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Schneesturm

von

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Festgefroren

Eisig, unerbittlich kalt und ohne jedes Erbarmen überzog der Winter noch immer unnachgiebig das Land. Alles was er hinterließ, wenngleich auch das Einzige, war klirrende Kälte und ein erdrückender, gefrierender Mantel aus Eis und Schnee, der sich wie ein Würgegriff um alles wand und mit jeder Sekunde seine Schlinge enger zog.

Die Welt erstarrte.
 

Alphonse öffnete langsam seine müden Augen, rieb mit einer zur Faust geballten Hand über diese, um den Schlaf zu vertreiben und sah sich daraufhin etwas murrend im Zimmer um. Er stutzte. Al war sich sicher, die Augen geöffnet zu haben, folglich wirkte die absolute Dunkelheit, die den gesamten Raum für sich einnahm und gar undurchdringlich schien, für ihn vollkommen fehl am Platz. Seinem Zeitgefühl nach zu urteilen, dieses besaß er zweifelsohne, müsste die Sonne den Himmel bereits hell erleuchten. Das Heulen des aufbrausenden Windes, welches nur gedämpft durch die Wände des Hauses an seine Ohren drang, erinnerte den Jungen allmählich wieder daran, welch Sturmböen schon gestern um diese vier Mauern fegten. So schlich sich nun ein betrübter Ausdruck in sein Gesicht, als ihm klar wurde, dass sich weder der Sturm, noch die beharrliche Wolkendecke geschlagen gaben. Kaum hörbar seufzte Alphonse in diese dunkle Leere hinein. Nach dieser unerfreulichen Erkenntnis wäre er am liebsten wieder unter seine warme Decke gekrochen, doch schien auch seine Neugier geweckt. Warum nur war es am Morgen so unnatürlich dunkel? Sein Blick wanderte nach oben zum Dachfenster, von dem er allerdings nicht einmal die Umrisse ausmachen konnte und ihm wurde unbehaglich. Kein einziger Stern leuchtete in dieser Nacht. Doch was hatte er auch anderes erwartet? Kein Lichtschein würde sich je in diesem Sturm behaupten können.
 

Vorsichtig und lautlos versuchte Alphonse aufzustehen, um seinen Bruder nicht zu wecken - da er wusste wie unausstehlicher dieser am Morgen war - und schlich sich langsam Richtung Tür, um daraufhin ebenso leise durch diese zu verschwinden. Ein leises Knarzen war zu hören, als sich die Zimmertür hinter Als Rücken schloss. Tastend suchte Al nach dem Lichtschalter an der Wand zu seiner Linken, da es im Flur nicht einen Deut heller war und sobald er ihn fand, musste er seine Augen mit einer Hand vor der plötzlich aufkommenden Helligkeit abschirmen, die ihn förmlich zu durchstechen schien. Dies war auch etwas, was er sich wieder angewöhnen musste, nachdem er jahrelang durch unmenschliche Augen hatte sehen müssen. Langsam gewöhnten sich seine Pupillen jedoch an das Licht und Alphonse konnte wieder klar sehen, die Treppe vor sich wahrnehmen, welche ihn nach unten in den ersten Stock brachte. Etwas verwirrt über seinen seltsamen, aufkommenden Unmut wirklich wissen zu wollen, was überhaupt los war, diese Treppenstufen nach unten zu steigen und jenen albernen Verdacht, der langsam in der hintersten Ecke seines Kopfes Gestalt annahm, bestätigt zu sehen, ging er langsam hinunter. Innerlich schmunzelte Al etwas über diese unsinnige Beklommenheit, die ihm die Dunkelheit im Haus bescherte. Sie hatten wahrhaftig schon Schlimmeres erlebt und auch bewältigt und plötzlich war da ein ganz anderer Gedanke:

„Eine Sonnenfinsternis!“, flüsterte Alphonse zu sich selbst in einem Ton, als wäre er gerade auf das größte Geheimnis der Menschheit selbst gestoßen. Hastigen Schrittes und dennoch darauf bedacht leise zu sein, stürmte er die letzten Stufen nach unten und in die Küche zum Fenster. Doch da waren keine Umrisse der Sträucher und Bäume im Garten zu sehen. Da war keine schemenhafte gezackte Linie des Gartenzaunes in der Dunkelheit. Aber am aller Wenigsten waren dort auch nur die leisesten Anzeichen auf eine Sonnenfinsternis zu erkennen. Wütend über seine eigene Torheit, zu glauben, dass genau hier und jetzt dieses Naturschauspiel stattfinden würde, ballte Al seine Hände leicht zu Fäusten. Manchmal war er wirklich leichtgläubig. Doch lange hielt dieser Gemütszustand nicht an. Wie gebannt starrte Alphonse auf das Fenster oder vielmehr auf das, was dahinter lag. Der erste Gedanke, der ihm oben im Zimmer gekommen war, hatte sich bewahrheitet und er hatte sich nicht getäuscht – es war tatsächlich Tag. Obgleich er die Sonnenstrahlen nicht sehen konnte, die vermutlich mit aller Kraft versuchten durch die Wolken zu brechen, wusste Al, dass sie da sein mussten. Sie mussten einfach. Aber je länger er nun auf das Fenster blickte, welches ihm keinen Ausblick nach draußen gewährte, sondern nur die Sicht auf eine blass blau schimmernde ans Fenster gedrückte Schneemasse preisgab, wurde Al langsam klar, dass nicht nur die erste Etage, sondern gar das gesamte Haus…

„Zugeschneit.“, kam es von Al und diesmal war es kein Flüstern, sondern eine nüchterne, halblaute Feststellung als ihm langsam dämmerte, dass die Dunkelheit oben im Zimmer nicht von ungefähr kam. Aus seiner Starre erwacht, durchschritt er eilig das Wohnzimmer auf der anderen Seite des Hauses und überprüfte auch dort die Fenster. Leider musste Alphonse auch hier resignierend feststellen, dass die Schneemassen das Haus anscheinend von allen Seiten fest umschlossen hatten. Ein leichter Anflug von Panik machte sich in ihm breit. Wie viele Tonnen Schnee und Eis lagen wirklich über ihnen? Während Al die verschiedensten Vermutungen und Annahmen durch den Kopf flogen, trugen ihn seine Beine wie automatisch geschwind wieder die Treppe nach oben zu seinem Bruder. Er musste ihm unbedingt von dieser „Entdeckung“ berichten und dieser wüsste sicher, was zu tun sei; er hatte doch fast immer irgendeine Idee. Auf seinem Weg in das obere Geschoss gab sich Al in seiner Eile überhaupt keine Mühe mehr leise zu sein und folglich polterte er lautstark über die Stufen und flog regelrecht mit der Tür in ihr gemeinsames Zimmer und zu Edwards Bettrand, wo er nieder kniete und seinen großen Bruder am Arm rüttelte. „Bruder wach auf! Los aufwachen, aufwachen!“

Leise murrte Edward und schien mehr als nur müde zu sein, hatte er doch in dieser Nacht aufgrund plagender Gedanken und Zweifel nicht so leicht einschlafen können wie Alphonse. Als Ed schwach seine Augen einen Spalt breit öffnete und in das besorgte Gesicht seines Bruders blickte, welches von einem Lichtkegel, der aus dem Flur zu kommen schien, erhellt wurde und seinem eigenen Gesicht so nah war, wirkte sein Blick einen Moment lang glasig. Träumte er? Alles fühlte sich so unwirklich an. Die Wärme seiner Decke, das schummrige Licht, der fremde Atem an seiner Wange, sogar die zarten blonden Strähnen, die ihn kitzelten. „Bruder? Alles in Ordnung?“, fragte nun Al noch einmal eindringlich, der den seltsamen Blick des Älteren bemerkt hatte und aufgrund der gestrigen Ereignisse nun mit dem Verdacht auf eine ernsthafte Krankheit dessen Stirn auf Fieber befühlte.
 

Schlagartig nahm alles um Edward Gestalt an. Er lag in seinem Bett, in ihrem Haus und plötzlich war auch die Hand, die ihn zuvor am Arm berührte hatte, die ihn geschüttelt hatte und jetzt auf seiner Stirn lag, mehr als nur real. Nein, die Stellen wo sie ihre Haut berührten, brannten förmlich und so auch seine Stirn. Leicht zitternd und von Angst gepackt, drehte Edward sich fast panisch in seinem Bett herum zur Wand, schüttelte somit Als Hand ab und brach ihren Blickkontakt. Er starrte die Wand an, kniff dann die Augen zusammen. Alles war besser, als dieses Gesicht zu sehen, dass dem Seinen eigentlich so ähnlich war. Edward konnte spüren, wie all die Gedanken von Gestern wieder in ihm hochkamen und mit ebendiesen kam auch die Übelkeit zurück. Alphonse, dem die kurze Berührung an Eds wirklich heißer Stirn mehr als genug über seinen momentanen Gesundheitszustand gesagt hatte, deutete dessen Reaktion als verständlich, wenn es ihm wirklich so schlecht ging, wie er befürchtete. Sorgenvoll betrachtete er seinen Bruder, der leicht zitternd und von ihm abgewandt in seinem Bett lag. Plötzlich ging es Al durch den Kopf, dass sie, sollte Ed wirklich krank sein, es zunächst erst mal irgendwie aus dem Haus schaffen mussten, um einen Arzt zu besuchen. Über all den kalten Schnee wollte Alphonse erst gar nicht nachdenken. Über was er aber nachdachte war, was er Edward Gutes tun konnte, damit er sich besser fühlte.

„Bruder? Ich mach dir einen warmen Tee, der gegen Erkältung hilft, okay? Danach geht es dir bestimmt schon besser.“, so hoffte Al jedenfalls und machte sich, ohne auf eine Reaktion des Anderen zu warten, auf den Weg in die Küche.

Als dessen Schritte immer leiser wurden, entspannte sich Edward augenblicklich ein wenig und neigte seinen Kopf nachdenklich in Richtung Tür, aus der wenige Sekunden zuvor sein Bruder verschwunden war. Er konnte hören, wie Alphonse in der Küche im Schrank nach einer Tasse suchte. Ein warmer Tee war so ziemlich das Letzte, was er momentan brauchte. Edward seufzte und ließ dann träge seinen Blick von der Tür durch das Zimmer schweifen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es mitten in der Nacht zu sein schien, da er nur vage Schemen als Schrank oder Tisch ausmachen konnte. Natürlich war es Nacht. Warum sonst war es stockdunkel? Doch warum weckte Al ihn dann auf? Verwirrt und, wie er jetzt feststellte, auch leicht verschwitzt, schlug Edward die Decke zurück. Ihm war in der Tat unglaublich warm und diese Begebenheit konnte doch wirklich nicht nur auf seine merkwürdigen Gedanken zurückzuführen sein, dachte er. Während Ed sich aufsetzte, wobei er bemerkte, dass sich alles vor seinen Augen ein wenig drehte, atmete er schwer. Die Luft in diesem Raum erschien ihm mit einem Mal erdrückend und stickig. Mit dem Vorhaben das Fenster zu öffnen und frische Nachtluft herein zu lassen, die seinen Verstand sowie seinen erhitzten Körper etwas abzukühlen vermochte, stand Edward nun auf. Sein Arm streckte sich zum Fenster, welches genau über seinem Bett war, nach oben, seine Finger berührten leicht das vom Schnee gekühlte Glas, ehe er es aufschob.

In genau diesem Augenblick kam Alphonse die Treppe wieder nach oben, eine dampfende Tasse Tee in der Rechten haltend. Das Einzige was er noch sah, bevor er auch nur ein Wort hätte sagen können, war, wie ein gewaltiger Schwall Schnee zum Fenster herein und auf direktem Weg auf Ed hernieder rauschte. „Bruder!“, rief Al vor Schreck und Besorgnis. Schnell stellte er die Tasse auf dem nächsten Tisch ab und rannte zu Edward. Hastig zog er seinen Bruder am Arm wieder auf die Beine, da ihn die Schneemassen umgeworfen hatten und putzte ihn vom restlichen Schnee frei. „Was machst du denn wieder? Dich kann man wirklich nicht mal kurz alleine lassen! Du bist krank, du musst im Bett bleiben!“, schimpfte er den Älteren leicht tadelnd, aber dennoch besorgt. Als Blick fiel auf den ganzen Haufen Schnee, den sie nun im Zimmer hatten und zu Eds Bett, in welchem sich noch mehr der kalten, weißen Masse niedergelassen hatte. Nachdenklich sah er Ed an, der noch kein einziges Wort gesagt hatte, seitdem er überhaupt wach war. Edwards Blick war von ihm abgewandt und zu Boden gerichtet und nun schien er noch mehr zu zittern als zuvor schon. Innerlich gab sich Alphonse dafür selbst die Schuld. Er hätte Edward vorhin schon sagen sollen, was er ihm eigentlich auch hatte sagen wollen, weswegen er ihn geweckt hatte, dann würde dieser jetzt nicht so frieren. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog Al seinen großen Bruder zu seinem eigenen Bett, welches vom Schnee unversehrt geblieben war und machte ihm deutlich, sich hinein zu legen.

Noch immer vor beißender Kälte erstarrt, durch den Schnee, der über ihn hereingebrochen war und gleichzeitig atemlos vor sengender Hitze, die durch seine Adern schoss, als Alphonse ihn am Arm bis zu seinem Bett gezogen hatte, leistete Edward stillschweigend Als Anweisungen folge. Er zog sich die Decke bis unter seine Nasenspitze und wollte sich gerade wieder der Wand zuwenden, als Al, nachdem er das Fenster wieder verschlossen hatte, mit der heißen Teetasse am Bettrand erschien. „Es tut mir leid.“, murmelte Al, doch wusste Edward nicht so recht, wofür dieser sich entschuldigte und musterte ihn fragend. „Wegen dem Schnee eben. Ich wollte dir eigentlich vorhin schon sagen, dass wir eingeschneit sind. Man sieht nur Schnee, wenn man aus dem Fenster schaut. Deswegen ist es auch so dunkel. Ich hab mir gleich gedacht, dass der Schnee wohl auch auf dem Dach liegen geblieben sein muss, da es draußen eigentlich schon hätte hell sein müssen. Ich wusste ja nicht, dass du gleich das Fenster aufreißt, während ich unten bin.“, erklärte Al ihm, der seinen fragenden Blick bemerkte und sich schuldbewusst hinter der Tasse Tee versteckte, die er Ed mit beiden Händen entgegenhielt. Der heiße Dampf strömte kontinuierlich von dem heißen Getränk empor und wirkte fast schon hypnotisch auf Edward, dessen Gedanken ihn erneut zum Schwindeln brachten. Zu tiefst irritiert sah er seinen kleinen Bruder an und hörte ihm nur abwesend zu , der ihm etwas über Schnee erzählte, doch ganz erfassen konnte er den Sinn nicht, da eine Stimme in seinem Kopf ihm unentwegt nur eines zuflüsterte: Nein.

Nein zu seinen absurden Gedanken. Nein zu seinem pochenden Herzen. Nein zu dem flüssigen Feuer, das ihn von innen verbrannte. Doch vor allem Nein zu seinem Verstand, der ihm allmählich abhanden zu kommen schien.

Verzweifelt legte sich Edwards Hand über sein Gesicht und blendete somit das seines Gegenübers aus. Dieser machte sich jedoch aufgrund dieser Geste nur noch mehr Sorgen. „Was hast du denn, Bruder? Halsschmerzen, Kopfschmerzen? Du musst dich wirklich schlimm erkältet haben, wenn du noch kein einziges Wort mit mir gesprochen hast.“, seufzte Al und setzte nun vorsichtig die Tasse auf dem Tisch neben seinem Bett ab, da Edward allen Anschein nach jetzt keinen Tee trinken wollte.

Seufzend nahm Ed seine Hand wieder herunter und sah Al nun doch wieder an. Es kam ihm seltsam vor mit seinem Bruder zu reden, als wäre alles wie immer, als wären diese verstörenden Gedanken nie da gewesen. Edward fühlte sich, als würde er Al belügen, hintergehen, als hätte er ein Geheimnis vor ihm.

„Es…geht mir nicht sonderlich gut, nein.“, überwand sich Edward dann doch, aber im selben Augenblick musste er seinen Blick wieder abwenden. Er konnte es einfach nicht ertragen, doch versuchte er, sich zu konzentrieren und seine unliebsamen Gedanken beiseite zu schieben. „Aber ich glaube, es ist bald wieder gut. Nur eine kleine Erkältung. Mach dir keine Sorgen, Al.“, dabei versuchte Ed wie immer zu klingen und lächelte Al zu. Doch in seinem Inneren wusste er, dass das gelogen war. Nichts würde bald wieder gut sein, nichts konnte jemals wieder gut sein. Wie könnte er auch je rechtfertigen, vor sich selbst und vor allem vor Alphonse, sich zu seinem eigenen Bruder hingezogen zu fühlen und das auf eine Art, die gewiss rein gar nichts mehr mit brüderlicher Liebe zu tun hatte?

Eds Lächeln, welches eben noch auf seinem Gesicht lag, verschwand augenblicklich bei dieser Erkenntnis. Es gab nichts zu rechtfertigen, weil es so etwas nicht geben durfte.
 

Al, der sich soeben noch gefreut hatte, dass es seinem Bruder zumindest so gut ging, dass dieser lächeln konnte, fiel der abrupte Wechsel in Eds Stimmung nur zu deutlich auf. Wissend, dass Edward es nur selten zugab, wenn er Schmerzen hatte, musterte Al ihn. Auch wenn er sich keine Sorgen machen sollte, sorgte er sich dennoch um das einzige Familienmitglied, welches ihm geblieben ist. „Erzähl keinen Mist. Das ist mehr als nur eine kleine Erkältung!“, beschwerte sich Al und hob seine Hand zu Eds Wange, um noch einmal seine Temperatur zu überprüfen. Seine Finger waren kalt und folglich schien es ihm, als hielte er seine Hand ins offene Feuer sobald sie Edward berührte. „Und ich sorge mich nun einmal um dich.“, machte Alphonse dem Älteren nun mit etwas sanfterem Ton in der Stimme klar.

Unfähig sich zu bewegen, starrte Ed in die besorgten, goldenen Augen über ihm. Dass er die Luft anhielt, realisierte er erst, als sich der Sauerstoffmangel als unangenehm stechend in seiner Brust bemerkbar machte. Das einzige, was Ed daneben fühlte, war diese Hand. So wunderbar kühlend. Kurz schloss er die Augen und atmete aus, gewährte seinen Lungen die notwendige Luft.

Dafür, dass Ed es insgeheim mehr als nur genoss von diesen zarten Fingern so sanft berührt zu werden, hätte er sich am liebsten aus dem Fenster gestürzt, würde ihn dann nicht eine weitere Schneelawine niederwalzen und ihn davon abhalten. Auch diesen Gedanken versuchte Edward zu überspielen und von sich zu schieben. Er gab dem Fieber die alleinige Schuld daran, dass er sich Als kalter Hand entgegenlehnte, anders konnte es nicht sein.

Alphonse hingegen betrachtete dies amüsiert. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welch eine Wohltat etwas Kaltes an einem fieberheißen Gesicht wohl darstellte. Al selbst war, seitdem er wieder darauf achten musste, noch nicht krank gewesen und an die Zeit, wo er klein war, konnte er sich nicht an eine Krankheit erinnern, geschweige denn, wie es sich angefühlt hatte. Demzufolge konnte Al nicht einmal sagen oder einordnen, ob Edward nun hohes Fieber hatte oder nicht. Doch die Wärme an seinen kalten Fingern ließ ihn lächeln, es fühlte sich angenehm an. Doch allen Annehmlichkeiten zum Trotz musste er Edwards Fieber irgendwie senken. Daher nahm er seine Hand nun von Eds Wange, welcher daraufhin sofort unzufrieden grummelte. „Warte, ich hole ein nasses Tuch, dass sollte dir auch gut tun.“, schmunzelte Alphonse und stand auf, um seine Worte in die Tat umzusetzen. Edward hingegen, so musste er sich doch eingestehen, war Als Hand eindeutig lieber als ein nasser Lappen auf seinem Gesicht. Seufzend und innerlich zerrissen wie er war, setzte Ed sich schwerfällig im Bett auf, ihm stieg in diesem Moment der Geruch des Tees wieder in die Nase und er blickte hinter sich zum Tisch. Dankbar ergriff er letztendlich doch die Tasse, hielt sie sich nah an seine Nase und inhalierte den sanften Duft von Holunder. Vorsichtig nippte Ed an der Tasse und stellte fest, dass der Tee bereits auf eine angenehme Temperatur abgekühlt war. Durstig nahm er einen großen Schluck und als er die Tasse wieder absetzte, stand Al auch schon im Türrahmen, bewaffnet mit Eimer und Handtuch. Erfreut kam der Jüngere auf ihn zu. „Schön dass du den Tee doch noch trinkst.“, sagte Al und stellte den Eimer mit kaltem Wasser neben dem Bett ab und hockte sich daneben. „Immerhin soll er auch gegen Fieber helfen.“, damit tauchte er das Handtuch in den Eimer, wrang es anschließend aus und faltete es. „Das könnte jetzt wirklich kalt sein, Bruder, also nicht erschrecken.“, mit diesen Worten legte er das Tuch vorsichtig auf Eds Stirn, der sich in eine gemütliche Position im Bett gebracht hatte und lediglich kurz zuckte, als der kalte Stoff seine Haut berührte. „Danke, Al.“, murmelte Edward und starrte in seine Teetasse in seinen Händen. Al grinste fröhlich und hoffte, dass diese Maßnahmen erst einmal genügen würden, um Eds Fieber in den Griff zu bekommen.

„So ich geh runter und sehe mal nach, was ich so zu Essen kochen kann. Du ruhst dich heute aus und bleibst im Bett.“, sagte Alphonse entschieden, jedoch wusste er, dass es Ed sicherlich nicht passte. Als er sich erhob, fügte er hinzu: „Momentan kommen wir ohnehin nicht raus, wie es scheint. Da sogar das Dach voller Schnee ist…“, mit einem Finger deutete Al nach oben, „…und die Fenster unten total zugeschneit sind…“, ein Fingerdeut nach unten, „… kann ich mir bildlich ausmalen, wie das Haus von draußen aussieht.“, seufzend legte Al eine Pause ein. „Nämlich nach gar nichts. Man sieht es nicht! Wir sind von oben bis unten praktisch unter einer Lawine begraben!“, schloss Al schließlich seine Erklärung. In Edwards Gesicht machte sich Unglauben und Ratlosigkeit breit. „Aber ich finde schon einen Weg, keine Angst. Lass das mal deinen kleinen Bruder machen. Mit Alchemie kann man doch fast alles lösen!“, versicherte er ihm noch immer grinsend und verließ dann das Zimmer nach unten. Allein zurückgelassen sank Edward wieder tiefer auf das Bett und unter die Decke. Von unten drang leises Klirren und Scheppern an seine Ohren, welches von Al verursacht wurde, der erneut in der Küche hantierte. Mit einer Hand befühlte Ed das feuchte Tuch und ließ es langsam über sein erhitztes Gesicht gleiten. Er hatte das Gefühl, dass es ihm half, dass mit der Hitze auch diese belastenden Selbstzweifel und Selbstekel verschwinden würden. Doch erwartungsgemäß traf diese Begebenheit leider nicht ein und langsam wurde er müde vom vielen Denken und Leugnen, sodass er unbewusst in einen tiefen Schlaf driftete.
 

Ein dunkles und gedämpftes Donnergrollen ließ Edward blinzeln. Verschlafen gähnte er und fühlte, wie das nasse Tuch, welches mittlerweile warm war, von seiner Stirn rutschte, als er sich aufsetzte und sich im Raum umsah. Es war immer noch dunkel und zu allem Überfluss konnte er jetzt auch deutlich hören, wie außerhalb dieses Hauses der Sturm noch immer wütete und obendrein noch ein Gewitter zur Unterstützung mitgebracht hatte. Wieder donnerte es und Edward wurde klar, was ihn geweckt hatte. Allerdings musste er feststellen, dass es ihm sichtlich besser ging, als noch vor einigen Stunden. Zumindest war diese unerträgliche Hitze in ihm nicht mehr allumfassend und der Tee sowie das kühle Handtuch scheinen ihre Wirkung getan zu haben. Jedoch beschlich Ed das ungute Gefühl, dass dies auch mit der Abwesenheit seines Bruders in Verbindung stehen konnte. Energisch schüttelte er den Kopf und stand dann, noch immer etwas wackelig auf den Beinen, auf um sich anzuziehen. Ihm war es zuvor zwar nicht aufgefallen, aber neben dem Donnergrollen und dem Wind, der ums Haus fegte, konnte Edward keine weiteren Geräusche vernehmen. Dabei müsste doch Al im Haus umherstreifen? Doch keine Anzeichen einer weiteren Person waren zu hören, so sehr sich Ed auch anstrengte zu lauschen. Er kam nicht umhin wissen zu wollen, was Al gerade machte, wenn nicht kochen, das Haus putzen, Radio zu hören oder zu telefonieren. So leise wie möglich versuchte er aus dem Zimmer heraus zu schleichen und die Stufen nach unten zu steigen. Ein unangenehmes, metallenes Geräusch, begleitet von einem unterschwelligen Quietschen, als er mit seinem linken Fuß auftrat, ließen ihn innehalten. Entnervt und verärgert heftet sich sein Blick auf das Automail-Bein. Manchmal hasste er es wirklich, dass er nur seinen Arm zurückbekommen hatte. Leise grummelnd versuchte er es zu ignorieren und schlich so gut es ging die Treppe hinab. Unten angekommen spähte er wie ein Spion um die Ecke ins Wohnzimmer und kam sich ziemlich albern vor. Was machte er denn hier gerade? Doch als er im Wohnzimmerzimmer tatsächlich Al vorfand, waren alle anderen Gedanken plötzlich wie weggefegt und in diesem Moment befürchtete Edward, dass Fieber käme mit doppelter Intensität zu ihm zurück.
 

Al lag schlafend auf dem Sofa, mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand auf dem Bauch, welches von seinen leichten Atemzügen sanft auf und ab gehoben wurde. Sein Kopf war leicht zur Seite gefallen, so dass ihm einzelne blonde Strähnen im Gesicht lagen und der Rest seiner Haare sich über dem Sofa ausbreitete. Hätte Ed es nicht besser gewusst, so hätte er mit absoluter Sicherheit geglaubt, dass, verglichen mit dem Universum, Al ohne Zweifel die Sonne war und er nur ein unbedeutender kleiner Planet, der sich um ihn drehte. Nein, nicht drehte, gewaltsam aus der Umlaufbahn gerissen und näher zur Sonne gezogen wurde.

Wie automatisch setzte sich Edward in Bewegung. Einen Fuß vor den anderen, bis er schließlich vor dem Sofa stand und auf seinen Bruder herabblickte. Ganz gewiss musste Al die Sonne sein, nichts anderes wäre dazu fähig, ihn so vor Hitze zu zerreißen, dass nicht einmal der Schneesturm draußen diesen Feuerbrand zu löschen vermochte. Langsam sank Edward erschöpft und kraftlos auf den Boden, seinen Blick niemals von Al abwendend.

„Al.“, vielmehr ein Hauch als ein Wort, dass über seine Lippen kam, die Ed nun schmerzhaft mit seinen Zähnen malträtierte. Wie konnte das nur sein? Wie konnte er nur so empfinden? Was würde Al bloß von ihm denken? Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich und er spürte, wie etwas Nasses aus seinen Augen und über seine Wangen lief und diesmal konnte er sich nicht vormachen, es wären die Schneeflocken. Seine Augen wanderten über die ruhigen Gesichtszüge seines Bruders und er verspürte das Bedürfnis, ihm die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. Doch ein noch viel größeres, auf unerklärliche Weise ersehntes und zugleich abgrundtief abstoßendes Bedürfnis drängte sich ihm unnachgiebig auf, als sein Blick an Als Lippen haften blieb. Schon lange waren der Schwindel und die Hitze in seinen Verstand heimgekehrt und es wurde mit jeder Sekunde schwerer sich dagegen zu wehren. Edward fehlte eindeutig die Kraft dazu, aufzustehen, wieder nach oben in sein Bett zu gehen, dass einzig Richtige zu tun und sich von Al abzuwenden. Er konnte es nicht. Wie ein Magnet bewegte er sich auf Al zu, immer näher und näher und er wünschte sich, er würde ihn abstoßen statt zu sich zu ziehen. Edward konnte bereits den leichten, warmen Atem seines Bruders auf seinem Gesicht spüren, während er selbst zu atmen schon lange nicht mehr in der Lage war. Das Bedürfnis, welches sich ihm aufzwang, welches ihn näher zu dem anderen Jungen hinzog, so wusste er, war kein Bedürfnis, es war ein Verlangen. Mit ebendiesem Gedanken wurde ihm flau im Magen und er bekam erneute Ekel vor sich selbst.

Nur Millimeter bevor er Al erreicht hatte, hielt er inne. War er sich überhaupt im Klaren darüber, was er im Begriff war zu tun? Noch bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurden all diese augenblicklich von dem Flammenmeer in ihm herausgebrannt, als seine Lippen sanft die seines Bruders streiften. Allein diese flüchtige Berührung, die an sich nicht einmal schlimm gewesen wäre unter Brüdern, schleuderte in Ed alles aus den Bahnen und hin zur Sonne.

Was auch immer jemals wichtig gewesen war, richtig oder falsch, es interessierte ihn in diesem Moment absolut kein Stück, als er seine Lippen mit einer einzigen kleinen Bewegung dazu brachte, die seines Bruders zu berühren.

Seine Welt brannte. Sie brannte und er loderte wahrlich mit ihr, wurde von der Sonne verschlungen, wie sie alle Planeten verschlang, die ihr zu nahe kamen, die ihren Kurs verloren hatten und Edward hatte ihn eindeutig verloren.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2012-09-30T18:25:55+00:00 30.09.2012 20:25
Es ist nich einfach einen Charakter wirklich realistisch zu umschreiben, doch das hast du super gemacht. Ich habe nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, das das nicht Al, oder Ed ist, man könnte denken man liest etwas, was aus den Gedanken der Autorin selbst entsprungen ist. Und doch hat diese Geschichte etwas sehr persönliches, individuelles. Das ist meine erste FF zu den Pairing und es ist sehr erfreulich, das es auch gleich so eine tolle ist. Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel.

Lg riko-chan
Von:  ChailaMing
2011-07-30T20:29:49+00:00 30.07.2011 22:29
Was für eine tolle Fanfic!
Richtig schön geschrieben!
Ich hoffe, dass sie irgendwann weiter geht!!
Von: abgemeldet
2011-05-05T17:59:40+00:00 05.05.2011 19:59
Konban wa !!!!!!
Huch, warum gibts noch keinen Kommi zu dem Kapitel? o.O Ich habe mir die Kapitel jetzt hintereinander reingezogen und ich muss sagen: Ich will mehr! xD Du besitzt einen wundeschönen Schreibstil und bringst die Gefühle und Zweifel von Edward wunderbar hervor. Es ist gut nachzuvollziehen wie schwer es für Ed sein muss und auch, dass sich Al um ihn sorgt. Ich könnte mir gut vorstellen das es wirklich so sein könnte <3 Ich freue mich schon auf Kapitel vier und hoffe das du bald weiter schreibst. *ab auf die Favo mit dir*

PS: Ich hatte mich bisher noch nicht auf ein Pairing festgelegt, doch scheine ich jetzt eins gefunden zu haben ;) *Ed xAl Fähnchen schwenk*

Ganz liebe Grüße
Angelstar



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