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Stairway to Heaven

von

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Love

Dorothea atmete tief durch und streckte sich. Die Arme dem blauen Frühlingshimmel entgegen gereckt, stöhnte sie befriedigt auf. Ihre verkrampften Muskeln lösten sich und die erschöpfende Schiffspassage fiel langsam aber sicher von ihr ab.

„Wuh! Endlich da“, pflichtete Uman ihr bei und lächelte zufrieden, seinen Rucksack aus Leder fester gezurrt als zuvor. Wie er es zu Beginn der Reise gesagt hatte, hatte sich das Wetter des Frühlings als perfekt herausgestellt und sie waren gut durchgekommen: Die Unebenheiten des Hetens waren durch das Schmelzwasser aus den Bergen ausgeglichen worden und die Verläufe des Flusses somit auch tiefer und besser für die Schiffe. Da der Wind zusätzlich mitgespielt hatte, hatten sie am gleichen Tag noch ihr Ziel erreicht. Die Hauptstadt, Saitan.

„Ah! Bille!“, rief Uman und Dorothea schaute dahin, wo der junge Mann hin winkte. Eine junge Frau kam auf sie zu und man konnte durchaus sagen, dass sie schön war. Vielleicht war sie keine Stadtschönheit, aber ihr Aussehen würde ihr dennoch einige Aufmerksamkeit einbringen: Die langen blonden Locken tanzten durch die Luft, ihr üppig gebauter Körper bewegte sich schelmisch unter einem Städterinnenkleid und ihr Lächeln war offen und warmherzig.

„Uman! Endlich bist du da“, lachte sie und warf sich in seine Arme. Der Mann fiel in ihr Gelächter ein und die beiden drehten sich eine Weile selig um die eigene Achse. Erst dann bemerkte die junge Frau Dorothea und löste sich etwas peinlich berührt von ihrem Verlobten:

„Oh, hiandaan. Verzeiht meine Unhöflichkeit! Seid Ihr ein Freund von Uman?“

„Äh …“, stammelte sie und räusperte sich verlegen. Uman unterbrach sie und sagte:

„Klar! Er kommt auch aus Tandandom!“

„Ehrlich? Auch aus dem Bezirksdorf?“, meinte sie interessiert und schaute Dorothea abschätzend an.

„Nein, nicht direkt. Zwar aus Sekain aber nicht aus Tandandom“, wehrte sie ab und verstellte ihre Stimme extra ins Tiefere.

„Wie heißt Ihr denn?“

Dorothea war von der Frage so überrascht, dass sie Bille zunächst nur einen seltsamen Blick zuwarf. Die junge Frau schaute verwirrt zu Uman, als hätte sie etwas Falsches gesagt und ihr Lächeln gefror leicht. Uman hüstelte und legte den Kopf schief – er wusste ebenfalls nicht, wie sie hieß.

„Haha, verzeiht! Ich bin noch nicht so gut in … Kiiama!“, versuchte sie ihren Patzer zu verstecken und lachte peinlich berührt. Bille glaubte ihr sofort und lachte:

„Ach so! Ich wollte nur Euren Namen wissen!“

„Alan! Genau, ich bin Alan!“

„Oh, hübscher Name“, meinte Bille und lächelte Uman zu, der Dorothea einen berechnenden Blick zuwarf. Er schien ihr Zögern bemerkt zu haben, übersah es aber trotzdem gnädig. Stattdessen wechselte er das Thema:

„Komm, wir gehen zu dir, Bille! Lange ist es her, seit ich deine Familie das letzte Mal gesehen habe! Da lebtet ihr noch in Tandandom! Geht es ihnen gut?“

„Oh ja, komm nur, sie freuen sich schon! Alan-sikar, möchtet Ihr mitkommen?“, erbot sie sich, doch Dorothea schüttelte den Kopf. Sie hatte anderes zu tun und meinte daher:

„Danke, nein! Bille-sika, ich danke für das Angebot, aber ich muss noch etwas erledigen.“

„Dann ein andern Mal. Kommt doch vorbei, wenn Ihr die Zeit findet.“

„Billes Familie sind Kaufmänner. Sie leben im Bereich der Bürger. Such einfach nach ‚Simmers Markt‘, das ist der Laden ihrer Familie“, ergänzte Uman und lächelte.

„Gut, dann … auf bald!“, sagte Dorothea und winkte, bevor sie sich umdrehte, ihren Beutel schulterte und mit zielstrebigen Schritten über die Docks und durch die Hafenläden – Fischereien, Werften, Anglerläden und Passagierpassstellen – in den Hauptbereich Saitans gelangte. Da es aber Abend und die Sonne bereits am Horizont verschwunden war, musste sie enttäuscht feststellen, dass sie sich nicht umsehen konnte. Sie folgte einer breiten Straße ins Innere des Häuserrings und landete auf einem Platz, nachdem sie das Kleinbürgerviertel, Großbürgerviertel und schließlich auch das Marktviertel durchquert hatte. Letzteres hatte ihr sichtlich Angst eingejagt und sie hatte sich beeilt auf den Marktplatz zu kommen, weil immer wieder Huren an sie herangetreten oder schmierige, betrunkene Halunken ihr hinterhergelaufen waren.

Den Beutel fest an sich gedrückt, überquerte sie den Marktplatz und erneut den Marktring so schnell, wie sie konnte. Das bessere Viertel mit den riesigen Häusern und Gärten sprach ihr daher schon mehr zu. Dort verlangsamte sie ihre Schritte und schaute sich neugierig um. Im Schein der Laternen an den Mauern der Gebäude konnte sie einige schön gepflegte Anlagen ausmachen und geriet sogar ins Schwärmen. Welcher Reichtum sich hinter diesen Fenstern wohl verbarg?

Die Kleider der Frauen und Männer waren pompös und verdeckten möglichst viel Haut, die Frauen trugen sogar Schleier! Wie unanständig! Schleier trugen nur die Toten! Dorothea schüttelte sich und beeilte sich wieder. Sie musste ein Gasthaus mit angemessenen Preisen finden und sich dann überlegen, wie sie an den Drachenreitergeneral herankam! Sollte er denn einer der Drachenreiter von Saitan sein …

„He, Sikar!“, sprach eine Stimme sie an und sie blickte sich um. Ein schlanker Mann stand hinter ihr und schaute sie interessiert an. Seine Kleidung war fein, aber nicht so gut wie die der Adeligen und Bürger um sie herum. Sie blieb stehen und schaute ihm direkt in die Augen – Direktheit war Sache der Männer. Also musste sie ihn anschauen, damit er nicht auf dumme Gedanken kam. Der Mann schnalzte jedoch bloß mit der Zunge und sagte:

„Meine Aug‘n werd‘n auch immer besser. Siehst‘e, Jon, ich hab‘ dir doch gesagt, dass is’n Reisender!“

Dorothea konnte ihn kaum verstehen, weil er einen Dialekt hatte wie ein kleiner Fischerssohn. Doch sie wusste, dass er mit jemandem hinter sich sprach. Der mittelalte Mann entschied sich schließlich, sich ebenfalls zu erkennen zu geben und trat ins Licht der Laterne, die auch den anderen erhellte. Jon hatte einen verfilzten Bart, trug aber ebenfalls recht feine Kleidung.

„Ho! Was’n so spät noch unterwegs, Kleener!“, krächzte er.

„Ich bin gerade erst angekommen und suche ein Wirtshaus“, meinte sie wahrheitsgemäß.

„Besser hättest‘ es nich‘ treff’n könn‘, Kleener. Kennst’e das ‚Gasthaus zum brüllenden Oger‘?“, sagte wieder der Jüngere. Der Name war seltsam und Dorothea sagte:

„Nein.“

„Jon is‘ der Sohn der Familie! Da kannst’e für wenig Geld ‘ne Pause mach’n. Is‘ janz angenehm“, antwortete er und lächelte offen, als wäre er der glücklichste Mensch der Welt.

„Oh“, erwiderte sie bloß und drehte sich um, bevor sie weiterging. Mit solchen Leuten sollte sie sich am besten nicht abgeben.

„He! Nich‘ einfach so geh’n! Hör mal! Wir sin‘ zwar nich‘ die Besten, aber wir hab’n auch ‘ne Menge zu biet’n“, krächzte Jon wieder. Dorothea marschierte weiter und erhöhte sogar ihre Geschwindigkeit. Schon bald ließ sie den großbürgerlichen Bereich hinter sich, vernahm aber dennoch die Schritte, die ihr stets folgten. Schließlich ging sie sogar immer nur unter Laternen entlang und hastete durch dunkle Ecken hindurch, um schneller in die Nähe der Menschengruppen zu kommen, die sich in der Ferne vor einigen Wirtshäusern gebildet hatten. Als sie dort ankam und verschnaufte, da sie sich nun sicherer fühlte, schaute sie auf das Schild des Gasthauses und ärgerte sich: ‚Gasthaus zum brüllenden Oger‘ stand dort groß geschrieben.

„Ich hab‘ dir doch gesagt, wir sin‘ gut!“, meinte Jon hinter ihr und sie fuhr herum. Sein junger Partner zuckte die Schultern und die beiden gingen davon, um weitere Kunden anzuwerben. Dorothea beruhigte ihre Atmung und betrat das Gasthaus – es war recht voll und genauso lärmend wie das in Fandenstar. Sie trat an die Theke und fand dort zwei junge Frauen vor. Die Eine musste so alt sein wie sie, die Andere war vielleicht Anfang dreißig.

„Hiandaan“, begrüßte sie die Wirtinnen. Die Beiden sahen auf und lächelten geschäftsmäßig, doch Dorothea hatte dennoch Zeit, sie genauer zu betrachten. Die Ältere kam ihr bekannt vor …

„OH!“, rief diese in dem Moment aus, in dem auch Dorothea sie erkannte. Es war ihre Tante Pilea! Die Frau beäugte die Reisekleidung und sprach daher nicht weiter, sondern nahm ihre Nichte einfach mit ins Hinterzimmer.

„Was machst du denn hier, Doro?“, flüsterte sie erstaunt, nachdem sich beide an einen Tisch gesetzt hatten.

„Lange Geschichte“, wich sie aus und Pilea sah sie fürsorglich an. Die Frau gab ihr immer das Gefühl zu Hause zu sein. Ihre verständnisvolle Art und ihre warmherzige Lache riefen in Dorothea immer die Sehnsucht nach einer heilen Familie hervor. Manchmal, in den hintersten Ecken ihres Kopfes, hatte sich das Mädchen gefragt, ob sie vielleicht nicht Teil ihrer Familie war, sondern in Wirklichkeit irgendwie näher mit Pilea in Verbindung stand. Pilea hatte wie Dorothea sehr helle braune Augen, sodass sie fast gelb wirkten und feine Gesichtszüge, die im Nordosten von Saitan-Heten sehr verbreitet waren. Man fand sie aber auch in Belquat-Heten, dem Land, das sich an eben diese Grenzen angebunden hatte und seit einigen Jahren mit Saitan-Heten auf dem Kriegspfad stand. Wenn sie so darüber nachdachte, war sie wirklich eher Pileas Kind als Matias.

„Pilea-sitoka! Was machst du hier?“, fragte Dorothea.

„Wuh, das Übliche. Ich bin viel herumgereist und habe dabei den Wirt dieses Hauses getroffen. Seine Frau war früh gestorben und er brauchte eine Mutter für seine drei Kinder, also habe ich mich bereit erklärt, diese Rolle zu übernehmen“, meinte sie lässig.

„Du hast geheiratet?!“

„Nein! Was denkst du?! Ich bin lediglich ein Hausmädchen, könnte man sagen. Außerdem ist sein Ältester schon alt genug, um keine Mutter mehr zu brauchen, das Mädchen … sie ist so alt wie du und etwas anhänglich, aber sein Jüngster ist gerade elf. Um den ging es eigentlich nur.“

„Ach so, ich dachte schon!“, kicherte Dorothea noch etwas geschockt.

Pilea lachte und winkte ab.

„Nie im Leben! Ich bin, wie ich eben bin. Erwarte nicht von mir, dass ich plötzlich einen Schleier trage“, sagte sie und wies damit auf die Tradition der Stadtbewohner hin, die verheirateten Frauen unter Schleier zu stecken.

„Aber was machst du nun hier, kleine Dorothea?“

„Ich bin von Zuhause weggelaufen, um ehrlich zu sein.“

„Gab es wieder Streit?“

„Es war furchtbar und ich habe auch keine Lust mehr. Glücklicherweise hat Isim geholfen! Ich bin ziemlich schnell vorangekommen, mein Dank gilt dabei auch der Geschichtenerzählerin. Sie hat mir ihren alten Gaul geliehen“, erzählte Dorothea kurz und Pilea lächelte:

„Ah ja, diese alte verrückte Frau. Ich mochte sie schon immer. Nun ja, was führt dich aber hierher?“

„Eigentlich mag ich das gar nicht erzählen …“

„Ist es so schlimm?“, fragte ihre Tante und zog eine Augenbraue hoch.

„Schlimmer“, antwortete sie und seufzte.

„Immer her damit!“, freute sich Pilea.

„Aber schimpf‘ ja nicht!“, warnte sie, bevor sie sich auf ihrem Stuhl reckte und zu sprechen begann:

„Du weißt aus den Briefen, die die Wirtin für mich geschrieben hat, dass ich in Fandenstar im Wirtshaus gearbeitet habe, nicht wahr?“

„Hm-hm.“

„Ich habe da einen Mann kennengelernt“, gestand Dorothea und druckste.

„Ich verstehe. Du hast dich in ihn verliebt, ihr beide hattet eine schöne Zeit und …?“, ergänzte ihre Tante und gab Dorothea den Freiraum, selbst darüber zu reden.

„Kurz gesagt: Wir haben uns geküsst und geliebt.“

Pilea schaute Dorothea entsetzt an, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah sich um, als müsse sie noch einmal überprüfen, ob wirklich niemand in diesem Raum war außer ihnen. Wenn herauskam, dass eine unverheiratete Frau ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, würde man in der Stadt zu schärferen Methoden greifen als auf dem Lande. Dort passierte das generell häufiger.

„Nun gut“, beruhigte sich die Frau und lehnte sich über den Tisch, damit sie leiser reden konnten.

„Ehrlich, es war dumm und unüberlegt, aber ich mochte ihn sehr gern und … es ist einfach passiert. Ich bereue es ja auch!“, versuchte Dorothea sich zu verteidigen.

„Du mochtest ihn? Lass mich raten, er hat dich sitzen lassen.“

„Ja“, gab sie zu und senkte den Blick.

„Bist du deshalb hierher geflohen? Weil du ihn nicht sehen willst?“

„Nein, ich will ihn ja gerade sehen-“

Pilea unterbrach sie schroff und flüsterte:

„Bist du so dumm, wie das gerade klingt?! Du rennst ihm auch noch hinterher?!“

„Warte, warte! Ich will ihn nicht sehen, um den gleichen Fehler nochmal zu machen!“

„Ach, und was dann?“, meinte Pilea schnippisch.

„Ich will ihm in den Hintern treten! Er soll mir Schadensersatz geben oder … Ach, keine Ahnung! Ich weiß auch nicht“, maulte Dorothea zurück.

„Als ob! Mädchen, du willst ihn nicht verletzen, sondern bist hier, um ihn anzuschmachten. Nein! Versuch mir nichts vorzumachen! Ich hab den gleichen Mist schon einmal gesehen, glaube mir, nur dass ich die Dumme war, die dem Mann hinterhergerannt ist. Dich jetzt genauso zu sehen, schmerzt irgendwie schon, aber, wenn ich ehrlich bin, war das die schönste Zeit meines Lebens“, sagte Pilea und ihr Blick wurde träumerisch und sanft. Ihre Augen lagen auf Dorotheas Gesicht und das zarte Lächeln, das an den Lippen ihrer Tante zupfte, machte sie so wunderschön, wie keine andere Frau es je sein könnte.

„Du machst Witze! Er hat mich sitzen lassen! Als würde ich so einem hinterherlaufen!“, weigerte sie sich trotzdem zu akzeptieren.

„Quatsch nicht herum, dummes Ding. Schau dich doch bloß an! Du bist hier, weil er hier ist. Wie lange warst du dafür unterwegs? Was hast du dafür aufgegeben? Wie viel musstest du dafür bezahlen und aufbringen? Lüg mich nicht an, es ist leider zu offensichtlich.“

Dorothea sah die Frau an und bemerkte den liebevollen Ausdruck in den Augen ihrer Tante. Wenn die Frau rügte, dann konnte sie schon einmal böse werden, doch mit Dorothea hatte sie sich schon immer gut verstanden. Sie war schnippisch und unberechenbar, abenteuerlustig und verrückt, aber sie war die Einzige in der Familie, die Dorothea ohne Vorbehalte mochte. Nein, liebte. Ihre Tante liebte sie, das konnte Dorothea aus ihrem ganzen Verhalten heraus ablesen. Pilea würde niemals wütend auf das junge Mädchen sein, das wusste es genau.

„Na gut“, gab Dorothea nach und seufzte. Eigentlich war das auch ziemlich offensichtlich gewesen.

„Siehst du?! Warum nicht gleich so?!“, lachte ihre Tante und erhob sich. Sie eilte aus dem Raum und ließ Dorothea für kurze Zeit allein zurück, bevor sie wiederkam und ein Tablett mit Suppe und Brot vor ihr abstellte, auf dem auch ein Becher Wasser stand.

„Danke“, murmelte Dorothea und machte sich über das wohlschmeckende Essen her, nachdem sie seit Tagen nichts Gutes mehr gegessen hatte.

„Mein Mädchen“, seufzte ihre Tante und versteckte ein Lächeln hinter ihrer Hand, bevor sie schließlich sagte:

„Wo ist der Gute denn? Ich würde ihn ja gern kennenlernen!“

Dorothea verschluckte sich und hustete. Konnte sie ihrer Tante wirklich erzählen, wer er war? Wer weiß, was die Frau mit dieser Information anstellen würde! Womöglich würde sie das halbe Land nach ihm durchforsten und wenn sie ihn fand, würde sie ihm so die Ohren langziehen, dass er nie wieder auch nur ein Wort mit Dorothea wechseln wollte!

„Hm-hm?! Will da etwa jemand nichts sagen?!“, stichelte Pilea. Die Frau war vertrauenswürdig und wenn sie all das tun würde, dann nur für Dorothea und nur so weit, wie der Mann das noch verkraften konnte. Als Dorothea das klar wurde, lächelte sie und meinte zu ihrer Tante, die sich ebenfalls ein Glas Wasser geholt hatte und daraus trank:

„Er ist ein Drachenreitergeneral!“

Pilea prustete den Schluck, den sie gerade genommen hatte, quer über den Tisch in Dorotheas Gesicht und starrte ihre Nichte erstaunt an, bevor sie in heilloses Gelächter ausbrach.
 

Palinor schnalzte zum wer-weiß-wie-vielen Mal mit der Zunge und brachte seine Frau zum Seufzen, weil sie nervige Angewohnheiten schon immer verabscheut hatte.

„Palinor“, meinte sie genervt.

„Verzeihung“, sagte er zurück und schnalzte mit der Zunge. Sie sah ihn scharf an und er zuckte zusammen.

„Wenn du dich nicht zusammenreißen kannst, geh bitte. Rebecca und Finya schlafen noch“, warnte sie ihn, während sie weiter die Kleidung der Familie nähte. Sie wusste genau, warum er so nervös war, duldete aber dennoch nicht seine Regungen.

„Sedara, glaubst du …?“, begann er und sie unterbrach ihn. Sie hatten dieses Gespräch schon hunderte Male geführt.

„Ihm geht es gut“, antwortete sie und zeigte ihm sehr offensichtlich, dass für sie das Gespräch nun beendet war. Seit dem Vorabend saßen sie nun schon so zusammen und dachten über Vlaindars Bestrafung und seinen Gesundheitszustand nach. Immer wieder waren Famiran und Mikanor zu ihnen gekommen, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen und immer wieder hatten sie nichts Neues zum Erzählen gehabt. Selbst Keoran hatte nichts herausfinden können und saß nun wie die beiden anderen ebenfalls in diesem Raum und verbreitete Nervosität. Sedara ermahnte die Vier immer wieder, doch auch das war nur eine Angewohnheit, die ihre Nervosität ausdrückte.

Da es noch Morgen war, der Morgen nach der Bestrafung Vlaindars, hatten sich nur wenige Menschen bereits erhoben, daher waren auch Vlaindars Heiler vom Vortag noch nicht entlassen worden – ein Schichtwechsel – und konnten so auch noch nichts berichten. Eigentlich wartete man nur darauf, dass genau das geschah.

„Glaubt ihr …?“, begann dieses Mal Famiran das Gespräch und Mikanor antwortete zittrig:

„Ihm geht es bestimmt gut.“

„Ja, bestimmt“, stimmte Keoran zu und Sedara rollte mit den Augen, bevor sie sagte:

„Warum geht ihr nicht einfach zu ihm?“

„Dürfen wir das?“, fragte Palinor erstaunt und schaute zu Keoran, der mit den Schultern zuckte.

„Dürfen wir das?“, fragte Famiran also Sedara, die schnaubte und meinte:

„Fragt doch nach, wofür sonst hat Ismira euch Münder gegeben?!“

„Richtig, nachfragen“, meinte Mikanor und alle Männer sanken zurück. Als ob einer von ihnen das tun würde!

„Gehen wir!“, rief Palinor in einem Anflug von Mut aus und alle Vier sprangen gleichzeitig auf und rannten hektisch aus dem Raum. Sie ließen eine völlig genervte und erschöpfte Sedara zurück, die sich wenig später neben ihren Töchtern ins Bett kuschelte, um die verlorene Mütze voll Schlaf nachzuholen, die sie sich nach diesem anstrengenden Morgen wohl verdient hatte.
 

Vlaindar kam langsam wieder zu sich. Bevor er überhaupt die Augen öffnete, wusste er bereits, dass er nicht in einer Zelle lag. Es roch nach Lavendel und er lag in einem weichen Bett. Allein diese Mischung verriet ihm, dass er auch nicht in seiner Wohnung war. Der seltsame Lichteinfall und die Daunenbettdecke eröffneten ihm die ganze Wahrheit: Er lag in dem Zimmer, in dem er als Prinz immer geschlafen hatte. Seinem ‚Prinzenzimmer‘.

„Shiarireyliar?“, fragte eine piepsige Stimme neben ihm. Die Frau hatte normalerweise keine piepsige Stimme, doch Aufregung und Anstrengung ließen sie schrill wirken. Eigentlich war ihre Stimme sanft und gleichmäßig. Die Königin.

Vlaindar stöhnte als Antwort und öffnete blinzelnd die Augen. Sofort stellten sich mehrere Menschen an die Bettkante und blickten auf ihn hinab. Er wollte sich vom Bauch auf den Rücken drehen, hielt aber mitten in der Bewegung inne, weil ihn ein Schmerz durchzuckte, den er nicht ignorieren konnte. Die Wunden seiner Bestrafung waren also noch da. Er konnte noch nicht lange hier liegen, höchstens ein oder zwei Tage. Eher Einer, weil Wunden von Drachenreitern schneller verheilten und solche größtenteils oberflächlichen Verletzungen ziemlich schnell verschwanden.

„Vlaindar? Hörst du mich?“, fragte eine männliche Stimme. Das war der Groß-General der Drachenreiter, diese melodische Stimme würde Vlaindar immer erkennen, egal wie schlecht es ihm ginge. Ruiyan hatte sich wohl neben ihn gehockt und legte eine Hand auf seine Stirn.

„Vlaindar?“

Vlaindar blinzelte, um seine Sicht zu verbessern und konnte schließlich auch die Gesichter der Leute erkennen, die sich um ihn scharten. Ruiyan, die Königin, zwei Heiler mit beigen Roben, Palinor, Keoran, Mikanor, Famiran, die beiden Prinzen Cinnamon und Nut und auf einem Stuhl entfernt thronte sogar der König.

„Vlaindar?“, fragte Ruiyan erneut.

„Soireyliar“, krächzte Vlaindar als Antwort und schloss erschöpft die Augen. Sein Hals kratzte furchtbar, so als hätte er Sand gegessen und er wusste, dass er sowohl nichts getrunken, als auch gegessen hatte, als sein Magen knurrte. So auf dem Bauch liegend, hilflos unter all den Decken, schaute er müde umher und blickte in die Gesichter der Menschen, die ihm ermunternd zulächelten. Die beiden Heiler begannen wieder, blutige Verbände auszuwaschen und die Königin zog sich neben ihren Mann zurück. Die Prinzen setzten sich zu ihren Eltern, sodass sich schon bald die erdrückenden Schatten der Anwesenden von ihm hoben. Ruiyan blieb neben ihm hocken und sagte:

„Beweg dich nicht so viel, die Wunden heilen noch.“

Vlaindar nickte und schloss die Augen.

„Schlaf noch ein bisschen. Schlaf hilft immer!“

Und mit diesen Worten sank Vlaindar wieder in diese ohnmachtsähnlichen Traumzustände, in denen er zwischen Alptraum und Glücksgefühlen hin und her schwankte wie ein Boot im Sturm. Alles durchzogen vom stetigen Pochen des Schmerzes, der sich immer wieder bemerkbar machte und ihn ab und zu aus seinen Träumen riss. Wann immer dies geschah, war jemand neben ihm, um ihm durch sein Fieber hindurch gut zu zureden.
 

Dorothea hatte die Suche nach einem vertrauenswürdigen Feinschmied oder normalen Schmied schon lange aufgegeben und brachte es auch nicht übers Herz, einfache Passanten um eine Auskunft zu bitten. Wenn sie ihnen diese Gardenbrosche unter die Augen hielt, würde die Hälfte von ihnen doch sicherlich nicht wissen, womit sie es zu tun hatten, obwohl Drachenreiter in dieser Stadt residierten. Die andere Hälfte könnte wahrscheinlich auch nur ähnliche Angaben machen, wie es bereits Isim und die Geschichtenerzählerin getan hatten.

Seufzend warf sie sich auf einen Hocker an der leeren Theke im Gasthaus und versank in einer depressiven Stimmung – wenn sie diesen Mann nicht finden sollte, wären all ihre Mühen umsonst gewesen!

„Kleine Doro“, flötete die Stimme ihrer Tante hinter ihr und kurz darauf setzte sich die Frau neben sie. Das schöne, lange braune Haar Pileas war in einem einfachen Knoten in ihrem Nacken zusammengebunden und auch das Städterinnenkleid war ihrer Schönheit unwürdig. Wenn man Pileas Ausstrahlung sah – sie kam zum Großteil von den Augen und ihrer aufrechten Haltung –. dann konnte man sich immer nur wünschen, sie in einem feinen Kleid aus den besten Stoffen mit den teuersten Accessoires zu sehen. Doch das warmherzige Lächeln dieser Frau ließ sämtliche distanzeintreibenden Gedanken verschwinden – diese Frau brauchte Menschen und gehörte nicht abgeschottet in einen Adelshaushalt!

„Pilea-sitoka!“, antwortete Dorothea mit einem schwachen Lächeln. Im Vergleich zu ihrer Tante sah sie wirklich aus wie ein Bauernlümmel: Das lange rote Haar war unter einem Hut sorgfältig verborgen, ihre Brust war abgebunden und die Reisekleidung ließ sie männlicher erscheinen. Nicht zu sprechen von dem für eine Frau untypischen direkten Blick, der immer so viele Männer abgeschreckt hatte!

„Mit jedem Seufzen verschwindet ein bisschen Glück aus deinem Leben“, rezitierte Pilea ein altes Sprichwort, das Dorothea schon in Kindheitstagen ständig zu hören bekommen hatte. Ihre Tante verkörperte das genaue Gegenteil. Ihr würde nie im Leben einfallen, deprimiert an der Theke herumzuhängen und zu seufzen. Schon gar nicht tagsüber!

„Ich weiß, ich weiß“, erwiderte Dorothea genervt und verdrehte die Augen.

„Was ist los? Geht es um IHN?!“, hakte ihre Tante nach und traf damit natürlich den Nagel auf den Kopf.

„Nein“, log sie.

„Lügen haben rote Wangen, Schätzchen“, wies Pilea sie zurecht und Dorothea seufzte.

„Als ob!“

„Ist irgendetwas passiert?“

„Ganz ehrlich? Ja! Ich habe dir doch erzählt, dass er ein Drachenreitergeneral ist, nicht wahr?“

„Das hast du. Gibt es da irgendwelche weiteren Probleme?“

„Ich kenne seinen Namen nicht“, gab Dorothea zu und schluckte ihre aufwallende Hilflosigkeit hinunter. Wie sollte sie ihn da bloß finden?!

„Das ist doch das Erste, wonach man fragt!“, erstaunte sich Pilea und schnalzte mit der Zunge.

„Na und?! Ich halt nicht“, murrte sie zurück und schmollte.

„Wie willst du ihn also finden?“, fragte ihre Tante, obwohl sie genau wusste, dass Dorothea eben an dieser Tatsache schwer zu schlucken hatte.

„Gar nicht, wie es scheint! Wie soll ich ihn denn finden?! Ich kann doch nirgendswo hinein und keiner erscheint mir vertrauenswürdig genug, als dass ich ihm meine Geschichte erzählen könnte! Selbst wenn ich ihnen das Gardeabzeichen unter die Nase reiben würde, würden sie doch alle erstaunt sein, dass ich so etwas habe – wie soll ich diesen Umstand dann erklären?“, sprudelte es aus ihr hervor und sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, die sie schon die ganze Zeit unterdrückt hatte.

„Ein Gardeabzeichen? Wo? Zeig her!“, forderte Pilea sofort und Dorothea schaute ihre Tante erstaunt an, die daraufhin nur drängend meinte:

„Dummerchen, warum sagst du so etwas nicht gleich?! Ich kenne doch sämtliche Garden! Schon vergessen, dass ich ganz Saitan-Heten bereist habe?! Das Erste, womit man sich da natürlich beschäftigt, sind doch die Garden! Ich darf stolz verkünden, dass ich zumindest die Gardeabzeichen der acht wichtigsten Städte kenne!“

Mit einer plötzlich aufkeimenden Hoffnung suchte Dorothea das Abzeichen aus ihrer Umhanginnentasche hervor und legte es vor ihrer Tante auf den Tisch. Wie immer fing sich in den Formen das Licht ein und wurde auf die wunderschönste Art und Weise reflektiert. Beinahe hätte sie es wieder eingesteckt, um es eifersüchtig wie ihren eigenen Augapfel vor Fremden Blicken zu hüten, doch das würde ihr natürlich nicht helfen. Wenn sie ihn finden wollte, musste sie ihrer Tante seine Brosche zeigen.

„Eine handflächengroße, silberne Brosche in Form einer Raute mit einem goldenen Kreis in der Mitte, in dessen Mitte wiederum ein silberner Kreis eingelassen ist, der einen Wirbel beinhaltet. Hm, ein sehr ausgefallenes Abzeichen!“

„Wieso? Was ist denn? Sag schon!“, drängte Dorothea und setzte sich auf.

„Was weißt du darüber?“, fragte ihre Tante stattdessen und sie sagte:

„Isim meinte, er sei ein Drachenreitergeneral, weil Gold in der Brosche verwendet wurde. Der Wirbel für die vier Lebensalter ist auch ein Symbol für irgendetwas, laut der Geschichtenerzählerin – sie ist auch der Meinung, dass die Rautenform etwas mit dem Herkunftsort der Garde zu tun hat.“

„Das stimmt schon, ja. Da hat sie Recht.“

„Echt? Nun sag doch endlich, was du weißt!“

„Sieh her, kleine Doro! Der Wirbel für die vier Lebensalter ist das Symbol für die Sturmjägergarde von Saitan-Heten. Du hast also nicht nur irgendwen zu deinem Geliebten gemacht, sondern den General einer der höchsten Drachenreiterinstitutionen“, erzählte ihre Tante beeindruckt.

„Was? General der Sturmjägergarde?! Oh, Ismira!“, quiekte Dorothea bloß und sank erschrocken in ihrem Stuhl zurück.

„Es kommt noch schöner: Die Rautenform wird für die Garden in Saitan verwendet, du bist also schon am richtigen Ort. Dein Drachenreiter ist also General der Sturmjägergarde von Saitan und somit der zweithöchste Drachenreiter Saitan-Hetens“, führte Pilea ihre Analyse fort und lächelte. Natürlich würde diese Frau diese Entwicklung über alles lieben! Das war eines der gewaltigsten Abenteuer, die man als Frau erleben konnte: Die Ehre, das Bett mit einem Drachenreiter zu teilen, war schon riesig. Wie groß wäre der Ruhm dann, wenn herauskäme, dass eben dieser Ritter General der ranghöchsten Sturmjägergarde war? Oh ja, ihre Tante liebte solche Sachen. Aber Dorothea war angesichts des Erfahrenen sprachlos und das nicht von der positiven Sorte. Wie jedes Mädchen hatte sie sich erträumt, einen Mann zu treffen, sich in ihn zu verlieben, ihn zu heiraten, weil die Gefühle auf gegenseitiger Basis beruhen und mit ihm glücklich bis ans Ende ihrer Tage zu leben – und natürlich viele Kinder zu haben.

Was passierte aber, wenn dieser Traummann plötzlich in einem der gefährlichsten Berufe des Landes agierte, ständig in Lebensgefahr war und sogar darin umkommen konnte? Was passierte, wenn dieser Mann sie vom gesellschaftlichen Status und Rang um Wellen übertraf und sie keine Möglichkeit hatte, überhaupt an ihn heranzukommen, weil er in einem Sperrbezirk lebte? Außerdem würde kein Mensch von klarem Verstand ein Bauernmädchen neben einem adeligen Drachenreiter sehen wollen – das wäre Gotteslästerung! Ihr Traum zerplatzte wie eine Luftblase im Wasser. Einfach so.

„Schöner Fang“, kommentierte ihre Tante die Tatsache, dass Dorothea mit einem solchen Mann angebändelt hatte. Doch allein der Gedanke daran war nun unerträglich und sie schämte sich dafür, überhaupt davon geträumt zu haben, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Er wäre nicht in der Lage, sie zu akzeptieren und sie würde es nicht übers Herz bringen, ihn auf ihre Stufe hinabzuziehen. Nein, das durfte sie nicht. Dafür war er viel zu wertvoll.

Bei diesen Gedanken schossen ihr die Tränen in die Augen und sie ließ ihren Kopf auf den Tisch plumpsen. Mit den Armen überm Kopf versuchte sie ihr Schluchzen zu unterbinden, versagte aber kläglich, als ihr wieder einmal ein Bild des Drachenreiters in den Sinn kam. Ihre Erinnerungen an ihn waren kaum verschwommen, sie hatte schon immer ein gutes Gedächtnis gehabt, daher schmerzte es umso mehr. Es war ein Bild an sein schlafendes Gesicht, nachdem sie sich geliebt hatten und kurz bevor sie eingeschlafen war. Er war so unglaublich schön gewesen! Wie hatte sie je glauben können, dass seine aristokratischen Gesichtszüge nur die Liebe zu ihr beinhalteten?

Pilea nahm ihre Nichte in den Arm und lächelte traurig. Sich hin- und herwiegend, summte sie ein beruhigendes Lied in der Hoffnung, dass die Tränen des jungen Mädchens bald versiegen und ein Lächeln über das junge Gesicht huschen würde.

„Meine kleine Dorothea, was hält das Leben nur für dich bereit?“, fragte sie leise, doch in ihrer Stimme schwang nicht nur Mitleid sondern auch Belustigung mit. Sanft streichelten die Hände ihrer Tante über ihren Kopf.

„Pilea-sitoka, was würdest du jetzt tun?“, fragte Dorothea mit tränenerstickter Stimme.

„Ich? Ich bin ein Mensch, der alles aus dem Bauch heraus entscheidet, ohne viel darüber nachzudenken – mein Handeln geschieht rein impulsiv. Meine Entscheidungen fälle ich nach Lust und Laune, aber ich habe mein Schicksal schon immer selbst in die Hand genommen. Ich werde dir kaum gescheite Ratschläge geben können außer diesem einen: Tu, was du nicht lassen kannst. Das hat schon meine Mutter immer gesagt und ich gebe es an dich weiter. Für Menschen wie uns beide ist das wohl das Beste!“, sagte Pilea mit einer festen Stimme – sie schien wirklich daran zu glauben.

Obwohl sie immer noch weinte, musste Dorothea aufgrund dieser Tatsache doch lachen:

„Du bist verrückt.“

„Verrückt aber glücklich, Schätzchen! Und das ist, was zählt, nicht wahr?“
 

Am Mittag des fünften Figan, einen Tag nach der Bestrafung, wachte Vlaindar aus seinen Fieberträumen auf und fühlte sich wie neugeboren. Sein Rücken pulsierte nicht mehr so unangenehm durch die Schmerzen und er hatte auch nicht mehr das Gefühl, in Watte eingepackt zu sein.

„Shiarireyliar?“, fragte die Stimme eines Mannes von rechts und Vlaindar drehte seinen Kopf zu ihm herum. Er lag immer noch auf dem Bauch, aber er konnte sich wieder bewegen, was für ihn einer gewaltigen Erleichterung gleichkam.

„Geht es Euch gut?“, erkundigte sich der Sprecher nach seinem Befinden. Nachdem Vlaindar einige Male geblinzelt und seine Augen an das Licht gewöhnt hatte, erkannte er nun auch den Besitzer der Stimme: Traen, der Erzpriester des Hohen Tempels von Saitan.

„Traen-sorar“, flüsterte er und schämte sich seiner krächzenden Stimme.

„Das ist doch immerhin schon besser als zuvor“, meinte dieser bloß und lächelte von seinem Platz am Fenster, auf dem am Vortag der König gesessen hatte, zu ihm hinüber. Vlaindar lächelte und drehte sich vorsichtig auf den Rücken. Als er weder durch die Bewegung, noch durch das Niederlegen auf den Wunden Schmerzen verspürte, atmete er erleichtert ein.

„Die Heiler haben ganze Arbeit geleistet und das die ganze Nacht durch. Ich darf erwähnen, dass es Euch nicht sehr gut ging.“

„Das habe ich mir schon gedacht“, antwortete Vlaindar und lächelte schwach.

„Es sind keine Narben zurückgeblieben und das muss schon was heißen! Der Folterknecht hat seine Arbeit sehr zufriedenstellend erledigt. Schade, dass es nicht immer so zuverlässige Menschen gibt“, meinte Traen und konnte das bittere Lachen nicht unterdrücken, das sich nach seinen Worten hervorquetschte. Vlaindar verstand den trockenen Humor des Priesters und schmunzelte.

„Ich glaube, das liegt daran, dass nicht jeder Mensch seinen Lieblingsberuf ausführt. Vielleicht hatte mein Henker bloß Glück? Ich kann gut beurteilen, dass er in seinem Element zu sein schien. Es hat ziemlich geschmerzt!“

Traen lachte und erhob sich, bevor er zum Bett herüber kam und sich auf den Hocker neben das Kopfende setzte. Dort angekommen meinte er:

„Dann lasst uns hoffen, dass Ihr nicht noch einmal das Privileg erhaltet, seine vorzügliche Arbeitsausführung an Euch auszuprobieren. Ich habe mir Sorgen gemacht. Ihr hättet Soireyliar sehen müssen, mein Guter. Ich habe ihn noch nie so aufgewühlt erlebt.“

„Das hätte ich mir denken können. Der arme Mann. So etwas von ihm zu hören, schmerzt“, erwiderte Vlaindar und dachte an seinen Mentor. Ruiyans Frau war sehr früh gestorben – soweit Vlaindar aus Gerüchten erfahren hatte sogar beinahe direkt nach der Hochzeit. Es war eine Liebesehe gewesen, was in Adelskreisen noch heute eine Seltenheit darstellte. Die Beiden hatten geheiratet, ohne die Zustimmung ihrer Familien zu bekommen, weil die junge Frau damals schon schwer krank gewesen war und man ihr kein langes Leben prophezeite. Genau so war es auch geschehen.

„Ihr wisst, wie er reagiert, wenn ihm nahe Menschen verletzt werden“, stimmte Traen ihm zu. Anscheinend hatte auch der Erzpriester an diese Begebenheit gedacht. Eine Weile saßen beide so schweigend und in ihren Gedanken versunken nebeneinander, jeder hing in anderen Erinnerungen, bis schließlich Traen wieder das Wort ergriff. Ein Glitzern in seinen Augen verriet seine Neugierde:

„Aber sagt mir, mein guter Mann, warum seid Ihr nun bestraft worden?“

Vlaindar seufzte ob des Gesichtsausdrucks. Traen liebte Gerüchte. Er würde sie nie weitererzählen, wenn er keinen guten Grund dafür fand und dann auch nur unverfälscht, wie er sie gehört hatte, dennoch mochte Vlaindar die bloße Vorstellung nicht, dass so jemand über sein Geheimnis verfügte.

„Ehrlich?“

„Ja, ganz ehrlich – oder soll ich raten?“, gluckste der Mann belustigt. Lieber die Wahrheit weiterverbreiten als eine ausgedachte Sache. Wer weiß, was Traen für Fantasien hegte?!

„Erinnert Ihr Euch an das Gespräch, das wir vor gut drei Jahren geführt haben?“, begann Vlaindar.

„Welches im Besonderen? Es gab viele“, erwiderte Traen bloß und lächelte zufrieden.

„Na ja, über meinen Zölibat … Ihr wisst schon“, meinte Vlaindar vage und sah das Erinnern in Traens Augen aufblitzen. Das Gespräch würde der Erzpriester nie vergessen – nie!

„Ach, das!“

„Genau“, stimmte Vlaindar zu. Traen wusste wahrscheinlich sofort, was nun folgen würde und lächelte daher auf die hinterhältigste Weise, die ihm ermöglicht war – es sah eher belustigt aus, als er verstand, worum es ging.

„Ich sehe, worauf das hier hinausläuft.“

Vlaindar lächelte schwach und legte seine linke Hand über sein Gesicht, um sein vor Scham errötetes Gesicht zu verstecken. So offen über diese Liebesbeziehung zu reden, war etwas befremdlich. Doch Traen lachte laut und schlug begeistert mit einer Hand auf die Schulter seines Freundes – in seinen Augen ein schelmisches Glitzern.

„Sieh an, sieh an. Kein Wunder, dass Hairima vor belustigtem Schnauben das Heu in ihrem Stall angezündet hat!“, rief er aus.

„Nicht ehrlich?!“, stieß Vlaindar entsetzt vor Scham hervor.

„Doch, doch! Wenn ich es Euch doch sage! Als Palinor und Keoran sie befragten … Es ist einfach so passiert! Die Novizen haben tagelang gelacht, weil es wohl so komisch ausgesehen haben muss, dass niemand mehr an sich halten konnte!“

„Oh, nein! Ismira, hilf!“, stöhnte Vlaindar und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. So vornübergebeugt in seinem Bett sitzend, schwelgte er plötzlich wieder in den Erinnerungen an die Tage mit dieser jungen Frau. Hairima schien ihm seine Gedankengänge wieder geöffnet zu haben und hatte ihm wohl auch die Erinnerungsblockaden genommen. Dorothea war wieder bei ihm.

„Wir sind allein, Shiarireyliar“, flüsterte Traen neben ihm und Vlaindar wusste, warum der Mann ihm das nun erzählte.

„Traen-sorar! Was hätte ich denn tun sollen?! Plötzlich überkam es mich einfach!“

„Ich verstehe. Und –“, doch bevor er weitersprechen konnte, unterbrach der Drachenreitergeneral ihn:

„Versteht doch! Sie ist so schön und lieblich und … Ich kann es nicht beschreiben! Ganz plötzlich! Ganz plötzlich habe ich mich in unbekanntem Terrain wiedergefunden und wusste nichts Besseres, als mich an sie zu halten! Ich konnte einfach nicht aufhören! Mein ganzer Fokus lag nur noch auf ihr, so sehr ich all die anderen um mich herum liebe – die Königsfamilie, meine Garde, meinen Drachen, meine Freunde, einfach alle –, ich kann mich nicht mehr davon losreißen!“

„Ruhig, Shiarireyliar, ruhig! Atmet tief durch!“, befahl Traen ihm mit seiner sanften Stimme und Vlaindar tat, wie ihm geheißen. Als sein Gefühlsausbruch abgekühlt war, fühlte er sich seltsam frei, so als hätte er eine Last abgelegt.

„Ich habe es Euch prophezeit, nicht wahr? Wie drückte ich es damals aus? Ah, genau! ‚Es ist nicht so, wie du denkst. Es ist intensiver, ergreifender, mitreißender als jedes Gefühl, das du kennst. Niemand wird dir beistehen, wenn du zum ersten Mal verstehst, was es heißt, zu lieben. Glaube mir, du weißt es jetzt nicht, weshalb du es leichtfertig abtust, aber du wirst es nie wieder missen wollen.‘ Ich erinnere mich sehr genau an meinen Ratschlag. Es scheint wahr geworden zu sein“, sagte Traen und lächelte mitfühlend aber auch stolz. Es war, als würde er Vlaindar sagen, dass er etwas richtig gemacht hatte und ihn dafür loben.

Der Drachenreitergeneral konnte nicht anders, er musste einfach lachen – keine trockene, bittere Lache. Eine fröhliche, erleichterte Lache. Seine Erheiterung sprudelte aus ihm heraus, wie Wasser aus einem Springbrunnen. Traen hatte Recht! Er hatte Recht behalten! Vlaindar konnte es nicht fassen, wie einfach es ihm nun fiel, die Worte des Erzpriesters zu akzeptieren, obwohl er sie damals noch vehement bestritten hatte. Dieses Gefühl war unersetzbar, unteilbar, unzerstörbar, unverbesserlich und unmöglich! Er konnte es nicht abtun, es war ein Teil von ihm – gerade erst geweckt, aber es war schon immer in ihm gewesen. Jetzt, da er es freigesetzt hatte, wollte er es auch nicht mehr abgeben. Es musste um jeden Preis beschützt werden!

Mit einer Hand auf seiner Brust schwelgte er in den Erinnerungen an diese Frau und genoss den Augenblick, in dem niemand ihn zur Rechenschaft zwang, niemand ihm versuchte, seine Liebe zu nehmen. Sein Herz klopfte wie wild und ein Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen.

„Wenn Ihr weiter so dümmlich grinst, verratet Ihr Euch noch“, warnte Traen ihn noch, bevor der Besucher sein Zimmer verließ und ihn allein ließ. Vlaindar lachte darüber und zog dann die Knie an die Brust – mit der einen Hand über seinem Herzen und der anderen um seine Beine geschlungen, legte er sein Kinn auf die Knie und schloss hingebungsvoll die Augen.

Wie ein kleiner Junge saß er in seinem Bett, mit leicht erröteten Wangen und kostete den neuen Geschmack aus – es war eine Entdeckungsreise, die er langsam angehen musste, um jede ihrer Facetten in sich aufzunehmen. Er würde nicht versuchen, zu verstehen, warum gerade diese junge Frau seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog oder wie das Ganze funktionierte. Es war tatsächlich das erste Mal, dass er die Zügel aus der Hand legte und sich treiben ließ, keine Kontrolle ausübte. Doch es gefiel ihm und er spürte, dass es richtig war.

Schon oft hatte er von seinen Kollegen gehört, dass, wenn sie sich verliebten, plötzlich nichts Anderes mehr wichtig war außer dieser einen Person. Dass sich plötzlich alles nur noch um diese Person drehte und der Drachenreiter ihr bedingungslos gehorchte. Genauso fühlte sich nun auch Vlaindar, der wusste, dass es zwar nicht vorteilhaft für seine Karriere war, weil er einer im Grunde ‚unwichtigen‘ Person seine ganze Loyalität schenkte, der sich davon aber nicht beunruhigen ließ. Nein, alles war richtig. Es gehörte so. Es war einfach richtig so!

‘Ach, Kleiner‘, summte ihm seine Drachendame zufrieden in die Gedanken und er lächelte. Auch sie hatte schon lange akzeptiert, dass Vlaindars Herz nun einem anderen außer ihr gehörte. Doch das schien sie nicht zu beunruhigen, denn sie wusste, dass keiner die magische Verbindung zwischen ihnen lösen konnte.

‘Hairima, ich liebe dich‘, flüsterte er und merkte, wie eine weiche Note in seine Züge schlich.

‘Ich weiß, mein Kleiner, ich dich auch. Aber vergiss nicht, dass du sie mehr liebst – in gewissen Maßen‘, erwiderte sie neckisch und er lachte leise.

‘Ich liebe dich, aber ich liebe auch sie. Nur es ist so unterschiedlich‘, meinte er und versuchte dadurch die komplizierten, verwobenen Gefühle in ihm auszudrücken. Hairima lachte.

‘Deine Liebe zu mir ist von anderer, wenn nicht sogar magischer Natur, während die Liebe zu ihr eher auf die Ur-Art zurückgeht, falls du verstehst. Die menschliche Tradition, mein Kleiner‘, erklärte sie.

‘Mit Tradition meinst du doch den Urinstinkt, oder?‘, fragte er zurück und Hairima antwortete:

‘Genau. Weil du mein Drachenreiter bist und diese Frau deine ausgewählte Partnerin, nach eben diesem uralten Instinkt, liebe auch ich sie, nur auf freundschaftlichere Weise‘, fügte Hairima an und Vlaindar lächelte.

‘Bist du nicht eifersüchtig? So ganz und gar nicht?!‘, stichelte er.

‘Und ich wollte endlich einmal ein ernsthaftes Gespräch mit dir führen!‘, schnaubte sie zurück und zog sich beleidigt aus seinen Gedanken zurück – aber auch das war nur Neckerei.

‘Verzeih.‘

‘Bring mir morgen eine saftige, fette Kuh und wir sind quitt‘, schlug ihm Hairima vor und Vlaindar lachte.

‘Fein, möchtest du vielleicht sonst noch irgendetwas? Einen Brutpartner, zum Beispiel?‘, ergab er sich ihrer Forderung und kicherte, als sie daraufhin liebevoll seinen Geist an stupste – es kam einem Rammbockangriff gleich und Vlaindar fiel zurück in die Kissen, so benommen war er. Mit einem triumphierenden Schnauben zog sie sich aus seinen Gedanken zurück und flüsterte noch:

‘Schafskopf!‘

Vlaindar lachte. Sie musste auch immer das letzte Wort haben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  freddy
2011-03-08T07:55:19+00:00 08.03.2011 08:55
er ist eeeendlich wieder wach... hach... und seine wunden heilen... und der blöde könig... hmpf... was macht der immer in seinem zimmer. wenn der jetzt kommt so nach dem motto.. "hach eigentlich mag ich dich doch, mein lieber junge... aber die strafe musste sein.. ja, ich hätte dich wahrscheinlich umgebracht, wenn man mich nicht aufgehalten hätte, aber ich mag dich doch..."... dann neeee..... XD ich mag den könig nicht :PPP

arme doro, stellt fest dass gefühlte welten zwischen ihr und vlaindar liegen XD aber das wird schon, wird schon.
nicht? ^^
*grins*

und sein drache, hairima... sie ist soooo cool XD ich will auch einen drachen!


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