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Ehre

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Ehre

Ehre
 

Es war wieder einer dieser kalten, trostlosen Herbsttage, dessen Kälte nicht zu ertragen ist.

Allerdings war es nicht so eisig, dass Schnee über die Häuser und Straßen dieses Dorfes fiel, sondern nur der kalte Regen, der an allen Fenstern unüberhörbar klopfte.

Der Wind heulte, die einst so bunten Bäume bewegten sich mit ihm. Sie waren nicht mehr schön, wie sie es vor wenigen Wochen waren, als sie noch ihr gelbes Gewand trugen, dessen Schönheit sicherlich das Grüne übertraf. Es war das Gelbe, das leuchtete, Trost in die einsame Gegend brachte und einzigartig ist, denn mancher Baum färbte sich rot oder gar violett.

Doch jetzt lag das Meiste auf dem kaltem Boden. Das war etwas, das alle Bäume gemeinsam hatten. Sie verloren ihre Blätter, die sich kurz davor braun färbten, um anscheinend den Winter einzuleiten. Auch wenn Bäume unterschiedlich wachsen, manch einer andere Farben trugen, so sind sie am Anfang und am Ende allesamt in ihrer Gleichheit vereint.

An solchen Tagen holte sich Cistryn eines ihrer Notizbücher zur Hand. Dieses war etwas Besonderes, welches sich dadurch unterschied, dass es einen für die Besitzerin wertvolleren Inhalt hatte und ein besonders schönen, lapislazuliblauen Einband.

Sie öffnete das Buch, auf dem der Titel „Marie- Limp, Briefe“ prangte. Marie- Limp war, nein, ist, ihre verstorbene Schwester, die im Krieg als Soldat gefallen war. Cistryn war mulmig zumute, als sie die alten Briefe noch einmal durchlas. Früher hatte ihre Schwester ihr und ihrem damals lebenden Ehemann Tag für Tag Briefe geschickt, um ihnen zu berichten wie es dort zu ging.

Sie las gern darin, wenn sie sich einsam fühlte, so wie heute. Sie hatte dann das Gefühl wieder in die alte Zeit hinein versetzt worden zu sein, auch wenn es damals im Sommer am helllichten Tag meist düsterer war als heute in einer solch kalten Nacht.

Zu jener Zeit war sie jung und gesund, Menschen, die sie liebte und die sie liebten, waren noch am Leben und verbrachten mit ihr die Tage. Sie waren ihr Kerzenschein, den sie heute durch eine kleine Nachtlampe ersetzt hatte, deren kaltes Licht auf die Notizen ihrer Schwester schien.

In den ersten Briefen beklagte sich Marie meistens darüber, wie unfreundlich die Generäle dort seien, die sich sonst immer als so freundlich ausgaben, was sie vermisste und was sie dort alles tun musste. Irgendwann hatte Cistryn die Briefe zu einem Buch zusammengebunden, welches heute das Tagebuch ihrer Schwester darstellte.
 

Liebste Schwester!, begann eine der ersten Zusendungen, Liebster Mann!

Oh, wie bin ich heute gefoltert worden! Ich kann euch gar nicht sagen, wie froh ich bin an deiner Stelle, Erwin, hier zu sein. Liebster Erwin, du würdest bei deiner schlechten Verfassung hier unweigerlich sterben. Schon, wenn du die Luft einatmest, müsstest du das Gefühl haben, dass dein Herz schneller rast und dein Fieber steigt.

Du würdest hier keinen Tag überleben, geschweige denn sehen, wie erneut der Schnee auf das Grab unserer Eltern fällt.

Heute Morgen sollte ich noch nach der ersten Mahlzeit und vor dem Marschieren des König neues Gewand zu ihm bringen.

Gab es keine Diener für so etwas? Ein Bote hätte es auch getan, doch da, nein, ich vergaß hier zu sagen, lässt man Soldaten von einem Ort zum anderen hetzen.

Die mageren Mahlzeiten wurden für mich heute noch kürzer, weil ich bei unserem allmorgendlichen Marsch die Truppe dadurch aufgehalten habe.
 

Als hier noch Krieg herrschte, als alles noch stand und blühte, wurden die Männer im ganzen Land aufgerufen, dem König als Söldner oder Soldaten zu dienen.

Im letzten Kampf, den dieses Land nur knapp überlebte, verlor der Herrscher dieses Landes mehr als die Hälfte seines Heers.

Ihm war klar, dass ein nächster Angriff alles zerstören würde. Also musste schnell gehandelt werden. Überall im Land, in den großen Städten, in den kleinen Dörfern wurden die Männer dazu aufgefordert das Land, das sie liebten, zu verteidigen. Sie sollten nicht zu Hause sitzen und warten bis der Krieg vorbei war, sondern kämpfen und wenn sie fielen, dann starben sie für das eigene Vaterland. Es sollte ihnen eine Ehre sein. Es kamen Wachen an jedem Haus vorbei, um zu sehen, ob auch jeder junge Mann auf dem Weg zur Armee war. Zu dieser Zeit war Erwin schwer krank. Die Ärzte dieses Landes wurden überall gebraucht, die meisten waren beim König, um dessen Krieger zu verarzten, die noch am Leben waren. Marie- Limp dagegen war stark und jung.

Als sie an ihrem kleinem Häuschen klopften, ging statt dem Mann dieses Hauses ihre Schwester in Verkleidung mit ihnen. Es war ihre eigene Entscheidung gewesen.
 

„Ich halte mehr aus als du“, hatte sie damals gesagt. ]i]„Ich werde eher überleben. Du würdest wahrscheinlich schon sterben, wenn du über deine eigenen Füße fielst.

Ich dagegen werde zurecht kommen. Bange nicht um mich. Das Training dort werde mir gut tun und im Ernstfall verstecke ich mich. Niemand wird mich entdecken, oder gar umbringen.“
 

Am zweiten Tag ihrer Abreise kamen immer wieder Briefe. Es freute Cistryn zu hören, dass sie wohlauf war, und doch waren beide betrübt, weil ihre geliebte Schwester und Frau ein solch hartes Schicksal erleiden musste. Vor allem Erwin fühlte sich schuldig an der ganzen Sache. Nur wegen ihm war sie dort. Manchmal hatte er vor sich hin gemurmelt, dass er niemanden Respekt mehr verdiene, dass seine Ehre verletzt wurde, weil er, feige wie er war, nicht zur Armee ging.

Doch Cistryn versuchte ihm gut zureden, er könne nichts dafür. Doch insgeheim dachte sie genau das Gleiche.

Würde Marie wirklich siegreich und lebend zurückkehren, so hielte man Erwin für den starken Kämpfer, der Lob und Lorbeeren einheimste.

Ihm gebührte keine Ehre. Nicht einem Feigling, wie er es war.

Sie lächelte über die Erinnerungen, die in ihr aufkamen, als sie den längsten aller Briefe durch las.
 

Ach Schwester, ach Manne,

ich bin so aufgebracht. Ich will meine Ungewissheit aus mir herausschreien und darf es doch nicht. Ich will reden, ich will nachdenken und schreibe euch hier meine Gedanken auf. Wenigstens ihr sollt erfahren, wie es mir zurzeit geht. Heute hatte ich eine abwechslungsreiche Aufgabe.

Ich sollte den König beschützen, anders formuliert, ich sehe ihm beim Speisen zu, ich sehe ihm zu, wie er Gespräche mit seinen Räten führt, ich sehe ihm zu, wie er sich den ganzen Tag beschäftigt. Es ist nicht so anstrengend wie das dauernde Training in Dreck und Erde, doch vom vielen gerade Stehen habe ich einen ganz steifen Rücken und heiße das Bett willkommen, doch mit meinen lästigen Gedanken lässt es sich nicht so leicht schlafen.

Ich hörte heute dem König zu, wie er mit seinem ältesten Sohn sprach. Außerdem standen mehrere Diener bei ihnen und der Berater, auf dessen Meinung der Herr großen Wert legte.

Der Sohn fragte seinem Vater, warum so viele Menschen hier jeden Tag ihr Leben riskierten, um sie, die Königsfamilie, zu schützen.

Sie werden dazu gezwungen!, wäre meine Antwort gewesen, doch in diesen prunkvollen Wänden habe ich keinerlei Recht meine Meinung zu äußern im Gegensatz zu dem Herren, dessen Antwort anders ausfiel:

„Mein lieber Sohn, sie tun es für ihr Vaterland. Wenn man etwas liebt und ehrt, so kämpft man dafür. Denn mit dem Land kämpft man auch für die Menschen, die darin leben und die man ebenso liebt. Das ist doch selbstverständlich.“

„Aber“, begann der Bursche wieder. „Haben sie denn keine Angst zu sterben?“

Der König lachte, während er dem Jungen kräftig auf die Schultern klopfte.

„Freilich haben sie das, freilich. Aber ich sage dir, es gibt da etwas, das man Ehre nennt. Jedermann ist darauf bedacht, diese nicht zu verletzten. Es wäre eine Schande, wenn die Männer hier nicht für das Volk und die Menschen kämpfen würden. Sie ließen ihr ganzes Volk in Stich.

Man würde sie verachten, verabscheuen, sie fragen, wo sie denn waren, als der Krieg in vollem Gange war. Diese Männer könnten sich nicht mehr blicken lassen. Es wäre besser und ehrenvoller im Krieg für das eigene Vaterland zu sterben statt sich zu Hause feige zu verstecken.

Man würde sie dann bewundern, sie verehren, sie lieben und feiern. Die eigene Ehre wäre sicher gestellt und die, die sie einst durch eine Missetat verloren haben, hätten sie wieder.

Denn was ist schöner als zu wissen, dass man als ehrwürdig gilt und von Jedermann Anerkennung hat.“

Die Worte erschraken mich. Erst klang der Soldat so selbstlos, denn er opferte sich für das eigene Volk, doch dann schien es, als täte er es für sich, für die eigene Ehre.

Selbst der Bub sprach dieses Thema an, worauf der Herr nur lächeln konnte.

„Sie kämpfen für das Land, für die Menschen und am Ende für sich selbst.“, waren die Worte des Königs gewesen. Am frühen Abend wurde ich abgelöst und hatte den restlichen Tag frei, den ich erst einmal im Bett mit Grübeln verbrachte. Soll ich euch mal sagen, wie die Worte des Herrn in meinen Ohren klingen? Sie klingen, als wäre der Soldat der größte Egoist. Die Großen haben sich sozusagen überzeugt, dass ein Soldat Tag für Tag seine Gesundheit opfert, im Krieg sein Leben und das nur, um das Land, die Menschen, die Tiere, Pflanzen, Häuser und was weiß ich noch zu beschützen und am Ende alles seiner eigenen Ehre wegen tut. Als wäre die eigene Ehre am wichtigsten. Wenn du im Kampf fällst, dann bringt das auch nichts mehr. Es gibt dann niemanden mehr, der dich ehren könnte. Nur die, die noch leben, doch was bringt es mir, wenn ich von Lebenden geehrt werde und doch selbst unter der Erde liege? Und warum ist die Schande schlecht?

Ist es nicht besser am Leben zu bleiben, auch wenn man ein Schandfleck ist?

Oh, liebste Schwester, liebster Gatte, ich weiß, ich gehe wieder so leichtsinnig mit dem, was ich sage, um.

Denn was bedeutet Ehre oder Schande?

In meiner Einsamkeit, denn ich war in diesem kaltem Zimmer nur ungern allein, ging ich hinaus, um die Meinungen anderer Leute zu holen. Ich fragte sie, was für sie Ehre war und warum sie kämpften. Manch einer sagt, es wäre ein Synonym für Stolz oder das Gegenteil von Schande, um mir den Begriff näher zu bringen, doch das reicht mir nicht. Selbst, dass es die Achtungswürdigkeit einer Person sei, die Selbstachtung, war für mich nur im gewissem Maße von Bedeutung.

Jeder zweite Hinz ist hier, weil er dazu aufgefordert wurde, jeder dritte Kunz verspricht sich davon Reichtum und- wer hätte das gedacht- Ehre.

Aber denken sie wirklich, dass sie reich belohnt werden? Ist das ein Trugbild oder eine Lüge des Königs? So wie dieser vorhin daher geredet hat, so müsste man meinen, es sei doch selbstverständlich, dass sie hier ihr Leben riskierten. Ich wüsste auch nicht, woher der Herr das Gold zur Belohnung nehmen sollte. Die Ernte war dieses Jahr nicht gut, die meisten Felder wurden bereits zerstört und der Krieg geht weiter. Selbst wenn wir siegen sollten, dann ist der Gewinn nicht viel höher als der Verlust. Aber es gab wirklich Menschen, die es für ihr Land taten und nicht für die eigene Ehre. Sie kämpfen für die Menschen, die sie liebten und dachten dabei nicht an das, was doch wirklich ehrenvoll war, oder?

Einer von denen sagte (ich habe so viele gefragt. Gott bestrafe mich, aber ich weiß es nicht mehr, wer genau es war), dass die Ehre der Mut wäre, die Wahrheit hochzuhalten, sie zu verteidigen, für sie entgegen aller Widrigkeit zu kämpfen. Man soll sich selbst treu bleiben, auch wenn man dadurch kein Lohn bekommt. Ich denke bei diesen Worten an die Wenigen unter uns, die aussagten, für das Land zu kämpfen, weil es blühen soll und nicht, weil es ihnen Ehre einbringt. Ich denke, dass diejenigen gar nicht den Unterschied zwischen ihnen und jenen, die um Ehre kämpfen, sehen. Sie kämpfen in gewissem Maße für das Gleiche, tun das Gleiche und werden gleich belohnt: mit Lobe, Lächeln, Danksagungen, Wünschen, die das Leben süßer machen sollen, aber nicht in Erfüllung gehen werden. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen ihnen. Aber es gibt noch etwas, das ich nicht verstehe. Die Menschen kämpfen für das eigene Volk oder für die Ehre, aber schadet es nicht dem auch, wenn wir dafür über Leichen gehen? Ein alter Mann hat einmal gesagt, Schande gebührt nicht den Opfern, die nicht imstande waren, das Land zu schützen, sondern denen, die es angegriffen haben. Erinnerst du dich noch an die wunderschönen Geschichten, die uns Mutter damals vorgelesen hat? Eine handelte von Prinzessinnen und die Gutherzigste von allen sagte etwas wie, dass sie eine wahre Prinzessin sei und wird eine wahre Prinzessin geschlagen, so hielte sie dem Feind auch die andere Wange hin. Warum kann unser König das nicht tun?

Wieso lässt er Menschen umbringen, statt dem Feind das Land zu überlassen, damit nicht so viele Häuser zerstört und Menschen umgebracht werden? Ist ihm seine Macht teurer, als die Leben in seinem bald zugrunde gerichteten Land?

Ich sage ganz klar, da stimmt was nicht. Auch bei mir stimmt etwas nicht. Ehre ist der Mut, die Wahrheit hochzuhalten. Ich halte die Wahrheit nicht hoch. Ich verstecke sie unter einem Kostüm, weil ich um das Leben meines Mannes bange. Ist das jetzt eine Schande, obwohl ich mein Leben freiwillig aufs Spiel setzte? Verletzte ich die Ehre aller Frauen in diesem Land, weil ich unser Geschlecht verleugne oder nur meine eigene?

Mein Kopf brummt fürchterlich, ich möchte nun schlafen. Das schwache Licht der Kerze brennt im Auge, ich bin müde und erschöpft. Erwin, bitte werde schnell gesund, aber nicht, um mich zu erlösen, sondern um mich lächelnd zu empfangen, wenn ich nach Hause komme.

In Liebe Marie- Limp
 

Erwin jedoch erfüllte ihre Bitte nicht. Er starb wenige Wochen später nach ihrer Abreise.

Cistryn schickte Marie einen Brief, in dem stand, dass sie zurückkehren könnte, denn ihr Mann war tot. Niemand konnte ihm mehr wehtun und eine Frau würde man nicht zwingen zu bleiben.

Sie wusste nicht, ob der Brief angekommen war, doch ihre Schwester kam nicht heim.

Ihre Geschichte endete ab diesem Punkt, genauso wie das „Tagebuch“, welches Cistryn wieder sorgsam in ein Regal legte.

Danach ging sie zum Fenster, dessen Gardinen sie leicht öffnete.

Endlich sah man wieder ein paar Sonnenstrahlen am grauen Himmel.



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