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Ludwig - es geht weiter

von

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Lui im Wunderland

Sie waren nun schon eine ganze Weile unterwegs.

Ludwig hatte sich allein zu Frau Holle verirrt, als er sich nachts etwas Wasser aus dem Brunnen holen wollte, dabei aber den Eimer hinein fallen gelassen hatte. In ihrem Land hatte er die Blumen zertreten, den Baum nicht geschüttelt, sondern fast gefällt, als er eine Axt gefunden hatte und statt die Brote aus dem Ofen zu holen, diesen noch mit getrocknetem Gras angeheizt, sodass er in Flammen aufging.

Als er es danach zu Frau Holles Haus geschafft hatte und sie sich zu ihm durchs Fenster lehnte, um ihn leicht verärgert zu begrüßen, beleidigte er sie dermaßen, in dem er ihr vorhielt, wie alt sie doch schon sei, dass sie alles alleine machen könnte, wenn sie nicht zu faul dazu wäre und sich mal liften lassen sollte, dass sie ihn hochkant hinaus warf und sich sogar das Pech sparte, mit dem sie sonst immer die Ungezogenen überschüttete.

Aber so erging es ihm nicht immer.

Im Reich östlich seines Eigenen hatte er Schwesterchen und Brüderchen vor der Stiefmutter und deren Tochter gerettet und war deshalb von Schwesterchens Ehemann zum Ehrengast ernannt.

Will hatte immer alle Mühe ihm nachzukommen und ihm nebenbei noch Dorothea vom Leib zu halten. Er brachte sich nicht mehr all zu oft in Schwierigkeiten und es gelang ihm immer besser Lisette in Auge zu fassen und somit Lui zu retten. Allerdings war er damit noch nicht so schnell, wie es Lui war.
 

„Wie weit ist das nächste Königreich entfernt?“

„Es kann nicht mehr sehr weit sein, Prinz Lui.“, Will entfaltete mit höchster Konzentration eine Karte, um seine Orientierungslosigkeit zu überwinden, während er die Kutsche mitten im Wald anhielt. Sie waren gerade von Prinzessin Geraldine gekommen, deren Brüder sie aus ihren Depressionen befreit hatten, wegen denen sie „die Rabenbrüder“ genannt wurden.

Als Lui sich allerdings an Geraldine heran machen wollte um ihre Oberweite heraus zu bekommen, hatte man ihn aus dem Haus verjagt, in dem sie sich aufgehalten hatte.

„Was ist denn nun, Will?“, Lui saß im Inneren der Kutsche und hatte die Beine auf die Bank gelegt. Er trug einen Pelzmantel, der seine schwarzen Lederlatzhosen und die weiße Bluse verbarg, die er an hatte.

„Ähm, ich weiß nicht so recht.“

Lui lehnte sich in seinem Sitz vor und sah ihn bedrohlich an: „Was weißt du nicht so genau?“

„Ich glaube wir haben uns verlaufen.“, presste Will gezwungen und verängstigt hervor. Er wagte es nicht, sich zu seinem Herren umzudrehen, denn er wusste, dass dieser ihn sogleich erwürgen würde: „Vielleicht könnte Dorothea uns helfen?“

„Vielleicht.“, Lui stieg aus der Kutsche und warf seinen Mantel zurück hinein: „Während du sie rufst, ziehe ich mich um. Ich hab genug von den Sachen.“

Ludwig ging zum Heck der Kutsche und zog seine Koffer heraus. Es war ihm gleich, ob Will ihn danach wieder einräumen musste oder nicht, daher öffnete er ihn und warf auf der Suche nach Kleidung alles aus dem heraus.

Derweil begann Will zu schwitzen. Wie sollte er die Hexe erreichen? Sie reagierte immer nur auf Ludwig, weil sie scharf auf ihn war.

„Ähm, Prinz Ludwig? Wie kann ich sie denn erreichen?“, Will wartete auf eine Antwort: „Prinz?“

Er ging um die Kutsche herum um nach Ludwig zu sehen, fand ihn aber nicht. Der offene Koffer lag auf der Erde, sein Inhalt um ihn verstreut, aber von Ludwig war nichts mehr zu sehen.
 

„Okay, wo bin ich und wie bin ich hier her gekommen?“, leicht verärgert zog Ludwig die enge Lederhose hoch und zog seine Jacke zurecht. Um ihn herum herrschte Dunkelheit.

„Hallo?“, es gab kein Echo und er tastete sich langsam vorwärts.

Ein Licht entfachte direkt vor ihm.

„Hallo?“, wiederholte er die Frage, bekam aber immer noch keine Antwort: „Was ist hier los?“

„Hallo, mein Prinzchen.“, Dorotheas Stimme erklang an seinem rechten Ohr und presste ihr einen Schuh ins Gesicht: „Au. Das ist aber keine nette Begrüßung für deinen Schatz.“

„Pah, mit wem redest du? Und was soll das alles hier?“, er verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ihr verärgert zu: „Wo hast du Will gelassen?“

„Der ist bei der Kutsche und passt auf deine Sachen auf. Wenn du willst, kann ich ihm bescheid sagen.“, sie war wütend, aber als er einen Mundwinkel hochzog, weil er sich ihre Oberweite besah, schmolz sie regelrecht dahin: „Oh, Lui, willst du nicht doch noch mal über uns nachdenken? Du bist so ein Schatz und ich bin doch gar nicht so schlecht für dich.“

„Vergiss es! Was soll ich hier?“

„Ich hab dich hier her geholt, um dir was zu zeigen, was dir die Sprache verschlagen wird.“, sie grinste breit.

„Was soll das sein?“, er war immer noch desinteressiert.

„Willst du nicht wissen, was ich über eine gemeinsame Freundin herausgefunden habe?“

„Warum sollte mich das interessieren?“, er überspielte seine kleine Neugier und wandte sich von ihr ab. Wenn sie glaubte, ihn so schnell begeistern zu können, kannte sie ihn immer noch schlecht, wenngleich er zugeben musste, dass ihn interessierte, wer diese Freundin war und wie es um ihre Oberweite stand.

„Du wirst staunen. Geh durch die Tür da und wenn du wieder zurück möchtest, sag zwei mal meinen Namen, mein Schatz.“, sie verschwand im Nichts und ließ ihn mit dem Licht zurück.
 

Er hatte drei Möglichkeiten. Entweder er rief sie sofort zurück und würgte sie solange, bis sie ihn wieder mitnahm, oder er blieb dort stehen, bis er verhungerte oder er tat, was sie wollte.

Nachdem er sie gewürgt hatte und sie einfach wieder verschwunden war, trat er durch die Tür. Es war eine massive hellbraune Eichentür, die einen metallenen Knauf, aber kein Schlüsselloch besaß.

Als er eintrat, musst er zunächst mit seinem rechten Arm seine Augen vor dem plötzlich grellen Licht abschirmen, während Dorotheas kleine Flamme in seinem Rücken erlosch.

Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erblickte er einen weiten Flur, an den ganz viele Türen grenzten. Die Wände waren weiß gestrichen und der Flur verlief ohne die kleinste Ecke geradeaus. Er war sehr lang, sodass Lui die Tür an seinem Ende kaum sehen konnte.

Wo hatte Dorothea ihn nur hingebracht?

Er wandte sich der ersten Tür zu seiner Linken zu. Sie war dunkelblau und hatte schwarze Verzierungen auf ihrem Holz. Er wusste nicht recht, was er tun sollte, also klopfte er an.

„Was ist denn?“, erklang eine verärgerte Stimme, die er nur zu gut kannte. Aber das konnte nicht sein. Was sollte sie an einem Ort wie diesem tun?

Langsam öffnete er die Tür und erblickte einen mit Sportgeräten vollgestopften Raum. Es dauerte einen Moment, bis er ihr kurzes blondes Haar erblickte, dass verwuschelt und verschwitzt auf ihrer Stirn klebte. Sie trug ein kurzärmeliges Hemd, dass sie sich unter der Brust hochgebunden hatte und eine sehr kurze Hot Pan. In beiden Händen hielt sie Hanteln, die sie mit Leichtigkeit stemmte, während ihr ein blaues Handtuch locker von den Schultern hing.

Als sie ihn sah, runzelte sie dir Stirn: „Wer bist du?“

Das überraschte ihn dann doch. Lisette erkannte ihn nicht? Hatte sie etwa ihr Gedächtnis verloren? Er machte einen unsicheren Schritt auf sie zu, blieb stehen, besann sich und schritt selbstbewusst aus: „Erkennst du mich nicht?“

„Sollte ich das denn?“

„Eigentlich schon, schließlich wolltest du mich bei unserer letzten Begegnung töten.“

„Oh, dann sprichst du nicht von mir.“

Lui runzelte die Stirn: „Doch, von wem sonst?“

Sie erhob sich und seufzte. Offenbar hatte sie genau damit gerechnet: „Ich weiß ja nicht, wo du her kommst, aber mich hast du noch nicht getroffen.“

Jetzt verstand er gar nichts mehr: „Hast du dein Gedächtnis verloren?“

Sie kam auf ihn zu: „Nein. Wie heißt du?“

„Ludwig.“

Sie reichte ihm ihre Hand zum Gruß, nachdem sie ihre Hanteln zur Seite gelegt hatte: „Ich bin die Sportliche.“

„Bitte was?“

„Das ist mein Name. So heißen wir hier.“, sie zog die Hand zurück, als er sie nicht ergreifen wollte: „Du bist der Anderen begegnet, nicht mir.“

„Zwillinge?“

„Ich weiß es nicht, aber selbst wenn, sind wir nicht nur zwei.“

Er schob sich mit der rechten Hand widerspenstige Strähnen hinters Ohr: „Du bist also nicht Lisette?“

Sie runzelte die Stirn: „So nennt sie sich jetzt also, ja?“

Lui schwieg, was sollte er auch sagen?

„Hast du die anderen schon gesehen? Soll ich dich rumführen?“, sie war so lebensfroh und ausgeglichen, das kannte er von Lisette nicht.

„Gibt es denn noch mehr?“

„Ja. Oh mein Gott, ich bin die Erste, die du besuchst.“, sie lachte: „Dann haben wir aber noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns.“

Sie griff nach dem Knoten ihrer Bluse und löste ihn, bevor sie die Knöpfe schloss: „Komm mit, ich stelle dich vor. Eigentlich dürftest du zwar gar nicht hier sein, aber das ist mir egal. Sie werden sich bestimmt freuen. Nun ja, bis auf eine.“

„Könntest du mir vielleicht sagen, was hier los ist?“

„Oh, ich kann dir nur sagen, was ich weiß.“, sie runzelte die Stirn: „Das ist aber nicht sehr viel. Ich weiß nur, was die letzten Jahre hier los war. Ich weiß nicht, was war, als ich erst drei war, oder so.“

Sie schloss die Tür hinter ihm und öffnete die gegenüber: „Also, ich weiß, dass ich irgendwann einfach so auf dem Boden in meinem Zimmer aufgewacht bin. Einige Jahre später habe ich dann angefangen mich für die Sportgeräte zu interessieren, die in meinem Zimmer stehen, aber das hast du ja gesehen.“, sie lachte: „Jetzt sind wir bei der Verspielten.“

Ludwig trat vollends in den Raum, aus dem laute Musik an seine Ohren drang. Der Raum war voller CD-Ständer und vor einem Spiegel tanzte eine exakte Kopie von Lisette, als gäbe es nichts besseres auf der Welt. Sie war ganz ausgelassen und drehte sich um sich selbst, während ihr der blaue Rock um die Knie spielte. Sie trug auch die Bluse.

Als er sich zu der Sportlichen umwandte, sah sie gerade beleidigt an sich herunter: „Warum muss sie nur immer diese unnötigen Röcke tragen. Meine Hot Pan war besser.“

Ludwig traute seinen Augen nicht, als er den gleichen Rock an ihr erblickte: „Was ist mit deiner Hose passiert?“

„Och das ist normal. Sobald wir einen Raum von einer Anderen von uns betreten, passen sich unsere Kleider und Frisuren an.“, sie warf einen letzten Blick auf die Verspielte: „Lass uns wieder gehen.“

Sie wandte sich zum Gehen, als die Verspielte lachend Ludwigs Hand ergriff und mit ihm tanzte: „Wer bist du?“

„Ludwig.“, das kam ihm wage bekannt vor. Würde das jetzt immer so gehen?

„Wo kommst du her? Wir sind eigentlich immer unter uns.“

„Von draußen?“

„Oh, wow.“, sie klang, als wüsste sie damit nichts anzufangen: „Weißt du, du dürftest eigentlich gar nicht hier sein. Wir dürfen nämlich keine Besuch haben. Eigentlich dürfen wir noch nicht mal in die Zimmer der anderen, aber daran halten wir uns kaum.“

„Aha.“, er hob den Arm, damit sie sich drehen konnte: „Tanzt du immer so viel?“

„Es gibt nichts schöneres.“, sie lachte ausgelassen über seine Frage und gab ihn wieder frei.

Lui wandte sich sofort der Sportlichen zu, die ungeduldig in der Tür wartete.
 

Die Zeit verging wie im Flug. Sie hatten bestimmt schon 20 Türen hinter sich gelassen und hinter jeder hatte eine andere Lisette gewartet. Ludwig konnte sich keinen Reim daraus machen.

„Das ist die Kluge.“, die Sportliche stieß die Tür ohne ein Klopfen auf, wofür sie sogleich eine Rüge bekam.

Ludwig folgte ihr hinein. Der Raum war voller Bücherregale und inmitten dessen stand ein einsamer Tisch mit einem Sessel, in dem eine Lisette in einem alten braunen Morgenrock saß. Auf dem Tisch lag eine Brille, die sie noch nie benutzt zu haben schien und direkt vor ihr ein sehr großes, dickes, aufgeschlagenes Buch: „Warum stört ihr mich?“

„Nur so. Hast du die Faule schon gesehen?“

„Nein, aber wenn du sie siehst, sag ihr, sie soll endlich zu mir rüber kommen, damit sie mal etwas fleißiger wird.“

„Mach ich.“, die Sportliche wandte sich an Ludwig, wie schon so oft: „Komm, wir lassen sie besser in Ruhe.“

Die Faule stellte sich als eine Lisette heraus, die ewig im Schlafanzug im Bett lag, um das sich alles stapelte, was sie irgendwann mal benutzt hatte. Sie gesellte sich nur unfreiwillig zu der Klugen.

Das Zimmer der Schönen bestand aus einem Badezimmer mit einem großen begehbaren Kleiderschrank und einem Schminktisch. Als sie den Raum betraten Bürstete sie sich gerade die Haare und beklagte sich, dass sie so kurz waren.

Die Sportliche erklärte ihm, dass sie jeden Tag zu jeder Essenszeit badete oder duschte und sich dann neu herrichtete, womit sie offenbar nicht sehr viel anfangen konnte.

Von der Strengen wurden sie sofort hinausgeworfen, weil sie gegen keine Regeln verstoßen wollte, während sie bei der Widerspenstigen eindringlich zum Bleiben aufgefordert wurden, worauf zwischen den Beiden ein wilder Streit über das Einhalten von Regeln entfachte.

Die Komische lachte ununterbrochen und ignorierte die Ärgerliche, die sich ständig darüber beklagte.
 

Danach ließen sie eine Tür aus.

„Warum nicht auch dort rein?“

„Zu deinem eigenen Schutz. Sie springt alles an, was nicht bei drei auf dem Baum ist.“, die Sportliche grinste breit: „Es sei denn, du stehst auf sie.“

„Wo ist die nächste Tür?“

Die Sportliche lachte.
 

Als nächstes besuchten sie die Waffenkundige. In ihrem Zimmer war alles vollgestopft mit Waffen. Sie saß in Tarnkleidung auf einem Stuhl an einem Tisch, auf dem sich die Pistolen und Messer stapelten und putzte eine Armbrust.

Jetzt wurde Lui neugierig: „Kennst du Lisette?“

„Wer soll das sein?“, sie wandte sich direkt an die Sportliche.

„Die Ausreißerin, du weißt schon.“, sie tat es mit einer Handbewegung ab.

Lui hatte sich nur schwer daran gewöhnt dabei zuzusehen, wie Lisette offenbar mit sich selbst sprach: „Kennst du sie?“

„Klar, ich hab ihr geholfen mit Waffen umzugehen. Aber sie wird nie so gut sein, wie ich es bin. Sie will einfach niemanden verletzten.“

Ludwig lachte. Das konnte nicht wahr sein.

„Du denkst, sie wäre schlimm? Sie ist sehr böse, aber sie ist nicht mordsüchtig.“, mit diesen Worten schoss die Waffenkundige einen Pfeil auf ihn ab, der hinter ihm in der Wand stecken blieb, nachdem er ihm einige Haarsträhnen abgeschossen hatte: „Sie tötet nicht gern.“

„Sie hat es schon einige Male bei mir versucht.“

Die Waffenkundige lief an ihm vorbei und zog den Pfeil aus der Wand, wodurch sich das Loch in der Wand augenblicklich von selbst schloss: „Wenn sie dich wirklich töten gewollt hätte, dann wärst du jetzt nicht hier. Aber dafür benötigt sie auch das Geschick und das habe nur ich.“

Sie ließ ihn stehen und die Sportliche zog ihn aus dem Raum: „Sie ist nicht sonderlich gut auf Kritik zu sprechen.“

„Ich hab sie nicht kritisiert.“

Sie lief zur nächsten Tür und öffnete sie leise: „Glaub mir, das hast du.“

Ludwig folgte ihr hinein: „Wo sind wir jetzt?“

„Bei der Kindlichen.“

„Wo ist sie?“, Ludwig sah sich in dem Kinderzimmer um, als plötzlich eine junge Lisette vor ihm auftauchte. Sie sah aus, wie die, die er einmal gekannt hatte. Als er sich zu der Sportlichen umdrehte, war sie auch wieder ein Kind, aber ihr Geist war noch der einer Erwachsenen, das sah er an ihren Augen.

Bei der Mütterlichen wurden sie fast zum Tee genötigt und entkamen ihr nur knapp, weil die Kindliche plötzlich auftauchte.

„Jetzt müssen wir leise sein.“

„Warum?“, Ludwig überraschte eigentlich nichts mehr. Was konnte nach diesem ganzen durcheinander schon noch kommen?

„Weil wir jetzt das Zimmer der Traurigen betreten. Sie ist so traurig, dass sie allem und jedem die Schuld an ihrer Trauer zuschiebt. Ich weiß nicht mal, um was sie trauert und das Schlimme ist, sie weiß es selbst nicht.“

Der Raum war nicht besonders groß und hatte keine Fenster, war aber trotzdem von kleinen Sonnenstrahlen erfüllt. Der Boden bestand aus einer kurzgeschnittenen Wiese, in deren Mitte ein Grabstein ohne Innschrift stand. Davor kniete eine ganz in Trauer gekleidete Lisette mit tiefen Tränensäcken.

Als er den Raum betrat wandte sie sich zu ihm um. In ihren Augen glänzten Schmerz und Verzweiflung: „Du bist Schuld. Hättest du nicht das Schild umgedreht, den Wolf auf mich losgelassen und mir Lügen erzählt, wäre das hier nicht passiert!“

Lui gefror das Blut in den Adern. Konnte sie das wissen? Aber woher denn? Nicht mal Will wusste bescheid, keiner wusste es, außer ihm!

Die Sportliche packte ihn am Arm und zog ihn wieder aus dem Raum: „Das wirft sie jedem vor. Ich weiß nicht mal, wann sie hier aufgetaucht ist. Ich glaube, es war, nachdem die Ausreißerin mal wieder hier auftauchte. Damals waren wir noch ziemlich jung. Ich glaube, wir waren etwa zwölf oder so.“

Sie blieb abrupt vor der nächsten Tür stehen.

„Was ist dahinter?“, er trat neben sie und folgte ihrem Blick auf den Knauf.

„Da können wir nicht rein.“

„Warum nicht?“

„Weil man ohne den Bewohner eines Zimmers das Zimmer nicht betreten kann. Die Tür ist verschlossen, für jeden von uns.“

„Also wohnte hier die Ausreißerin?“

„Ja.“

Er ging näher auf die Tür zu: „Weißt du noch, wie das Zimmer aussah?“

Die Sportliche wandte sich der Tür zu ihrer Linken zu, es war die Tür am Ende des Flures: „Nein, es ist schon zu lange her. Ich weiß nur, dass ihr Zimmer so weit hinten ist, damit sie nicht ausreißt, aber das hat ja nichts gebracht.“

Lui kam auf sie zu: „Was ist hinter dieser Tür?“, er deutete auf die letzte Tür, die sie ansah.

„Ich weiß es nicht. Die Bewohnerin hat noch niemand gesehen und sie ist auch nur eine Stimme für uns. Ich frage sie, ob du sie besuchen darfst.“

„Wie heißt sie?“, fragte er sie weiter aus, während sie die Hand hob, um zu klopfen: „Sie hat keinen Namen.“

Was sollte das nun wieder?
 

„Tut mir leid, dass sie dich nicht sehen will, aber das ist normal. Vielleicht hast du ja Glück und sie spricht durch die Tür mit dir, das macht sie manchmal mit uns.“, die Sportliche wandte sich ab und ließ ihn alleine stehen.

Als er ihr nachsah, wie sie den Flur wieder entlang lief, beobachtete er, wie die Türen zu den Zimmern aufgingen und ihn die Lisettes neugierig beobachteten. Nur die Traurige kam nicht heraus und das Zimmer der Ausreißerin, wie sie die Lisette nannten, die er kannte, blieb auch verschlossen.

Er klopfte an die Tür.

Nichts geschah.

Er klopfte erneut, während die Frauen hinter ihm zu tuscheln begannen.

„Geschieht ihm recht. Er sollte gar nicht da sein.“, erklang die Stimme der Strengen, die wohl zum zweiten Mal gegen die Regeln verstieß, seit er sie nun kannte.

„Sollte ich ihm nicht helfen? Er sieht so verloren aus.“, erklang die Stimme der Mütterlichen.

„Wenn er zu aufdringlich wird, erschieß ich ihn einfach.“, ließ die Waffenkundige verlauten.

Ludwig wandte sich wieder von der Tür ab. Es geschah nichts. Als er sich zu den restlichen Türen umdrehte, schlossen sie sich augenblicklich.

Welche Tür hatte die Sportliche zuvor ausgelassen? Er folgte dem Flur und blieb schließlich vor einer weinroten Türe stehen. Als er leise anklopfte, hörte er, wie die Kindliche neben ihm die Luft einsog: „Du willst wirklich zu der da?“

„Kennst du denn ihren Namen nicht?“, er wandte sich ihr zu.

„Nein, den sagt mir keiner. Sie sagen alle, dafür wäre ich noch zu klein.“, sie wandte sich um und lief hüpfend davon.

Ludwig seufzte.

„Sie ist die Spitze, um es freundlich auszudrücken. Wir nennen sie manchmal auch die Männerheldin oder auch die Schlampe.“, die Kluge schloss die Tür hinter sich und ließ ihn stehen.

Wieder klopfte er. Das konnte er sich gar nicht vorstellen. Lisette und eine Männerheldin? Niemals!

Die Tür öffnete sich von allein und er trat ein: „Hallo?“

Der Raum war in gedämpftes Licht getaucht und mittendrin stand ein riesiges Himmelbett.

„Hallo.“, erklang ihre leicht rauchige Stimme, als sie auf ihn zu kam. Sie trug einen offenen Bademantel, der nur sperrlich ihre rote Unterwäsche verdeckte: „Wer bist du denn, hm?“, sie ließ ihren rechten Zeigefinger auf seiner Brust kreisen und sah ihn frech unter ihren Augenbrauen hervor an.

„Ludwig.“, ihm stockte der Atem. Was war das hier? Das konnte doch nicht wahr sein! Träumte er? Aber wenn er träumte, warum hatte er dann einen solchen Traum von Lisette? Ausgerechnet von ihr? Das konnte nicht sein!

„Hm... schöner Name.“, sie legte ihren Kopf leicht in den Nacken, damit sie ihn besser sehen konnte.

Automatisch neigte er ihr den Kopf zu. Sie strich ihm sanft eine Haarsträhne hinter das Ohr und zog sich ein kleines Bisschen zurück. Zu seiner eigenen Überraschung folgte er ihr automatisch.

Sie lächelte über seine Reaktion und ließ ihren warmen Atem über seinen Mund wehen.

Er kam ihm immer näher, jeder Gedanke an etwas anderes schien vergessen.

„Stör ich?“

Sie sprangen regelrecht auseinander.

„Was machst du denn hier?“, die Männerheldin schien nicht sehr begeistert.

„Ich rette ihn vor dir. Sie will dich sprechen. Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast, aber sie wartet an ihrer Tür auf dich.“, die Strenge wandte sich wieder ab: „Du darfst den Raum nicht betreten. Beeil dich, bevor sie es sich anders überlegt. Ich hatte sie immer für klüger gehalten.“

Mit diesen Worten verschwand sie aus der Tür und Ludwig folgte ihr so hastig, dass er über seine eigenen Füße stolperte, aus Angst, wieder alles zu vergessen und etwas zu tun, was er zutiefst bereuen würde. Die Männerheldin hinderte ihn nicht, seufzte aber frustriert: „Schade.“

Ihre Tür schloss sich wieder.

Ludwig brauchte nicht lange, um den restlichen Flur zu durchqueren und wieder vor der verschlossenen Tür zu stehen. Als sich nichts tat, klopfte er erneut an.

„Hallo.“, erklang ihre Stimme.

„Wie soll ich dich nennen?“, er verlor keine Zeit mehr, er wollte so schnell wie möglich von hier weg.

„Ich habe keinen Namen.“

„Was machst du denn den ganzen Tag und warum fragst du nicht, wer ich bin?“

„Ich frage nicht, weil ich es schon weiß und damit lässt sich auch meine Tätigkeit erklären. Ich weiß, was war und was ist.“

„Du bist also so eine Art Gedächtnis?“

Ihre Stimme lachte: „So könnte man das nennen.“

Ludwig runzelte die Stirn: „Von wem denn?“

„Von allen, die du in diesem Gebäude gesehen hast und von der Lisette, die du kennst.“

„Welche Funktion hatte die denn vorher?“, er wusste nicht, was er zuerst fragen sollte. Es gab so vieles, was ihn jetzt interessierte.

„Sie war die Liebende. Aber Liebe lässt sich schnell in Hass verkehren.“

„Erzählst du mir was über sie?“, er rutschte an der Tür herunter und legte seine Handgelenke auf die Knie.

„Sie war die Liebende und war daher immer am gefährdetsten, das Haus zu verlassen. Deshalb bekam sie das Zimmer direkt vor meiner Tür. Eines Tages zog sie aber dann doch aus, um die wahre Liebe zu finden. Was dann geschah, wissen wir beide.“

„Was genau ist mit ihr geschehen?“

„Du hast sie hereingelegt und durch ihren Schmerz wurde sie anfällig für Hass. Ihre reine Seele verschwärzte sich und so viel sie die beiden Menschen an, die sie so liebevoll als ihre Eltern aufgenommen hatten. Danach kam sie völlig verstört wieder zurück. Sie nahm unterricht bei allen, die sie ihm Kämpfen ausbilden und mit Wissen ausstatten konnten, bevor sie wieder verschwand.“

„Dann ist das alles meine Schuld?“, er hatte es geahnt.

„Nicht nur, aber ja.“, sie schwieg einen Moment: „Sie ist aber noch nicht ganz verloren. Sie lebt noch und du hast schon angefangen, den Hass zu erwärmen.“

„Warum dürft ihr euch nicht sehen?“

„Wer?“

„Ihr alle hier.“, er rieb sich den verspannten Nacken und wünschte sich fast augenblicklich zu der Masseurin.

„Weil wir uns gegenseitig beeinflussen. Du hast es gesehen. Die Sportliche hat sich immer den anderen angepasst, wenn sie ein Zimmer betrat.“

„Warum war das dann eben auf dem Flur nicht so?“

„Weil sie noch in ihren Türen standen. Wie bist du hierher gekommen?“

„Durch die Tür. Gilt dieses Verändern auch für die Lisette, die ich kenne?“

„Sie verändert sich kaum merklich. Ihre Wunden heilen schneller, sie ist schneller wieder sauber und bleibt in Form. Aber was sie tut, hat auch Einfluss auf uns. Ich erhalte ihre Erinnerungen und die anderen, die einen Körper besitzen, erleiden den gleichen Schmerz wie sie.“

„Hm. Also sterbt ihr alle, wenn sie stirbt und umgekehrt?“

„Es reicht schon aus, wenn einer von uns stirbt.“

Ludwig schob sich die Haare aus dem Gesicht: „Wo bin ich hier? Was ist das alles?“

„Es ist unser Heim. Ich weiß nicht, wo du sonst bist. Ich weiß nicht, wie lange wir hier sind, wie wir hierher gekommen sind und was wir hier machen. Ich kenne nur die Regeln, die wir befolgen sollen und habe die Erinnerungen der Anderen.“

Ludwig seufzte: „Was soll ich jetzt tun?“

„Ich weiß es nicht.“

„Wo ist Lisette?“

„Du meinst abgesehen von hier? Im Wald.“

Ludwig wurde hellhörig. Im Wald? Etwa in dem Wald, in dem sie gerade waren? Nun ja, zumindest Will?

„Was würde passieren, wenn ihr alle zusammen kommen würdet?“

„Ich weiß es nicht. Du solltest jetzt gehen. Und komm nicht mehr zurück.“

Ihre Stimme schwieg und die Türen im Flur wurden fester zugezogen. Alle hatten also gelauscht.
 

Lui erhob sich und trat durch den Ausgang: „Dorothea. Dorothea.“

Mit einem leisen Puff, erschien sie direkt vor ihm: „Du könntest ruhig etwas begeisterter klingen.“, sie lachte und mit einem weiteren Puff standen sie wieder vor Will.

„Warum hast du mir das gezeigt?“

„Wo wart ihr?“, Will erhob sich augenblicklich von dem Koffer auf dem er gesessen hatte.

„Tja, ich dachte, du könntest es vielleicht noch brauchen.“

„Wo wart ihr?“, wiederholte Will seine Frage. Die Antwort schockierte ihn regelrecht.

„Es gab mal eine Prinzessin...“, begann Dorothea, wurde aber unterbrochen, als Ludwig Will nach dem Weg fragte. Er hatte ihn immer noch nicht gefunden.

„Es gab da mal eine Prinzessin, die entführt worden war. Man hat sie nicht mehr wieder gesehen, aber es heißt, ihre Persönlichkeit soll gespalten worden sein.“, vollendete sie ihren Satz etwas lauter, bis sie das Gehör der Männer erhalten hatte.

Will blieb der Mund offen stehen.

Ludwig starrte sie an: „Ich bitte dich, Lisette ist doch keine Prinzessin.“
 

„Wie erklärst du es dir dann?“, Dorothea saß auf dem Kutschendach, die Beine über der hinteren Kante gekreuzt.

„Was soll mit Lisette sein?“, Will stand zwischen den Beiden und starrte sie abwechselnd an.

„Ich weiß ja nicht, wie du das gemacht hast oder wie du die gefunden hast, aber ich bin sicher, sie sind nur Zwillinge oder arme dumme kleine Frauen, die du verhext hast, damit du mich reinlegen kannst.“, Lui ließ sich auf einem Koffer nieder und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist nicht dein Ernst!“, Dorothea lehnte sich verärgert vor und stützte sich mit den Händen zu beiden Seiten ihrer Hüfte auf der Kutsche ab, weshalb sie die Beine nicht länger überschlagen konnte: „Und wie erklärst du dir, dass Lisette sich jedes Mal verändert hat, wenn sie in einen anderen Raum kam? Wie erklärst du dir, dass Lisettes Wunden so schnell verheilt sind, nachdem sie aus Hänsels und Gretels Koffer entkommen ist?“

„Will hat sie gepflegt.“

Will rieb sich die Stirn: „Sie ist wirklich sehr schnell wieder gesund geworden.“

„Jetzt fang du nicht auch noch damit an.“

„Du willst es einfach nur nicht wahr haben.“, Dorothea verschränkte die Arme wieder vor der Brust.

Will wurde leichenblass: „Das würde wenigstens erklären, weshalb sie dir gegenüber kein Blatt vor den Mund genommen und sich immer ganz offen mit dir gestritten hat. Sonst hat sich das keiner getraut, schließlich bist du der Sohn des Königs.“

Ludwig schwieg. Was sollte er auch noch sagen? Irgendwie hatten sie schon recht. Es deutete alles darauf hin, dass sie nicht ganz sie selbst und komplett war. Aber die Lisette, die er kannte, hatte auch alle Eigenschaften, die er bei ihnen gesehen hatte. Sie war nicht auf eine einzige Fixiert. Aber er hatte auch keine Küche gesehen und kein Badezimmer, abgesehen von dem der Schönen.

Andererseits durfte sie nicht diese Prinzessin sein, denn dann wäre alles anders. Sie wären nicht mehr die gleichen. Sie würden sich nicht mehr auf die gleiche Weise gegenüber stehen.

Auch wenn er es nicht gerne zugab, hatte ihn die Tatsache, dass sie nicht seinem Stand entsprach, an allem positiven ihr gegenüber gehindert. Lui wollte sich nicht mal ausmalen, was sich allein dadurch, dass sie seinem Stand entsprechen könnte, alles ändern würde. Es würde nichts mehr zwischen ihr und ihm stehen. Das durfte nicht war sein!
 

Sie fuhren weiter, nachdem Dorothea sich dazu herabgelassen hatte, ihnen den Weg zu zeigen und erreichten schon bald das nächste Königreich.



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