feuer vorbei. „Die Insekten werden kommen.“

„Der beißende Rauch wird sie schon abhalten.“, murmelte der Senator leise, „Von den hier lebenden Insekten und ihren Stichen ist auch noch keiner gestorben. Im Süden von Senjo sollen sie garstig sein und in Kuyala…“ Saidah seufzte leise.

„Ich glaube auch nicht, dass es die hiesigen Insekten sind, die uns Sorgen machen sollten. Mehr die, die aus dem Schatten im Osten… kommen und das Ende der Welt bringen.“

Der Ältere sah sie an und sie drehte apathisch ihre Kaffeetasse in den Händen, ehe sie einen großzügigen Schluck nahm.

„Was meinst du damit? Das Ende der Welt…?“

„Mein Vater… hat so etwas gesagt, kurz bevor er starb. Er hat wirres Zeug geredet, aber… es waren Worte der Geister, in dem Moment, in dem er dabei war, einer von ihnen zu werden. Er hat gesagt, aus dem Ostreich wird Schatten über uns fallen. Und es wäre ein Vorbote vom Ende der Welt… vielleicht ist das das Ende, von dem wir alle so lange schon träumen… ich sah es schon als ganz kleines Kind, genau wie du. Der Schatten, der uns verschlingt und dann in einem Inferno aus gewaltigen Flammen und Verderben explodiert. Ich habe mir sagen lassen, dass vor einigen Jahren auf Zuyya die halbe Welt explodiert ist, weil ein unterirdischer, gigantischer Vulkan ausgebrochen ist. Meinst du, wir haben auch so einen Vulkan?“

„In Intario gibt es eine Menge Vulkane.“, gab Puran dumpf zu bedenken, „Aber an sich nicht unterirdisch… das solltest du aber lieber die Leute in Intario fragen, ich weiß es nicht.“ Er schwieg lange und sah in das brennende Feuer, dessen Wärme bis zu ihnen auf der Treppe vordrang, was ihm ersparte, Leyya eine Decke holen zu lassen. Die kleine Heilerin schlief friedlich wie ein Baby und rührte sich nicht.

Schatten kamen von überall. Er hatte das ungute Gefühl betreffend den Osten auch schon gehabt und versucht, es in den Hintergrund zu drängen. Jetzt fiel es ihm schwer, überhaupt an so etwas Pragmatisches zu denken, während er noch auf der Totenwache seines besten Freundes und Vaterersatzes saß.

„Ich werde mit dem König über die Sache mit dem Ostreich sprechen.“, versprach er dann, „Die sollen zusehen, dass die Beziehungen stabil bleiben. Jetzt ist ein Krieg gerade vorbei, noch einen brauche ich nicht in meinem Leben. Der nächste soll gefälligst erst kommen, wenn ich tot bin.“ Die Jüngere zeigte ein mattes Lächeln, das nicht wirklich eines war. Er verübelte es ihr nicht… sie hatte ihren Vater bestattet. Ihm war auch nicht nach lächeln zumute. Indem er seine kleine Frau weiter streichelte und spürte, wie sie sich im Schlaf fester an ihn kuschelte, drehte er das Gesicht vom Feuer weg in den dunkler werdenden Himmel. „Ich habe mein Leben lang so viele Leute sterben sehen.“, murmelte er dabei, „Ich bin es… wirklich leid. Dass dein Vater jetzt auch dazugehört… schmerzt mich mehr als du dir vorstellen kannst.“ Saidah senkte den Kopf tiefer und umschlang mit ihren Armen ihre Knie.

„Mein Vater hat dich immer so geliebt… als wärst du sein Sohn. Du weißt das, Puran. Als er mich unterrichtet hat, hat er immer erzählt, was für Dummheiten du gemacht hast und wie begabt du dabei doch bist. Ihn zu beeindrucken war schwer, er hat so viel von dir geredet, dass ich als Kind oft dachte, ich müsste auch so werden wie du, was ich natürlich niemals schaffen werde…“ Puran schnaubte.

„Oh, bitte, sowas hat er sicherlich niemals erwartet. Wir beide standen uns sehr nahe, ja, aber du bist seine einzige Tochter, sein einziges Kind und der Mensch auf der Welt, den er mehr als alle andere zusammen geliebt hat. So sehr ein Vater seine Tochter nur lieben kann hat er dich geliebt, das weiß ich mit Gewissheit.“ Er seufzte leise. „Ich liebe dich auch, Saidahchen. Ich bin nicht dein Vater und ich kann, will und werde ihn nicht ersetzen. Aber unsere beiden Familien vereint seit vielen Jahrhunderten das Schicksal wieder und wieder. Es führt unsere Clans mal auseinander, mal wieder zusammen, als wären wir Sandkörner im Wind. Ich werde dich nicht alleine lassen, Saidah. Das habe ich deinem Vater vor zwei Tagen versprochen und das verspreche ich auch dir. Vergiss das nicht.“ Sie sah ihn an und erzitterte, als ein Windhauch sie streifte, worauf sie sich noch mehr zusammenfaltete.

„Ich hab dich so lieb, Puran…“, war alles, was sie flüsternd heraus brachte, und er ließ kurz von Leyya ab, um ihr über die Wange zu streicheln.

„Ich passe schon auf dich auf.“ Darauf musste sie wieder verzerrt lächeln.

„Du wirst Karana dann wohl zu mir in die Lehre schicken müssen… mein Vater wird das leider nicht übernehmen können.“

„Es wird mir eine Ehre sein, dir meinen Sohn anzuvertrauen. In zwei Jahren wird er wohl soweit sein… das ist keine lange Zeit. Ich hoffe, er weiß sich zu benehmen, ich… habe da mitunter meine Sorgen mit ihm.“ Er dachte kurz an seinen kleinen Sohn und seine herrische Ader, die er mit aller Macht zu unterdrücken versuchte… und seine spitzen Eckzähne, die ihm seit jeher Alpträume verschafften. Er fragte sich, ob er dem richtig entgegen ging… ob er sich richtig verhielt mit der seltsamen Ader seines Sohnes und der damit verbundenen Paranoia. Meoran hätte es sicher besser gemacht als er, wäre es sein Sohn gewesen. Der Senator blickte wieder zum brennenden Scheiterhaufen und folgte mit dem Blick den Rauschwaden, die in die Finsternis aufstiegen.

Was sagt ihr, Geister? All ihr Ahnen, die ihr da jetzt sitzt und auf uns herab starrt… was soll ich tun, wenn der Schatten kommt? Und was mache ich mit meinem Kind, dessen Geist mir verschleiert bleiben will…?

Die Geister antworteten nicht; es war Saidah, die sprach und jetzt auch wieder zum Feuer blickte.

„Keine Sorge. Auch, wenn wir nicht heiraten werden, die Geister haben Karana und mich auf eine eigentümliche Weise verbunden. Was immer dir Sorgen macht, ich werde mein Bestes geben, um dafür zu sorgen, dass es… verschwindet.“ Obwohl der Mann sie nicht ansah, spürte er instinktiv, dass sie mehr wusste, wovon genau er eigentlich sprach, als sie mit ihren Worten sagte. Der Gedanke beunruhigte und erleichterte ihn zugleich… es gab so viel Schatten auf der Welt.

Dann sprachen die Geister doch noch, nachdem sie lange geschwiegen und in die Dunkelheit gestarrt hatten, und kicherten in Purans Kopf.

„Das Ende des Zeitalters… ist nahe. Mit Feuer und Schatten wird das Bündnis der Drei Welten zerbrechen. Mit dem Schatten aus dem Osten kommt das Ende der Welt… und wenn sich der Zorn von Vater Himmel und Mutter Erde über der Welt ergießt, Puran Lyra… wirst du den letzten Teil deiner Bestimmung antreten. Du kannst nicht davonlaufen… vor dem Willen der Himmelsgeister.“ Der Mann sagte nichts und lauschte dem leiser werdenden, wissenden Kichern in seinem Kopf; den Stimmen, die er seit so vielen, vielen Jahren wieder und wieder vernahm, die er verfluchte, wenn sie da waren, und vermisste, wenn sie schwiegen. Die Geister waren unweigerlich ein Teil von ihm… das konnte er nicht leugnen. Es war, wie seine Großmutter zu ihm gesagt hatte, als er klein gewesen war; er war ein Kind der Geister.

Das würde er immer sein. Weglaufen hatte er aufgegeben…
 

In Lorana war es stockfinster, während Karana mit seinem Hund auf der Türschwelle der Haustür saß, die Tür sperrangelweit offen, und hinaus in die Stille des Dorfes starrte. Aar lag friedlich dösend neben dem Jungen und rührte sich nicht, während Karana in seiner Hand eine perfekte Vaira-Flamme balancierte, die sein bildschönes Gesicht erleuchtete; dass seine Schönheit in den Genen lag, war kein Geheimnis. Die Mitglieder der Lyras waren fast immer hübsch…

„Die Schatten werden bald kommen.“, zischte der Junge halb laut vor sich hin und stierte in das Licht der Flamme auf seiner Hand; oder durch sie hindurch, sein Blick richtete sich nicht wirklich auf das Feuer. Er war so vertieft in sein Gemurmel, dass er die Schritte nicht hörte, die hinter ihm leise die Treppe hinab tapsten und auf der untersten Stufe inne hielten. „Wenn sie kommen, wird das Reich fallen. Aus dem Osten kommen die Stimmen, die Stimmen, die… das Lied von Tod und Finsternis singen. Und wenn sie zu mir kommen, werden sie zu meinen Füßen kriechen wie Würmer im Sand, und ich werde auf sie herab starren und lächeln…“

„Karana?“

Der hübsche Junge fuhr wutentbrannt über die Störung herum und riss die Hand mit der Flamme nach vorne, um den dunklen Flur zu erleuchten, dabei fletschte er bedrohlich knurrend wie ein geiferndes Raubtier seine scharfen Eckzähne. Er sah seine kleine Schwester, die sich jetzt zurückschreckend an das Treppengeländer klammerte und ihn aus großen Augen anstarrte… Augen, in denen ein Wissen lag, das ihm nicht gefiel. Wie lange stand sie schon da?

„Du schnüffelnde, kleine Ratte! Wage es nicht, dich so anzupirschen!“, keifte er sie zischend an und zu seiner Verblüffung rannte Neisa nicht heulend nach oben zu Simu. Sie hob ihre Hand und schleuderte einen Wasserzauber nach ihm, der die Flamme erlöschen ließ, sodass es finster wurde. Karana japste und Aar hob jaulend den Kopf, weil er nass geworden war. Es wurde wieder hell, als die kleine Heilerin selbst eine Flamme über ihrer eigenen Hand entzündete und empor hielt.

Karanas Gesicht hatte sich verändert – da war es wieder, die komische Veränderung. Von einem Moment auf den anderen war das Raubtier in ihm verschwunden und er sah maulend an sich herab.

„Verdammt, Neisa! Du hast mich ganz nass gemacht, i-ich sehe aus, als hätte ich mich angepinkelt!“ Aar erhob sich und rannte schwanzwedelnd im Flur auf und ab, bevor sein Herrchen sich auch fluchend erhob und murrend auf seine Schwester sah. Er fuhr sich durch die braunen Haare. „Was hast du hier eigentlich verloren? Ich wollte die Tür noch etwas aufmachen, damit frische Luft ins Haus kommt, es war furchtbar heiß am Tag! Vati wird meckern, wenn er heim kommt und alles stickig ist, du weißt doch, wie sehr er die Hitze hasst. Warum schläfst du nicht, Neisa? Mitternacht ist schon durch!“ Das blonde Mädchen wiegte sich schweigend in seinem weißen Nachthemd hin und her, dabei die Hand mit der Flamme weit von sich streckend. Als es sprach, wunderte Karana sich über die Fremdartigkeit in ihrer Stimme – sie war anders, aber auf ferne Art auch unangenehm vertraut, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

„Ich konnte nicht schlafen… ich habe Kopfweh. Da dachte ich, ich schnüffele ein bisschen herum… wie eine Ratte. Aber Ratten sind klein und flink. Sie knabbern deine Füße an und fressen dich auf, bevor du viel merkst. Und wenn du es merkst, sind es so viele, dass es… zu spät ist.“ Sie machte ein besorgtes Gesicht und der Junge schauderte, während er die Fäuste fest ballte, sodass die Knöchel hervortraten. „Ich werde um dich weinen, wenn du gefressen wirst, Karanachen.“ Er sagte nichts mehr, als sie die Flamme erlöschen ließ und sich daran machte, wieder hinauf zu gehen. Es stimmte wirklich, was Simu gesagt hatte über Karanas seltsame Stimmungsschwankungen… verwundert stellte die Kleine im Hinaufgehen fest, dass sie das gleichzeitig faszinierte und ihr auch Furcht machte.

Die Schatten würden kommen, hatte er gesagt. Und dann würde das Reich fallen. Neisa wusste nicht, ob es sie mehr besorgen sollte, dass er das gesagt hatte, oder dass sie es auch spüren konnte…

Die Schatten kamen. Und sie kamen rasch. Das Zeitalter war so gut wie vorbei.
 

_______________________________

So. Sommer 995, und es zu zu Ende! Hier endet diese Story, weiter gehts mit Buch eins!^^ Danke an meine treuen Leser und Schwarzleser! <3333 Ich hab euch lieb! ^o^

Herz des Tages an Meoran, einen meiner wirklichen Lieblinge, von dem ich mich hier leider verabschiedne musste.... .____.
 

mein Betababy -Izumi- schrieb mir den Satz unter das api, ich wollte ihn da lassen:

Danke für diese tolle Geschichte, für die ich dich zutiefst bewundere <3

Mama sagt: Liebt! Bitte! Hat Spaß gemacht!! ^o^



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Decken-Diebin
2010-08-10T20:58:49+00:00 10.08.2010 22:58
Oh man. Was soll man sagen, wenn mit 'einem Maö' eine so lange Geschichte zu Ende niedergeschrieben ist? Herzlichen Glückwunsch? xD Nein... sondern ich habe es geliebt. <3
Wie ich in meinem Weblog geschrieben hab, ich liebe es, das Leben zu lesen, und das tue ich jedes Mal, wenn ich Khad-Arza lese. Unglaublich, wie du in eine Geschichte 45 Jahre Zeitgeschichte unterbringen konntest. Und das ohne arg zu quetschen! Und jeder Charakter hatte sein eigenes Ich, eine Vergangenheit und eine Zukunft. Unglaublich, wie du sie dahin gehen lassen konntest, um anderen Charaktere in den Vordergrund zu stellen, ganz unbemerkt... und die Jahre vergehen. <3
Auch von mir... vielen, vielen Dank für diese Geschichte. Und ich verspreche dir, du wirst jedes weitere Mal einen Kommentar von mir zu Khad-Arza finden. Immer. Solange ich lebe <3

Die Schatten kamen. Und sie kamen rasch. Das Zeitalter war so gut wie vorbei.

Und diese drei Sätze werde ich mein Leben lang nicht vergessen. <3
Von:  -Izumi-
2010-08-10T17:08:56+00:00 10.08.2010 19:08
Aww, du hast den Satz da gelassen! Ja, ähm... das musste sein ^^' <333

So, dann mein vorgetippter Kommi von heute Nacht:

Es ist vorbei, einfach so, das ist gerade sehr ernüchternd.
Also nochmals: DANKE! Danke, dass du diese wundervolle Geschichte geschrieben hast! Und danke, dass ich sie seit einer Weile betan durfte, dem bin ich eigentlich gar nicht würdig...

So, jetzt zum Kapitel - niemals ist mir ein Kapitel so kurz vorgekommen wie das. Dabei hat es eine für deine Verhältnisse ganz normale Länge, aber es war so dermaßen schnell vorbei, das war unglaublich.
Aber ich will mich nicht beschweren... <3
Trotz des traurigen Inhalts gab es auch immer wieder Stellen, an denen ich grinsen musste... allen voran die Szene mit Puran, Leyya und dem König auf dem Gang, dicht gefolgt von Meorans erstaunlichem Wissen über Emos Intimleben...
Da wären wir auch beim Thema, Meoran .///.
Meoran war mit Abstand einer der tollsten Charas, die du je erfunden hast. Er stand eigentlich nie wirklich im Vordergrund, aber er war in seiner Lebzeit eigentlich fast immer da. Und obwohl er so sympathisch war, war er auch ein Poser... er war unsagbar toll.
Irgendwie ist es der krönende Abschluss, dass er im letzten Kapitel stirbt. Dass er kurz davor noch Ruja sieht oder hört, dachte ich mir ^///^
Saidah tat mir so Leid... und Puran. Ich hab Puran in dieser Geschichte auch sehr lieb gewonnen; vorher war er einfach Karanas Bonzen-Vater, mittlerweile hab ich ihn aber echt kennen und lieben gelernt <3
Ebenso auch Leyya, die war zuvor für mich eben nur Karanas Mutter ^^'
Sehr beeindruckend war auch die letzte Szene... ich hab ja in meinem Weblog schon angedeutet, dieses komische Gefühl, weil so unglaublich viel Zeit in dieser Geschichte vergangen ist und auch so unglaublich viele verschiedene Charas kamen und gingen... hm. Das Ende hat einen in gewisser Maßen wieder ganz zurück an den Anfang versetzt, es war einfach unheimlich cool und hat mich tief berührt ^^
In Gedenken an alle Charaktere, die in dieser Geschichte kamen und gingen, sei es die Familie von Kelars Schwester am Anfang oder Purans Schulfreunde in der Mitte irgendwo, beende ich jetzt meinen letzten Kommi zu dieser wundervollen Geschichte.

Wenn es nicht so unsagbar lang wäre, würde ich es sofort nochmal lesen und ich bin mir irgendwie sicher, dass ich mir an einigen Stellen die Hand vor die Stirn schlagen würde, denn beim zweiten Mal sieht man bekanntlich mehr, nicht?

Mit den größten Herzen von dem Beta-Baby. Ich danke dir. (Ich kann ja so formal wirken, ne?)


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