Freunde - für immer
Das Dunkelgrün der Blätter bewegte sich schnell im starken Wind. Ich saß immer noch am Esstisch und bearbeitete einige Rechnungen, die ich eine ganze Zeit vor mich hergeschoben hatte. Wie ich diese Arbeit doch hasste...
Der Wind nahm unaufhörlich zu, wehte immer stärker durch die geöffneten Fenster herein und liess die Unterlagen auf dem Tisch sich bewegen. Eine Gänsehaut zeichnete sich auf meiner Haut ab und ich beschloss endlich aufzustehen um die Fenster zu schliessen.
Meine Hand verharrte auf dem Fenstergriff, als mein Blick auf einem Foto hängen blieb, das auf dem Sideboard stand. Eine tiefe Traurigkeit strömte durch mich und ich nahm das Bild in meine rechte Hand um die Personen auf dem Foto besser erkennen zu können. Doch je länger ich auf diese starrte, desto stärker wurde meine Traurigkeit, meine Sehnsucht – nach ihnen…
Ich vermisste sie so sehr...
Wo waren sie jetzt?
So lange hatte ich nichts mehr von ihnen gehört...
Vielleicht waren sie jetzt gemeinsam unterwegs?
Vielleicht aber waren sie auch auf unterschiedlichen Reisen – was soviel hieß wie...
Ich schluckte...
Ein schwerer Klos saß mir im Hals.
Ich wollte nicht darüber nachdenken – ich wollte nicht erinnert werden.
Die Erinnerung an den Abschied, an die letzten Worte – ich wollte es nicht noch einmal erleben.
Zu oft hatte ich an sie gedacht und genauso oft wusste ich, dass ich sie nicht sehen konnte...
Meine besten Freunde...
Unsere Wege hatten sich nach einer langen Zeit der tiefen Freundschaft getrennt.
Ich hatte das Los gezogen, Zuhause in der Arena zu bleiben – ich war die neue Arenaleiterin von Azuria City...
Ash war zu seiner weiten Reise aufgebrochen um Pokémonmeister zu werden...
Und Gary – Gary wollte Forscher werden... Ja – er wollte in die Fußstapfen seines Großvaters treten...
So bin ich allein in Kanto zurückgeblieben.
Ob sie auch so oft an mich dachten wie ich an sie?
Ob ihnen die Freundschaft zwischen uns immer noch so viel bedeutete wie mir?
Ich hoffte es... Ich hoffte es so sehr...
Aber ich hatte schon eine so lange Zeit nichts mehr von ihnen gehört – von beiden nicht.
Langsam lief ich wieder zum Esstisch und liess mich auf den Stuhl gleiten. Immer noch hielt ich das Foto fest in meiner Hand und starrte auf die drei Personen.
Auch wenn es nicht zu meinen aufsteigenden Tränen passte, so legte sich doch ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Ich liebte dieses Bild von uns – es wurde aufgenommen, als ich sieben Jahre alt geworden war. Ash und Gary standen jeweils auf einer meiner Seiten, umarmten mich und lachten aus vollem Herzen in die Kamera. Das waren noch die unbeschwerten Zeiten, als wir Drei noch beinah jeden Tag zusammen waren, Spaß zusammen hatten und gemeinsam über alles lachen und reden konnten. Ich konnte gar nicht beschreiben, wie glücklich ich war Ash und Gary als beste Freunde zu haben.
„Ich vermisse euch so...“ flüsterte ich den beiden Jungs auf dem Foto entgegen und konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
…
Ich fühlte mich immer noch total schlapp.
Nanu?
War ich etwa eingeschlafen?
Argh! Mein Rücken!
Tatsache – ich musste am Tisch eingeschlafen sein...
Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Mein Oberkörper lehnte immer noch am Tisch, mein Kopf lag auf meinem rechten Arm und die Augen liess ich auch noch geschlossen. Ich fühlte mich immer noch total müde und bewegte mich keinen Zentimeter. Dann hörte ich plötzlich vom Gang leise Stimmen.
Mhmm? Waren meine Schwestern nicht ausgegangen? Ich war etwas irritiert, doch es interessierte mich nicht besonders. Sollten sie doch machen was sie wollten... Ich atmete tief ein und aus und merkte wie erneut Tränen aus meinen geschlossenen Augen rollten. Ich hatte wohl noch einige Tränenreserven übrig, was mich wunderte.
Ich wollte nicht mehr weinen – Ich wollte es nicht, doch es tat mir gut an meine Freunde zu denken. Es gab mir irgendwie neue Kraft weiterzumachen – und darauf zu vertrauen, dass ich sie bald wiedersehen würde...
Ich horchte in mich und verfolgte das Schlagen meines Herzens um mich von den Tränen abzulenken, bis leise die Tür zum Esszimmer geöffnet wurde.
„Ansonsten hier...“ flüsterte die leise Stimme von Daisy und verstummte augenblicklich. Wahrscheinlich hatte sie mich gesehen und wollte mich nicht wecken. Ich hoffte nur, dass sie gehen und mich wieder allein lassen würde. Ich wollte niemanden sehen...
Ich hörte etwas rascheln und leise Schritte. Was wollte sie hier? Konnte sie mich nicht einfach hier schlafen lassen? War das zuviel verlangt? Ich könnte jetzt einfach sagen 'Geh, ich bin wach', doch mein träger Körper wollte sich weder rühren, noch wollten sich meine Lippen bewegen. Ich wartete erstmal ab.
Ich hielt kurz die Luft an, als ich bemerkte dass die Schritte auf mich zukamen. Wie? Das war nicht nur eine Person. Ich spürte, wie jemand an mir vorbei lief, der leichte Windhauch beim vorübergehen schlug mir einen angenehmen Geruch in die Nase, welcher aber mit Sicherheit nicht zu Daisy gehörte. Wer war das?
Dann ging alles so schnell...
Jemand legte mir ganz leicht seine warme Hand auf die Schulter und ich fühlte diese angenehme Wärme in meinem ganzen Körper. Ich sah es nicht, aber ich hörte wie das Foto, das immer noch auf dem Esstisch stand, hochgehoben wurde. „Schau...“
Mein Herz begann von einer Sekunde auf die andere schnell zu schlagen.
Nein, das konnte nicht sein.
Das war unmöglich...
Aber...
Es war auf jeden Fall die Stimme von...
„Sie muss erschöpft sein...“ Oh mein Gott – er auch?
„Lass sie schlafen...“
„Pi...?“
„Du willst sie hier schlafen lassen?“ Seine leise Stimme wurde jetzt doch etwas energischer...
„Naja... Willst du sie wecken?“ Das Bild wurde wieder auf den Tisch zurückgestellt und eine Hand strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Auch wenn meine Augen immer noch geschlossen waren und mein Körper immer noch müde auf dem Tisch ruhte, mussten sie doch meinen rasenden Herzschlag hören, oder?
„Sie hat geweint...“ Oh nein... meine frischen, nassen Tränen...
„WAS?!“ - „Psst! Sei doch leise, verdammt!“
Ich spürte wie Beide nun vor mir standen. Ich spürte ihre Blicke auf mir. Und ich konnte mich nicht mehr zurückhalten.
So lange hatte ich darauf gewartet!
Auch wenn es möglicherweise nur ein Traum war – aber SIE waren in meinem Traum. Sie waren zurückgekommen.
Im nächsten Moment riss ich meine Augen auf und schnellte mit meinem Oberkörper nach hinten. Ich glaubte zu erkennen wie Beide selbst auch zurückschreckten. Sie hatten sicherlich nicht damit gerechnet, dass ich wach war.
„Ash... Gary...“
Meine Stimme stockte. Ich sah nicht besonders viel, da in meinen Augen abermals Tränen standen.
„Ich kann es nicht glauben... Ihr...“
Ich blinzelte kurz um sie besser sehen zu können und spürte abermals wie ein Glücksgefühl sich in mir breit machte. Beide schauten mich lächelnd an.
„Wir sind wieder da, Misty...“
Mein Blick fiel auf Ash, der mir gerade sein tollstes Lächeln schenkte.
„Und werden jetzt auch erstmal wieder bei dir bleiben...“ setzte Gary den Satz fort, den Ash begonnen hatte und mein Blick fiel auf meinen braunhaarigen Freund.
War das sein Ernst?
Würden sie wirklich – bei mir bleiben?
Auch Gary lächelte mich sanft an. Ich konnte nur leicht mit dem Kopf schütteln:
„Ihr seid ein Traum, nicht wahr?“
Die beiden Jungs schauten sich kurz grinsend an, bevor sie sich an mich wandten und ihre Arme ausbreiteten.
„Von wegen Traum!“
Ich konnte es immer noch nicht glauben, als ich vom Stuhl aufsprang und mich in die Arme meiner zwei besten Freunde fallen liess.
Sie waren wieder da!
Wir waren wieder zusammen!
Und ich fühlte endlich wieder die Freude in mir, welche mir nur diese zwei besonderen Personen geben konnten, die mir so viel bedeuteten.
