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The Smallest Unit

von

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-The Smallest Unit-
 

Ich hatte es verstanden. Ich hatte es endlich verstanden. Verstanden, erkannt, ich wurde erleuchtet, wie auch immer man das nennen mochte. Ich blieb bei 'verstanden'.

Was ich verstanden hatte? Gut, beginnen wir dafür die Geschichte von vorn. Vorn ist in diesem Fall an der Stelle, wo meiner Meinung nach die Ereignisse angefangen haben, Bezug aufeinander zu nehmen und letztendlich hier hin geführt haben. Vor ein paar Wochen also.
 

„Ich bring mich um.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis dieser Satz sich durch meine deaktivierten Gehirnzellen bis zu meinem Verstand vorgearbeitet hatte. Müde drehte ich den Kopf ein Stückchen zur Seite und sah Jess an. Mein Verstand gähnte ein Mal, rollte sich auf die andere Seite und schlief weiter.

Tatsächlich war es nicht das erste Mal, dass Jess so etwas von sich gab. Er gehörte nicht gerade zu den Menschen, die in der Pause Hand in Hand mit anderen über die Wiese hüpften und sich an der Sonne und den bunten Blumen erfreuten. Er erzählte öfter traurige Geschichten, schrieb traurige Gedichte und bildete sich gern ein, die Welt würde ihn hassen. Es war immer nur eine Phase. Eine, die so regelmäßig eintrat, dass man sie im Kalender eintragen und beinahe auf den Tag genau abpassen konnte. Manchmal gab es Abweichungen von ein bis zwei Tagen. Im Groben und Ganzen war es aber sehr vorhersehbar.

Jede dieser Phasen erreichte ihren Höhepunkt mit eben diesem Satz. Oder einem ähnlichen. Woraufhin ich mit einer Tafel Schokolade und einem Kakao bei mir zu Hause, bei einer Episode Stargate oder einem guten Film, für eine Pause zwischen den Phasen sorgte. Und für einen etwas angenehmeren Abschluss als den, den Jess so gern ankündigte.

„Ich mein es ernst, Ron.“

„Wir haben noch drei Folgen Stargate“, berichtete ich ihm mit gedämpfter Stimme. „Heute nach der Schule? Meine Ma macht Auflauf.“

Jess antwortete mit einem Nicken und schaute nach vorn zu unserem Lehrer, als es plötzlich sehr still im Raum wurde. Ich folgte seinem Blick. Anders als man vielleicht hätte denken können, war unser Lehrer nicht auf uns aufmerksam geworden und schwieg deshalb. Nein, er hatte wohl wieder eine seiner Fragen gestellt, die niemand beantworten konnte, weil niemand verstand, was dieser Mann von einem hören wollte.

Unser Englischlehrer. Alt wie ein Baum, und mindestens genau so gutaussehend. Bis auf Kat, ein äußerst hübsches Mädchen aus dem Kurs, schaffte es niemand wirklich, gut in diesem Kurs zu sein. Ich hatte mir diesbezüglich aber auch noch nie ernsthaft Mühe gegeben.

„What does a film start with?“, wiederholte der Lehrer die Frage. Zögerlich hoben sich zwei Hände.

„The introduction of the characters?“

„No, production wise.“

„The script?“

„No, earlier.“

„The idea?“

„No, not that early.“

„What the fuck do you want to hear?“, fluchte Lizzy neben mir gedämpft. Die Umsitzenden lachten leise. Ob unser Lehrer das gehört hatte, wusste niemand.

Was letztendlich die Antwort auf seine Frage war, bekam ich nicht mehr mit, da ich mit den Gedanken abschweifte und schon ein paar Stunden später in meinem Zimmer auf dem Bett entspannte und Stargate schaute.
 

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Mein Handy klingelte.

Träge rollte ich mich aus meinem Bett, um es auf meinem Schreibtisch zu erreichen. Jess drückte den Pause-Knopf des Videorecorders, und auf dem Fernseher blieb ein Standbild von Richard Dean Anderson in seiner hervorragenden Rolle als Major General Jack O'Neill, wobei er einen sehr lustigen Ausdruck im Gesicht hatte, der irgendwo zwischen Überraschung und Ekel lag.

„Ja?“

„Halloooo, hier ist Claraaaa~“, flötete eine unverwechselbare Stimme durch den Hörer. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und ich musste in etwa den selben Ausdruck in meinem Gesicht haben wie O'Neill.

Clara war ein hübsches, süßes Mädchen aus meiner Stufe. Sie war nett, zuvorkommend und immer freundlich. Und sie war eine unheimliche Klette. Die letzten zwei Wochen war sie krank gewesen, was mir ein angenehmes Gefühl von Freiheit vermittelt hatte. Das eigentliche Problem an Clara war, dass ich ihr keine Bitte abschlagen konnte, was mich schon in unzählige Verabredungen mit ihr gestürzt hatte. Eine Verabredung mit Clara, das bedeutete immer viele neue Freunde kennen zu lernen. Das letzte Mal waren es Mr. Einkaufstüte und Mr. Zuckerwatte. Und Mr. Einkaufstüte zwei.

Auch diesmal konnte ich ihr die Bitte um ein Treffen nicht abschlagen. Seufzend drückte ich den Auflegen-Knopf und notierte nächsten Donnerstag in meinem inneren Kalender mit einem rosaroten Kreuz. Rosa war ihre Lieblingsfarbe. Sie trug fast nie etwas anderes.
 

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Donnerstag kam schneller, als mir lieb gewesen wäre. Ich lehnte vor der Eisdiele, bei der wir uns treffen wollten, an einer Laterne und schaute in die Gegend. Alle möglichen Leute liefen durch die Stadt, viele junge Menschen, nur wenige alte. Die Zeit der älteren Herrschaften in der Stadt war morgens zwischen acht und zwölf, wenn die meisten Jugendlichen in der Schule waren.

Meine schwarzen Haarsträhnen fielen mir in die Stirn, und ich strich sie in einer unbewussten, gewohnheitsmäßigen Bewegung wieder zurück, wo sie, wie sonst auch, nicht lange bleiben würden. Meine Haare waren nicht von Natur aus schwarz. Meine Mutter färbte sie mir, seit die ersten Leute in der Schule angefangen hatten, mich aufzuziehen. Es war nichts Verwerfliches, naturrote Haare zu haben. Aber naturrote Haare zu haben und Ron zu heißen war in einer Welt, in der Harry Potter bekannt war, gar nicht mal so leicht. Mich störten die Sprüche nicht, sie waren mir sogar ziemlich egal. Meiner Mutter aber nicht.

„Rooony~“, summte es neben meinem Ohr. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Clara gekommen war. Ihr blondes, langes Haar lockte sich künstlich über ihre Schultern, und ihr rosa Top ließ sie kindlicher wirken als sie eigentlich war. „Wartest du schon lange?“
 

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„Willst du mit mir gehen?“

Die kleinste Einheit eines Textes war der Buchstabe. Darauf folgte das Wort, und darauf der Satz. Und so ein Satz, der konnte schon verdammt viel bewirken und ausdrücken. Eine der Weisheiten, die man im Englischunterricht mit auf den Weg bekam.

Dieses Prachtexemplar von einem Satz wurde mir taufrisch zu einem halb geschmolzenen, halb verspeisten Erdbeerbecher serviert, und löste bei mir so viel aus wie der bekannte platzende Sack Reis in China. Nämlich nichts.

Umso dankbarer war ich dafür, dass Clara wohl neben ihrer umwerfenden Schönheit die ebenso umwerfende Gabe zu haben schien, aus Blicken lesen zu können. Und zwar aus meinem, jetzt gerade.

„Schon gut“, sagte sie und schob sich einen leicht gehäuften Löffel voller Eis in den Mund. „Du brauchst nicht zu antworten. Ich weiß, dass du nein sagen würdest.“ Sie zeigte mit dem sauber geleckten Löffel auf mich. „Ron, gibt es überhaupt etwas, was dir wichtig ist im Leben?“

Manche Mädchen hatten einfach die Angewohnheit, die merkwürdigsten Fragen zu stellen, die man sich nur vorstellen konnte. Ihre Gedankengänge versteckten sich dabei meist sehr geschickt in einem Labyrinth, durch das nur ihre Freundinnen durchzusteigen vermochten.

„Natürlich“, antwortete ich automatisch.

Und beinahe hatte mich diese Frage aus dem Ruder geworfen. Aber die Spannungskurve, die das Emotionale Auf und Ab meines Lebens aufzeichnete, zuckte nur kurz und legte sich dann wieder gemütlich hin. So wie sie es eigentlich immer tat. Dann war mir eben nichts besonders wichtig. Mit dieser Taktik fuhr ich sehr gut.

Mein Handy schützte mich vor einer weiteren Antwort, indem es klingelte. Erstaunlich, wie oft ich im Moment angerufen wurde. Seit fünf Jahren hatte ich dieses Handy, und hatte es in all den Jahren fast ausschließlich zum Spielen genutzt. Diesbezüglich hatte es mir auf jeden Fall gute Dienste geleistet. Ich sah die Nummer von Jess auf meinem Display leuchten, und ich ahnte, was kommen würde. Eine Zwischenphase. Spontane Depression. Auch das kam vor.
 

„Willst du einen Apfel?“, fragte ich Jess, der hinter mir am Küchentisch saß und vor sich hin starrte.

„Ich mag keine Äpfel“, antwortete er mechanisch.

Ich reichte ihm einen und er biss hinein. Seit Jahren behauptete er, er würde keine Äpfel mögen, seit bei seiner Mutter eine tödliche Apfelallergie festgestellt worden war. Vermutlich hielt er aus Solidarität zu ihr.

Ich setzte mich Jess gegenüber und wartete. Wenn er reden wollte, dann würde er das tun. Wenn nicht, dann hatte er nichts zu sagen und wollte einfach nur meine Gesellschaft. Nachzuhaken, warum er mich angerufen hatte, würde nichts bringen. So kam man an ihn nicht heran.

Ich dachte an einen Film, den ich vor einiger Zeit mal gesehen hatte. 'About A Boy', mit Hugh Grant. In diesem Film gab es einen interessanten Spruch. „Jeder Mensch ist eine Insel.“ Auf Jess mochte das vielleicht sogar zutreffen. Er machte sich zu einer Insel. Er kapselte sich von allen Menschen ab, so gut es nur ging, und die meisten reagierten darauf allergisch. Es einfach hinzunehmen schien mir leichter.

Jess sprach nicht, und ich war erleichtert. Ich war kein guter Zuhörer. Und erst recht kein guter Berater. Zum Glück fragte mich auch niemand um Rat. Ich war auch kein guter Redner. Insgesamt war ich nur besonders gut darin, in nichts besonders gut zu sein. Außer vielleicht in Stargate-Kunde, wenn es so etwas überhaupt gab.

Morgen war Freitag. Zeit für uns, unseren Weltraumdurst zu stillen.
 

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Der Samstag morgen begann ohne Jess und mich. Ebenso der Mittag. Und auch der halbe Nachmittag war schon vorüber, bis wir uns dazu durchringen konnten, runter in die Küche zu gehen und uns unser reichlich verspätetes Frühstück zu machen. Wir hatten bis spät in die Nacht das neue Computerspiel gezockt, das ich mir die Woche über sicherheitskopiert hatte, und welches wir schon sehnlichst erwartet hatten. Dass das Warten durchaus lohnenswert gewesen war, bewies uns der Wecker meiner Mutter, welcher sie zur Frühschicht in der Firma aus dem Bett klingelte und uns dazu brachte, endlich das Spiel zu speichern und uns schlafen zu legen.

Na wenn das mal nicht etwas war, was mir im Leben wichtig war. Solche Tage, an denen man erst morgens schlief, um dann den nächsten Abend und die nächste Nacht ausgeruht nutzen zu können, mit Filmen und Spielen. Es machte Spaß. Und ich hatte etwas, was ich Clara das nächste Mal sagen konnte.

Falls sie wieder mit mir sprach, was sie am Freitag in der Schule nicht getan hatte. Sie hatte mich komplett ignoriert, was meine Emotionswelt dazu veranlasst hatte sich an der Nase zu kratzen. Mein Verstand hatte einen kläglichen Versuch gewagt, sich durch ihr Gedankenlabyrinth zu kämpfen, nur um nach wenigen Sekunden in der ersten Sackgasse aufzugeben und sich mit meiner Emotionswelt in einen Wellnessurlaub zu verziehen.
 

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Eine Drei in Mathe, eine in Englisch und eine weitere in Biologie. Ein glatter Durchschnittsschüler. Ich entsprach dem Durchschnitt aller Klausuren, und der Durchschnitt meiner Klausuren war ebenfalls immer gleich. Selbst, wenn ich es einmal schaffte, über mich hinaus zu wachsen und in einem Fach eine Zwei zu schreiben, was gelegentlich in Politik der Fall war, glich ich diese schnell mit einer Vier in Chemie wieder aus.

Mein Durchschnitt. Noch etwas, was mir wichtig war. Ich gehörte weder zu den Strebern, noch zu den Versagern. Auch nicht zu den Coolen, die eigentlich Versager wären, dafür aber zu gut aussahen. Und erst recht nicht zu den Supercoolen, die zu gut aussahen um Versager zu sein und dazu noch zu viel Geld hatten.

Ich schaute zu Clara, bereit, sie zufrieden anzulächeln, wenn sie mich ansah. Was sie nicht tat.
 

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Selbstmord war ein beliebter Gedanke bei verzweifelten Menschen. Bei Wiederholungsdenkern wirkte meist die Taktik der Routinierten Lebenserhaltung, wie bei Jess. Und bei meinem Vater. Vor vier Jahren, als ich 13 Jahre alt war, hatte meine Mutter festgestellt, dass eine andere Frau sie glücklicher machte als mein Vater, was er sich bis heute nicht verzeihen konnte. Sein eingedelltes Ego und seine in starke Zweifel gezogene Männlichkeit wurden nur von einem dünnen Gerüst aus Karriere und Restfamilie gehalten, und schwankte ab und an bedrohlich, wenn irgendein Ereigniswindstoß die labilen Identitätsbalken streifte.

Da mein Vater Diabetiker war, ersetzte ich bei ihm Kakao durch Kaffee und Schokolade durch Cracker. Es wirkte so ähnlich wie bei Jess, nur dass ich bei meinem Vater jedes Mal eine Salve aus Tränen und Selbstvorwürfen bestaunen durfte. Dazu sagen konnte ich nicht viel, ich konnte lediglich versuchen, den Rest Männlichkeit, den er sich selbst noch zuschrieb, am Leben zu halten und etwas zu pflegen.

Anstrengend wurde es wieder, als er begann, mir erklären zu wollen, irgendetwas wäre unmöglich. Dann erinnerte ich ihn gern an einen Tag, als wir uns gemeinsam ein Fernsehquiz angeschaut hatten. Gesucht waren Tiere, die mit S beginnen. Und es war einer der Wenigen Momente in der Geschichte dieser wundervoll einfachen Sendungen, dass jemand des Rätsels Lösung gefunden hatte. Ein Stirnlappenbasilisk. Ein leguanartiges, hellgrünes Tier, das wirklich existiert. Und ein kleiner Krümel Wissen, mit dem ich angeben konnte, wenn ich wollte.

Hey Clara, ich weiß was, was du nicht weißt.
 

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Eine gute Geschichte entsteht aus dem Chaos wie eine Blume aus dem Mist.

Warum der Autor der Geschichte, die wir als Hausaufgabe für den Englischunterricht analysieren sollen, eben das und nichts anderes geschrieben hat, ist nur zu erklären, wenn man sein leibeigenes Chaos erklärt.

Textanalyse war in meinen Augen schon immer eine der überflüssigsten Dinge der Welt. Warum wollen die Schulen einem nur beibringen, wie man einen Text auseinander zu nehmen hat? So verliert nahezu jeder Text seine Wirkung, zumindest, wenn es sich, wie bei dieser Hausaufgabe, um einen fictional-text, also eine ausgedachte Geschichte, handelt. Nimmt man diese auseinander, wird sie trocken und auf viele sachliche Punkte analysiert. Wo bleibt denn dann das persönliche Chaos des Autors? Wo ist der Mist?

Mein Mist war mir wichtig. Clara, ich liebe meinen Mist.

Ich gab auf, legte meinen Block und den Text beiseite und schaltete den Fernseher ein. Vielleicht würde der mir ja helfen können. Allein zu arbeiten war mir noch nie leicht gefallen, aber ich war gerade nunmal allein. Und ich war zu bequem, Jess anzurufen.

Die Acht-Uhr-Nachrichten begannen, und ich schlurfte runter in den Keller, um mir eine neue Flasche Apfelschorle zu holen. Als ich wieder in mein Zimmer kam, berichteten sie gerade von einem Busunglück nahe der Innenstadt. Ich ließ mich wieder auf mein Bett sinken und legte die Beine hoch. Der bierbäuchige Polizist im Fernsehen erklärte die Lage, die offensichtlich mit einem betrunkenen LKW-Fahrer und einer unausgeschlafenen alten Dame zu tun hatte. Die wenigen Aufnahmen von dem übel zugerichteten Bus waren erschreckend. Mein Mitgefühl blinzelte. Die Straße, in der sich die Schaulustigen sammelten, erkannte ich als die, die ich auf dem Weg zu Jess immer mit dem Rad entlang fahren musste. Und sogar die Busnummer, die leicht angeschwärzt war, erkannte ich als die, auf die Jess nach der Schule angewiesen war.

Mein Mitgefühl versetzte meinem Verstand und dem Rest meiner Gefühlswelt einen unsanften Tritt, und holte sie schlagartig aus dem Urlaub zurück. Als der Polizist als Unfallzeit etwa 15 Uhr angab, verschluckte ich mich an meiner Apfelschorle und hustete meine Jeans damit voll. Das war auch die Zeit, zu der Jess immer mit dem Bus fuhr. Höchst aufmerksam lauschte ich den Nachrichten weiter. Zwei Tote, sieben Verletzte. Mir wurde eiskalt und meine Kehle schnürte sich zu. Eine weitere Aufnahme von dem Bus. Die Vorderseite war ziemlich zerstört.

Jess saß gern vorn.

Ich wischte mir die Mischung aus Apfelschorle und Spucke vom Kinn, stellte endlich die Flasche ab und warf sie beim Aufstehen sofort um. Wann hatte ich sie zugeschraubt? In höchster Eile hastete ich die Treppe runter, sprang in meine Schuhe und rannte raus zu meinem Rad. Ich kam noch auf die Idee, einen kleinen Umweg zu fahren, falls die Unfallstelle noch nicht ganz geräumt war. Mein Verstand hyperventilierte und starb eines kläglichen Todes, während meine Gefühlswelt die Kontrolle übernahm und die Spannungskurve meines Lebens ordentlich in Fahrt brachte. Ich brauchte nur halb so lange für den Weg zu Jess wie sonst. Wenn er unverletzt war, würde er zu Hause sein. Sonst würden seine Eltern mich mit zum Krankenhaus nehmen. Und solche Gedanken hatte man nur, wenn der Verstand tot war.

Ich ließ mein Fahrrad am Anfang der Einfahrt einfach fallen und rannte das letzte Stück, stolperte und fiel direkt vor die Haustür. Meine Knie schmerzten höllisch, ebenso wie meine Lunge, die sich zusammen zoge und mich zum Husten brachten.

Im selben Moment schaffte es meine Gefühlswelt, meinen Verstand wiederzubeleben.

Jess war heute krank.

Er war nicht in der Schule.

Er war unmöglich in dem Bus.

Und ich hätte auch einfach versuchen können ihn anzurufen.

Völlig geschafft ließ ich die Stirn auf den warmen Boden vor mir sinken. Bitte sehr Clara, dachte ich, da hast du was. Wenn dir sonst nichts reicht, dann eben er. Er ist mir wichtig.

Ich hatte es verstanden. Ich hatte es endlich verstanden. Verstanden, erkannt, ich wurde erleuchtet, wie auch immer man das nennen mochte. Ich blieb bei 'verstanden'.

Verstanden, was Clara mir sagen wollte. Was sie mir vermitteln wollte. Eine kleine Spur aus Brotkrumen deutete den Weg durch ihr Gedankenlabyrinth an, aber ich zog es dennoch vor, keinen Schritt hinein zu wagen.

Der nächste Schritt, den ich wagte, war der Schritt in das Haus von Jess. Ich brauchte frische Klamotten. Mein T-Shirt war nass von Schweiß, und meine Hose von Apfelschorle.
 


 

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Danke fürs Lesen. ^^



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