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Träume

von

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KAPITEL 14
 

„Und was machen wir jetzt?“ fragte Lüde in die Runde.
 

„Ich geh heim. Ich hab keinen Bock mehr“, antwortete Mattn unter zustimmenden Nicken von Uwe.
 

„Dirk sollte am besten verarztet werden“, stellte Yentzi fest, als sich Bela bereits das zweite Taschentuch an die Stirn hielt.
 

„Am besten wir fahren dich ins Krankenhaus“, schlug Lüde vor.
 

Bela warf ihm einen ablehnenden Blick zu.
 

„Bist du nicht auch der Meinung, dass die Schwestern dort sich um dringendere Dinge kümmern sollten?“ fragte er.
 

„Also viel Spaß bei was auch immer noch, wir kratzen die Kurve“, warf Mattn ein und er und Uwe verabschiedeten sich.
 

„Nehmen wir uns ein Taxi? Auto fahren wäre jetzt nicht so klug…“ schlug Rod Bela vor.
 

„Von mir aus“, willigte dieser ein. Yentzi schloss sich Mattn und Uwe an und rannte ihnen hinterher.
 

„Und du, Jan?“, fragte Rod.
 

Der Blonde ließ seinen Blick geistesabwesend durch die Gegend schweifen. Er war noch zu aufgewühlt, um schlafen zu gehen. Außerdem gingen ihm Belas Bemerkungen nicht aus dem Kopf.
 

…meinen Gitarristen in Ruhe lässt… brauche ihn leider noch…
 

Leider…
 

Wie sich das anhörte.
 

„Ja-haan!“
 

„Wa-haaas!“
 

„Was du jetzt machst, hab ich gefragt!“
 

„Bei euch mitfahren, was bleibt mir denn anderes übrig? Ham sich ja alle verpisst!“
 

Diesmal zog Bela keine Grimasse.
 

Sie riefen das nächstbeste Taxi heran, quetschten sich zu dritt auf die Rückbank und luden zuerst Rod ab, da dieser noch am nächsten zur Kneipe wohnte.
 

„Wo soll´s als nächstes hingehen?“ fragte der Taxifahrer.
 

Farin nannte Belas Adresse. Das Auto setzte sich wieder in Bewegung. Dort angekommen, stieg Farin ebenfalls aus dem Wagen aus.
 

„Diesmal zahlst aber du“, rief er schnell, noch bevor Bela protestieren konnte.
 

Widerwillig fischte der immer noch blutende Schlagzeuger ein paar Scheine aus seinem Portemonnaie, murmelte ein knappes „Stimmt so“ und das Auto fuhr in die Nacht hinaus.
 

„Was is´ ? Gehen wir rein?“ fragte Farin ungeduldig.
 

„Wir“, wiederholte Bela tonlos und zog so gut es unter den Schmerzen ging eine Augenbraue hoch.
 

„Wir“, bestätigte Farin knapp und fügte hinzu: „Oder willst du heute Nacht in deinem Bett verbluten?“
 

„Hör mal, wenn du glaubst, dass zwischen uns alles wieder okay ist, nur weil du dich pseudo-fürsorglich um meine Platzwunde kümmerst…“ stellte Bela klar, und der Alkoholgenuss schwang deutlich in seiner Stimme mit.
 

„Ich glaube, dass das jetzt absolute Priorität hat! Wir können natürlich auch warten, bis sich die Wunde entzündet hat oder du dir irgend´ ne scheiß Infektion eingefangen hast. Mir egal, ich hab Zeit!“ erwiderte Farin mit dem trockensten Sarkasmus, den er aufbringen konnte.
 

Bela stöhnte nur entnervt, während Farin ihn den Weg zu seiner Wohnung entlang schubste.
 

Drinnen angelangt, machte Farin das Licht an und fand sich inmitten eines unfassbaren, unendlichen Chaos wieder. Überall lagen leere Flaschen und Lebensmittelpackungen, Zeitschriften, CD- und DVD-Hüllen, Klamotten und noch vieles mehr. Doch dafür gab es einen triftigen Grund, denn die Regale waren umgeworfen oder zum Teil zerstört worden, Tische lagen auf der Seite. Die abgestandene Luft war geschwängert von hochprozentigem Alkohol.
 

Belas Wutanfälle waren zwar legendär, doch selten so verheerend. Farin sog die Luft ein und machte gerade den Mund auf, als Bela ihm über ebenjenen fuhr und ein kaltes „Sag. Nichts.“ zischte.
 

„Das ist sowieso alles deine Schuld“, warf er hinterher, als ob er eine Erklärung abgeben müsse.
 

„Meine Schuld“, wiederholte Farin ungläubig und zog eine Braue nach oben.
 

„Ja, deine Schuld! Wer hat denn gestern gesagt, ich solle mich zum Teufel scheren? Wer hat mir denn gesagt, dass meine Gegenwart ihn ankotzt? Wer hat mir vorgeworfen, mich am Leid anderer zu ergötzen?“ schrie er aufgebracht.
 

„Und wer hat dir gesagt, dass du deine Wohnung komplett zerlegen sollst?!“ schrie Farin zurück.
 

Daraufhin war Bela einen Moment lang still.
 

„Du weißt ja wohl genau, was ich meine, Farin Urlaub!“
 

„Für dich immer noch Jan Vetter!“ entgegnete Farin barsch und ging den Flur entlang Richtung Bad.
 

Er durchstöberte den Spiegelschrank nach den passenden Utensilien, in der Hoffnung, dass sein Bandkollege nicht nur Kopfschmerztabletten gegen Kater besaß, während Bela einen Raum weiter ins Schlafzimmer ging und sich in voller Montur auf das Bett warf. Mittlerweile begann sein Kopf zu schmerzen. Er schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen.
 

Nach einer kurzen Weile kam Farin mit einer kleinen Flasche und Wattebäuschen in der Hand nach.
 

„Was ist das?“ fragte Bela kraftlos und deutete mit dem Finger auf die kleine Flasche.
 

„Nennt sich Jod. Nimmt man zum Desinfizieren von offenen Entzündungen. Hätte gar nicht gedacht, dass du so etwas hast.“
 

„Ooooh, muss das sein? Das Zeug brennt doch wie Hölle!“
 

„Jetzt stell dich doch nicht so an!“ erwiderte Farin und stemmte die Hände in die Hüften. „So schlimm wird´s schon nicht werden. Außerdem will ich nicht auch noch dran Schuld sein, wenn dir wegen mangelnder hygienischer Versorgung der Kopf abfault.“
 

„Ha ha“, maulte Bela trocken und richtete sich auf.
 

Mit Argus-Augen beobachtete er, wie Farin sich neben ihn setzte, die kleine Flasche öffnete und einen Wattebausch mit der darin enthaltenen Flüssigkeit tränkte. Die linke Hand legte er sanft auf Belas Kopf, mit der rechten tupfte er so vorsichtig wie möglich die Tinktur auf. Bela zog zischend die Luft durch Zähne ein und zuckte leicht zusammen, da das wundreinigende Mittel ziemlich brannte.
 

„Wenigstens blutet ´s nicht mehr“, stellte Farin fest, während er Belas schmerzverzerrtes Gesicht betrachtete.
 

Als er die Wunde ausreichend gesäubert hatte, klebte Farin ein großes Pflaster über die Wunde und drückte die Kleberänder sorgfältig fest. Zufrieden betrachtete er sein Werk.
 

„Hab ick doch janz jut hinjekricht!“ freute er sich.
 

Bela drehte den Kopf zur Seite und hielt ihn leicht gesenkt, als er nach ein paar Sekunden ein tonloses „Danke“ murmelte.
 

„Schon gut“, gab Farin sanft zurück.
 

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander auf der Bettkante, wussten nicht was sie sich hätten sagen sollen. Schließlich stand Farin langsam auf, nahm die Arzneimittel wieder mit und räumte sie zurück in den Spiegelschrank. Danach ging er zurück, blieb aber an der Türschwelle zum Schlafzimmer stehen.
 

„Du willst doch sicher… dass ich jetzt gehe“, sagte er leise und schaute traurig zu Boden.
 

Bela drehte sich zu ihm um.
 

Kein Wort des Widerstandes. Kein Protest. Keine Bitte, nicht zu gehen.
 

Farin musste sich eingestehen, dass er alles versucht hatte. Er war zwecklos. Diesmal schien er es wirklich ernst zu meinen.
 

Seufzend, ohne den Blick zu heben, drehte Farin sich um, wollte gehen.
 

„Wart mal einen Augenblick.“
 

Farin musste sich verhört haben. Anders konnte es nicht sein. Wenn er sich nun umdrehte, saß Bela immer noch schweigend auf der Bettkante und hatte ihm den Rücken zugewandt.
 

Farin riskierte es.
 

Bela saß ihm zugewandt auf dem Bett und sah ihm direkt in die Augen.

War das Hoffnung, die da in Farin aufkeimte? Der allerletzte Funken Hoffnung, der noch nicht durch den endlosen Regen von Belas eisiger Kälte und Ignoranz gelöscht wurde? Farin wagte nicht, sich zu freuen, dass der Dunkelhaarige zum ersten Mal nach einer gefühlten Unendlichkeit von sich aus mit ihm sprach. Unsicher ging er einen Schritt auf Bela zu. Er spürte, wie sein Herz zu pochen begann, wie es ihm bis zum Hals schlug. Seine Vernunft war völlig außen vor, und obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen, gab er die Hoffnung auf eine Versöhnung nicht auf. Er konnte es nicht.
 

„…ja?“ fragte er, leise, unsicher.
 

„Weißt du, was mich heute wirklich überrascht hat?“
 

Belas Worte klangen absolut ehrlich. Farin jagte diese Erkenntnis einen Schauer über den Rücken. Er bewegte sich einen weiteren Schritt in Belas Richtung.
 

„Sag´ s mir“, antwortete er ungeduldig, und er vermochte den flehenden Unterton in seiner Stimme nicht zu unterdrücken. Er spürte, wie jeder Bestandteil seines Körpers anfing zu zittern, und er tat sich schwer, sich zu beherrschen und einen möglichst gelassenen Eindruck zu machen.
 

Bela hatte den Kopf leicht schief gelegt und hatte seinen berüchtigten durchdringenden Blick aufgelegt, bei dem Farin stets das Gefühl hatte, dass die hellen, leuchtenden Augen des Schlagzeugers nicht nur in sein Gegenüber hineinsehen, sondern durchsehen konnten.
 

Nach einer kunstvollen Pause erhob Bela wieder das Wort.
 

„Wie du dich vorhin in der Kneipe aufgeführt hast, schon als du dich mit dem Wirt angelegt hast… muss ein plötzlicher Anfall von Übermut gewesen sein, wie?“
 

Farin konnte nicht anders als Bela anzustarren, da ihm keine gescheite Antwort einfiel. Keine, die sein Verhalten erklären würde.
 

„Ich weiß nicht… irgendwie überkam es mich in diesem Moment… ich kann mir das selbst nicht erklären…“
 

Farin war in jenem Augenblick so ehrlich wie selten zuvor, wenn es um seine Gefühle ging.
 

Bela grinste nur süffisant und sah Farin weiterhin direkt an, als ob er ihn prüfen wolle.
 

„Und was sollte die Aktion mit dem hirnlosen Vollidioten, der mich angegriffen hat? Ich mein, das war ´ne harmlose Kopfnuss! Abgesehen davon, dass ich locker alleine mit ihn klar gekommen wäre.“
 

„Weißt du, ob es bei dieser harmlosen Kopfnuss geblieben wäre? Außerdem warst ja schließlich du derjenige, der mir zuerst geholfen hat!“ verteidigte Farin sich.
 

„Wenn du schon da rum stehst, kannst du mir auch eine Kopfschmerztablette bringen“, sagte Bela schnell, um dem Argument auszuweichen.
 

Farin runzelte die Stirn, da er nicht verstand, wieso Bela vom Thema abwich, tat ihm den Gefallen aber gern. Wenig später kam er mit der Tablette und einem Glas Wasser zurück. Er drückte Bela beides in die Hand und ließ sich langsam, aber mit einem Zwischenraum, neben Bela nieder. Dieser sah Farin kurz dankend an und schluckte sogleich die Arznei. Dann stellte er das Glas neben sich auf dem Nachttisch ab.
 

Farins erwartungsvoller Blick blieb an Bela haften wie ein Blutegel, der sich so lange an seinem Opfer festsaugte, bis er bekam, was er wollte. Bela blieb dies natürlich nicht verborgen, und so legte er sich endlich eine Antwort zurecht.
 

„Ganz einfach, weil du nicht so der Schlägertyp bist und gegen den Bär nicht den Hauch einer Chance gehabt hättest. Und weil du in zusammengeschlagenen Zustand wohl schlecht Gitarre spielen kannst, hielt ich es für klüger, einzugreifen, weil ich das Album endlich fertig stellen will. Wir kommen kaum voran, wie du vielleicht selbst bereits bemerkt hast.“
 

„Du meinst also, der Kerl hätte mich rigoros verdroschen“, stellte Farin leicht eingeschnappt fest.
 

„Und ob er das hätte“, bestätigte Bela kühl. „Außerdem hatte ich richtig Lust, an irgendjemanden meinen Frust – du weißt, warum – abzuladen.“
 

„Aha.“ Meinte Farin nur tonlos und sah weg. „Das ist also alles.“
 

„Ja, das ist alles“, bestätigte Bela und drehte seinen Kopf ebenfalls wieder geradeaus.
 

Wieder legte sich eine eisige Stille über sie. Bela wusste nicht, was er noch sagen sollte, und Farin löschte den letzten verbliebenen Funken Hoffnung gerade selbst, da er Bela dieses Vergnügen diesmal nicht gönnen wollte.
 

„Kannst du jetzt gehen?“ fragte Bela plötzlich und sah den Blonden unverwandt an. Sein Gesicht strahlte ein ungeheures Maß an Gleichgültig aus.
 

Farin drehte den Kopf in seine Richtung, und die Mine des Schlagzeugers schmerzte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Er atmete unbewusst tief ein.
 

Da bemerkte er mehr aus Zufall, dass doch noch etwas Blut durch Belas Pflaster an der Stirn zu sickern schien, und wie auf Knopfdruck wich seine Enttäuschung einem unerwarteten, erneuten Gefühl der Sorge.
 

„Dirk, deine Wunde blutet noch“, sagte er, um Bela darauf aufmerksam zu machen. Wie aus Reflex streckte er seinen Arm aus, um sich die Verletzung noch einmal anzusehen, doch Bela kam ihm zuvor und packte ihn am Handgelenk.
 

„Lass das“, wies er ihn schroff zurück und zog den Kopf nach hinten.
 

„Jetzt hör doch auf, damit ist nicht zu spaßen“, gab Farin zurück und wollte sich losreißen, doch Belas Griff war zu stark.
 

„Ist mir egal, ich komm allein zurecht!“ setzte Bela nach, als er bemerkte, dass Farin sein noch freies Handgelenk umklammerte, während er selbst versuchte, sich Bela zu entreißen.
 

„Hör endlich auf, dich wie ein bockiges Kind aufzuführen!“ rief Farin aufgebracht und setzte unversehens eine ungeheure Kraft frei, und ohne dass es beabsichtigt war, gab Belas Körper auf einmal nach, und er kippte nach hinten über, sodass er rücklings auf dem Bett lag, während Farin nun über ihn gebeugt war. Bela keuchte überrascht auf und starrte Farin völlig perplex an.
 

Farin hatte Belas Handgelenke umklammert und drückte ihn so aufs Bett, und der Kleinere hatte durch den immer noch stechenden Schmerz in seinem Kopf nicht die Kraft, sich zu wehren. Farin hatte Bela mit seinem Blick förmlich fixiert, sein Atem ging schneller, und während er so über seinen ehemals besten Freund gebeugt war, drängten sich für dieses Situation völlig unpassende Gefühle auf. Ohne jegliche Vorwarnung hatte sich das unbezwingbare Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung eingestellt, sämtliche Sehnsüchte, die sich in ihm angesammelt hatten und nach denen er trachtete, sie endlich auszuleben, schienen zum Greifen nah. Bela hatte keine Chance, sich zu wehren, und Farin hoffte, dass er das auch gar nicht versuchen würde. Die Zeit schien still zu stehen, die ganze Welt hörte sich in jenem Augenblick für Farin auf zu drehen. Sie waren sich so nahe wie noch niemals zuvor, und Farin täte am liebsten nichts anderes als sich mit allen Sinnen dem Verlangen hinzugeben, das ihn schon seit Tagen kontrollierte. Doch nach wie vor war da eine gewisse Unsicherheit und auch ein wenig Angst vor einer Zurückweisung.
 

In einem kurzen Moment der aufmerksamen Beobachtung erkannte Farin den aufgeschlossenen und sogar ein wenig unsicheren Blick in Belas wunderschönen Augen. Ihm war mehr als deutlich anzumerken, dass für ihn die Überraschung der neuen Situation ebenso groß wie für den Blonden war. Alles, was auf Ablehnung, Hass oder Verletzung in seinen Augen zu finden war, nur wenige Minuten zuvor, war verschwunden. Mehrmals öffnete er den Mund, wollte etwas sagen, doch die Worte fehlten ihm, und mehr als ein unbeholfenes Schlucken brachte er nicht zu Stande.
 

Auch Farin musste heftig schlucken, als er realisierte, dass er seinem Traum so nahe war wie nie zuvor. Keine Frau, der er je begegnete, löste solche Gefühle und Bedürfnisse in ihm aus, brachte sein Verlangen so zum Überkochen, zerriss ihn innerlich schier vor Sehnsucht. Langsam, ganz vorsichtig, näherte er sich Millimeter um Millimeter dem ebenmäßigen, so wunderbar bekannten Gesicht seines unter ihm liegenden Freundes. Dieser schein die Situation entweder nicht richtig einzuschätzen oder abzuwarten, was weiter geschah, da er sich nicht rührte und einfach nur Farin tief in die Augen sah. Farin vermutete, dass er ein wenig Angst zu haben schien, da Belas Augen leicht geweitet waren, doch diese Angst würde er ihm nehmen, auf die wunderbarste und zärtlichste Weise, die Farin ihm entgegenbringen konnte.
 

Die Hälfte des Weges lag hinter ihm. Farin wusste nicht, wie viele Minuten bereits vergangen waren, in denen sie in dieser Position verharrten. Noch immer versuchte er, gegen die Zweifel anzukommen, gegen den letzten Rest Unsicherheit und Angst – oder war es Vernunft? – doch er nahm all seinen Mut zusammen und wollte die letzten Zentimeter bewältigen, die ihm vorkamen wie Lichtjahre der Entfernung zu Bela. Der Schlagzeuger schloss die Augen ein wenig, schien abzuwarten, atmete ebenfalls in Stößen, ein leichtes Zittern ließ seinen schlanken, im Vergleich zu Farin zierlichen Körper erbeben. Alles, was sie in den vergangenen Tagen sagten und taten, war vergessen. Nun gab es nur noch diesen einen Moment, nur sie beide, als seien sie die letzten existierenden Menschen.
 

Farin neigte seinen Kopf leicht nach rechts, als er Belas Gesicht beinahe erreichte. Noch immer machte der Schlagzeuger nicht die geringsten Anstalten, sich zu wehren. Warum, wusste Farin nicht. Doch wenn er es recht bedachte, stellte er fest, dass es ihn auch überhaupt nicht interessierte. Er konnte Belas warmen, stoßweise gehenden Atem auf seinem Gesicht fühlen, sein Blick war auf die rosigen, schmalen Lippen gerichtet, die einladend leicht geöffnet waren. Er erkannte jede kleine Unebenheit auf ihnen, die feinen Lilien, die senkrecht verliefen, die dunklen Stoppeln um sie herum. Bela wehrte sich nicht. Ließ es geschehen, ließ Farin weiter vordringen, ließ seine Augen zu den Lippen des Mannes wandern, der ihm noch tags zuvor die wüstesten Sachen sagte, die Bela je vernahm. Und dennoch…
 

Wie in Zeitlupe schloss Farin die Augen. Als er seinen Kopf noch ein kleines Stückchen senkte, spürte er, wie seine Lippen auf etwas Weiches stießen. Er wusste nur zu gut, was es war. Behutsam lockerte er seinen Griff und ließ sich von dem Gefühl treiben, das Belas Lippen verursachte, und von dem Gefühl, das wiederum dieses Gefühl in ihm auslöste. Nicht in seinen kühnsten Träumen hätte er sich vorzustellen vermocht, wie wunderbar angenehm und schön der innige Zuneigungsbeweis ausfallen könnte. Er ließ sich vollkommen gedankenlos treiben, wünschte sich, dieser Moment würde für immer andauern.
 

Nach einigen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, tastete er sich behutsam mit der Zunge voran, überquerte die letzte Grenze, fand sich in Belas Mundhöhle wieder und wurde dort wärmstens begrüßt, zuerst noch zaghaft und vorsichtig, fast schüchtern, doch als die Unsicherheit besiegt war, schloss Farin seine Lippen enger und fordernder um Belas, und jener ließ sich voll und ganz auf den Kuss ein. Farin löste seinen Griff und ließ Belas Handgelenke los, stattdessen legte er die rechte Hand sanft auf Belas Hüfte, während er mit der linken unter Bela hindurch fuhr und sie auf seinen Rücken legte, als er Bela leicht an sich presste. Der Dunkelhaarige nahm irritiert zur Kenntnis, dass Farins unerwarteter Kuss keinesfalls freundschaftlich oder versöhnlich gedacht war, und sein forsches Vorgehen ließ ihn erschrecken.
 

Dann, als Farin sich völlig in jedem Kuss verlor, bemerkte er, wie Bela sich gegen ihn sperrte, seine Zunge zurückzog und seinen Mund schloss, wie er Farin an den Schultern hielt und sanft, aber bestimmt von sich drückte.
 

Farin schlug die Augen auf und hob den Kopf. Atemlos starrten die beiden Freunde sich an, als ob sie versuchten zu begreifen, was gerade geschah. Er registrierte Belas fragenden, überraschten und zum Teil bestürzten Blick, und in Windeseile richtete er sich auf, saß nun wieder auf der Bettkante, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und keuchte schwer, den Blick stumpf gerade aus gerichtet. Er vernahm ein Rascheln, das sich zu Belas ebenfalls schwerem Atmen gesellte, als der Ältere sich im Bett aufsetzte.
 

Rasch erhob Farin sich und ging einige Schritte. Dann blieb er stehen, jedoch ohne Bela anzusehen. Noch immer schlug sein Herz bis zum Hals, und ihm war, als sein es lediglich ein Traum gewesen, wieder einmal eine seiner Halluzinationen.
 

Und doch fühlte sich alles so echt an. Seltsamerweise hatte er das dringende Bedürfnis, zu verschwinden, denn da Bela sich letztendlich weniger begeistert zeigte, fühlte er sich schmutzig, und irgendwie war es ihm auch peinlich. Aber er wusste auch nur schwerlich damit umzugehen, dass er Bela wider alle Erwartungen einen Kuss rauben konnte. Er musste nun für sich sein, und das Geschehene verarbeiten.
 

„Ich glaub es ist besser… wenn ich jetzt gehe…“ verkündete er leise und tonlos und setzte sich wieder in Bewegung.
 

„Jan, was…“ war das einzige, das Bela hervorbrachte.
 

Und noch bevor der Schlagzeuger überlegen konnte, was er sagen sollte, hörte er, wie die Tür ins Schloss fiel.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2009-07-15T14:18:36+00:00 15.07.2009 16:18
Ich hab keine Ahnung warum ich DIESE FF nicht schon vorher gesehen habe *mich schämen tu*
Asche auf mein Haupt!!!!
ich bin...sprachlos!!
Die Story ist toll, dein schreibstil wunderschön und vor allem gut und flüssig zu lesen, die Logik bleibt auch nciht aus...
WOW!
ich bin echt beeindruckt und muss sagen, dass mir die FF sehr sehr gut gefällt^^ Du beschreibst alles sehr schön udn ich muss echt mitleiden...

Ich hoffe du kannst mir verzeihen dass ich sie nciht vorher gesehen habe ^^'
Ab jetzt werde ich sie fleißigst verfolgen und sollte ich mal nciht kommentieren oder sie übersehen: tritt mir in den hintern!!!
Mach schnell weiter^^
Lg
Vanitas
Von: abgemeldet
2009-07-10T14:40:38+00:00 10.07.2009 16:40
oh mein gott.....
ich weiß nicht was ich sagen soll! ich bin begeistert, gespannt, verwirrt leide mit und ich weiß nicht... alles in allem ist es wundervoll und ich will, dass es weiter geht!!!

bitte entschuldige für den wenig hilfreichen kommentar, aber ich liebe es einfach und finde grade keine anderen worte!

liebste grüße und hochachtungsvollste verehrung


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