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Akte 32

von

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Der Schultag war einer der ätzenden ihrer ganzen Schulgeschichte gewesen. Maria trat die Eingangstür des Sakurazukamori-Anwesens mit der Tür auf und brüllte durchs Haus: „Bin wieder dahaaaa, wer no-hooooch?“

Es kam keine Antwort, aber sie hörte es im Wohnzimmer rumpeln. Sie musste sich zwar erst orientieren, fand den Weg dorthin dann aber doch recht schnell.

Seishirou lief hin und her. Er schien etwas beschwören zu wollen, doch es gelang ihm offenbar nicht. Maria verschränkte die Arme. Bemerkte er sie denn gar nicht? Das konnte es nicht sein… er hielt sie vielleicht für so ungefährlich, dass man sie nicht begrüßen musste, wenn sie den Raum betrat. Immerhin, sie war ja auch nur seine Arbeit, nicht seine kleine Schwester oder etwas in der Art. Trotzdem machte es Maria wütend, wie sie von ihm ignoriert wurde.

Sie setzte sich rittlings auf die Sofalehne und stemmte die Hände in die Hüften. Seishirou lief immer noch an ihr vorbei. Seine Stirn lag in Zornesfalten. Maria schob die Brauen zusammen. War er etwa wütend? Es sah ganz danach aus. Er lief eilig hin und her, als würde er über etwas nachgrübeln. Wenn er wirklich keine Gefühle haben sollte, oder das zumindest angeblich so supergut vorspielen konnte, dann war das wirklich peinlich. Noch offensichtlicher ging es ja gar nicht!

„Du bist sauer“, sagte sie.

Seishirou hielt inne. Dann lief er noch ein paar erzürnt schnelle Schritte und drehte sich letztlich zu ihr um. „Guten Tag“, sagte er. Seishirou versuchte sich an einem höflichen Lächeln.

Maria prustete, verhielt es sich aber gleich wieder. Er war sauer und noch mehr auf die Palme bringen wollte sie ihn dann doch nicht. Wer wusste schon, weshalb er so wütend war. Wenn es etwas mit der Arbeit zu tun hatte, mochte sie Glück haben und verschont bleiben. Wenn es etwas mit Subaru zu tun hatte, würde der alte Kerl vielleicht total ausflippen und sie doch im Affekt umbringen! Das traute sie ihm schon zu, auch wenn er ein Riesenbaby war. Wie er da stand und sie mit großen, verwunderten Äuglein anblinzelte.

Maria rutschte von der Lehne aufs Sofa herunter. Die Sitzkissen polsterten ihre Ankunft weich ab. „Hallo. Was ist passiert? Du siehst so wütend aus.“ Das verwirrt ließ sie sicherheitshalber erst mal weg. Nachher war er deswegen noch beleidigt. Immerhin war er ja der gro-hooooße Sakurazukamori. Maria schmunzelte.

„Wie war die Schule?“, sagte Seishirou.

Maria setzte sich breitbeinig hin und sagte: „Scheiße war sie. Wie Schule eben so ist.“ Und sie hatte sich mit Kyoko gestritten. Irgendwie, auch wenn diese behauptete, es wäre ja gar kein Streit. Maria hatte da etwas anderes im Gefühl. Aber jetzt war sie bei Seishirou und der wirkte richtig angepisst, nicht wie Kyoko versteckter weise angesäuert – herbe wütend war der Mann. Auch wenn er noch so süßlich lächelte. „Erzähl mal, was ist dir schlimmes passiert? Hat dir jemand den Schnulli geklaut?“

Seishirou räusperte sich. „Ich bin nie im Besitz eines – wie sagtest du? – Schnullis gewesen.“

„Wisch dir das dämliche Grinsen mal aus dem Gesicht.“ Maria stand auf und stach ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. „Es ist doch was passiert. Jetzt erzähl es mir schon, oder willste, dass ich die Erinnerung daran aus dir raushole?“

Seishirou schien darüber nachzudenken. Das hatte Maria nicht erwartet. Er musste doch ihre Akte gelesen haben. Wie konnte er es da auch nur in Erwägung ziehen, sie seine Erinnerungen herausziehen zu lassen! Nicht dass sie eine Chance gegen seine Magie gehabt hätte.

„Nun?“, sagte sie mit bebender Stimme. Sie war nervös, verflucht!

„Nein“, sagte Seishirou ruhig. Wenigstens hatte ihn das nicht noch mehr aufgeregt. Im Gegenteil. Maria beobachtete ihn neugierig. Er setzte sich auf den Wohnzimmertisch und faltete die Hände. Er wirkte sogar ruhiger als zuvor. Maria sog die Backen zwischen die Zähne. Der Kerl war echt krass merkwürdig.

„Es ist tatsächlich etwas passiert“, sagte er. „Was dich im Grunde genommen überhaupt nichts angeht. Du bist Teil meiner Arbeit.“

„Und deine Mitbewohnerin!“ Sie reckte eine Faust in die Luft. „Alsoooo… werde ich sowieso alles mögliche über dich raus finden. Auch, was dich gerade so beschäftigt. Du siehst aus wie n Paket saure Milch. Ein ganzes Paket!“

Seishirou lehnte sich vor. Maria lehnte sich zurück. Dass er von sich aus so nahe kam, war ihr nicht geheuer. „Du kannst also Erinnerungen aus Leuten herausholen, ja?“

Maria schluckte schwer, ehe sie imstande war zu nicken.

„Auch aus anderen Dingen?“

„Ja, alle möglichen Gegenstände, Tiere, chemische Elemente… wobei die manchmal voll verstrahlt sind.“ Sie lachte und ihre Stimme hüpfte dabei. Ihre Finger krampften sich in die Sitzkissen. „Wieso fragst du?“

„Ginge es auch bei anderen Sachen?“

Maria runzelte die Stirn. Hatte sie gerade nicht alle möglichen Dinge aufgezählt, die es so auf der Welt gab? „Wie jetzt? Bei Planeten?“

Seishirou schmunzelte; Maria gefroren alle Arterien im Körper.

„Nein“, sagte er. „Bei magischen Wesen zum Beispiel. Geister, Vampire, Werwölfe, Meerjungfrauen. Märchenkram eben.“ Er lächelte breit und zeigte dabei eine gesund wirkende Zahnreihe, die Shins Konkurrenz machte.

Maria umarmte sich selbst. Ihr war verflucht kalt. „Ich hab noch nie Vampire, Werwölfe oder Meerjungfrauen getroffen, aber bei Geistern geht es.“ Sie hatte schon einigen so damit geholfen, ins Jenseits überzutreten. Das war kein richtiger Exorzismus, aber wenn sonst keiner zur Hilfe schreiten wollte, warum nicht sie?

„Bei Shikis auch?“

Das Wort kam ihr bekannt vor, aber der Groschen fiel nicht. „Ich denke doch.“

„Weißt du, was Shikis sind?“

„Äh“, sagte sie und lächelte entschuldigend. „Nicht so richtig?“

Seishirou öffnete die Handflächen und legte sie nach oben. Ein Vogel erschien in seinen Händen. Er hatte einen scharfen Schnabel und ihm fehlten einige Federn. Dort, wo sie fehlten, trat schwarze Flüssigkeit aus.

„Ist das Ektoplasma?“

„Ja“, sagte Seishirou. „Das ist mein Shiki und er wurde angegriffen.“
 

„Ein Falke“, sagte Maria. „Wie passend, so ein Raubtier für den bösen schwarzen Mann.“ Sie streckte die Hände nach dem Vogel aus. Seishirou übergab ihn ihr ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Maria hatte mal gehört, dass es eine ziemlich intime Angelegenheit wäre, den Shiki einer anderen Person anzufassen. Sie bemerkte sofort, weshalb es Seishirou egal war.

Der Shiki war ganz warm und sein Herzchen pochte heftig gegen Marias Brust, die den Vogel an sich gedrückt hielt. Seishirous Shiki war aus den Tiefen seiner Seele, einem Teil, den er als nicht vorhanden wahrnahm. Kein Wunder, dass es ihn nicht störte. Maria strich die übrig gebliebenen Federn des Vogels glatt. Der Falke krähte schwach.

„Och Gott, das arme Dingselchen“, sagte sie. „Wir müssen was tun!“

Seishirou verschränkte die Arme. „Was zum Beispiel? Er ist ein magisches Wesen, wir können ihm keinen Verband anlegen.“

„Nicht?“ Maria hob eine Hand. „Ich kenn mich damit nicht so aus, weißt du.“ Sie sah auf den Vogel herab. Er atmete schwer. So hatte sie noch nie einen Vogel gesehen. Für die Schule hatte sie mal einen Spatz seziert. Nun gut, das war heimlich gewesen.

Der Shiki tat ihr unendlich leid. Er schien zu weinen. Sie kraulte vorsichtig seinen Nacken und sah nach, wo seine Wunden waren. Es lief immer mehr Ektoplasma über seine Daunen und an seinen Flügeln herab, die schlaff herunterhingen. „Weißt du, wie das passiert ist?“

„Nein“, sagte Seishirou. „Er ist in keiner Kondition, in der er es mir sagen könnte.“

„Verstehe“, sagte Maria. Der Vogel sah wirklich nicht danach aus, als ob er noch irgendetwas anderes als atmen könnte. Ihm fehlte die Energie dazu.

Maria hob den Kopf und sah Seishirou ins Gesicht. Er hatte Augenringe und war bleich wie ein Toter. Er hat auch keine Energie mehr, dachte Maria. Klar, irgendwie waren Shiki und Mann ja auch eins. Wenn der eine so schlimm aussah, dann konnte der andere wohl kaum fröhlich Luftsprünge machen. Sie stellte sich Seishirou hüpfend vor und musste lachen.

„Ist etwas?“, fragte Seishirou.

„Nein, nein“, sagte Maria. „Es ist gar nichts.“ Sie seufzte und legte den Shiki neben sich auf ein weiches Kissen. Er krähte unglücklich. „Können Shiki sterben?“

„Hm“, machte Seishirou. „Mehr oder weniger. Aber nicht auf diese Art.“

„Ah.“ Maria strich ihren Rock glatt. „Man kann ihm nicht helfen, aber lebensbedrohlich ist es auch nicht. Heißt das, er bleibt jetzt für immer so?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Seishirou. „Ich kann dir sagen, wie man einen Menschen töten, aber nicht wie man ein Leben rettet.“

Maria legte ihm eine Hand auf den Arm. „Das kann jeder sagen.“

Seishirou zuckte mit den Schultern.

„Dass du so einen süßen Shiki haben würdest hätte ich gar nicht gedacht. Das ist noch ein ganz junges Tier, nicht wahr? Wir hatten das letztens in der Schule. Vögel“, fügte sie erklärend hinzu.

Seishirou gab ein leises Grunzen von sich. „Süß“, wiederholte er. „Du hast wohl nicht aufgepasst, als der Lehrer erzählt hat, was Raubvögel alles anstellen können mit ihrem Schnabel.“

„Doch, hab ich.“ Sie verdrehte die Augen. „Sei nicht so empfindlich, Onkelchen.“

„Bin ich nicht“, sagte Seishirou.

„Nein, natürlich und selbstverständlich nicht.“ Sie winkte ab. „Hol wenigstens mal einen Waschlappen her, damit seine Flügel nicht verkleben.“

Seishirou erhob sich und ging ins Badezimmer. Maria beugte sich derweil tief über den Shiki und flüsterte ihm ins Ohr: „So wie du bist ist er auch, hm? Ist ja goldig.“ Sie rieb ihre Wange an dem Köpfchen des Vogels.

Seishirou kam mit einem Waschlappen zurück und reichte ihn Maria. Sie machte sich gleich daran, den Shiki vom Ektoplasma zu befreien.

„Ich könnte die Erinnerung aus ihm rausholen.“

„Dann stirbt er“, sagte Seishirou. Er setzte sich auf die Armlehne des Sofas und sah auf den Shiki herab.

Maria schüttelte den Kopf. „Wenn ich aufpasse nicht. Dann stirbt nur die Erinnerung, aber die braucht er ja nicht. Die brauchst du. Er ist ja nur dein Stellvertreter. Ein Handlanger sozusagen. Nicht mal. Eine Apparatur! Aber eine sehr süße.“ Sie zog eine Grimasse. „Oh, sorry. Ich soll ja nicht mehr ‚süß’ zu deinem großen bösen Piepmatz sagen.“ Obwohl er es definitiv ist. Sie kraulte den Vogel unterm Schnabel. Der Shiki lehnte sich in die Berührung. Verschmust ist er auch noch, dachte Maria bei sich.

Seishirou sah aus der Glastür, die in den Hinterhof führte. Maria wartete geduldig ab, für was er sich entscheiden würde.

„Wenn es schief läuft, bringe ich dich um. Ist dir das klar?“ Er blickte sie an.

Marias Herz schlug schneller. Mit der Ansage hatte sie nun gar nicht gerechnet. „Äh, ja. Zu… zu…“

„Zu wem ich ihn denn geschickt habe?“ Seishirou lächelte.

Maria fröstelte es. Sie nickte. „Damit ich schauen kann, wo die Erinnerung in ihm drin steckt, brauche ich ein paar Anhaltspunkte. Sonst erwische ich vielleicht die falsche.“ Sie hatte keine Lust, einen Mord beobachten zu müssen. Hoffentlich ist es keine Erinnerung an einen Mord, dachte sie. Bitte nicht!

Seishirou schlug die Beine übereinander. „Du könntest auch etwas anderes wissen, oder?“

„Aha!“ Sie grinste. „Du hast ihn zu Subaru geschickt.“

„Ja“, sagte Seishirou.

Das war ja langweilig, dachte sie. Er wehrt sich nicht mal. „Okay, dann… würdest du dich umdrehen?“

„Wie bitte?“

Maria errötete. Sie hoffte, dass es eine betörende Wirkung auf ihn hatte. „Mir ist das peinlich“, sagte sie in einer extra hohen Stimmlage.

Seishirou bleckte die Zähne. Er legte den Kopf schief und zog die Schultern hoch.

Vielleicht hätte sie sich wieder in Subaru verwandeln sollen. Seishirou schenkte ihr einen skeptischen Blick und blieb in ihre Richtung gewandt sitzen.

„Na gut, dann eben so.“ Sie wartete ab, ob er sich nicht doch noch umdrehen würde. Seishirou schien nichts dergleichen im Sinn zu haben. Maria hasste es, wenn man ihr dabei zusah. Sie war ein leichtes Opfer, wenn sie sich stark konzentrieren musste und gerade bei Seishirou war ihr das mehr als nicht geheuer.

Obwohl es mir da auch nichts bringt, wenn er sich umdreht, dachte sie. Ihre Hände zitterten.

Maria atmete tief durch. Sie legte zwei Finger auf die Brust des Shikis. Sobald sie sein Herz gefunden hatte, legte sie los.
 

Zwei Orte, die Haskell hasste, trafen gerade zusammen. Flughafen und öffentliche Toilette gaben sich in Narita die Hand. Er betätigte den Seifenspender und verrieb die Lauge zwischen seinen Händen bis es ordentlich schäumte. Die Toilette war sauberer als die in den Flughäfen in Amerika, aber dennoch hatte er hier immer das Gefühl – in Japan, immerhin! – sich schmutziger zu machen als dort.

Haskell trocknete seine Hände unter der Fönvorrichtung und strich den Rest an seiner Jeans ab. Kein Grund im Anzug zu reisen, der viel zu unbequem und auffällig war. Er verließ die Toilette ohne den Türgriff zu berühren. Da hätte er sich ja gleich wieder umdrehen können und die Waschaktion wiederholen. Dafür hatte er keine Zeit. Sein Flug ging in einer Stunde. Er liebte es, der erste im Flugzeug zu sein. So konnte er genau beobachten, wer möglicherweise eine Gefahr darstellte, wer sich übergeben würde und dem es dann aus dem Weg zu gehen galt. Haskell hasste Kotze.

Er ließ sich auf einem defekten Kofferband nieder und holte sich sein mitgebrachtes, selbst gemachtes Sandwich aus dem Koffer. Hühnchen, gebraten und viel Salatsoße. Plus drei Scheiben Tomaten. Er biss hinein. Die ganze Flüssigkeit lief ihm übers Kinn. Gut so, dachte er, dann sehe ich aus wie ein richtiger, widerlicher Tourist. Ganz, wie die Japaner sich das so vorstellen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die ganze Brühe von seinem Gesicht zu wischen. Er stopfte sich die Backen voll und kaute zwanzigmal, bevor er schluckte.

Es war nicht viel los auf dem Flughafen. Wenige Ausländer waren unterwegs. Die meisten Leute, die gerade herumliefen trugen Anzüge und waren vom Personal des Flughafens. Dann gab es noch ein paar Geschäftsleute, die scheinbar hier wohnten. Ein ganzer Pulk bewegte sich auf die Männertoilette zu, alle hatten sie einen Handrasierapparat dabei und Rasierschaum.

Gut, dass er schon gegangen war. Er konnte nur den Kopf schütteln über die aufgeregte Menge. Eine Person stach allerdings heraus. Der Mann war Ausländer. Auch er hatte Rasierapparat und Schaum bei sich, ging aber nicht in die Toilette hinein, sondern endete immer wieder mit Absicht am Ende der Schlange. Der Mann sah sich rechts und links um und rückte wiederum ans Ende.

Merkwürdig, dachte Haskell. Kein typisches Verhalten eines Verbrechers, aber es stach genug heraus, dass sich Haskell vornahm, den Mann genau im Auge zu behalten. Wo Haskell anwesend war, geschahen keine Verbrechen, außer er war damit einverstanden. Das kam berufs- und landesbedingt hin und wieder vor. Aber er befand sich gerade nicht in Amerika, sondern in Japan. Hier galten andere Regeln.

Haskell drückte seinen Aktenkoffer an sich, steckte sich das Sandwich zwischen die spitzen Zähne und lief zielgerichtet auf den Mann zu. „Naff?“, sagte er auf Englisch. „Waffen Sie auff?“

Der Mann starrte ihn an. Er hob den Rasierschaum hoch.

Haskell sog den Rest des Sandwichs in seinen Mund und kaute verbissen darauf herum. Er schluckte und seufzte erleichtert. Wenn er wollte, konnte er verdammt breit grinsen. Genau das tat er nun. Der Mann wirkte verwirrt von der extremen Freundlichkeit. Ob er Englisch sprach? Er wirkte wie ein Europäer aus sandigeren Gebieten. Haskell war skeptisch. Er probierte es noch mal. „Entschuldigen Sie bitte. Mit vollem Mund spricht man ja nicht.“

Der Mann nickte. „Macht nichts“, sagte er.

Also versteht er Englisch, dachte Haskell. Er sprach es sogar flüssig und ohne jeden Akzent. Was ihn nur noch auffälliger machte. Hätte er einen starken texanischen Akzent gehabt, Haskell wäre uninteressiert abgezogen. Aber der Mann war perfekt auf Englisch getrimmt. „Woher kommen Sie?“

„Afghanistan“, antwortete der Mann wie aus der Pistole geschossen.

Haskell steckte eine Hand in die Hosentasche. Die Aktentasche hatte er unter die Achsel geklemmt. „Interessantes Land. Schöne Frauen.“

Dem Mann stieg eine Röte ins Gesicht, von der Haskell nicht wusste, ob es Scham, Zorn oder beides war. Auf alle Fälle hatte er einen wunden Punkt getroffen. Blieb nur noch herauszufinden, ob dieser Punkt etwas mit der Aufgabe des Mannes zu tun hatte, wenn er denn etwas zu erledigen hatte, dass Leib und Leben aller Anwesenden betraf.

Haskell lehnte sich vor. „Wie heißen Sie denn? Ich bin Jim. Aus Amerika. Ohio.“

„Salim“, sagte der Mann.

Nicht sein richtiger Name, dachte Haskell. Aber auch nicht meiner. Haskell setzte ein falsches Grinsen auf. „Salim, das klingt doch mal nett.“ Palim, palim, ein Terrorist, dachte Haskell.

Salim zuckte mit den Schultern. „Meine Eltern fanden das wohl auch.“ Er drückte die Dose Schaum fest an sich. Seine Fingerknöchel standen blankweiß hervor.

„Wenn Sie sich weiter so zurückhalten, werden Sie nie dazu kommen, ihren Bart zu zähmen, Salim.“ Haskell deutete auf die Toilettentür. „Da müssen Sie einfach gegen anboxen!“ Er hob eine Faust und schleuderte sie in der Luft herum.

Salim machte ein trauriges Gesicht. „Ja, vielleicht.“

Damit täuschst du mich nicht. „Soll ich Ihnen helfen?“

„Oh, oh, oh! Nein, nicht nötig. Bitte nicht!“, sagte Salim. Er schüttelte den Kopf so heftig, dass Haskell davon schwindlig wurde.

Was machte Salim dann vor der Toilette? Ein Terrorist, dachte Haskell. Palim, palim. Und kein besonders gescheiter. Wohl immer noch zu schlau für das Bodenpersonal von Narita. In Amerika wäre der Kerl gar nicht erst ins Gebäude gelangt. Haskells Spezialtruppe, die er selbst ausgebildet hatte, sorgte dafür. Aber hier in Japan lehnte man seine Methoden ja rigoros ab.

Haskell legte Salim eine Hand auf die Schulter. „Ich kenne noch eine Toilette, da ist nie viel los.“

„Nicht nötig“, stotterte Salim.

Keine Chance, dachte Haskell. Er hatte sich schon entschieden, den jungen Terroristen mitzunehmen und auszufragen. Doch dazu musste er unauffällig an einen Ort gelangen, an dem es, nun, nicht auffiel, was er da tat. Sonst wäre seine Tarnung im Eimer und auf die war er schließlich stolz. Haskell zog an Salims Arm, der sich widerwillig mitbewegte. Immerhin würde auch er nicht auffallen wollen. Da kam es kaum in Frage, sich gegen nette Hilfe zu wehren. Die übrigen Männer, die in die überfüllte Toilette strömten, würdigten die beiden keines Blickes. Es war zu wichtig, nicht den eigenen Flug zu verpassen. Was zwei Ausländer da taten, war überhaupt nicht weiter wichtig. Umso besser.

Haskell schob Salim in die Toilette, die so versteckt lag, dass sie keiner fand. Die Personaltoilette.

Salim schluckte schwer. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Da stand an der Tür…“

„Ist doch egal. Hier ist gerade niemand und da sie Ausländer sind und ich auch, können wir uns zur Not dumm stellen. Ist doch super! Wir sind privilegiert, was?“ Haskell lachte laut, dass es von den weißen Kachelwänden widerhallte.

Salim zuckte zurück. Er stellte Schaum und Apparat auf dem Becken ab. „Ja, danke dann noch mal.“ Er sah in den Spiegel und in Haskells Gesicht. „Wollen Sie mir beim Rasieren zusehen?“

„Jeder hat doch so seinen komischen kleinen Fetisch.“

Salim erwiderte darauf nichts. Er senkte den Kopf und begann sich zu rasieren. Erst spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann tat er eine dicke Schicht Schaum auf seine Wangen und sein Kinn.

Haskell lehnte sich an die Tür. „Afghanistan, hm.“

„Waren Sie schon mal da?“ Salims Stimme zitterte. Sein Adamsapfel hüpfte. Schaum tropfte ins Becken.

„Hm“, machte Haskell. „Waren Sie schon mal da?“

Salim lachte nervös. „Was ist denn das für eine Frage?“

„Sie sprechen so gut Englisch…“

„Ich habe in Yale studiert.“

Haskell wurde hellhörig. „Sind Sie Anwalt?“ Er sieht nicht danach aus.

„Nicht direkt“, sagte Salim. „Ich bin momentan arbeitslos.“

„Was machen Sie dann in Japan?“

Salim seufzte und schob den Rasierer über seine Haut. „Lange Geschichte.“

„Mein Flug geht erst in einer Stunde. Ich habe Zeit.“ Haskell konnte quasi deutlich sehen, wie bei Salim langsam der Groschen fiel, dass er hier an den falschen Helfer geraten war, dass er kurz davor stand, enttarnt zu werden und er versuchte krampfhaft, sich an die falsche Geschichte zu erinnern, die man ihm monate- und jahrelang eingebläut hatte. Es fiel ihm sichtlich schwer.

Salim schnitt sich die Wange auf und atmete zischend ein. „Verdammt!“

Haskell riss ein Stück Papier aus dem Spender und reichte es ihm. „Tut weh, hm?“

„Ja.“ Salim tupfte sich das Blut mit dem Papier ab.
 

„Schmerzen sind was Furchtbares. Das hat keiner verdient.“

Salim biss sich auf die Unterlippe. „Mhm.“

Da ist wohl jemand anderer Meinung, dachte Haskell bei sich. „Oder was meinen Sie?“

Salim zog die Schultern hoch. Er war das blutige Papier in den Abfalleimer unter der Spüle und packte seinen Rasierapparat wieder ein. Er achtete darauf, ihn nicht bis ans hinterste Ende der Packung zu schieben. Haskell konnte das gut daran erkennen, dass er nur zwei Fingerspitzen benutzte, um ihn zu verstauen. Ziemlich umständliche Art und Weise, ein billiges Gebrauchsitem wieder wegzustecken. Immerhin war es nur ein Einfachrasierer, den reisende Männer eine Woche lang benutzten, bevor sie ihn wieder wegschmissen und den nächsten am Flughafen 2000 Kilometer weit entfernt vom Kaufort des ersten erstanden.

Haskell trat bis auf zwanzig Zentimeter an Salim heran – die absolute Privatsphären-Schmerzgrenze – und beugte sich dann in seinen Bereich vor. „Nicht sicher?“

Salim wich nicht zurück. Er stierte in den Spiegel direkt vor sich und kniff die Wangen zwischen die Zähne. Er war entdeckt worden und Salim wusste es. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Haskell konnte seine Angst sehen und riechen. Und spüren. Sie lag wie dicker Brei in der Luft.

Jemand klopfte an die verschlossene Tür, beschwerte sich auf Japanisch, wer denn schon wieder Durchfall hätte, trat noch mal gegen die Tür und dann entfernten sich schlurfende Angestelltenschritte. Würde der arme Mann leider das Besucherklo benutzen müssen, so war dafür wenigstens die Sicherheit der Gäste gewährleistet.

Haskell packte Salims Arm und warf ihn gegen die Wand. „Für wen arbeiten Sie? Al-Qaida?“

„Nein, nein!“, sagte Salim. Er versuchte Haskell mit seinem Knie von sich weg zu schieben.

„Wie heißen Sie wirklich? Osama der Fünfte?“ Haskell lachte trocken. Er neigte den Kopf vor, sodass seine Lippen fast Salims Ohr berührten. „Kommen Sie schon, wer auch immer Sie sind und was immer Sie heute vorhatten – jetzt ist es sowieso viel zu spät dafür. Mir entkommen Sie lebend nicht.“

Salim quiekte wie ein trächtiges Schwein.

„Was, sind Sie erstaunt? Tja, die Behörde, von der ich komme, hat ganz eigene, sehr spezielle Regeln. Und es gibt keine die einem verbietet, irgendjemanden zu töten… und vorher noch mal schön zu foltern. Zur Not mit dem, was nicht am meisten schmerzt, sondern was den Gefangenen am meisten erniedrigt. Schöne Behörde, oder? Wären Sie lieber mal zu uns gekommen. Die Bezahlung ist besser und man lebt länger.“

Salim stiegen die Tränen in die Augen. „Ich nichts machen wollen!“

Er verliert sich, dachte Haskell. Das konnte kritisch werden. Aber er war ein Profi. Bei ihm wurde nie irgendetwas kritisch und wenn doch, dann war es nicht seine Schuld, sondern die dummer Mitarbeiter. Da kein solcher anwesend war, konnte gar nichts schief gehen. Haskell grinste Salim breit ins Gesicht. „Keine Angst. Wenn Sie brav sind, dann werde ich gar nichts tun.“

„Wie?“

Haskell schlug Salim in den Magen. Er gab ein würgendes, ersticktes Geräusch von sich und sank zu Boden. Haskell kniete sich neben ihm hin. „Armer Kerl.“

„Wie… wie… wie?“

„Fallen dir nicht mehr Wörter ein, Junge?“ Er tätschelte Salims Schultern. „Keine Sorge, dir passiert nichts, solange du tust, was ich dir sage.“

„Was da wäre?“ Salim fummelte in seiner Tasche herum; er suchte gewiss nach dem Rasierapparat. Oder viel eher der Verpackung, in der am Boden der Sprengsatz oder sonst eine Waffe, aber doch sehr wahrscheinlich eine Schwarzpulvermischung versteckt war. „Sagen du!“

„Ja, ganz ruhig.“ Er packte Salims Handgelenk und schob die Tasche vorsichtig mit dem Fuß beiseite. Unnötig Druck auszuüben konnte gefährlich werden. Eine Leiche wäre auffällig. Er konnte so etwas locker überleben, aber ob dieser Kerl das konnte war eher äußerst fraglich und extrem unwahrscheinlich. Wenn seine Deckung aufflog, dann wäre sein Rekord sofort von seinem Busenfeind gebrochen. Unmöglich, dass das auch noch ausgerechnet wegen einem dümmlichen Terroristen unterster Klasse geschah. Haskell knirschte mit den Zähnen. Gab es eine Möglichkeit, den weinerlichen Terroristen dazu zu überreden, sich zu stellen? Einfach mal mit einem Befehl versuchen. Wenn er wirklich so eine Tussi war, wie er sich gerade vorgab zu sein, mochte es funktionieren. Haskell half ihm auf die Beine. „Stell dich, Salim. Oder… wie heißt du?“

„Abu“, sagte derjenige, der eben noch Salim hatte heißen wollen. Er sah betreten auf seine Schuhe herunter. Die Hände faltete er zusammen, hakte die Finger fest zusammen. „Bitte nichts tun mir!“

Haskell machte „sch, sch“.

„Bitte“, sagte Abu.

„Sind bei euch neuerdings alle Terroristen solche Heulsusen?“

Abu schniefte. Rotz lief ihm über die Oberlippe.

Haskell verzog angewidert das Gesicht. Körperflüssigkeiten konnte er überhaupt nicht abhaben. „Flasche. Du gehst jetzt hier raus und stellst dich. Schnurstracks zum nächsten Polizisten. Und komm auf keine dummen Ideen. Ich werde dich beobachten.“ Wenn er dazu noch Zeit hatte! Haskell schielte auf die Uhr über der Tür und biss sich vor Schreck auf die Zunge. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Der Weg zur Geheimtoilette und das Gespräch mit dem kleinen Mädchen von Möchtegernterroristen hatte ziemlich viel Zeit gekostet. Jetzt lief sie ihm langsam aus. Sein Chef würde ihn schröpfen, wenn er nicht zeitig in seinem Büro stand und Bericht erstattete. So sehr er seinen Chef hasste, genau so sehr liebte er aber seinen Job.

Haskell schleifte Salim – halt, Abu hieß er doch – bis zur Tür. Abu heulte immer noch. Hat er verstanden, was ich ihm gesagt habe?, dachte Haskell. „Geh jetzt und stell dich, Abu. Salim. Terrorist!“ Er schloss die Tür auf.

Abu duckte sich auf den Boden und griff nach der Tasche. Haskell hatte nur ein paar Sekunden um zu reagieren, aber er war schnell und warf sich auf Abu.

Genau in dem Augenblick kam ihm eine unschlagbare Idee. Haskell grinste, stand auf und zog Abu mit sich. „Ich weiß etwas, etwas, das dir gar nicht gefallen wird.“ Haskell legte die Hand an seinen Gürtel und öffnete die Schnalle.

Abu rannte zur Tür. Er riss sie auf und verschwand nach draußen. Seine Tasche ließ er zurück.

Haskell schüttelte den Kopf. Viel zu einfach, dachte er. Er bückte sich und griff nach dem zurück gelassenen Gegenstand.

„Was mache ich jetzt mit der Bombe?“ Haskell zog den Rasierer hervor und holte ihn aus seiner Packung heraus. Er schnüffelte an der Öffnung. Schwarzpulver. Er hatte also völlig richtig gelegen. Wobei ihm nicht klar war, wie man mit dieser geringen Menge etwas Größeres anstellen wollte, außer man ging an die Kerosintanks und…

Haskells Gesichtszüge fielen in sich zusammen. Er hörte nur noch von weit weg, wie ihn ein aufgeregter Angestellter – möglicherweise der von vorhin, ihm kam die Stimme bekannt vor – ihn darauf hinwies, dass für einfache Kunden diese Toilette eigentlich total und absolut und sowieso tabu war.

Haskell verdrehte die Augen und schob sich an dem keifenden Japsen vorbei. Als ob es nichts wichtigeres gab, als eine Toilette und wer auf sie gehen dürfte und wer nicht. Letztendlich taten dort doch alle das gleiche: Etwas großes oder etwas kleines erledigen.

Haskell musste nun erstmal etwas sehr großes erledigen gehen. Wenn Abu noch mehr Schwarzpulver hatte, worin auch immer er es aufbewahren könnte – hatte er nicht versucht, Haskell auf Abstand zu halten? Druck auf bestimmten Körperteilen… ob er etwas unter dem Hemd trug?

Haskell beschleunigte seinen Schritt. Wenn sein Plan aufgegangen war, musste er sich eigentlich keine Sorgen mehr machen und hätte schon mal einchecken gehen können. Doch er war sich nicht hundertprozentig sicher und wenn er das nicht war, dann ließ ihm die jeweilige Sache ohnehin nie wieder Ruhe, bis er den Ausgang erfahren hatte. Haskell sprang über eine Stange. Dort hinten konnte er Abu schon wieder sehen. Abu betrat das Treppenhaus ohne sich umzusehen. Wäre er nicht so nervös, dachte Haskell, hätte er es gemacht. Und sich völlig verraten. Hatte er ihm also noch einen Gefallen getan!

„Die gute Tat des Tages hätte ich damit also mal wieder erfüllt“, murmelte Haskell. Er wartete einen Moment und folgte Abu dann ins Treppenhaus. Er war nirgends zu sehen. Haskell ging die Treppen nach oben. Die Tanks waren unten, aber wenn Abu dort war, konnte er ohnehin nichts mehr tun.

Jemand schrie laut, Haskell spürte einen Luftzug neben sich am Geländer herunter, Stoff riss auseinander, etwas kam dumpf auf dem Boden auf.

Haskell blieb mitten auf der Treppe stehen. Er lehnte sich übers Geländer und sah nach unten. Es ging einige Stockwerke von ganz oben bis ganz nach unten. Auf dem Boden lag Abu. Klamotten und Haut hatte ihm das Treppenhaus während des Falls zu großen Teilen vom Körper gerissen. Seine Knochen waren in alle möglichen Richtungen verdreht, sein Mund stand offen.

Haskell machte „tsk“. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und verließ das Treppenhaus. „Das kommt davon, wenn man keine gute Ausbildung erhalten hat.“

Sein Flug ging bald. Er checkte ein; der Plan war aufgegangen. Haskell freute sich auf einen entspannten Flug nach Hause, bevor er wieder seinem Boss gegenübertreten würde müssen.
 

Seishirou verschränkte die Arme. Noch geschah überhaupt nichts. Maria saß seit zehn Minuten mit geschlossenen Augen da und drückte auf der Stirn seines Shikis herum, ohne dass etwas passiert wäre. Sie atmete nur sehr selten. Das war das einzige, was ihm als ungewöhnlich auffiel. Er zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie wieder nach Atem rang. Die Atmung seines Shiki, auf der anderen Seite, hatte sich wieder beruhigt. Das Ektoplasma floss nicht mehr in Strömen sondern trocknete. Er griff nach dem Waschlappen und zog ihn Maria aus der freien Hand. Sie schien das nicht abzulenken.

Er wischte dem Shiki das Ektoplasma aus den Federn und wartete weiter ab.

Maria seufzte und öffnete die Augen. Seishirou schmiss den Waschlappen auf den Tisch. „Und?“, sagte er.

„Warte einen Moment. Gleich kommt sie.“

Seishirou erinnerte sich daran, dass die extrahierten Erinnerungen als eine Art Halluzination dargestellt würden, bevor sie für immer verschwanden. Er sah sich um. Noch war nichts zu sehen, aber er konnte Ramen riechen. Blätter raschelten um ihn herum. Er sah herunter und bemerkte, dass er auf einem Ast saß. Seishirou blickte auf einen Laden herab, in den Subaru gerade ging. „Ramen-Don“ stand auf einem knallroten Schild. Er fühlte, wie ein kleines Herz in seiner Brust schneller schlug, als er die knallbunte Farbe sah.

So sah also sein Shiki die Welt. Seishirou war milde beeindruckt. Für die Sicht eines Vogels war das gar nicht mal so schlecht. Außerdem konnte man sich wohl besser verstecken, als dies als ausgewachsener Mann möglich war. In Gestalt seines Shiki wartete er darauf, dass etwas passiert. Etwa, dass Subaru aus dem Ramenladen kam und den Shiki angriff. Aber hätte er ihn dann einfach wieder freigelassen? Bestimmt nicht. Er hätte ihn dazu benutzt, um zu Seishirou zu kommen.

Also wartete Seishirou, dass etwas anderes geschah. Hatte ihn jemand von der Amerikanischen Behörde beschattet und den Shiki dabei entdeckt, als Seishirous identifiziert und aus dem Weg räumen wollen? Vielleicht war es auch jemand von der Japanischen Behörde gewesen. Die schienen schließlich auch keine Freude an dieser Verbindung zu haben.

Seishirous Blickfeld wackelte; der Shiki hüpft umher, doch seine Bewegungen wurden immer träger. Ihn verließ langsam die Energie.

Es musste circa zehn Uhr sein, dachte Seishirou. Zu dieser Zeit hatte er Einkäufe erledigt. Nichts Ungewöhnliches, nichts, das ihn entsprechend angestrengt hätte, um dem Shiki Energie deswegen zu entziehen. Seishirou wurde nervös. Würde er spüren, was dem Shiki geschehen war? Er roch den Ramen und spürte die Kälte des Windes. Zwar war er durchaus sehr neugierig, aber er konnte darauf verzichten zu erfahren wie es sich anfühlte, wenn einem die Federn herausgerissen wurden.

Seishirou merkte zu spät, dass der Körper des Shiki fiel. Argh, dachte er, als der Körper auf dem Boden auftrat. Ich kann den Schmerz also auch spüren.

Jetzt musste gleich passieren, was den Shiki so zugerichtet hatte. Seishirou hörte Schritte auf den Vogelkörper zukommen. Der Falke war zu schwach um den Kopf zu heben. Jemand packte ihn an einem Flügel. Seishirou spürte einen brennenden, ziehenden Schmerz.

Komm schon, sieh ihn an, dachte Seishirou. Ich muss wissen, wer es getan hat. Ich muss.

Der Vogelkörper wurde durchgeschüttelt. Seishirou wurde übel davon. Er verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und unten war und welcher Flügel ihn nun schmerzte – halt, welcher Arm, er war kein Falke! Ihm war, als ob die Welt um ihn herum schmelzen würde. Alles verlief ineinander, alle Farben, Gerüche und Geräusche. Das warme Ektoplasma floss aus den frischen Wunden, die ihm der fremde Mann zufügte. Seishirou versuchte sich zu konzentrieren. Der Mann hatte keine Falten. Also war er noch jung? Der Mann hatte schwarze Haare – also ein Japaner? Das Gesicht wirkte asiatisch, auch wenn Seishirou es nicht so gut erkennen konnte, wie er da als Shiki herumgeschleudert wurde. Warum kam keiner dem Vogel zu Hilfe? Weil es ein Raubvogel ist, dachte Seishirou. Und: Maria hätte eingeschritten.

Der Mann hatte goldene Augen.

Der Vogel verlor das Bewusstsein und Seishirou landete wieder in der Realität. Er lag auf dem Boden vor dem Sofa. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen Zügen. Maria saß auf der Couch und blickte auf ihn herunter. „Dem Shiki geht es wieder gut.“

Seishirou schloss die Augen. „Gut“, sagte er.

„Was hast du gesehen? Weißt du jetzt, wer es war?“

Hat sie es denn nicht auch gesehen?, dachte er. Es wäre unklug, sie direkt danach zu fragen. „Nein. Die Sicht war nicht klar genug.“

„Vielleicht brauchst du doch ne Brille?“

Seishirou lachte und setzte sich auf. „Ich glaube eher nicht, dass es daran lag. Aber er wurde tatsächlich attackiert.“

„Das ist schlecht.“

Seishirou nickte. Warum griff jemand einen Shiki an – der überhaupt nichts tat? Hätte Seishirou den Falten in einem Auftrag geschickt, der Gewalt gebraucht hätte, bitte. Aber der Shiki sollte Subaru bloß beobachten. Was war daran schon schlimm genug, dass man den Vogel beinahe auseinanderrupfen musste? „Er hat gegrinst“, sagte Seishirou. „Dem Angreifer hat es Spaß gemacht.“

„Vielleicht warst es ja du selbst“, sagte Maria. Sie lachte; es war ein Scherz gewesen.

Seishirou schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Gefühle. Mir macht nichts Spaß.“

„Ja ja, wie auch immer“, sagte Maria. „Hast du was zu essen da? Ich hab furchtbaren Hunger.“ Sie rieb sich den Bauch.

Gut, dass er eingekauft hatte. Er strich sich die Kleider glatt und deutete in Richtung Küche. „Es ist alles mögliche im Kühlschrank. Bedien dich.“

Maria strahlte ihn an. „Aw, danke, liebes Onkelchen!“ Sie sprang auf und verschwand in der Küchentür. Maria summte ein Lied vor sich hin.

Seishirou stemmte die Hände in die Hüften. Sein Shiki lag schlafend auf dem Sofakissen. Er ließ ihn in sich verschwinden und folgte Maria in die Küche. Inzwischen sang sie das Lied. Seishirou kannte es nicht. Wahrscheinlich war es etwas Modernes; sie sang auf Englisch.

„Was gibt es heute Abend?“

„Oh, das wird dir gefallen. Vertrau mir einfach!“

Seishirou nickte und nahm am Küchentisch Platz. „Wer könnte es gewesen sein“, murmelte er vor sich hin.

„Du hast sicher genug Feinde.“

„Nein“, sagte Seishirou und lächelte dabei. „Feinde räume ich aus dem Weg, genau wie jede andere Person auch. Es macht keinen Unterschied für mich…“

„Dann ist Subaru also weder ein Feind noch ‚jede andere Person’.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Wie romantisch. Die einzige Ausnahme von der Regel.“

„Tja“, sagte Seishirou. „Die einzige Ausnahme, Maria.“ Er bemerkte zufrieden, dass sie eine Gänsehaut bekam.

„Richtig“, sagte sie. „Die einzige… es gibt Spaghetti.“

„Lecker.“ Seishirou stützte den Kopf in die Hände. Konnte es jemand gewesen sein, der weder von der japanischen, noch von der amerikanischen Regierung war? Eigentlich nicht. Mit anderen hatte er nichts zu tun und der Sumeragi-Clan hatte längst das Interesse an ihm verloren, bis auf Subaru, der so etwas nie im Leben tun würde.

Seishirou bekam Kopfschmerzen; er hatte ein stechendes Gefühl hinter der Stirn, das ihm sagte, dass die Migräneanfalle nicht sehr bald verschwinden würden.



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