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Der Wandel mit dem Detective

von

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06. Oct. 2025 - Ema

Als ich an diesem Morgen aus dem Schlaf gerissen wurde, fühlte ich mich alt. Alt und krank. Definitiv urlaubsreif. Irgendjemand stand vor der Tür und klingelte Sturm. Ich wusste nicht, wie spät es war, nur, dass ich es letzte Nacht nicht mehr in mein Schafzimmer geschafft hatte.

Langsam quälte ich mich vom Sofa hoch und entschied im gleichen Moment, von meinem nächsten Gehalt eines zu kaufen, bei dem sich meine Wirbelsäule nicht wie eine Ziehharmonika benahm. Und falls das Geld nicht reichen sollte, würde ich einfach den Glimmerfop zwingen, mir seinen sauteuren Bürofernsehsessel zu schenken. Immerhin war es komplett seine Schuld, dass ich neuerdings übermüdet auf dem Sofa einschlief. Als ich die Tür öffnete und sah, wer davor stand, kam mir der Gedanke, dass Gavin so ziemlich an allem beteiligt schien, was mir regelmäßig den Tag vermieste.

„Ich verlange auf der Stelle, dass Sie ausziehen!“ Mrs. Oldbag schnaufte voller Inbrunst auf meiner Türschwelle. Wie schön.

„Darf es sonst noch was sein? Ein Tässchen Zucker vielleicht?“, fragte ich und beobachtete, wie sie kurz in ihrem Schimpftiradensturzflug strauchelte. Ich hätte sie gern in diesem Zustand eingefroren, denn im nächsten Moment hatte sie sich schon wieder gefangen.

„Das ist eine Frechheit! Ich werde mich bei der Hausverwaltung beschweren, darauf können Sie Gift nehmen. Nichtsahnend schalte ich die Nachrichten ein und da zeigen sie dieses pinkfarbene Pony. Der kam mir gleich so verdächtig vor. Dabei habe ich mir noch gesagt: Wendy, es kommt nicht immer aufs Aussehen an. Pah, geblendet wurde ich von meiner Menschenfreundlichkeit. An Edgey-Wedgeys verzweifeltem Blick auf der Dachterrasse hätte ich es erkennen müssen. Ich bin mir sicher, dass er diesem Satanistenmusiker bereits auf der Spur war. Wenn ich daran denke, was meinem Edgey-Poo alles hätte zustoßen können!“

Mein Handy dudelte mit dem Steel Samurai-Theme auf dem Couchtisch. Der Ritter von Neo Olde Tokyo kam mir gerade recht.

„ … Und nur, damit er die Gewissheit hat, dass ich ihm zur Seite stehen werde, habe ich ihm drei Sträuße Everlasting Lovedance zukommen lassen. Das sind ganz kostbare Herbstblumen, müssen Sie wissen, und … He, ich bin noch nicht fertig, Sie dumme Gans!“

Meine geschlossene Wohnungstür hatte mehr Geduld für ihre Empörung, die offensichtlich darauf basierte, dass sie Gavin nicht mehr ausstehen konnte. Ich löste die Steckverbindung an meiner Klingel, damit Mrs. Oldbag sich leise an ihr abreagieren mochte und ging an mein Handy.

„Skye.“

„Guten Morgen, Detective Skye. Hier spricht Oberstaatsanwältin Diane Freyer. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss Sie bitten, aufgrund der jüngsten Ereignisse zu einer Anhörung in mein Büro zu kommen.“ Mir stockte der Atem. Wieso musste ich zu einer Anhörung? Und wer war diese… Oberstaatsanwältin?

„Ich verstehe nicht ganz. Von welchem Ereignis sprechen Sie?“

„Staatsanwalt Gavin wurde vergangene Nacht unter Mordverdacht festgenommen. Hat man Sie nicht informiert?“

„Nein.“ Das ergab überhaupt keinen Sinn. War das ein billiger Scherzanruf, oder was?

„Schalten Sie die Nachrichten ein.“ Ich zögerte, zerrte dann aber meine Fernbedienung aus der Sofaritze und schaltete CNN ein. Eine Sondersendung wurde ausgestrahlt. Den Worten des Nachrichtensprechers konnte ich kaum folgen; stattdessen war ich dazu verdammt, auf das eingeblendete Bild oben rechts zu starren, das meinen Chef zeigte. Den Glimmerfop. Staatsanwalt Gavin oder nach seinem eigenen Credo: Ein berühmter Rockstar.

„Kann ich Sie in fünf Minuten zurückrufen?“, murmelte ich in mein Handy.

„Nehmen Sie sich zehn Minuten.“

Ohne ein weiteres Wort legte ich auf. Scheiße. Und durchatmen. Ich stellte den Fernseher lauter.

„ … Zum weiteren Sachverhalt bezieht Gavins Anwalt keine Stellung. Wir schalten live zum sechzehnten Bezirksgericht, wo Staatsanwalt Winston Payne gerade das Gebäude verlässt.“

Ein kleiner Mann mit schütterem Haar und Hornbrille drängte energisch Kameras beiseite, dabei schüttelte er süffisant grinsend immer wieder den Kopf.

„Kein Kommentar, hören Sie? Kein Kommentar.“

Ich wollte aber einen Kommentar, verdammt noch mal! Nach weiteren Minuten reißerischer Berichterstattung, die kaum Informationen preis gab, schaltete ich den Fernseher ab. Das kam mir alles so unwirklich vor. Gavin passte in etwa so gut in ein Mörderprofil wie das Krümelmonster zu den Weight Watchers. Doch genauer betrachtet… kannte ich Gavin überhaupt nicht. Ich arbeitete erst seit einer Woche mit ihm zusammen (auch wenn die Zeit mit ihm alles andere als kurzweilig gewesen war…). Was wusste ich schon, was hinter dieser aufgeblasenen, glimmerösen Fassade tatsächlich lauerte? Ich brauchte Informationen fernab der Boulevardmedien. Natürlich hätte ich diese Oberstaatsanwältin befragen können, aber mir fiel eine weitere Quelle ein, die ich mühelos ausquetschen konnte. Ich wählte die Nummer vom Distrikt und nach dem zweiten Klingeln nahm Gumshoe ab.

„Ich nehme an, du weißt Bescheid.“ Er klang bedrückt.

„Ja, aber genau genommen-“

„Schätze, damit bist du vorerst an den Schreibtisch getackert. Vielleicht bindet dich Staatsanwalt Gavins Nachfolger wieder in die Ermittlung ein. Der Fall wurde vorerst zurück gestellt.“ Das ging schnell.

„Inspektor Gumshoe, ich-“

„Passt gar nicht zu ihm, wenn du mich fragst. Der Junge machte immer so ’nen gewissenhaften Eindruck auf mich.“

„Sie müssen mir helfen!“, bellte ich und in meiner Dringlichkeit klang ich vielleicht etwas zu aufgeregt.

„Klar, schieß los. Aber eins sag’ ich dir, Mädchen. Wenn du auch vorhast, jemanden mit Pralinen zu vergiften, werde ich dir nicht als Handlanger dienen!“

Vergiftete Pralinen?

„Gavin hat jemanden vergiftet?“

„He, ich dachte, du wüsstest Bescheid. Falls nicht, sag ich kein Wort mehr. Ist alles streng geheim.“ So geheim, dass es für eine Sondersendung auf CNN reichte. Obwohl sie nicht sehr informativ war, so viel musste ich zugeben. Ich musste es schaffen, Informationen aus Gumshoe heraus zu kitzeln. Ein Sache kam mir jedenfalls merkwürdig vor: Wie konnte so schnell die Substanz identifiziert werden, mit der das Opfer umgebracht worden war? Auf die Schnelle fiel mir nur eine Möglichkeit ein.

„Wenn ich mich recht entsinne, war es eine Cyanid-Vergiftung.“ Ich tat einfach so, als wüsste ich Bescheid. Einen Giftmord im Labor nachzuweisen, dauerte seine Zeit, aber Cyanid hatte die Eigenschaft, dem Blut seines Opfers eine helle kirschrote Farbe zu verpassen. Bestätigungstests waren hierfür zeitaufwändig, aber eine Cyanidvergiftung war so eindeutig, dass man für die Ermittlung den toxikologischen Befund nur pro forma einholte.

„Er hat sie eiskalt vergiftet mit dem Zeug. Erst diese Studentin, die angeblich seine Freundin gewesen sein soll. Und dann der missglückte Anschlag auf Oberstaatsanwältin Freyer. Letztendlich musste ihr Gärtner dran glauben, weil er die Pralinen gegessen hatte.“

Gavins Freundin. Vielleicht war er mir nicht sonderlich sympathisch, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass das seine bevorzugte Art war, Beziehungen zu beenden. Ebenso versuchte ich mir gerade einen Reim auf seine Beweggründe am versuchten Freyer-Mord zu machen.

„Welche Motive lastet man Gavin an?“

„Das weiß keiner so genau. Außer Payne vielleicht.“

Wenn es nicht mal ein offensichtliches Motiv gab, noch nicht mal eines, das auf einem dummen Gerücht basierte, wieso ging der Verdacht so schnell auf Gavin? Ich seufzte.

„Dann werde ich ihn selbst fragen müssen.“

„Wen – Staatsanwalt Gavin? Schlag dir das aus dem Kopf, Mädchen. Der darf höchstens mit seinem Anwalt sprechen und wenn du-“

„Tut mir leid, ich muss auflegen“, sagte ich hastig, weil mein Handy meldete, dass ein weiterer Anrufer in der Leitung war. Ich drückte Inspektor Gumshoe weg und nahm das andere Gespräch entgegen.

„Ich wollte Sie gerade zurückrufen“, log ich in den Hörer.

„Können Sie es einrichten um zwölf Uhr in mein Büro zu kommen?“

„Ich werde kommen, allerdings möchte ich vorher mit Staatsanwalt Gavin sprechen.“

Die Oberstaatsanwältin schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Ich fürchte, das kann ich nicht erlauben.“ Wieso nicht?!

„Bitte, ich muss dringend mit ihm sprechen. Nur zehn Minuten.“

„Ich sehe Sie um zwölf Uhr in meinem Büro, Detective.“

Dann legte sie einfach auf. Was zur Hölle war hier eigentlich los? Ich fühlte mich wie ein unmündiges Kind und entwickelte spontan den Wunsch, diese dumme Kuh von Oberstaatsanwältin zu fragen, mit welchem Recht sie mir verbot mit Gavin zu sprechen.

Recht oder Unrecht, das ist egal. Sie macht ihren Job.

Es war, als ob Lanas Stimme in meinem Kopf mit mir schimpfte.

Das letzte Mal, als ich die Untersuchungshaft betreten hatte, war ich sechzehn Jahre alt und an meiner Seite Phoenix Wright. Wie einfach wäre es jetzt in die Kanzlei Wright&Partner zu spazieren und ihn zu bitten, alles wieder in Ordnung zu bringen.

Was soll er in Ordnung bringen, Ema?

Ja, was eigentlich?

Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war fast neun Uhr. Mit dem Bus würde ich fünfzehn Minuten bis zur Strafanstalt brauchen, vielleicht auch zwanzig. Ich hörte auf wie eine Irre durch mein Wohnzimmer zu tigern und fasste mir an den Kopf. Ich hatte nicht wirklich vor, auf gut Glück zur Strafanstalt zu fahren, wenn mich niemand zu Gavin vorlassen würde? Es war schlichtweg hirnrissig, doch welche Alternative hatte ich denn, außer däumchendrehend meine Anhörung abzuwarten? Während ich dabei war Handy, Schlüssel und den Restbestand Snackoos in meine Tasche zu verfrachten, machte ich mir noch einmal bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, was ich hier tat und obendrein eine Antwort zu einer Frage suchte, die ich nicht einmal genauer spezifizieren konnte.

Noch nicht.

Im Bus versuchte ich die Fakten in meinem Kopf zu sortieren. Gavin wurde des Mordes verdächtigt. War er schuldig? Unklar. Der Zeitpunkt? Auf grausame Weise ungünstig.

Die Ermittlung in Fresno hatte uns zu dem Namen James Lowery geführt. Ich wiederum hegte seit kürzerem den Verdacht, dass unser Mörder im Hiller-Fall Möglichkeiten hatte, die Ermittlung zu verfolgen. Es lag auf der Hand, dass er uns einen Strich durch die Rechnung machen wollte, aber das passte nicht zu all der Vorsicht, mit der er bislang vorgegangen war. Dann hätte er gleich einen weiteren Liebesbrief verfassen können:

Hallo, ich bin James Lowery und Sie sind mir soeben auf die Schliche gekommen. Auf ein erfolgreiches Gegeneinander und viel Glück bei der weiteren Ermittlung.

Oder so ähnlich.

Vielleicht war es auch Viola Cadaverinis Art, Gavin mitzuteilen, dass sie es nicht begrüßte, wenn er sie als Mörderin im Hiller-Fall in Erwägung zog. Klang ganz plausibel, selbst ohne Beweise. Oh, und obendrein fand ich es angebracht in Paranoia auszubrechen – wer wusste schon, ob auf mich nicht auch noch eine Abstrafung wartete.
 

Der Bus hielt etwa dreihundert Meter von der Strafanstalt entfernt, aber was ich von hier aus erkennen konnte, entmutigte mich auf der Stelle: Eine riesige Menschenansammlung tummelte sich vor dem Gebäude, bestehend aus Fotografen, Fernsehcrews, lautstark protestierenden Fans und eine beträchtliche Anzahl gaffender Passanten.

Die Hälfte des Weges legte ich noch zurück, dann hielt ich inne.

Munch. Munch. Munch.

Ich ließ mich auf einen Bordstein sinken und versuchte durch die Menschen hindurch zu starren, um wenigstens den Besuchereingang ausmachen zu können.

Munch. Munch. Munch.

Die Leute drängelten. Aus verschiedenen Ecken ertönten schlachtrufähnliche Gesänge von Gavins zahlreichen Fans. Ein Durchkommen war schier unmöglich. Da hätte selbst den Steel Samurai das Grauen gepackt.

Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch.

Slurp.

Munch. Munch. Munch.

Sluuuuuuuuuuuuuuuurp.

Munch.

Sluuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuurp.

Wie in Zeitlupe neigte ich meinen Kopf zu einem durchsichtigen Plastikbecher mit einer Restpfütze rosafarbener Flüssigkeit. Am Strohhalm dieser akustischen Nervtirade nuckelte… ein Kasper im Maßanzug, Justin Case.

„Ihr Jojo war mir sympathischer.“

Case umklammerte mit Daumen und Zeigefinger seinen Nasenrücken.

„Eiskalt. Farblich ein Spektakel, aber bissig im Genuss. Hüten Sie sich vor Slushies.“

„Weshalb trinken Sie es dann?“

„Ich bin süchtig danach.“

Er nahm sich die Zeit einen nahestehenden Papierkorb anzupeilen. Und traf. Kein Kunststück, denn heute war es ausgesprochen windstill. Das Anpeilen wiederum hatte etwas Raubkatzenartiges und mir drängte sich der Verdacht auf, dass Justin Case ohne Publikum den Becher höchst zivilisiert im Papierkorb versenkt hätte.

Beim wiederholten Anblick der drängelnden Masse fand ich, dass meine Ratio weiß Gott hätte lauter brüllen können, als ich beschlossen hatte zur Strafanstalt zu fahren. Ich versuchte mich daran zu erinnern, weshalb ich mit Gavin sprechen wollte. Wenn er des Mordes verdächtigt wurde, dann war das tragisch, aber war das wirklich mein Problem?

Munch. Munch. Munch.

Gott verdammt, ja war es! Ich hatte noch keinen stichhalten Beweis, aber all das musste mit dem Hiller-Fall zu tun haben. Genau jenem, dessentwegen ich schon nach wenigen Tagen hoffnungslos überarbeitet war. Und den ließ ich mir jetzt nicht mehr wegnehmen.

„Das ist etwas für echte Profis, Ema Skye.“

Ich wusste nicht, was mich mehr aufregte. Sein Grinsegesicht so dicht über meiner Schulter, was obendrein ein Déjà-vu an meinen ersten Arbeitstag mit Gavin auslöste, oder die herablassende Nuance in seiner Stimme.

„Was soll das Theater?“

Er imitierte Töne, die Quizshowteilnehmern um die Ohren gehauen wurden, wenn sie die falsche Antwort gaben.

„Sie sind eine miserable Spielerin. Versuchen Sie es noch einmal.“

Ich presste die Kieferreihen fest aufeinander.

„Ziehen Sie eine Karte.“ Auf seiner ausgestreckten Handinnenfläche lag eine einzige Karte. Der Joker. Wieso überraschte mich das nicht?

„Darf man nicht normalerweise zwischen mehreren Karten wählen?“

„Schon wieder spielen Sie miserabel.“

Das Spiel war mir zu dumm. Ich erhob mich wortlos; gleichzeitig griff Case nach einem Aktenkoffer, der wohl die ganze Zeit hinter mir gestanden hatte, ohne dass es mir aufgefallen war.

„Na schön“, schnaubte ich. „Wie komme ich da rein?“

Auf die Antwort war ich gespannt, auch wenn er mich anscheinend nur veralbern wollte.

„Ziehen Sie den Joker.“

Ich nahm ihm die Karte ungeduldig aus der Hand.

„Klavier Gavin nutzt stets den Backstage-Eingang. Warum tun Sie es ihm nicht gleich?“ Sollte das jetzt der ultimative Geheimtipp gewesen sein?

„Begleiten Sie mich ein Stück.“

Hmpf. Als Frage hätte mir die plumpe Aufforderung besser gefallen. Meine Füße hatten nichts zu beanstanden, denn im nächsten Moment trabte ich Case auch schon artig hinterher. Sein Weg führte ein ganzes Stück an der Menschenhorde vorbei und erst, als wir um die Ecke bogen, sah ich die Pforte, welche inmitten der gewaltigen Mauern lächerlich klein wirkte.

„Meekins.“

Ich zuckte hinter Case’ Schulter zusammen, weil mir eine jaulende Sirene fast das Trommelfell zerfetzte.

„Mr. Case, Sir! Gelöst. Ich hab’s endlich gelöst!“

Meekins schlug mit der Faust in die offene Hand. Diese Geste kannte ich irgendwoher, genau wie sein Gesicht und die Sirene. Meekins, Meekins… Woher nur?

„Hatten Sie Spaß?“, fragte Case und es klang gelangweilt. Er stellte seinen Aktenkoffer auf das am Pförtnerhaus befestigte Brettchen.

„Und ob. Schau mir ins Gesicht. Die Dreizehn findest du dort nicht. Ein schwieriges Rätsel, Sir.“

Case entnahm seinem Aktenkoffer einen Umschlag und legte ihn ins Pförtnerhaus.

„Ein Bittbrief von Viola Cadaverini für die Angelegenheit um Miguel Cadaverini.“

Meekins wirkte für einen Moment vor den Kopf gestoßen, öffnete dann aber den Umschlag um den Brief zu lesen.

Schau mir ins Gesicht. Die Dreizehn… fast hätte ich laut aufgelacht. Durch das Schiebefenster konnte ich allein zwei Digitaluhren im Inneren des Pförtnerhauses ausmachen. Ich fragte mich, wie lange dieser arme Tropf über das Rätsel sinniert hatte.

„In Ordnung, Mr. Case. Ich öffne die Schleuse.“

Case verneigte sich dezent und nahm Violas Brief wieder an sich. Gemeinsam wandten wir uns dem Tor zu. Ein kaum sichtbarer Spalt hatte sich geöffnet, als mich das Jaulen der Sirene von hinten überrollte.

„HAAALT!!“

Ich musste dem Drang widerstehen meine Hände wie ein frisch ertappter Schwerverbrecher an den Hinterkopf zu legen.

„Und ich hatte schon fast den Glauben an unsere Justiz verloren“, sagte Case. Im Gegensatz zu mir lächelte er spitz und drehte sich zurück zum Pförtnerhaus. „Ja, Meekins?“

„Sie da!“ Das galt wohl mir. „Sie… Sie müssen sich ausweisen. Wir haben hier strenge Vorschriften.“

So streng konnten die nicht sein, wenn er meine Anwesenheit erst jetzt bemerkte. Ich kramte meinen Dienstausweis hervor.

„Also, äh, Detective… Skye. Was soll ich sagen, Sie… SKYE?! Yowowowowowowow!!“

Was zum-?! Versuchte der sich gerade mit dem Lanyard seines Funkgeräts zu strangulieren?

„Meekins, Sie beeindrucken mich. Kaum den Namen gesehen und schon schlussfolgern Sie auf Generalstaatsanwältin Skye.“

„Oh, äh, danke Sir, ich… GENAU! Die Generalstaatsanwältin war’s!!“

In diesem Moment wurde mir alles ein bisschen zu viel. Wieso wusste Case über meine Schwester Bescheid? War er ein mieser Schnüffler, oder was? Andererseits hatte wohl jeder Anwalt schon einmal vom SL-9 Fall gehört. Und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mike Meekins. Natürlich. Der unglückselige Typ, der wegen der SL-9 Neuverhandlung unverschuldet in der Strafanstalt gesessen hatte. Kein Wunder, dass seine Synapsen bei dem Namen Skye höchste Alarmstufe generierten. Auch wenn Case dem Ganzen unbedingt nachhelfen musste.

„Lana Skye ist meine ältere Schwester.“

Die Generalstaatsanwältin ließ ich weg, denn das war sie seit neun Jahren nicht mehr. Und Skye hieß sie auch nicht mehr, aber das war eine andere Geschichte.

„In welcher Angelegenheit sind Sie hier?“, fragte Meekins misstrauisch. Ich hatte das blöde Gefühl, dass Ich muss mit dem Glimmerfop sprechen kein Anliegen war, mit dem ich hier so einfach durchspazieren konnte.

„Miguel Cadaverini vermisst seine Verlobte schmerzlich.“ Seine was?! „Sie kennen die Cadaverinis. Sehr familienorientiert.“

Case schnalzte mit der Zunge, während Meekins hart schluckte.

„D-Dann sollte sie den Besuchereingang nehmen, oder nicht?“

„Unter normalen Umständen sollte sie das, aber ich schätze, das wird heute ein schwieriges Unterfangen bei all den Pilgern, die den Besuchereingang wegen des prominenten Neuzugangs belagern.“

„Ich bin mir sicher, sie wird es schaffen.“ Meekins wirkte kein bisschen überzeugt von seinen Worten, aber sie ließen keinen Zweifel zu, dass er mich die Schleuse nicht passieren lassen würde. Ich vernahm ein resigniertes Seufzen von Case und sah, wie er sich abwandte.

„Verstehe. Haben Sie Dank. Falls wir uns nicht mehr sehen, werde ich stets an Sie gedenken, wenn ich eine Uhr erblicke.“

„Yowowowowowowowowowowow!!“

Meekins stürzte fast aus dem Pförtnerhaus bei dem Versuch, Case an den Schultern zu umklammern.

„Mr. Case, Siiir!! Sie wollen mich an die Familie verraten?!“

„Ich bitte Sie. Werfen Sie einen Blick nach links zur Straße. In dem blauen Wagen mit den abgedunkelten Scheiben sitzen zwei Cousins von Viola Cadaverini, die sich davon überzeugen möchten, dass Miguel noch heute seine Verlobte zu Gesicht bekommt.“

Tatsächlich stand so ein Wagen am Straßenrand. Ich hätte schwören können, dass es genau jener war, mit dem Case mich nach der Befragung im Cadaverini-Anwesen in die Stadt mitgenommen hatte.

„Das heißt, wenn sie draußen bleibt…“

„Es könnte sein, dass Sie in nächster Zeit über Schlafstörungen und Magenkrämpfe klagen und versucht sind, nicht ohne Begleitung durch die Straßen zu gehen. Vielleicht überprüfen Sie mehrmals täglich die Bremsen an Ihrem Fahrrad. Aber seien Sie unbesorgt. Meistens verlieren die Cadaverinis das Interesse nach vier bis sechs Jahren.“

Ganz langsam ließ Meekins von Case ab. Er war kreidebleich.

„Ich schätze, in dem Fall mache ich eine Ausnahme. Schon die zweite heute.“

„Was meinen Sie?“, fragte ich.

„Vor zehn Minuten kam Detective Crescend vorbei. Er sagte, dass er mich mit seinem Jahresvorrat Haarspray einsprüht und anzündet, wenn ich ihn nicht durchlasse.“

„Öffnen Sie die Schleuse, Meekins.“

Ich blieb noch einen Augenblick stehen und sah in das bedröppelte Gesicht des Pförtners. Bei dem Gedanken, dass man diesen Mann ziemlich leicht dazu zwingen konnte, gegen seine Arbeitsmoral zu verstoßen, fragte ich mich, ob ich zukünftig die Wahl hatte, eine Menge heiße Luft zu produzieren oder diese einzuatmen.

Hinter der Schleuse lag ein Weg aus Streusand, umgeben von gelblichem, schlecht gepflegtem Rasen. Ich wusste erst nicht, weshalb ich so schnell lief, denn Case hatte es nicht eilig. Dann fiel mir ein, dass ich hier nicht mit dem Glimmerfop Schritt halten musste, also mäßigte ich mein Lauftempo etwas.

„Danke, dass Sie mir helfen, Mr. Case, aber warum tun Sie das?“

„Bedanken Sie sich nicht. Sie sind noch lange nicht durch.“

Richtig. Ich erinnerte mich an den gemeinsamen Besuch mit Phoenix Wright vor neun Jahren. In dem Gebäude, auf das wir gerade zugingen, musste ich meine nicht vorhandene Besuchererlaubnis vorzeigen.

„Das ist vollkommen idiotisch.“ Case drehte sich zu mir herum, weil ich stehen geblieben war.

„Sie geben auf, Ema Skye?“

„Vielleicht war es einfach Meekins zu verschaukeln, aber die Beamten da drin werden von mir eine Besuchererlaubnis sehen wollen. Die kann ich schlecht herbeizaubern.“

„Das dachte ich mir“, erwiderte Case mit einer Mischung aus Blasiertheit und Langeweile. In seiner Hand lag das Jojo. Er spielte nicht damit, sondern balancierte es gedankenverloren auf seinen Fingerkuppen. „Sie sind fürs Denken begabt. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen weiterhelfen muss.“

„Und Sie sind erstaunlich gut informiert für jemanden, der offiziell als nicht involviert gilt, Mr. Case.“

„Es war Ihr Partner, der mich als Involvierten gekennzeichnet hat. So lange Klavier Gavin glaubt, Viola als Hauptverdächtige brandmarken zu können, glaube ich nicht, dass sich mein Interesse am Fall mindern wird.“

Case war also auch zu der Erkenntnis gelangt, dass die Anschuldigung gegen Gavin in direktem Zusammenhang mit dem Hiller Fall stand. Ich kannte ihn nicht lange genug, um abschätzen zu können, welchen Vorteil er daraus zog, mir zu helfen, aber ich war mir sicher, dass er es nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit tat.

„Im Moment darf wohl niemand mit Gavin sprechen, außer seinem Anwalt“, erinnerte ich mich laut an Gumshoes Worte. Das Jojo kam ins Rollen und rotierte knapp über dem Boden in einem Leerlauf.

„Grundsätzlich ist der große, böse Wolf nicht der Beamte, der Ihre Besuchererlaubnis sehen möchte. Sie müssen am Staatsanwalt vorbei.“

„Soll ich Payne mit Wein und Kuchen bestechen, damit ich in Rapunzels Turm darf, oder was?“

„Winston Payne ist ein zahnloser Wolf, den Sie in keinster Weiser beachten müssen. Konzentrieren Sie sich auf die Alphawölfin.“

„Oberstaatsanwältin Freyer.“

Das Jojo schnappte zurück in Case’ Hand und verschwand anschließend in seiner Hosentasche.

„Erraten.“

Case wusste nicht, dass ich zu einer Anhörung geladen war. Wieso nur wurde ich das Gefühl nicht los, dass er Schnüfflerqualitäten besaß, die mir kein bisschen geheuer vorkamen?

Ich dachte an das Handy in meiner Tasche und daran, dass ich es gar nicht richtig versucht hatte.

„Etwas Zerstreuung?“, fragte er freundlich. Ich blickte zu Case auf, der wiederum amüsiert auf mich hinab sah.

„Bitte?“

„Ob Sie Zerstreuung mögen.“ Wieder mal brannte mir die Frage auf den Lippen, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Das Gleiche galt für mich, sofern ich vorhatte, mich weiter mit ihm zu unterhalten. Case öffnete seinen Aktenkoffer und gab mir zwei Tageszeitungen, die ich mehr aus Reflex entgegen nahm. Dann wies er auf das vor uns liegende Gebäude.

„Wenn wir langsam gehen, wird es etwa zwei Minuten dauern, bis wir die Tür erreicht haben. Sie dürfen mir noch eine Frage stellen und ich werde sie beantworten. Sobald wir durch die Tür sind, bin ich nur noch Miguel Cadaverinis Strafverteidiger. Wählen Sie Ihre Frage klug, Ema Skye.“

Eine Frage. Ich fing an das Papier in meinen Händen zu kneten, als ich sah, wie Case sich in Zeitlupentempo auf die Tür zu bewegte. Das Ganze glich einem Schreittanz und es fehlte nicht viel, dass ich in meinem Kopf eine alberne Pirouette visualisiert hätte. Ich folgte ihm und zermarterte mir das Hirn über eine beschissene Frage, die ich ihm stellen konnte. Eine zu Gavins mysteriöser Verhaftung konnte ich mir sparen, denn die konnte ich nur klären, wenn ich es schaffte, eine Besuchszeit zu ergattern (denn ich war mir nicht mal sicher, ob man mir später in der Anhörung meine Fragen beantworten wollte). Also konnte ich ihn genau so gut zu seiner Lieblingssportmannschaft befragen oder welche Sendungen er im Fernsehen mochte oder welche politische Einstellung er hatte oder…

„Weshalb arbeiten Sie für die Cadaverinis?“ Im ersten Moment wollte ich mir vor die Stirn hauen, weil Case diese Frage mit einem Halbsatz abfertigen konnte. Aber nun hatte ich sie gestellt und wenn ich ehrlich war, interessierte es mich wirklich. Mir fiel erst jetzt auf, dass Case abrupt stehen geblieben war und was sich in seiner Mimik spiegelte, überraschte mich. Es schien, als wären seine Lachmuskeln mit Gift injiziert und lahm gelegt worden. Übrig waren nur die spitze Kontur seines Gesichts und diese unfassbar dunklen, leblosen Augen, deren Pupillen ich noch immer nicht ausmachen konnte.

„Was glauben Sie, weshalb ein Gepard eine Gazelle reißt?“

„Weil er Hunger hat.“

„Warum frisst er dann kein Aas?“ Case mit seinem hüpfenden Jojo war mir lieber als jener Case, der heute nur mit Metaphern um sich schmiss und ich bereute, dass ich nicht einfach nach seinem Lieblingssport gefragt hatte.

„Weil ein Gepard ein Raubtier ist und es in seiner Natur liegt Beute zu reißen“, erwiderte ich genervt. „Sie wollen mir nicht ernsthaft erzählen, dass Sie sich Ihr Schicksal nicht selbst ausgesucht haben?“

Leben kehrte in sein Gesicht zurück, so theatralisch, dass das immer spitzer werdende Grinsen zu einer skurrilen Fratze heranwuchs.

„Ein Gepard ist ein Gepard. Das ist alles. Bitte nach Ihnen, Ema Skye.“

Case zog die Tür auf. Ich war noch nicht ganz über die Schwelle getreten, als mir das Gebrüll einer schneidenden Stimme um die Ohren flog.

„Das, was ihr hier treibt, ist gegen die Menschheit! Ich bin sein bester Freund und er hat das Recht mich zu sehen. Und jetzt lasst mich endlich durch, ihr Pisser!“

„CRESCEND! Halt die Luft an und scher dich hier raus oder ich reiße dir deinen gottverdammten Arsch auf!“

Ich hatte einen Vorraum betreten und sah, dass Gavins merkwürdig frisiertes Accessoire dabei war, sich mit einem Beamten anzulegen, der groß und breit wie ein Mammut war und dessen Gesicht an eine riesige Scheibe Rote Bete mit Schnurrbart erinnerte. Vielleicht hätte ich in Gegenwart dieses Hünen meine Klappe nicht so weit aufgerissen, aber mich genau so weit wie Crescend zurückgebogen, wenn sich so jemand vor mir aufgebaut hätte.

„Ganz cool, Mann. Kein Grund zum ausrasten. Soll ich dir ’nen Kaffee holen?“

Zur roten Gesichtsfarbe des Beamten gesellten sich immer größer werdende weiße Flecken.

„Ich hol dir einen“, entschied Crescend kurzerhand. Kaum hatte er dem Koloss den Rücken zugewandt, verdrehte er die Augen und stiefelte mit riesigen Schritten auf einen Getränkeautomaten zu.

Pling. Eine Münze rollte über den Boden direkt vor Crescends Füße. Er verzog angewidert die Mundwinkel, sobald er sah, aus welcher Richtung sie kam.

„Dir ist was aus der Tasche gefallen, du Witzpille“, giftete er Case an.

„Wollen Sie nachsehen?“

Crescend schlenderte augenscheinlich gelassen zu uns hinüber, doch etwas in mir wäre gern einen Satz zurück gesprungen.

„Ich kann dich nicht leiden, Casey. Und dich auch nicht, Skye.“ Ich hätte gern erwidert, dass es mir vollkommen egal war, aber seine aufdringliche Aggressivität verschlug mir die Sprache. Zumal das auch die ersten Worte überhaupt waren, die er an mich gerichtet hatte. Case lachte leise, aber voller Heiterkeit.

„Autsch. Ihre Giftpfeile treffen mich tief. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Ich hab dich im Auge, Mann. Du und deine dreckige Sippschaft habt doch eure Finger im Spiel. Sollte sich rausstellen, dass Klavs Verhaftung auf euer Konto geht, mach ich jeden einzelnen von euch kalt.“

Case schürzte die Lippen, als müsste er Crescends Worte genauestens abwägen.

„Ich werde Ihre Grüße an die Familie ausrichten. Genießen Sie den Tag, Daryan Crescend.“

Ich hätte nicht gedacht, dass in mir einmal der Wunsch aufkäme, Case zum Bleiben überreden zu wollen. Als er mit seinem Aktenkoffer davon schlenderte und den Beamten weiter hinten schriftliche Dokumente vorlegte, fühlte ich mich auf eine blöde Art allein gelassen.

„Ich weiß, was du vorhast. Ich sag’s dir lieber gleich: Keine Chance.“

Case hatte gesagt, dass ich an dieser Oberstaatsanwältin vorbei musste. Ich hatte ihr nicht wirklich erklärt, weshalb ich mit Gavin sprechen wollte, nur dass ich… es musste. Nicht sehr überzeugend.

Ich drehte mich von Crescend weg, der mich abfällig musterte und ging zurück vor die Tür. Die Luft war feucht; ich roch noch immer den Regen, der gestern über L.A. herein gebrochen war. Hinter einer geschlossenen Schleuse, inmitten von Mauern, stand ich und obwohl ich wusste, dass ich nicht gefangen war, konnte ich mich nicht von dem Gefühl befreien, keinen Schritt vorwärts machen zu können.

Etwas in meinen Gedanken blitze auf. Schimmerndes, mit Stolz poliertes Metall. Er hatte nie aufgegeben, weil er nicht aufgeben konnte. Phoenix Wright hatte selbst dann noch um meine Schwester gekämpft, als sie ihr Bestmöglichstes tat um sich mit den damaligen Falschanschuldigungen selbst zu geißeln. Und wenn ich genauer darüber nachdachte, hatte ich damals auch nicht aufgeben wollen. Mit einem Male sah ich mein sechzehnjähriges Selbst vor Augen, mit dem unerschütterlichen Glauben an die Unschuld meiner Schwester.

Ich nahm das Handy aus meiner Tasche und auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es doppelt so schwer wog wie sonst, wählte ich entschlossen die Rufwiederholung.

„Sechzehntes Bezirksgericht, Diane Freyer.“

„Detective Ema Skye hier. Ich wollte mich erkundigen, weshalb ich zu einer Anhörung vorgeladen werde, mit der ich ganz offensichtlich nicht in Verbindung stehe.“

Ich war verblüfft, welch eisigen Klang meine Stimme annehmen konnte.

„Ihre Frage ist berechtigt, Detective. Ich möchte Sie anhören, weil Sie diejenige sind, welche Staatsanwalt Gavin in den vergangenen Tagen aus unmittelbarer Nähe erlebt hat.“

Unmittelbare Nähe… PFFF. Als ob ich je die Alternative gehabt hätte, den Glimmerfop auf größtmöglichen Abstand zu bekommen.

„Ich will an dieser Stelle betonen, dass Staatsanwalt Payne es nicht für nötig erachtet, dass Sie vorsprechen. Mir sind die Differenzen zwischen Ihnen und Staatsanwalt Gavin nicht entgangen, aber ich halte es für unklug, Ihre Eindrücke außer Acht zu lassen.“

Verdammt. Auf eine unwillkommene Weise fühlte ich mich gebauchpinselt.

„Sie sind nicht wirklich von seiner Schuld überzeugt“, mutmaßte ich.

„Darüber kann ich nicht urteilen.“

„Das kann ich auch nicht. Und alles, was ich zu sagen habe, gründet auf einem Verdacht, den ich in keinster Weise beweisen kann.“

„Von welchem Verdacht sprechen Sie?“

„Der Louis Hiller-Fall ist viel zu dicht an Gavins Person geknüpft. Erst gestern haben wir einen möglichen Tatverdächtigen identifiziert, von dem ich glaube, dass er ein persönliches Motiv gegen Gavin führt. Ich bitte Sie. Es ist lächerlich, wie schnell der Giftmordverdacht auf ihn gefallen ist.“

„Und was erhoffen Sie sich von mir?“

„Ich muss Staatsanwalt Gavin selbst befragen. Erst dann kann ich Ihnen eine hilfreiche Antwort in der Anhörung geben.“

Sie schwieg. War das ein gutes oder schlechtes Zeichen? Es war jedenfalls kein gutes Zeichen, dass ich mich mit meinem Versprechen gewaltig aus dem Fenster lehnte.

„Bitte. Mir reichen wenige Minuten. Sie können auch selbst dem Gespräch beiwohnen“, versuchte ich sie zu überzeugen.

„Wie weit haben Sie es bis zur Strafanstalt?“, fragte sie schließlich. War ich tatsächlich dabei die unüberwindbare Mauer zu durchbrechen?

„Ich bin vor Ort.“ Sie seufzte genervt auf.

„Gedulden Sie sich ein paar Minuten. Ich werde telefonisch eine Sondererlaubnis anordnen.“

Ich hatte es geschafft?!

„Ich… wow… Vielen Dank“, stammelte ich in einen Anflug von Verlegenheit.

„Geben Sie dem Pförtner am Personaleingang Bescheid, damit er Sie durchlässt.“

„In Ordnung.“ Mike Meekins war dem Ganzen schon unfreiwillig zuvor gekommen, aber ich hielt besser die Klappe, bevor ich seinen Job und meine hart erkämpfte Besuchererlaubnis riskierte.

„Viel Erfolg.“

Ich schob das Handy in meine Hosentasche und der Mut hatte mich wieder eingeholt. Wenn ich Pech hatte, lieferte mir das Gespräch mit Gavin keinerlei Erkenntnisse, keinen Fortschritt und überhaupt eine faustdicke Blamage bei der Oberstaatsanwältin, aber ich war schon zu weit gekommen um zurückrudern zu wollen.

Im Vorraum stand Crescend an die Wand gelehnt, nippte an einem Plastikbecher und traktierte die Rote Bete mit bösen Blicken. Die Zeitungen zerknitterten zunehmend in meiner linken Hand; wenn ich nicht aufpasste, ruinierten meine verschwitzten Hände die Lesbarkeit. Case hatte sie mir nicht zufällig gegeben, dessen war ich mir sicher. Als ich auf der Titelseite der gestrigen L.A.Times Gavin in Begleitung einer jungen Frau sah, fühlte ich mich bestätigt.

War das Gavins besagte Freundin? Ich überflog den Artikel. Davon abgesehen, dass haufenweise Worte für die Spekulation um einen Schnappschuss verschwendet worden waren, hatte ich nicht den Eindruck, dass Gavin diese Vivian Alvarado besonders lange gekannt hatte. Es war lächerlich, wie viel Aufhebens um ein Foto und zwei Namen gemacht wurde. Ich schlug die zweite Zeitung auf; es war die heutige Ausgabe der L.A. Times. Gavins Verhaftung kam wohl zu spät für die Schlussredaktion, denn ich fand keinen zwanzigseitigen Sonderbericht. Beim weiteren Durchblättern fragte ich mich, ob das für Case eine Art Suchrätsel darstellen sollte, denn von Gavin war in diesem Blatt keine Spur. Dann fand ich doch etwas im Kulturteil über eine Wohltätigkeitsveranstaltung, die gestern stattgefunden hatte. Das zugehörige Bild erinnerte ein wenig an ein Familientreffen: Die Gebrüder Gavin waren nur durch die Farbe ihrer Smokings zu unterscheiden und an der Brille, die Kristoph Gavin auf der Nase trug. Die Frau neben ihnen war ebenfalls äußerst blond, äußerst hübsch und mir kein bisschen bekannt, bis ich die Bildunterschrift las: Diane Freyer.

Ich fragte mich, was es mit dieser Verbindung wohl auf sich hatte.

„Ema Skye?“, rief jemand durch den Vorraum. Ich sah hinüber zu dem großen Beamten mit dem Schnurrbart, der mit einem Telefonhörer am Ohr akribisch den Raum sondierte. Seine Gesichtsfarbe hatte mittlerweile von Roter Bete zu Erdbeerjoghurt mit Sahne gewechselt, aber ich hätte schwören können, dass sein Schnurrbart anfing zu zittern.

„Ich wiederhole: Detective Ema Skye.“ Ich meldete mich zögerlich und mit gekrümmtem Zeigefinger. Mit dem Kopf deutete er mir näher zu kommen, gleichzeitig hörte ich, wie ein Plastikbecher zornig zusammengedrückt wurde.
 

Eine halbe Stunde später saß ich hinter der Glasscheibe auf der Besucherseite. Eine Beamtin hatte mich hierher gebracht und mich gebeten zu warten. Ich hatte das Unmögliche geschafft und konnte dennoch meine innere Anspannung nicht abschütteln. Mir klingelte immer noch Crescends Gezeter in den Ohren. Er hatte sich entsetzlich darüber aufgeregt, wie unfair es sei, dass ich zu Gavin vorgelassen wurde, während er dazu verdammt war, nach Informationen zu lechzen. Im Anschluss hatte er mich mit Botschaften für den Glimmerfop bombardiert.

„Und sag ihm, dass ich hinter ihm stehe und ihn da raushole, notfalls mit Gewalt“, hatte er mir mit wichtiger Miene erklärt und mir war nichts anderes übrig geblieben, als seine Worte einfach abzunicken.

Jetzt wartete ich darauf, dass die Tür auf der anderen Seite aufging. Wenn ich daran dachte, dass Gavin mir gestern noch in einem Café gegenüber gesessen, den Klugscheißer gespielt und sich über mein Essverhalten lustig gemacht hatte, oder dass wir überhaupt stundenlang nebeneinander im Auto gesessen hatten. Und mit einem Mal galt er als potentiell gefährlich. Das war absurd.

Ich begann fortwährend auf meine Uhr zu starren, weil sich so gar nichts im Raum bewegen wollte. Der Minutenzeiger war gerade zum neunten Male vorgerückt, als die Tür endlich aufging. Ein untersetzter, stämmiger Wärter führte Gavin hinein und mit Erleichterung stellte ich fest, dass er keine Handschellen trug. Als er zum Tisch trat und sich dabei die Handgelenke rieb, erkannte ich, dass sie ihm draußen abgenommen worden waren. Er sah deutlich mitgenommen aus. Keine Schatten unter den Augen, aber die gavinische Haarpracht lag jenseits der Glimmerösität. Sein Lächeln wirkte abgekämpft. Wahrscheinlich hatte man ihn stundenlang verhört.

„Sie machen keine halben Sachen, Fräulein Skye. Wie haben Sie das fertig gebracht?“

„Kinderspiel“, sagte ich matt lächelnd. „Ich soll Sie von Crescend grüßen.“

„Darf ich annehmen, dass er die wachhabenden Beamten drangsaliert?“

„So in etwa.“

Um Gavins Mundwinkel zuckte es und fast hätte es zu einem Lächeln gereicht, da lehnte er sich zurück und sagte leise: „Richten Sie ihm bitte aus, dass es mir gut geht, ja?“

Ich nickte.

„Kann Ihr Anwalt etwas erreichen?“

„Kristoph prüft derzeit die Indizien, die gegen Paynes Anschuldigung sprechen.“

„Sie lassen sich von Ihren Bruder vertreten?!“

„Ich lasse mich vom besten Strafverteidiger vertreten, den diese Stadt zu bieten hat.“ Ich fragte mich, weshalb er nicht Phoenix Wright beauftragte, aber ich hielt mich zurück, denn es war Gavins gutes Recht, sich seinen Verteidiger selbst auszusuchen.

„Haben Sie schon eine Vermutung, wer Ihnen das in die Schuhe schieben will?“

„Weshalb sind Sie davon überzeugt, dass ich es nicht getan habe?“

Ich konnte seine Verbitterung wegen der üblen Situation verstehen, aber jetzt war wirklich der falsche Zeitpunkt, meine Loyalität zu hinterfragen. Immerhin hatte ich den Entschluss gefasst, an Gavins Unschuld zu glauben.

„Jemand wie Sie würde glasklare Spuren hinterlassen. In Ihrem Fall Glitzerstaub, ein goldenes Haar oder eine Parfumwolke.“

Gavin mühte sich ein Lächeln ab. Mit den Gedanken schien er jedoch woanders zu sein.

„Diane Freyer hat mich zu einer Anhörung geladen.“ Bildete ich mir das ein oder bebte da etwas in Gavin; eine Art Bestie, die in einen viel zu kleinen Käfig gesperrt war?

„Mr. Gavin?“

„Sie hätte tot sein können. Genau wie dieses Mädchen.“

„Sie meinen Vivian Alvarado.“

Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, durch sein Haar und hielt inne, sobald er den Kopf in den Nacken gelegt hatte.

„Ich kannte sie kaum. Es war ein One Night Stand. Wäre diese Belanglosigkeit nicht in den Medien thematisiert worden, hätte ich nicht einmal ihren Namen gewusst.“ Bloß keine peinlichen Details, dachte ich im ersten Moment, aber Gavin war vermutlich auch nicht scharf darauf, sein Liebesleben auszuwerten. Er musste es. Wenigstens bestätigte sich meine Vermutung, wonach Gavin dieses Mädchen kaum gekannt hatte und in Folge dessen kaum ein plausibles Mordmotiv entwickeln konnte. Ein eifersüchtiger Exfreund oder durchgeknallter Gavinners-Fan kam schon eher in Frage. Ich legte beide Ausgaben der L.A. Times auf den Tisch.

„Sie wurden abgelichtet. Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen jemand gefolgt ist?“

„Ich weiß es nicht. Mir fahren ständig irgendwelche Leute hinterher, dass ich gar keine Notiz mehr davon nehme.“

„Ihr Motorrad fällt auf, Mr. Gavin. Es ist… lila.“

„Die Auffälligkeit meines Bikes kann dazu geführt haben, dass jemand mit Leichtigkeit Vivian Alvarados Adresse heraus bekommen konnte. Den Namen hat die Presse nachgeliefert. Aber was ist mit Diane Freyer? Offiziell besteht keine Verbindung zwischen mir und ihr.“

Ich blätterte zum Bild der Wohltätigkeitsveranstaltung vor und hielt es gegen die Glasscheibe.

„Scheinbar haben Sie Ihre Hausaufgaben gemacht, Fräulein Skye“, bemerkte Gavin stirnrunzelnd und mit einer Spur Ärgernis in der Stimme. „Leider muss ich Sie enttäuschen. Vor drei Tagen habe ich Blumen an Diane Freyer schicken lassen. Auf diesem Wege sind die vergifteten Pralinen in Ihren Besitz gelangt.“

„Vielleicht hat Sie jemand im Laden belauscht, als Sie die Bestellung aufgegeben haben?“

„Ausgeschlossen. Ich habe alles von meinem Handy arrangiert.“ Somit verkleinerte sich der Kreis der Verdächtigen massiv. In Frage kamen nur noch Angestellte des Floristen, eventuell ein Bote… oder jemand, der es fertig brachte, Gavin zu überwachen.

„Auf die Idee, dass jemand Ihr Handy verwanzen könnte, sind Sie nie gekommen, oder?“

Ich hatte keine Ahnung, weshalb ich mich so darüber freute sein breites, selbstgefälliges Grinsen zu sehen. Vielleicht, weil mir ein wenig der Glitzergavin fehlte.

„Fräulein Skye, ich bin eine sehr begehrte Persönlichkeit. Ich führe mit meinem Handy eine Zwangsehe, ja? Glauben Sie ernsthaft, ich würde es gedankenverloren irgendwo-“

Gavin stutzte – wieso? Dann ging plötzlich alles ganz schnell. RUMS! Der Tisch auf seiner Seite war gut einen Meter gegen die nächste Wand geflogen. Bevor ich mir erklären konnte, woher er so viel Kraft nahm, lag Gavin am Boden. Er wehrte sich nicht, als der Wärter ihm die Handschellen anlegte.

„Ihr Gespräch ist vorbei, Gavin. Zurück in die Zelle.“

„Officer, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nicht Ihr ganzes Gewicht auf mich stemmen würden“, erwiderte er gequält.

„Mr. Gavin!“ Hilflos starrte ich durch die Glasscheibe auf ihn hinab. Weshalb hatte er so plötzlich die Fassung verloren?

„Das Bike! Eine Wanze, ein Sender, irgendwas in der Richtung. Ich hab die Bestellung gemacht, als ich auf meiner Vendetta saß.“

Und wahrscheinlich war er auch mit dem Motormonster unterwegs, als er Vivian Alvarado bei sich hatte. Mich überkam leichte Panik, als der Wärter Gavin zur Tür zerrte.

„Wo steht das Teil?“

„In meiner Tiefgarage. Fragen Sie Daryan.“

Das Herz wummerte mir an den Brustkorb, die Rippen entlang und nahm auch noch den Weg aufwärts zu meinem Hals. Die Tür war zu und Gavin nicht mehr zu sehen. Ein kleiner Teil von mir war froh darüber, denn für einen Augenblick hatte er mir wirklich Angst gemacht, trotz Glasscheibe und Wärter. Ich kannte Gavin gerade eine Woche, aber bislang war ich mir ziemlich sicher gewesen, dass er zu den Menschen gehörte, die wohl niemals die Beherrschung verloren. Vermutlich wäre ich an seiner Stelle schon viel früher ausgeflippt.

Die Vorstellung, dass vielleicht schon seit einer halben Ewigkeit so ein Ding an dem Motorrad klebte, kam einer Katastrophe gleich.
 

Ich holte gerade meine Tasche aus dem Schließfach der Sicherheitsschleuse, als mir einfiel, dass ich gar keine Möglichkeit hatte, Gavins Motorrad zu inspizieren. Selbst wenn Crescend mir verriet, wo Gavin wohnte, konnte ich wohl kaum ungestört herum schnüffeln. Ich war mir sicher, dass Payne Gavins Wohnräume von der Polizei auf den Kopf stellen ließ. Ob sie auch die Tiefgarage in Beschlag genommen hatten, musste ich heraus finden, wenn ich von der Anhörung zurück war – meine Uhr sagte mir, dass ich nur noch eine halbe Stunde hatte. Ich hielt Ausschau nach Crescend, als ich in den Vorraum zurückkehrte.

Wie bestellt und nicht abgeholt lehnte er mit verschränkten Armen an derselben Wand. Die Rote Bete hatte es noch immer nicht geschafft ihn rauszuschmeißen, aber das war auch ganz gut so. Sobald Crescend mich erspäht hatte, stieß er sich von der Wand ab und eilte auf mich zu.

„Was hat er gesagt? Geht’s ihm gut? Behandeln sie ihn anständig?“

Ich deutete ihm, mir nach draußen zu folgen. Er trottete mir wie ein treudoofer Köter hinterher.

„Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es eine Art Wanze an Gavins Motorrad“, erklärte ich etwas atemlos. „Jemand sollte sich das Ding ansehen. Das Ganze ist dringend und ich muss gleich zu einer Anhörung wegen Gavins Verfahren.“

„Ich mach’s.“

„Danke. Das Motorrad steht in seiner Tiefgarage. Weißt du, wo ich das Büro von Oberstaatsanwältin Freyer finde?“ In meiner Schusseligkeit hatte ich vergessen zu fragen, wo sich ihr Büro überhaupt befand.

„Die Freyer sitzt im Bezirksgericht. Ich fahr dich schnell hin.“ Obwohl Crescend mich nach wie vor beäugte, als sei ich ein widerliches Insekt, war ich erstaunt, wie kooperativ er sich geben konnte, wenn es um Gavin ging.

Als wir uns der Schleuse näherten sah ich, wie Mike Meekins sich im Pförtnerhaus abduckte. Kaum, dass wir über die Straße gegangen waren, drehte ich mich noch einmal herum und konnte zumindest ein Stück seiner Mütze nach oben wandern sehen. Insgeheim wünschte ich ihm ein paar Wochen Urlaub.

Crescend fuhr einen breiten Chevrolet, der Gavins Motormonster in Sachen Albernheit gehörig Konkurrenz machte. In den Farben blau, weiß und schwarz bildete der Wagen ein weit aufgerissenes Haimaul. Als ich die Beifahrertür öffnen wollte, fuhr Crescend mir dazwischen.

„Fick dich, Skye. Du sitzt hinten.“

„Vorne sitzt niemand.“ Ich sah nur einen Gitarrenkoffer, der – warum auch immer – angeschnallt war und genau so gut im Kofferraum Platz gefunden hätte.

„Bist du blind? Das ist Geeters Platz.“

Großartig. Ich hatte keine Lust mit einem Idioten zu diskutieren, der seiner Gitarre einen Namen gab und ihr den Beifahrersitz reservierte. Etwas widerwillig schmiss ich mich auf die Rückbank. Mit den Gedanken war ich ohnehin bei der Anhörung, sodass ich beschloss Crescend einfach auszublenden. Das funktionierte so lange, bis er losfuhr. Falls ich je geglaubt hatte, dass Gavin der mieseste Fahrer Kaliforniens war, wurde ich gerade eines besseren belehrt – Crescend fuhr wie ein gestochenes Pferd. Er wechselte innerhalb weniger Sekunden mehrmals die Spur, ignorierte zwei Rote Ampeln und bog mit angezogener Handbremse und völlig überhöhtem Tempo in die Kurven, dass die Reifen qualmten und der Wagen ausscherte. Dazu grölte er aus vollen Lungen Sweet Child O’Mine von Guns N’Roses aus dem Radio mit und versuchte sogar das Gitarrensolo stimmlich zu imitieren. Ich hoffte ernsthaft, dass er bei den Gavinners nicht die Lead Vocals inne hatte. Nach nicht einmal zwei Minuten war mir speiübel. Ich stieß einen spitzen Schrei aus, als Crescend seitwärts in eine viel zu kleine Parklücke schoss. In meiner Vorstellung hörte und sah ich Glas splittern und Airbags aufgehen. Nichts davon geschah.

„Leck mich am Arsch – zwei Zentimeter! Guck dir das an, Skye.“ Ich öffnete zaghaft meine zusammen gekniffenen Augen und sah Crescends Hintern. Mit dem Oberkörper hatte er sich aus dem Autofenster gelehnt um sein „Werk“ zu begutachten. Ich stieg wortlos und mit zitternden Beinen aus dem Wagen. Crescend fuhr an, noch ehe ich die Tür richtig zugeschlagen hatte.
 

Vor dem Büro der Oberstaatsanwältin saß ich auf einer harten Holzbank und brachte die letzten freien Minuten damit zu, meinen Restbestand Snackoos zu vertilgen und Crescend bei der Suche nach dem Wanzending mental anzufeuern. Vielleicht wollte ich mich an ein Stück Hoffnung klammern, weil mich die heiligen Hallen des Bezirksgerichts einschüchterten. Die viel zu hohen Wände mit der Kirschholzverkleidung riefen unwillkommene Erinnerungen wach. Damals nach dem Prozessausgang hatte ich nicht mehr viel mit Lana sprechen können. Sie hatte ganz kurzfristig einen Neubeginn geplant, der darin bestand, dass ich weit weg auf einem katholischen Mädcheninternat in Bristol die Schule fertig machen sollte. Sie war nicht allzu betrübt gewesen, als ich vorgeschlagen hatte meine Ausbildung in London zu absolvieren. Während meiner Abwesenheit hatte sie Jake Marshall geheiratet und mit ihm zwei Töchter in die Welt gesetzt, die ich zwei Mal während der Frühlingsferien zu Gesicht bekommen hatte. Jeden Januar bekam ich von den beiden eine merkwürdig bekritzelte Geburtstagskarte zugeschickt. Etwas in mir rüttelte an meinem Gewissen, dass es doch nett war, wenn zwei kleine Mädchen mir eine Freude machen wollten. Der andere, wesentlich größere Teil von mir konnte Kinder nicht ausstehen, insbesondere dann, wenn sie mich Tante Ema nannten.

Gerade war ich von der Holzbank aufgestanden um zu testen ob die schwerfällig aussehende Bürotür der Oberstaatsanwältin meine Klopfversuche akustisch verschlucken würde, als selbige aufgedrückt wurde.

„Detective.“

Diane Freyer empfing mich mit einem verhaltenen Lächeln und einem äußerst sanften Händedruck. Ich musste mir verkneifen, sie von oben bis unten zu mustern. Sie war auffallend hübsch mit ihrem dunkelblonden Haar und den zarten Gesichtszügen, die wohl nur bei einer Puppe ebenmäßiger sein konnten. Ich ging durch die Tür und stellte fest, dass wir nicht allein waren. In einer dunkelbraunen Ledersitzgruppe erkannte ich Winston Payne, der viel kleiner und schmächtiger wirkte als heute Morgen im Fernsehen. Etwas abseits in einem Sessel saß Kristoph Gavin. Ich betrachtete kurz die Teetasse vor Payne auf dem Couchtisch – Gavins Bruder wiederum nippte sein Wasser wie einen erlesenen Wein. Ich verstand diese Gelassenheit nicht. Dass Payne zugegen war, sollte mich nicht verwundern, aber dass Kristoph Gavin offenbar Zeit fand eine Teestunde abzuhalten, während der Glimmerfop in einer Zelle versauerte, ärgerte mich mehr als mir lieb war. Meinem sicher fassungslosen Blick begegnete er freundlich und er erhob sich sogar, sodass ich zu ihm aufblicken musste.

„Es freut mich, Sie wieder zu sehen, Miss Skye. Auch wenn die Umstände weniger erfreulich sind.“

Kristoph Gavins herzliches Lächeln war geeignet um gefrorene Butter zu erweichen, einen Tiger handzahm zu bekommen und Atomkriege zu verhindern.

„Nehmen Sie Platz, Detective. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte Diane Freyer vom anderen Ende des Büros.

„Ein Wasser bitte“, sagte ich mit Blick auf Kristoph Gavins Wasserglas. Blubberbläschenfrei. „Mit Kohlensäure.“

Sie orderte telefonisch mein Mineralwasser und gesellte sich zu uns in die Ledersitzgruppe.

„Ich möchte betonen, dass dieses Gespräch überhaupt nicht vonnöten ist“, begann Payne. „Als erfahrener Staatsanwalt kann ich Ihnen versichern, dass alles mit rechten Dingen zugeht und die Beweise die Sachlage klar und deutlich unterstreichen.“

„Das sagten Sie bereits. Wir möchten Sie nicht von Ihrer Ermittlungsarbeit abhalten. Wenn Sie noch Angelegenheiten zu regeln haben, verstehe ich das“, erwiderte Diane Freyer freundlich, aber kühl. Payne fegte mit der Hand eine Haarsträhne hinter seine Schulter.

„Glücklicherweise pflegte ich solche Dinge schnell und präzise abzuschließen.“ Ich fand, dass seine Stimme klang, als ob man permanent auf ein erkältungsgeplagtes Meerschwein trat.

„Detective Skye, Sie haben seit Ihrem Dienstantritt vor einer Woche intensiv mit Staatsanwalt Gavin zusammen gearbeitet. Vielleicht beschreiben Sie kurz Ihre Eindrücke.“

Obwohl ich geahnt hatte, dass man mir genau diese Frage stellen würde, fühlte ich mich gerade kaum in der Lage vernünftige Sätze zu formulieren. Ich zwang mich, Diane Freyer fest in die Augen zu blicken.

„Wir haben am Hiller-Fall gearbeitet. Der Fall ist ziemlich undurchsichtig, weshalb wir noch keine großen Fortschritte erzielt haben. An Gavins Verhalten ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.“

Dass Gavin aufgeblasen und nervtötend sein konnte, schien jedenfalls nichts Außergewöhnliches zu sein. Eine junge, mollige Frau betrat mit einem Tablett das Büro. Nachdem sie es abgestellt hatte, verließ sie mit scheuem Blick prompt wieder das Zimmer. Kristoph Gavin beugte sich vor, öffnete die Wasserflasche und füllte das gebrachte Glas zur Hälfte. Ich bedankte mich kaum hörbar.

„Sie erzählten vorhin am Telefon, dass Sie einen Zusammenhang zwischen dem Hiller-Fall und Gavins Verhaftung vermuten“, fuhr Diane Freyer fort.

„Ich nehme an, dass es eine Verbindung gibt.“

„Oh, Sie nehmen es an. Ich bin mir sicher, dass Sie es auch beweisen wollen“, höhnte Payne.

Beweisen? Ich hatte keine Beweise, nur ein Wasserglas in der Hand, das ich gerade in einem Zug leerte um einen Augenblick Zeit zu schinden. Inmitten von zwei Staatsanwälten und einem Strafverteidiger fühlte ich mich wie ein Rülpser in der Sinfonie. Kristoph Gavin war so aufmerksam mein Glas nachzufüllen. Da ich nicht das Gefühl hatte auf der Gewinnerseite zu stehen, konnte ich auch gleich eine Bombe zünden.

„Ein Mann namens James Lowery hat die vergifteten Pralinen in Umlauf gebracht um Gavin zu belasten. Er ist der Tatverdächtige im Hiller-Fall.“

„Unmöglich“, quiekte Payne. „Wo sind Ihre Beweise?“

„Ich habe noch keinen Beweis. Höchstwahrscheinlich befindet sich an Gavins Motorrad ein Sender- und Empfängermodell, das es ihm ermöglichte Gavin zu überwachen. Gavin nutzt dieses Fahrzeug sehr oft, was Lowery wohl nicht entgangen ist.“

„Warum fragen wir nicht einfach Mr. Lowery?“, frotzelte Payne.

„Wir konnten ihn noch nicht festnehmen.“ Payne setzte zu einer weiteren Stichelei an, weshalb ich lauter wurde: „Detective Crescend ist auf dem Weg zu Gavins Motorrad. Ich bitte um etwas Geduld.“

„Bis dahin sehen wir uns einfach die Fakten an“, wandte Kristoph Gavin freundlich ein. Inzwischen hatte er eine Mappe auf dem Schoß zu liegen, in der er vorsichtig blätterte als handelte es sich um eine wertvolle Bücherantiquität.

„Ah ja“, säuselte er und entnahm ein einzelnes Dokument, das er vor uns auf den Tisch legte. „Die Zeugenaussage von Hillary Dixon, der Geschäftsführerin der Flowership Company. Klavier Gavin beauftragte sie am 3. Oktober 2025 gegen 11.15 Uhr mit der Auslieferung von 100 Jasmin-Blumen. Als Empfängerin gab er Diane Freyer an, des Weiteren nannte er als Lieferanschrift das Büro der Empfängerin.“

Payne unterbrach ihn. „Die Fakten sind uns allen bekannt, Mr. Gavin.“

„Ich möchte sicherstellen, dass sie von allen richtig verstanden wurden“, erwiderte er gelassen und mir entging nicht die Spitze, die er gerade versuchte in Paynes Kehle zu stoßen.

„Gegen 12.30 Uhr kehrte ein Mitarbeiter der Flowership Company mit den georderten Blumen vom Großmarkt in die Filiale zurück. Mrs. Dixon brauchte nach eigener Aussage eine halbe Stunde um daraus ein Bouquet zu fertigen. Nachdem sie gegen 13 Uhr einen Boten schickte, der das Bouquet überbringen sollte, erhielt sie gegen 14 Uhr einen Anruf, wonach der Bote überfallen wurde und jemand die Blumen mitgenommen hatte.“

Payne quiekte erneut auf. „Davon höre ich zum ersten Mal!“

„Gewiss sind es Tatsachen, die die Ereignisse in ein neues Licht rücken, Mr. Payne. Die hört man nicht so gern.“

Auf dem Schreibtisch der Oberstaatsanwältin standen zwei Vasen mit weißen Blumen, die mir auf den ersten Blick verrieten, dass sie Seltenheitswert besaßen und eine hübsche Stange Geld gekostet hatten.

„Die Blumen wurden ausgeliefert“, stellte ich nüchtern fest.

„Da hören Sie es“, sagte Payne.

Diane Freyer rieb sich in einem Anflug von Müdigkeit die Augen. „Hier stellt sich nicht die Frage, ob die Blumen ausgeliefert wurden, sondern von wem. Tatsächlich bekam ich zwei Bouquets zugestellt, von zwei verschiedenen Boten.“

„Wie…?“, begann ich, doch Kristoph Gavin hob beschwichtigend die Hand und nahm ein weiteres Dokument aus seiner Mappe.

„Ich habe Hillary Dixon ein zweites Mal befragt. Sie sagte aus, dass sie ein zweites Bouquet als Entschädigung fertigte und einen anderen Boten schickte.“

„Konnten Sie den ersten Boten identifizieren?“, wandte ich mich an Diane Freyer.

„Es war ein Mann. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Ich glaube, er trug eine Baseballmütze.“

Payne rückte fahrig seine Brille zurecht. Er schien aufgewühlt und kämpfte mit den Worten.

„Mr. Gavin, wollen Sie etwa behaupten, dass jemand den Boten niederschlug, das Bouquet stahl und somit in Klavier Gavins Namen vergiftete Pralinen an die Oberstaatsanwältin überbrachte?“

„Ich nehme an, das wäre eine vorzügliche Gelegenheit meinen Bruder zu belasten.“

„Ihr Bruder ist in jeder Hinsicht schuldig. Die Motive sprechen für sich.“

„Sie werden mir sicher erläutern, welchen Grund mein Bruder gehabt haben soll, gleich einen Doppelmord zu begehen.“

„Liegt das nicht auf der Hand? Eine unerwiderte Liebe zu dieser armen Studentin und Machtgelüste auf die Position der Oberstaatsanwältin. Ruhm und Rachegefühle haben schon so manchen in Versuchung geführt.“

Kristoph Gavin schwenkte abermals das Wasserglas in seiner Hand. Er betrachtete den Inhalt, als schwömme darin eine geheimnisvolle Amphibienart.

„Wir können von Glück reden, dass Sie bislang nur die Gelegenheit hatten, gegen meinen Bruder einen Haftbefehl einzuholen. Ich kann Ihnen nur nahe legen, nicht auch noch Anklage gegen ihn zu erheben. Andernfalls könnte der Ausgang für Sie ein unrühmliches Ende nehmen.“

„Um Himmels Willen! Sie wollen nicht ernsthaft Ihren eigenen Bruder vor Gericht vertreten?“

„Es gibt kein Gesetz, welches mir das untersagt. Davon abgesehen wird das nicht nötig sein.“

„Was erlauben Sie sich?!“

Payne schnappte nach Luft. Vielleicht stellte er sich gerade die gleiche Frage wie ich - bluffte Kristoph Gavin nur oder hatte er tatsächlich alle Zügel straff in der Hand?

„Mein Bruder ist priviligiert geboren. Darüber hinaus verfügt er über Begabungen, die ihm abseits der Gavin-Prestige beachtlichen Erfolg beschert haben. Ruhm und Anerkennung bei den Damen sind keine Dinge, nach denen er sich sehnt.“

Payne schnaubte unbeeindruckt.

„Haltlos. Diese Behauptungen sind haltlos, finden Sie nicht auch?“

Kristoph Gavins Züge wurden härter; er missbilligte Payne mit einem herablassenden Blick, der einen aufmerksamen Gesprächsteilnehmer ausdrücklich gewarnt hätte.

„Welcher Mörder schickt seinem zuckerkranken Opfer Pralinen um es zu vergiften?“

„Ich denke, kein Mörder würde so - … Was sagen Sie da?!“ Payne starrte Gavin an, wie ich mich gerade fühlte. Ich sah zu Diane Freyer, die unbeeindruckt und mit wachem Blick der Auseinandersetzung folgte.

„Sagen Sie, stimmt das?“, fragte Payne. Sie nickte.

„Mein Bruder war darüber informiert. Vielleicht haben Sie ja eine Erklärung dafür, weshalb er sie ausgerechnet mit Pralinen vergiften wollte, die sie niemals gegessen hätte?“

„Wahrscheinlich hat er es... vergessen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die gleichen Pralinen in den Besitz von Vivian Alvarado gelangten. Klavier Gavin ist der einzige Mensch, der zu beiden Personen Kontakt pflegte.“

Fast hätte ich „Überwachung!“ gerufen, doch ich konnte mich gerade noch zurück halten. Kristoph Gavin betrachtete seelenruhig seine perfekt manikürten Fingernägel.

„Der Beweis, der meinen Bruder letztendlich entlastet wird derzeit in der technischen Forensik von Mr. Filching untersucht. Ich habe hier ein Untersuchungsprotokoll, welches besagt, dass ein technisches Gerät am Motorrad von Klavier Gavin gefunden wurde, das über eine Abhörfunktion und einen Peilsender verfügt.“

Ich konnte nicht anders als mich über den Tisch zu lehnen und Kristoph Gavin das Papier aus der Hand zu reißen. Er wusste schon lange vor mir, dass Gavin überwacht worden war! Ein bisschen fassungslos las ich die Gegenzeichnung von einem Mr. Filching und... Mr. Bennett. Hmpf. Ich dachte kurz an Crescend, der mich sicher verfluchte und für dämlich erklärte, wenn er an dem Motormonster nichts finden konnte. Wenigstens hatte ich recht gehabt: Die erste, oberflächliche Idenifizierung besagte, dass es sich um ein UMTS-Modell mit einem Mikrofon handelte. Eines musste ich Gavins Bruder lassen. Er arbeitete derart schnell und gründlich, dass ich so langsam nachvollziehen konnte, weshalb Mr. Edgeworth ihn als Besten in der westlichen Region bezeichnet hatte.

„Genug!“ Payne war aufgesprungen. „Wenn Sie behaupten, dass jemand anderes die vergifteten Pralinen geschickt hat, möchte ich auf der Stelle wissen, wen Sie damit belasten wollen.“

„James Lowery vielleicht?“, warf ich ein.

„Ich habe meinen Bruder ausreichend entlastet und wenn er nicht unverzüglich aus der Untersuchungshaft entlassen wird, sehe ich mich gezwungen, andere Schritte einzuleiten.“ Die Worte galten Payne, dennoch sah Kristoph Gavin die Oberstaatsanwältin eindringlich an. Vermutlich hatte sie in dieser Sache das letzte Wort. Sie schien die Fakten einige Sekunden abzuwägen und atmete dann schwerfällig aus.

„Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Wenn Sie keinen eindeutigen Gegenbeweis vorbringen, Mr. Payne, werde ich Staatsanwalt Gavin aus der Haftanstalt entlassen.“

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Payne noch einen brauchbaren Trumpf im Ärmel hatte, dennoch pochte mein Herz vor lauter Nervosität. Nebenbei wischte ich meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab.

“Mr. Payne?“

“Nun, ich- … Unter diesen Umständen schlage ich vor, dass Mr. Gavin vorläufig entlassen wird.“

Ich atmete kaum hörbar aus. Payne wechselte einige scheue Blicke zwischen Kristoph Gavin und der Oberstaatsanwältin. „Guten Tag, Mr. Gavin. Mrs. Freyer.“

Nur ihr nickte er zum Abschied, bevor er mit langsamen, beinahe hinkenden Schritten das Büro verließ. Die nächsten Minuten war Diane Freyer damit beschäftigt, ein Schriftstück aufzusetzen, das die Freilassung des Glimmerfops erwirken sollte. Bis sie zum Hörer griff um einen Kurier zu bestellen, war es ausgesprochen still im Zimmer. Wann immer ich einen kurzen Blick auf Kristoph Gavin warf, beantwortete er meine stummen Fragen mit einem stoischen Lächeln. Ich sah es bildlich vor mir, wie er Stunden zuvor seinem Bruder seelenruhig in der Haftanstalt gegenüber gesessen hatte und ihn in ein Fragefeuer verwickelte, das alle Anhaltspunkte hervorbrachte, mit denen Kristoph Gavin jemanden wie Payne an seiner Berufswahl zweifeln ließ.

“Wo haben Sie studiert?“, platzte es aus mir heraus.

“In Stanford, Miss Skye.“

“Oh. Gut.“ Ich räusperte mich. Stanford. Natürlich. „Ich nehme an, Ihr Bruder war auch in Stanford.“

“Klavier hat ein gesondertes Ausbildungsverfahren in Deutschland absolviert.“

Hatte Mr. Bennett nicht erzählt, dass Gavin Schweizer war? Bei diesen Europäern sah wohl keiner vernünftig durch. Alle Köpfe drehten sich gleichzeitig zur Tür, weil es geklopft hatte. Herein kam ein Mann, den ich anhand seiner Uniform als Pförtner identifizierte.

„Verzeihung, Mrs. Freyer. Unten wurde eine Nachricht für Sie abgegeben mit der dringenden Bitte, sie umgehend zu lesen.“

„Danke, Mr. Parker.“

Sie öffnete den Umschlag, sobald der Pförtner die Tür hinter sich geschlossen hatte. Es konnte keine gute Nachricht sein, so wie sich ihre Brauen beim Lesen zusammenzogen.

„Detective Skye.“

Ich stand auf. Sie gab mir wortlos das Schreiben. Die fettgedruckten Buchstaben verrieten mir sofort, wer diese Zeilen aufgesetzt hatte.
 

Mit der Festnahme von Klavier Gavin haben Sie einen Ermittlungsfehler begangen. Die Cyanidvergiftungen sollten Staatsanwalt Gavin nicht belasten, sondern an seine Aufmerksamkeit für die wichtigen Dinge appellieren. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Unannehmlichkeiten bereitet habe.

Damit ausgeschlossen werden kann, dass ich ein Trittbrettfahrer bin, habe ich einen eindeutigen Hinweis in der Asbury Street für Sie hinterlassen.

Sie haben drei Stunden um Staatsanwalt Gavin aus der Haftanstalt zu entlassen. Geschieht das nicht, werde ich weitere Vergiftungen in Betracht ziehen.
 

Ich stürzte zur Tür und brüllte nach dem Pförtner.

“Wer hat diese Nachricht überbracht?”

Am anderen Ende des Ganges war er stehen geblieben. Er kam zurück und sagte:

“Ein Junge. Acht Jahre, höchstens zehn. Er sagte, es sei eine wichtige Nachricht für seine Tante.”

Er warf einen hilflosen Blick zum Türrahmen, in den sich Diane Freyer mit verschränkten Armen gelehnt hatte.

“Ich habe keinen Neffen”, stellte sie klar.

“Wie hat der Junge ausgesehen?”

“Trug ein rotes Cappi, glaube ich. Könnte auch orange gewesen sein. Hatte eine Tüte mit braunen Bonbons bei sich.”

Bonbons. Im nächsten Augenblick sprintete ich die verschachtelten Gänge des Bezirksgericht ab. Draußen schaffte ich es fast die gewaltige Steintreppe abwärts zu segeln, bei dem Versuch die Stufen in Rekordgeschwindigkeit zu nehmen. Ich musste diesen Jungen finden. Er war nicht nur mit großer Wahrscheinlichkeit gerade James Lowery begegnet. Womöglich schwebte er in Lebensgefahr!

Die Straßen waren voll mit Passanten. Ich rannte die Beverly Road westwärts ab, drehte mich nach allen Seiten nach einem rötlichen Basecap um und überlegte fieberhaft, wo der Junge hingelaufen war.

Denk nach, Ema. Denk nach.

Mit meiner dürftigen Beschreibung fragte ich ein paar Leute. Niemand hatte ihn gesehen. Verdammt. Mein Handy klingelte.

“Skye.”

“Diane Freyer. Ein Suchtrupp ist auf dem Weg. Mr. Parker erwähnte, dass der Junge einen Flyer für die Mall bei sich hatte. Eine Autogrammstunde oder etwas in der Richtung.”

“Danke.”

Ich legte auf und begann wieder zu rennen. Die ganze Zeit war ich in die falsche Richtung gelaufen. Das Beverly Center war zwar ausgeschildert, aber gut zehn Straßen entfernt. Als die Seitenstiche zunehmend beißender wurden, bereute ich zum ersten Mal, dass ich weder Auto noch Führerschein besaß.

Nach ein paar weiteren Minuten Sprint konnte ich endlich die riesige Drehtür des Einkaufzentrums aus der Ferne erkennen. Langsam aber sicher war meine Kondition am Ende. Ich war nie unsportlich gewesen, aber der Lauf hatte mich geschafft. Mir war schwindelig und ich rang nach Atem.

Am Eingang hing ein großes Plakat mit einem breit grinsenden Sal Manella, dem Regisseur der neuen Actionserie Titan Ranger.

Die Autogrammstunde mit ihm fand in einem Computerspielgeschäft statt. Dummerweise befand sich der Laden ganz oben in der fünften Etage, sodass ich beim Rolltreppenaufwärtsrennen einige Passanten beiseite schubsen musste. Die Menschenandrang oben war enorm. Eine gut fünfzig Meter lange Schlange erstreckte sich über den kreisrunden Gang. Ich begann ganz hinten nach einem roten Basecap Ausschau zu halten und wann immer ich eins entdeckte, musste ich feststellen, dass der Träger zu jung, zu alt oder zu weiblich war. Dann endlich sah ich ihn. Er stand im mittleren Drittel der Schlange und versuchte mit seinem Handy Fotos über die Köpfe der vor ihm stehenden Leute hinweg zu machen. Ich trat näher und sah in der Gesäßtasche seiner Jeans einen Flyer... und etwas, das verdächtig nach Süßkram aussah.

“He, was soll das? Lassen Sie mich los!”, protestierte er, als ich ihn aus der Schlange zog.

“Mitkommen.” Ich zerrte ihn am Oberarm etwas abseits der Leute, vor eine Drogerie.

“Sind Sie irre? Wer sind Sie?”

“Detective Skye. Ich habe ein paar Fragen an dich.”

Er betrachtete mich mit einer Mischung aus Unglaube und Trotz. Im nächsten Moment trat er mir vors Schienbein.

“Sie haben keine Waffe. Also sind Sie kein Cop. Und ich will nicht mit Ihnen reden.”

Schmerz durchzuckte mein Schienbein und ich fragte mich, ob der Knirps zu viel CSI im Fernsehen geguckt hatte. Er wandte sich von mir ab um in die Schlange zurück zu kehren. Gerade noch rechtzeitig griff ich nach der Tüte mit den Schokoladenbonbons und zog sie aus seiner Tasche.

“Das sind meine! Geben Sie die her oder ich rufe die Polizei.”

Es waren Momente wie diese, die mir vor Augen führten, weshalb ich Kinder nicht leiden konnte.

Ich hielt ihm meine Dienstmarke vor die Nase.

“Kleiner, ich bin die Polizei. Jemand hat dir heute einen Brief gegeben, den du im Bezirksgericht abliefern solltest, stimmt's?”

“Woher wissen Sie das?”

“Wer hat dir diesen Brief gegeben?” Der Junge starrte auf seine Schuhe und zuckte mit den Schultern.

“Du hast ihn von einem Mann bekommen.”

“Darf ich nicht sagen.”

“Warum nicht?”

“Er sagte, es wäre eine Überraschung. Ein Geheimnis. Und ich verrate keine Geheimnisse.”

“Finde ich gut”, lobte ich ihn scheinheilig. Er blickte von seinen Schuhen auf.

“Sind Sie hinter ihm her?”

“Ja.”

“Ist er ein Verbrecher?”

“Darf ich nicht sagen.”

“Oh.”

Ich hielt die Tüte mit den Schokoladenbonbons hoch.

“Hast du die von ihm?”

Er antwortete nicht, stattdessen flackerten seine Augen von der Tüte zu seinen Schuhen. Das war ein klares Ja.

“Ich kann dir die Bonbons leider nicht zurückgeben.”

“Die gehören mir!”

Ich konnte ihm nicht sagen, dass sie höchstwahrscheinlich vergiftet waren. Aus meiner Hosentasche fummelte ich einen Fünf-Dollar-Schein.

“Hier, kauf dir neue.”

“Sie sind ganz schön geizig. Er hat mir nen Zwanziger gegeben.”

Prompt stülpte er die Lippen nach innen, weil er das nicht hatte sagen wollen. Vielleicht war es nicht fair, seine Raffgier auszunutzen, aber es gab Momente, in denen unorthodoxe Methoden angebracht waren.

“Ich gebe dir fünfzig Dollar, wenn du mit mir aufs Revier kommst.”

“Ein richtiges Polizeirevier?”

Innerlich verdrehte ich die Augen.

“Ja.”

“Rufen Sie meine Mum an?”

“Das muss ich wohl.”

“Ich hab mein Autogramm noch nicht.”

Genervt sah ich zu der Schlange, die sich augenscheinlich noch mal verdoppelt hatte.

“Ich besorg dir eins von Klavier Gavin.”

“Der von den Gavinners? Den kennen Sie?!”

Ich hätte die Frage lieber verneint, aber wenn Gavins Name dazu führte, dass die Nervtröte endlich mitkam, konnte ich mir ausnahmsweise ein Nicken abringen.

“Meine Schwester findet den süß. Ich finde ihn scheiße”, sagte er angewidert. Sympathische Antwort. Leider kontraproduktiv. “Daryan Crescend ist cool. Kennen Sie den auch?”

“Ja. Sozusagen ein Kollege von mir.”

“Ich will später auch mal Polizist werden.”

“Na los, Kleiner. Wir gehen.”

Mit einer Hand in seinem Rücken dirigierte ich ihn zur Rolltreppe. Im Laufen versuchte ich Diane Freyers Nummer in meinem Handy rauszusuchen um einen Wagen mit Fahrer zu ordern.

“Ich heiße Matt.”

“Freut mich.”

“Krieg ich ein Foto mit Daryan?”

“Von mir aus.”

“Und Sie kennen ihn wirklich?”

“Ja.”

“Wehe, Sie schwindeln mich an.”

“Tu ich nicht.”

“Und ich krieg wirklich fünfzig Dollar?”

“Ja.”

“Fahren wir in einem richtigen Polizeiauto?”

“... Jaa.”

“Können wir die Sirene anmachen?”

“...”

“Sie müssen meine Mum noch anrufen.”
 

Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch.

Über die neuen Erkenntnisse konnte ich mich freuen oder auch nicht. Aber genau genommen traute ich ihnen nur nicht.

James Lowery hatte unvorsichtig gehandelt. Einen winzigen Teil seiner Planung hatte er dem kleinen Matt in die Hände gelegt. So wie es aussah, veränderte es alles. Matt drückte sich gerade die Nase am Snackautomat im Präsidium platt.

Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch. Munch.

In der Asbury Street hatte man eine Katze in einem Müllcontainer gefunden. Sie wurde mit Cyanid vergiftet. Wir konnten noch nicht identifizieren, wem das Tier gehörte, aber die Wahrscheinlichkeit war sehr hoch, dass es sich um die Katze von Vivian Alvorado handelte.

In ihrer Wohnung befanden sich Fressnapf, Kratzbaum und Katzenspielzeug und außerdem weiße Tierhaare. Auf den ersten Blick war es nur eine Katze, aber die Tatsache, dass James Lowery sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft hatte, gefiel mir nicht. Es musste ihm gefallen haben, die gleichen Quadratmeter abzugehen, die Gavin zuvor betreten hatte. Wie ich es vermutet hatte, waren die Schokoladenbonbons vergiftet. James Lowery hatte Matt nicht beliebig für seine Zwecke ausgewählt, dessen war ich mir sicher.

"Wann kommt meine Mum?"

Matt machte sich nicht die Mühe, von dem Süßigkeitenautomat auch nur einen Millimeter abzuweichen.

"Ich konnte noch nicht mit ihr sprechen", gab ich zu. Tatsächlich hatte ich in den vergangenen drei Stunden mehr als zehn Mal versucht sie anzurufen, bekam aber nur die Mailbox ans Ohr. Ich hatte ihr zwei Nachrichten hinterlassen. Matt zuckte mit den Schultern.

"Das ist normal. Sie arbeitet viel."

"Was macht sie?"

"Sie ist Kellnerin. Früher hat sie bei Blurrys gearbeitet. Jetzt ist sie irgendwo anders."

Ich versuchte mir ein Lächeln abzuringen und nickte mit dem Kopf zum Süßigkeitenautomat.

"Hast du dir was ausgesucht?"

"Jelly Bellys."

Ich stand auf und fischte meinen Restbestand Kleingeld aus der Hosentasche. Meine Tasche inklusive Portemonnaie lag noch immer in Diane Freyers Büro. Ich hatte Matt bislang nur oberflächlich zu den heutigen Geschehnissen befragt. Für ein richtiges Verhör brauchte ich die Einwilligung eines Erziehungsberechtigten. Wenn sich seine Mutter nicht innerhalb der nächsten Stunde bei mir meldete, musste ich sie wohl polizeilich suchen lassen.

Matt hatte die Jelly Beans aus dem Ausgabefach gegrapscht und ich wollte mit ihm zurück an meinen Schreibtisch. Aus den Augenwinkeln sah ich die Tür zum Treppenhaus aufgehen. Jemand betrat den Flur. Als ich meinen Kopf drehte, hätte ich es für das Normalste der Welt halten müssen, doch gerade heute kam es mir so unwirklich vor. Einzig Matts verblüfftes Quieken versicherte mir, dass ich mir das nicht einbildete. Gavins Entlassung musste zügig erfolgt sein; er hatte Zeit gehabt sich umzuziehen und überhaupt sah er glimmeröser denn je aus.

"Schön, dass Sie wieder da sind", sagte ich tonlos, doch es war ehrlich gemeint. Gavin lächelte. Es wirkte gezwungen. Er schenkte Matt nur einen flüchtigen Blick, als dieser seine Schachtel fallen ließ und seine Jelly Beans kreuz und quer über den Boden kullerten.

"Was ist los?", fragte ich Gavin. Das Blau seiner Augen leuchtete stechend. Darin lag Wut, gepaart mit Angriffslust.

"James Lowery wurde vor einer halben Stunde festgenommen."



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2013-05-08T20:29:12+00:00 08.05.2013 22:29
Na das ist mal was, der Glimmerfop war also in U-Haft :D Dann bin ich mal gespannt, wie es weitergeht!


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