Die Blätter der großen Eiche wiegten sanft im Wind. Ein Lachen drang zu ihm von der anderen Seite des Campus herüber. Es war nur noch ein leiser Laut, wie der Hauch des erfrischend kühlen Windes, der ihm nun durch das Kinnlange, hellbraune Haar fuhr und die drückende Hitze für kurze Zeit verbannte.
Er spürte, wie sich ein Schweißtropfen über seiner Oberlippe bildete und wischte ihn unwirsch mit dem Handrücken weg. Es war zu warm, eindeutig viel zu warm. Selbst im Schatten des Baumes, der auf dem Universitätsgelände wuchs und reichlich Schatten spendete.
Aber er wusste, das auszublenden. Seine geübten Augen suchten die Umgebung ab. Er brauchte ein Motiv. Ein einziges gutes Motiv. Das würde schon genügen. Doch heute schien es viel zu friedlich dafür zu sein.
Niemand tat etwas, das deutlich aus dem gewünschten Verhaltensmuster fiel. Die meisten lagen auf der Wiese, übten sich im Müßiggang oder plauderten in freundschaftlichem Ton miteinander.
Alles war normal, nichts Besonderes. Aber sollte er etwa eine alltägliche Szene fotografieren? Niemals. Er wollte ein Motiv mit Ausdruck vor der Kameralinse haben. Nur dann würde er auch den Auslöser drücken.
Er spürte die Kamera, wie sie leicht gegen seinen Oberschenkel drückte. Die Kameratasche hatte er sich über die Schulter gelegt und eine Hand schützend darüber gelegt. Die Spiegelreflex war sein Heiligtum und das Fotografieren seine Leidenschaft. Auch wenn seine Eltern davon nicht begeistert waren und viele seiner ebenfalls studierenden Kollegen ihn deswegen kritisch beäugten- das würde ihm niemand nehmen.
Diese Sache war so persönlich. Sie gehörte zu ihm und war ein Teil seines Lebens. Niemand würde je Einblick in seine Werke erhalten, niemand jemals auch nur eine einzige seiner Fotografien sehen. Bis auf eine einzige Person…
Sein Blick schweifte noch ein Mal über den Campus und diesmal fingen seine Augen etwas ein. Er schmunzelte. Ein Motiv, das wieder einmal nur für ihn etwas besonderes sein würde.
Er holte die Kamera heraus. Sie lag sanft aber schwer in seinen Händen und seine langen Finger umspannten sie, wie einen Schatz. Das war das Gefühl, das er brauchte. Dann fühlte er sich komplett und wohl.
Er schmunzelte und pirschte sich an das Mädchen heran. Sie saß auf dem Boden und hatte den Rücken gegen die Mauer des Schulgebäudes gelehnt. Ihr kurzes blondes Haar stand in alle Richtungen ab und verlieh ihr ein verwegenes aber auch geheimnisvolles Erscheinungsbild. Kurze Hose aus Jeansstoff und schwarzes Top.
Sie war in ein Buch vertieft. Eine total zerlesene und uralte Ausgabe von Stephen Kings „Christin“. Ihr Lieblingsbuch, das wusste er. Er hob die Kamera ans Auge. Die Wand des Gebäudes bildete eine Linie, die bis zur Mitte des Fotos ging und dann durch die Ecke abbrach. So wie er stand, war diese sogar eine Parallele zu dem unteren Rand des Buches.
Er musste grinsen. Für diese Art von Bildkomposition hatte er schon immer einen instinktiven Blick gehabt. Er spannte langsam, damit sie bloß nichts mitbekam und drückte dann den Auslöser.
Nur den Bruchteil einer Sekunde nachdem die Kamera ihr typisches Summen von sich gegeben hatte, drehte das Mädchen sich um.
„Eric?“ ihre Stimme klang sanft und rein und ihr Lachen, dass sie an ihre Worte anhängte, brachte ihn zum lächeln.
„Gibt es denn noch jemanden auf dem Campus, der aussieht wie ich und wie ein Verrückter seine Kamera die ganze Zeit mit sich schleppt um nur ja kein gutes Motiv zu verpassen, Cel ?“ er zuckte mit den Achseln und hob unschuldig die Hände.
Celine stutzte kurz, schlug dann aber das Buch zu und erhob sich, nachdem sie sich kurz durch das blonde Haar gefahren war.
Eric öffnete die eben bereits gehobenen Arme nun, um sie in eine Umarmung zu ziehen und die junge Frau kam ihm noch ein wenig entgegen. Als sich ihre Lippen berührten, wurde ihm wie jedes Mal bewusst, dass ihm etwas Besseres als Cel gar nicht hätte passieren könne. Sie kannte seine Schwächen, aber akzeptierte und respektierte ihn trotzdem. Er hielt sie weiter im Arm, auch als er ihren Kuss schon lange nicht mehr erwiderte, sondern sein Kinn auf ihre Schulter legte und ihren Duft einatmete.
Auch wenn es viel zu warm war, er würde sie jetzt nicht loslassen. Eric lächelte wieder, aber dieses Mal gequält. Er begann zu bemerken, dass ihn das Motiv, das sie ihm bot, nicht befriedigte.
Celine war wunderschön und er hatte mindestens hundert Aufnahmen zu Hause, die sie in allen möglichen Situationen und Aktionen zeigte. Jedes Bild war ein Kunstwerk. Aber nicht für ihn. Für ihn war ein Bild etwas besonderes, auf dem Gewalt zu sehen war. Ob die Folge von dieser oder die Ausübung. Nur Brutalität brachte ihm das, was er wollte.
Er wusste, dass das krank war und war wenigstens froh, dass sich diese Einstellung nur auf seine Photographien bezog und sich noch nicht auf sein normales Leben ausgeweitet hatte. Zumindest noch nicht so stark. Dass er zu Aggressionen neigte war ihm bewusst, dass musste ihm niemand sagen. Aber noch hatte er sich wenigstens unter Kontrolle, wenn es um Personen ging, die ihm etwas bedeuteten.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das änderte. Doch noch behütete er das, was ihm wichtig war, wie einen Schatz. Eric bekam schon Gewissenbisse, wenn Celine nach einer gemeinsamen Nacht einen blauen Fleck aufwies. Der konnte dann auch daher rühren, dass sie sich davor an einem Tisch gestoßen hatte. Er hatte das Gefühl, immer ein Auge auf sie haben zu müssen.
So in seine Gedanken versunken bemerkte er den Studenten nicht, der im gehetzten Laufschritt auf sie zukam. Er wollte zwar nicht zu Cel und Eric, aber überquerte gerade den Campus um zu den Studentenparkplätzen zu gelangen. Als er an ihnen vorbeihastete, rempelte er dabei die blonde junge Frau so heftig an, dass es sie beinahe aus den Armen ihres Freundes riss.
Eric sah dem Mann hinterher und dieses Mal versteckte er unter seinem Lächeln den Hass und den Wunsch, dem Vorbeieilenden an den Hals zu springen, dem er nur deswegen entgehen konnte, weil Cel noch immer seine Hand hielt.