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OS-Sammlung Allerlei

von

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(!) Lie (!)

Lie
 

“Lie” hatte sie sich gerade in die Haut geritzt. Knapp über ihrer linken Brust.
 

Es war wie ein Zwang gewesen, sie musste es tun. Wäre sie diesem Zwang nicht nachgekommen, würde sich der Druck weiter aufbauen. Solange bis sie nachgab und sich selbst die Befriedigung verschaffte, nach der ihr Körper sich sehnte.
 

Das Ritzen geschah bei ihr alle paar Wochen, manchmal lagen ein bis zwei Monate dazwischen, bevor sie wieder etwas Scharfes über ihre Haut fahren ließ.

Dieser innere Druck es zu tun, baute sich über diesen Zeitraum auf, solange bis sie es nicht mehr aushielt und die Schmerzen des Ritzens fühlen musste.

Anfangs “nur” mit einer Nagelschere, dann mit einer Rasierklinge.
 

Sie hatte die Buchstaben beim ersten Versuch nicht erkennen können, also stellte sie sich in die Nähe des Fensters, so dass Tageslicht ihre Haut beleuchtete.

Ihre Augen suchten die Buchstaben, erahnten die leichten Abdrücke auf der Haut und fuhren erneut mit der Spitze der Klinge über die Haut. Diesmal mit mehr Druck, nicht so lasch wie vorher.
 

Jetzt hatte sie es geschafft...
 


 

Das “L” war fast perfekt durchgezogen, nur an einer Stelle musste sie die Linie etwas korrigieren.
 

Das “I” war zu kurz und musste verlängert werden.
 

Das “E” war nicht vollkommen. Es war der am wenigsten gelungene Buchstabe. Die drei Striche, die waagerecht von der senkrechten Linie abzweigten, waren verschieden lang, die mittlere sah wie zwei separate Linien aus. Die obere Ecke des Buchstabens war zu lang und ragte über den letzten Strich heraus.

Sie verlängerte die zu kurzen Linien und versuchte noch weitere kleine Mängel auszugleichen, damit das Wort in ihren Augen akzeptabel auf ihrer Haut brannte.
 


 


 

Rotes Blut perlte aus den Schnitten. Nur vereinzelt als Tropfen, ansonsten hob es nur die Schnitte von der hellen Haut ab.
 

Die Schnitte waren nicht so tief, nur oberflächlich, sodass gerade einmal ein bisschen Blut austrat.
 

Noch waren sie oberflächlich.
 

Sie war sich nicht sicher, wie lange noch.
 


 

Sie hatte versucht zu verhindern, dass sie sich die Rasierklingen kaufte. Schon seit einigen Wochen spukte der Gedanke an den Kauf in ihrem Kopf herum. Doch bisher hatte sie es erfolgreich vergessen und verdrängen können. Immer wenn sie im Laden stand um etwas anderes zu besorgen, hatte sie diesen Drang nach den Klingen vergessen.

Erst wenn sie wieder Zuhause war, oder das Geschäft verlassen hatte, oder später am Tag, wenn es ihr wieder einfiel, befand sie sich in der Zwickmühle der Gefühle. Einerseits Erleichterung, weil sie die Rasierklingen nicht gekauft hatte, andererseits Wut und Frust, gerade weil sie noch immer keine hatte.
 


 

Dann befiel sie Reue. Fluchend verhinderte sie, dass ihr hellblaues Shirt an die Wunde kam, doch es war zu spät. Ein wenig Blut haftete bereits an dem Stoff, zu ihrem Glück zeichnete es sich allerdings nicht an der Oberfläche ab.
 

Mit einer Hand schob sie den Kragen weg, in der anderen hielt sie noch immer die Klinge. Vorsichtig löste sie die Hand, die den Stoff von ihrer Haut fernhielt und besah sich die Spitze der Rasierklinge.
 

Etwas Blut klebte daran.
 

Dieser Anblick verursachte ein flaues Gefühl in ihrem Magen. Dabei fühlte es sich vor ein paar Momenten noch so richtig an, die drei Buchstaben in ihre Haut zu schneiden und jetzt verabscheute sie die Folgen.
 

Nachdem sie die Klinge mit etwas Wasser gesäubert und abgetrocknet hatte, packte sie sie wieder in das Papier ein, mit dem sie in dem Umkarton vor ihren Schwestern geschützt wurde und versteckte die Schachtel mit den Klingen wieder in ihrem Zimmer.
 


 

Vor ein paar Wochen hatte sie sich in der Apotheke, in der sie arbeitete, Es-Kompressen und Elastomull besorgt. Da damals schon der Entschluss feststand, dass sie Rasierklingen kaufen wollte, rüstete sie sich für auffälligere, behandlungsintensivere Verletzungen.
 


 

Sie holte die Kompressen aus ihrem Zimmer und ging damit ins Badezimmer zurück, wo sie auch schon die Klinge gesäubert hatte.

Etwas antiseptische Wundcreme auf die Schnitte verteilt und leicht verrieben, nachdem sie sich vorsichtig das Shirt über den Kopf gezogen hatte, um die Kompresse auf der Wunde befestigen zu können. Sie packte die Mullkompresse mit den eingeschlagenen Schnittkanten aus, legte sie auf die Haut und klebte sie mit Leukoplast an den vier langen Kanten fest.

Danach zog sie das Shirt wieder an und verstaute alles was sie gebraucht hatte wieder an seinen Platz.
 


 

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Kurze Zeit später kam ihre Mutter von der Arbeit wieder und das Mädchen tat so, als ob nichts gewesen wäre. Sie benahm sich genauso wie immer.
 

Da die Kompresse sich durch das Shirt abzeichnete und sie nicht wollte, dass ihre Mutter Verdacht schöpfte, zog sie sich zur Tarnung eine Jacke über, die nichts erkennen ließ.
 

Doch sie wusste ganz genau, dass der nächste Drang sie bald wieder überfallen würde.

Dann würde sie wieder zu den Klingen greifen und sich schneiden, bis Blut die Linien leuchten ließ und brennender Schmerz sie begreifen ließ, dass das was sie tat, falsch war.
 

Und doch würde sie weitermachen...

Weil es sich gut anfühlte.

Wenn sie schnitt, war es schön.

Schlicht und ergreifend schön.
 

Deshalb würde sie es wieder tun.

Immer und immer wieder.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Schreiberliene
2010-07-31T23:50:52+00:00 01.08.2010 01:50
KFF

Hallo,

noch ein Thema, das ich für gewöhnlich aufgrund von Überspitzung, Glorifizierung und Effekthascherei meide. Davon habe ich zum Glück nichts bei dir feststellen können, dennoch ist mir die Geschichte auf den Magen geschlagen.
Ich lese von dieser Art der Selbstverletzung eben nicht gerne.

Sprachlich fand ich es sehr nüchtern und damit dem Geschehen angepasst; zu viel Emotion kann zu den zuvor genannten Negativergebnissen führen. Trotzdem hat mir stilistisch etwas gefehlt; ich könnte nicht sagen, was es ist, aber irgendwie... fand ich es nicht schön oder gut geschrieben.

Zudem wirkt es fast schon unfreiwillig komisch, wenn du plötzlich vom Akt zum absolut distanzierten "Als die Mutter des Mädchens zurückkam..." wechselst; das finde ich nicht soo gelungen.

Insgesamt ist das Thema nicht meines und an der Umsetzung hätte noch etwas mehr gearbeitet werden können; deine anderen Kapitel haben mir besser gefallen.

Noch eine andere Frage: Ist es für dich in Ordnung, wenn ich auch Sachen aus 09 kommentiere? Ich persönlich finde das Vorjahr immer noch in Ordnung, weiß aber, dass es Leute gibt, die darauf weniger Wert legen.

Alles Gute,

Anna


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