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Blood Moon - Bis(s) in alle Ewigkeit

Fortsetzung von Rising Sun - Bis(s) das Licht der Sonne erstrahlt
von

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Erkenntnisse

Disclaimer:

=> Ich verdiene kein Geld mit meiner Fanfiction.

=> Alle Charaktere die schon in den Twilight-Bänden ihren Auftritt hatten, gehören Stephenie Meyer. Alle Anderen, wie etwa Schüler, Lehrer und vor allem Renesmees und Jakes Kinder, habe ich selbst erfunden.
 

Weitere Infos zur FF, Trailer, Cover & mehr

http://www.renesmee-und-jacob.de.vu

http://www.chaela.info
 

Dieses Kapitel enthält einen Sichtwechsel
 

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Kapitel 4

Erkenntnisse
 

Der Mond stand schon lange am nächtlichen Himmel. Sein helles Licht ließ den Schnee selbst auf dem Waldboden glitzern. Und es offenbarte die dunklen Flecken, die das Weiß verschmutzten. Die Spuren des Blutes. Jenes Blut, das ich vergossen hatte. Das jetzt an meinen Händen klebte, auch wenn es das augenscheinlich nicht tat. Jenes Blut, das vor wenigen Stunden noch in den Adern eines Menschen pulsiert hatte. Das tat es jetzt nicht mehr. Nie wieder. Ich hatte es getan. Willentlich und im vollem Bewusstsein. Ich hätte gehen können. Ich hätte irgendein Tier jagen können. So wie ich es schon immer getan hatte. So wie man es mir beigebracht hatte. Aber ich hatte die Regeln ignoriert, meine Erziehung, meine Familie... alles.

In diesen Stunden saß ich im Schnee. Ein paar Schneeflocken suchten ihren Weg durch die kahlen Zweige der Laubbäume über mir und alle, die nicht von grünen Tannen aufgefangen wurden, landeten auf dem Waldboden. Oder auf mir. Oder auf ihr. Ich drehte meinen Kopf zu dem leblosen Körper, der zwei Meter von mir entfernt auf dem Boden lag.

Ich hatte es schnell erledigt. Wahrscheinlich hatte sie gar nicht richtig realisiert, was passiert war. Als ich sie in den Wald gezogen hatte, hatten sich meine Zähne schon in ihre Haut gebohrt. Ihr Fahrrad lag noch immer am Wegesrand. Sie war voll bekleidet und hatte eine Bisswunde am Hals. Ich ließ es so aussehen, als hätte ein Tier sie angefallen. Niemand würde es für eine Straftat halten. Wie man Leichen aus dem Weg räumt, hatte man mir nie beigebracht. Meine Familie hatte wahrscheinlich die feste Überzeugung gehabt, dies wäre nie von Nöten. Ich nahm mir fest vor, dass niemals irgendjemand davon erfahren würde. Niemals. Nicht mal – oder besser – ganz besonders nicht meine Schwester. Oh, Mariella. Was würde sie denken, was würde sie sagen, was tun, wenn sie davon erfahren würde? Sie würde mir nie wieder in die Augen sehen, denn dieses Mal, hatte man mich nicht dazu gezwungen. Ich hatte es selbst gewählt. Und ich musste nun mit meiner Entscheidung leben.
 

Ich blieb noch einige Tage meinem Zuhause fern, damit sich der Geruch verflüchtigen konnte. Oder dem, was mal mein Zuhause gewesen war. Denn nie zuvor hatte ich mehr Angst gehabt, nach Hause zu kommen. Wie konnte ich, als ich durch meine Klappe eintrat, wissen, dass ich bald mit einer noch viel viel größeren Angst heimkehren würde?

Ich war mir sicher, dass meine Familie bereits von meiner Rückkehr wusste, also eilte ich schnell ins Bad, um mir neue Kontaktlinsen einzusetzen. Ich sah mich noch kurz mit grünen Augen im Spiegel an, dann trat ich aus dem Badezimmer. Ich hatte gerade die Tür geöffnet, da sprang mir meine Schwester schon an den Hals, und ich taumelte ein wenig zurück.

„Du bist wieder da“, murmelte sie, den Kopf an meine Brust gedrückt. Ich setzte sie wieder ab. „Ja“, antwortete ich knapp.

„Mum macht sich solche Vorwürfe“, fuhr Mariella zittrig fort. „Sie hat tagelang nicht mit Dad geredet, weil er so fies zu dir war.“

„Schon okay. Ich weiß ja, was er von mir hält.“

„Anthony“, flüsterte meine Schwester.

Ich ging an ihr vorbei; die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Meine Mutter stand bereits im Flur und wartete auf mich. Sie trug eine hellblaue Bluse und eine weiße Hose. Ihre Augen waren glasig, und sie unterdrückte die aufsteigenden Tränen, als sie langsam auf mich zuging und mich schließlich ebenfalls umarmte. Ich legte einen Arm um sie, den anderen legte ich auf ihr schönes bronzefarbenes Haar. Ich schloss die Augen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Meine Mutter schluchzte. Ich legte meinen Kopf auf den ihren und drückte sie sanft etwas enger an mich. Wenn sie erfahren würde, was ich wenige Tage zuvor im Wald getan hatte, würde sie mich nie wieder so umarmen. Ich sog diesen Moment in mich auf wie ein Schwamm das Wasser und wollte die Zeit anhalten.
 

Am Abend desselben Tages saß ich gerade Wohnzimmer und zappte wahllos durch die Programme, ohne länger als drei Sekunden bei einem zu bleiben. Irgendwie hatte ich Angst, in den Nachrichten von dem mysteriösen Tod eines Mädchens zu hören. Aber sie hatten sie wahrscheinlich schon lang gefunden und entweder war ihr Tod dann doch zu unspektakulär, um im Fernsehen erwähnt zu werden, oder aber man hatte diese Meldung schon gebracht.

Meine Familie konnte ich auf gar keinen Fall fragen. Ich würde mich sofort damit zum Verdächtigen machen. Ich musste sie in dem Glauben lassen, ich sei die letzten Tage weit weg gewesen und hätte nicht mal mitbekommen, dass ein Mädchen aus meiner Schule mit seltsamen Bisswunden im Wald gefunden wurde.

Rosalie und Emmett betraten das Wohnzimmer und rissen mich aus meiner Nachdenklichkeit. „Hallo, Ani“, sagte Rose freundlich und lächelte mich an. „Hast du Lust, mit uns jagen zu gehen?“

Ich hatte gerade garantiert keinen Hunger, aber wieder machte sich in mir das ungute Gefühl breit, ich würde mich verdächtig machen, wenn ich jetzt verneinte, also nickte ich.

„Hey super!“, rief Emmett aus und klopfte mir auf die Schulter. „Dann lass uns mal schauen, wer den Puma als Erster schnappt.“

„Wie oft soll man dir noch sagen, dass es keine Pumas in Irland gibt“, meinte Rose neckisch. Emmett lachte, zog sie zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange. In der Tat, so schön die Landschaft Irlands war, so harmlos war auch sein Tierbestand.

Zeitgleich mit unserem Aufbruch in der Abenddämmerung, kehrten Seth und mein Vater von ihrem Streifzug heim. Sie hatten beide nur ein paar Shorts an. Während Seth uns angrinste und uns mit beiden Daumen nach oben viel Erfolg wünschte, funkelte mein Vater nur zu uns herüber. Rose und Emmett bedankten sich bei Seth und ignorierten Jacob, dann flitzten sie in den Wald, und ich folgte ihnen.

Emmett war von uns allen wohl der Stärkste. Dafür war er jedoch relativ langsam unterwegs. In einem Zweikampf würde er mich wahrscheinlich sofort auf die Knie zwingen können, allerdings nur dann, wenn er mich zu fassen kriegen würde. Abgesehen von meinem Vater und mir, war Rose die Schnellste in der Familie, aber auch sie blieb gerade etwas weiter hinten zurück, als ich durch den Wald jagte.

Kaum hatte Emmett jedoch den Geruch einer potentiellen Beute in der Nase, nahm er an Geschwindigkeit zu. Ich hatte den Geruch noch gar nicht richtig ausgemacht, da war er schon irgendwo abgebogen, und ich musste mich am nächsten Baum abstoßen, um ebenfalls die Richtung zu wechseln und ihm zu folgen.

Unsere Jagd endete schließlich mit zwei Füchsen, einem Dachs und einem Reh. Obwohl es ein Raubtier war, schmeckte der Fuchs, jetzt da ich erst kürzlich Menschenblut getrunken hatte, einfach nur widerlich. Vergleichbar mit abgestandener Cola fand sich darin einfach nichts Wohlschmeckendes. Er war weder so nahrhaft noch so süß wie menschliches Blut. Als ich den Fuchs herunter gezwungen hatte, blieb nur der eklige Nachgeschmack. Ich fühlte mich kein Stück genährter. Aber immerhin hatte mir diese Jagd eines gebracht: Ich wusste jetzt, dass ich problemlos einfach mit jagen konnte, ohne danach zu platzen. Ich wunderte mich gar darüber, wie ich mit dem Trinken von Tierblut all die Jahre leben konnte und einigte mich darauf, dass es wohl eher ein 'ÜBERleben' als ein 'Leben' war. Noch mehr wunderte ich mich allerdings darüber, wie gleichgültig ich über das Ableben meiner Schulkameradin nachdenken konnte. Sie hatte schließlich ein Leben gehabt, eines, das ich ausgelöscht hatte. Ihre Eltern würden ihre Tochter nie wieder sehen, eventuelle Geschwister würden ihre Schwester nie wieder umarmen können. Ich musste unweigerlich an Mariella denken. Würde jemand ihr etwas antun, ich würde mir schwören, dass ich diese Person quer über den Erdball jagen würde, und wenn ich sie schließlich gefunden hätte, würde ich mich auf die grausamsten Arten rächen, die es geben könnte.

Aber in meinem Fall würde niemand kommen. Kein Bruder, auch kein Vater. Die Familienmitglieder würden nie erfahren, wer das Mädchen auf dem Gewissen hatte. Wie sehr sie darunter litten, konnte ich nur erahnen. Die Todesanzeige, die ich später in der Schule am schwarzen Brett las, war zumindest ein kleiner Hinweis darauf. „... viel zu jung wurdest du von uns genommen...“ lautete einer der Sätze, die auf dem Zeitungspapier niedergeschrieben waren. Heute Nachmittag würden einige Schüler ihrer Beerdigung beiwohnen. Ich für meinen Teil machte mich jedoch bereits vor der Trauerfeier in der Schulaula, nach der vierten Stunde, aus dem Staub. Ich nahm an, dass es ohnehin keinem auffallen würde – und war umso erstaunter, als ich tags drauf feststellte, dass ich mich geirrt hatte.

„Ich hab dich gar nicht auf Melanies Beerdigung gesehen“, sagte Catriona, kurz nachdem sie sich in der Pause neben mich auf die Bank gesetzt hatte. Ich starrte geradeaus, sah aber im Augenwinkel, dass sie mich böse ansah.

„Ich hatte zu tun“, antwortete ich gleichgültig.

„Zu tun?“, fragte sie und musterte mich dann etwas herablassend. „Du hättest dich nicht mal umziehen brauchen, du bist stets für jede Beisetzung perfekt bekleidet, Tony.“

Jetzt erst sah ich sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Tut mir ja leid, wenn ich nicht so heuchlerisch bin und Beerdigungen von Leuten besuche, die ich gar nicht kenne.“

„Was soll das heißen?“, hakte sie nach. Ich hatte keine Zweifel, dass sie sich angesprochen fühlte.

„Das heißt“, antwortete ich und stand auf. „Dass sicher noch genug Menschen dort waren, die das arme Mädchen in spätestens sieben Tagen sowieso wieder vergessen haben.“

Mit diesen Worten ließ ich sie stehen. Ihr selbst ein schlechtes Gewissen zu machen, schien mir der beste Weg für mich, von meiner eigenen Schmach abzulenken. Und ich lenkte nicht nur sie ab sondern gleichsam auch mich selbst. Ich wollte nicht mehr daran denken, mich nicht mehr selbst dafür hassen. Ich war ein Vampir. Das hatte mein Vater selbst gesagt. Und meine natürliche Beute waren nun mal Menschen. Genauso wie andere Raubtiere auch ihre bevorzugte Beute hatten. Einen Löwen würde man auch nie dazu bringen, Salat zu essen. Warum also weiter auf mein schlechtes Gewissen hören, das immerzu leise in meinem Kopf summte?

Es war nicht zu ändern. Ich war so geboren worden. Ich war nicht wie mein Bruder und auch nicht wie meine Schwester. Nirgendwo auf der Welt gab es ein Lebewesen, das so war wie ich. Ich war absolut einzigartig. Eigentlich käme mein Bruder mir genetisch am nächsten, da sich seine vampirische Seite jedoch absolut kein Stück herausgebildet hatte, war er jetzt noch weniger Vampir als meine Mutter oder meine Schwester. Ich war also allein. Und nach und nach spürte ich, wie ich mich von meiner Familie abkapselte. Mehr noch, als ich es ohnehin schon tat. Die meiste Zeit verbrachte ich allein. Das hatte ich zwar vorher schon vermehrt getan, allerdings war ich damals meistens nachts nach Hause gekommen und hatte meiner Familie vor der Schule noch einen guten Morgen gewünscht.
 

Als ich ganze fünf Tage, nach meinem letzten Besuch, zu Hause vorbeikam, war ich ziemlich froh, vor Betreten meines Zimmers, meine Kontaktlinsen eingesetzt zu haben, denn zu meiner Überraschung, saß meine Schwester auf meinem Bett. Als sie mich sah, sah sie nur auf und begrüßte mich nicht so stürmisch wie sonst, was mir ein ungutes Gefühl bescherte. „Du kommst kaum noch nach Hause“, sagte sie traurig. „Ist es wegen Dad?“

Ich schüttelte den Kopf, obwohl sie in gewisser Weise Recht hatte. „Mach dir keine Sorgen.“

Ich setzte mich neben Mariella und legte einen Arm um sie, sie ließ sich zur Seite fallen, so dass ihr Kopf an meiner Schulter lehnte und kuschelte sich an mich. „Mach ich mir aber. Ich hätte so gerne, dass wir eine richtige Familie sind.“

Darauf konnte ich nichts antworten. Natürlich wünschte ich selbst auch, es wäre anders, aber ich hatte nicht die Kraft, etwas an der Situation zu ändern. „Es tut mir leid“, sagte ich leise. Ich ließ offen, für was ich mich genau entschuldigte...
 

Noch in der Nacht desselben Tages verließ ich unser Anwesen, um auf die Jagd zu gehen. Ich würde danach wieder einige Tage meiner Familie fernbleiben müssen, daher hatte ich es für besser gehalten, mich davor noch mal blicken zu lassen. Für meinen Beutezug, den ich dieses Mal gezielt planen und nicht mehr einfach nur dem Zufall überlassen wollte, hatte ich mir ein Jagdrevier ausgesucht, das mehrere hundert Kilometer von unserer Heimatstadt entfernt lag.

Waterford mit seinen knapp 60.000 Einwohnern lag direkt an der keltischen See und war eine der größten Städte Irlands. Perfekt also, um sich einen winzigen Menschen herauszupicken.

Hier war alles soviel größer als in den ländlichen Gegenden. Die Luft hatte sämtliche Frische eingebüßt und die Abgase der Autos ließ sie so dick werden, dass man mit einem Messer ein Stück herausschneiden würde können. Zumindest kam es mir so vor. Ich lief nach meiner Ankunft erst mal durch die Straßen und sah mir alles an. Es war noch helllichter Tag, und es herrschte ein reges Treiben hier. Die Menschen liefen kreuz und quer mit ihren Einkäufen durch die Straßen und wirkten gehetzt. Ich war mir sicher, dass man hier durchaus auch bei strahlendem Sonnenschein einen Menschen umbringen könnte, ohne dass die restlichen es bemerken oder auch nur im geringsten würden wahrnehmen können. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Soviel Tumult kannte ich eigentlich nur vom Flughafen in Manchester, aber dort waren wir relativ schnell durch die gesonderten Passagen zu unserem Privatflieger geleitet worden, so dass ich nicht lange in den Menschenmassen gewesen war.
 

Irgendwann setzte ich mich in einem kleinen Café am Hafen an einen Fensterplatz und beobachtete von dort weiter. Ich bestellte mir eine kleine Cola, an der ich gelegentlich mal nippte. In der Ferne sah ich das Meer glitzern, während die Sonne wie ein gigantischer Feuerball langsam von ihr verschluckt zu werden schien. Die Zahl vorbeilaufender Passanten ebbte ab, und ich spürte, dass meine Stunde näher kam. Gedankenverloren drehte ich mein Glas um seine eigene Achse und strich mit den Fingern über den angerauten Aufdruck ohne hinzusehen.

Was ich hier tat, wusste ich selbst nicht. Dass es nicht richtig war, das wusste ich jedoch. Auch war mir bewusst, dass ich damit den Groll meiner ganzen Familie auf mich ziehen, und das ich meiner Mutter und meiner Schwester damit besonders schaden würde. Also warum saß ich hier überhaupt? Ich strich mir müde durch die Haare und kniff kurz die Augen zusammen.

„Alles in Ordnung, Süßer?“

Die Stimme ließ mich aufsehen. Die Bedienung war eine junge Frau von vielleicht Mitte zwanzig. Sie machte eigentlich keinen besorgten Eindruck. Generell wirkte sie nicht auf mich, als würde sie irgendwas kümmern. Ihre Haare waren unsauber zusammengebunden und strähnig, ihre weiße Schürze hatte dutzende Flecke in sämtlichen Rot- und Brauntönen und sie kaute gelangweilt einen Kaugummi.

„Alles bestens“, antwortete ich säuerlich, legte einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch, sagte „Stimmt so“ und verließ den Laden. Ich blickte nicht zurück. Ich würde sie ohnehin nie wieder sehen. War für sie wahrscheinlich auch besser so. Meine Füße trugen mich schnellen Schrittes über die Docks am Hafen. Ich hörte, wie sich das Wasser in sanften Wellen am Holz der Träger brach. Die Sonne war fast gänzlich untergegangen. Ich beschleunigte meinen Gang. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mir gezielt ein Opfer zu suchen, aber je länger ich die Leute beobachtete, desto weniger wurde mein Verlangen nach ihrem Blut. War mein Blutrausch nach dem letzten Mord vielleicht nicht groß genug, um eine solche Tat noch einmal zu begehen? Fehlte vielleicht der Duft des frischen, warmen Blutes, den ich in den vorherigen Fällen immer gerochen hatte? Oder war in mir vielleicht doch noch ein Funke Menschlichkeit? Ein Funke, tief in mir, der aus Leibeskräften schrie, ich solle dem Wahnsinn ein Ende bereiten und wieder zu dem zurückfinden, was ich einmal gewesen war: Ein Mensch, der gelegentlich mal Tiere jagte, in der Lage war, sich in solche zu verwandeln, aber ansonsten eigentlich ein ruhiges Leben geführt hatte. Vielleicht nicht unbedingt in der vollen Gunst des Vaters, dafür jedoch umso mehr geliebt von der Mutter und der Schwester? Gab es noch Hoffnung? Auf Vernunft? Auf diesen Funken?

Meine Füße trugen mich weiter über die hölzernen Stege über dem Wasser. Die schaukelnden Boote und Yachten, die dort ankerten, nahm ich nur am Rande wahr. Ich könnte mich jetzt in einen Vogel verwandeln und zurückfliegen. In einigen Wochen würden meine Augen wieder grün sein und die Spuren meiner Tat verblasst. Niemand würde nachhaken. Es gäbe kein weiteres Opfer, keine neue Tat, keine frischen Spuren. Ich hätte nichts mehr zu verbergen.

Aber was, wenn mein Hunger größer werden würde? Wenn ich wieder mit Blut in Kontakt käme? Könnte ich dem widerstehen? Und selbst wenn es keinen Kontakt mehr geben würde, würde ich wieder zum Tierblut oder gar zu menschlicher Nahrung zurückkehren können? Gab es noch einen Weg zurück? Oder hatte ich mir alle Rückwege verbaut?

Als ich spürte, wie meine Augen zu brennen begannen und heiße Tränen in ihnen aufstiegen, blieb ich schließlich stehen. Im Licht einer kleinen Lampe, die an der Wand eines geschlossenen Lokals, direkt vor den Docks, befestigt war, lehnte ich mich gegen den rauen Putz und versuchte mich zu beruhigen. Ich schloss kurz die Augen, lehnte mich aufrecht gegen die Wand und starrte in die finstere Nacht. Ich konnte weder die Sterne, noch den Mond sehen. Die vereinzelten Lampen waren die einzigen Lichtquellen hier. Ich strich mir gerade übers Gesicht, da hörte ich zwei Stimmen ganz in der Nähe. Es waren die tiefe Stimme eines Mannes und die Hohe einer Frau. Offensichtlich stritten sich die beiden. Ich trat aus dem Licht zurück in den Schatten und folgte den Stimmen. Einige Meter weiter fand ich sie mitten auf einem Dock. Der Mann trug einen Anzug und stand an Board einer recht großen Yacht, die den prunkvollen Namen 'Gloria' trug. Die weibliche Stimme kam von einem blonden Mädchen. Ihrer recht knappen Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich bei ihr nicht unbedingt um eine Hausfrau.

„Gib mir die Mäuse“, grummelte er und zeigte ihr die offene Handfläche, in die sie wohl die Scheine legen sollte. Das Mädchen machte allerdings keine Anstalten, seiner Bitte auch nachzukommen.

„Du weißt, ich brauche es“, sagte sie mit dem Hauch eines Flehens.

„Deal ist Deal“, antwortete der Anzugträger kurz und knapp. Da er Geld von ihr verlangte, ging ich mal davon aus, dass es sich hier nicht um einen Freier handelte, der soeben eine Dienstleistung in Anspruch genommen hatte.

„Bitte“, flüsterte sie, aber für mich waren die Worte klar und deutlich.

Ihr Gegenüber biss nur die Zähne zusammen und schüttelte entschieden den Kopf. Das Mädchen ging ein paar Schritte zurück. „Du weißt, ich kriege dich“, drohte er und beobachtete sie, wie sie da zitternd stand und ihre Kunstfell-Jacke enger um ihre Brust schloss, um ihr tiefes Dekolleté zu verdecken. „Immer und überall.“

Seine Hand wanderte in die Innentasche seines Anzugs. Ich war nicht wirklich verwundert darüber, dass der gute Mann nun eine Waffe hervorzog.

Ich hatte selbst bereits zweimal gemordet. Es war mir nicht ganz klar, warum ich trotzdem nun aus der Dunkelheit trat und blitzschnell dem Zuhälter die Pistole aus der Hand schlug, sodass diese über das nasse Holz rutschte. Er schaute nur kurz entsetzt, dann schlug ich ihm mit dem Ellenbogen so unsanft – von unten – gegen das Kinn, dass er rücklings auf dem Boden seiner Yacht landete und regungslos liegen blieb. Ich sah nicht hin, aber ich roch das Blut, das aus seinem Mund lief und das Deck benetzte. Das Mädchen, mir gegenüber, sah immer noch entsetzt auf die Stelle, auf der eben noch der Mensch gestanden hatte, der sie mit einer Waffe bedroht hatte. Ich sah sie nur kurz an, dann hielt ich die Luft an und drehte mich um. Ich hatte nicht viel Zeit. In wenigen Sekunden würde ich meine Beherrschung komplett verlieren, spätestens dann, wenn mir die Luft ausging. Ich kniete mich neben ihn und durchsuchte hektisch sämtliche Taschen, bis ich aus einer, eine Brieftasche zog. Ich nahm alles Geld heraus und zerfetzte anschließend das Leder mit allem, was sich noch darin befunden hatte. Die Scheine drückte ich der verängstigten jungen Frau in die Hand. „Nimm und geh.“

Sie starrte mich immer noch mit offenem Mund an und schloss ihren Griff fester um das Geld.

„Nun mach schon. GEH!“, forderte ich sie auf. Wenn sie nicht bald ihre langen Beine in die Hand nahm, würde auch sie heute Nacht ihr Leben lassen müssen.

„Danke“, hauchte sie gebrochen, dann rannte sie davon. Ich begann wieder normal zu atmen, sog die Luft um mich ein. Ob er vielleicht bereits an seinem eigenen Blut erstickt war, war nun gleichgültig. Ich biss meine Zähne in seine Kehle und trank. Sein Blut schmeckte nicht so süßlich, wie das der Mädchen zuvor. Es war, als ob ich seine Sünden förmlich schmecken könnte.

Als ich allen Lebenssaft aus ihm gesogen hatte, saß ich noch kurz neben dem ausgelaugten Körper und fragte mich, wie mein Blut wohl schmeckte. Ob man bei mir auch meine Taten würde schmecken können? Sie hatte sich bei mir bedankt. Bedankt für einen Mord. Ich hatte ihr Leben gerettet und wahrscheinlich auch das vieler anderer Mädchen. Ich hatte gewiss auch einige gerächt, die zuvor ihr Leben für seine Habgier ließen. Und trotzdem, hatte ich wieder ein Leben ausgelöscht. Ich wusste, dass mein Großvater sich, in seinen Anfängen, ebenfalls von Menschenblut ernährt und dazu gezielt Verbrecher herausgesucht hatte. Und Rose hatte ihre Peiniger auf diese Weise bestraft. Aber hatte ich das Recht, über ein Leben zu richten? Zu entscheiden, welche lebenswert waren und welche nicht? Gab es überhaupt ein Leben, das ich zurecht auslöschen konnte? Konnte ich mir wirklich anmaßen zu glauben, meiner Seele ginge es besser, wenn ich statt Kinder Mörder tötete? Nein. Mord war und blieb Mord. Ganz gleich, welches Leben ich auch auslöschte.

Und die Quittung für seine Taten würde man bekommen. Früher oder später...

Der Gedanke ging mir durch den Kopf, als ich auf dem Weg zur Schule meine Kontaktlinsendose aus der Jackentasche zog. Ein bisschen Ablenkung würde mir sicherlich guttun. Ich reagierte trotz meiner verbesserten Fähigkeiten zu langsam, um eine unglücksverheißende Kettenreaktion zu verhindern. Ich hörte hinter mir, wie jemand meinen Namen rief und drehte mich instinktiv um. Vor mir stand Catriona und sah zunächst lächelnd zu mir hinauf, dann wich die Farbe aus ihrem Gesicht und mit ihr, auch ihr Lächeln. Die Blätter und Bücher, die sie getragen hatte, rutschten ihr einfach aus der Hand und fielen auf den matschigen Boden, als sie meine roten Augen erblickte. Einen Augenblick starrte ich sie an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Ich versuchte, mich zu sammeln und setzte nervös die grünen Linsen in meine Augen, dann erst folgte ich ihr. Aber ich konnte sie nirgendwo mehr ausmachen. Es war, als sei sie vom Erdboden verschluckt worden.

Ich versteckte meine Kleider in der Nähe der Schule und verbrachte den Rest des Tages in Tiergestalt. In die Schule zu gehen, dazu war mir die Lust vergangen. Ich blieb in der unmittelbaren Umgebung und beschloss am folgenden Tag zu gehen und das Gespräch mit Cat zu suchen. Wenn ich sie nicht würde davon überzeugen können, dass meine Augenfarbe nur ein Schulstreich war, hätte ich ein ernsthaftes Problem...

Aber Cat

kam am nächsten Tag nicht in die Schule und auch nicht am darauffolgenden. Ich machte mir Sorgen, dass sie jemandem davon erzählen könnte, und meine Familie dadurch Wind von allem bekam oder gar komplett aufflog. Was, wenn sie gar nicht mehr in der Stadt oder in Irland war? Ich hielt die Warterei nicht aus und besorgte mir im Sekretariat ihre Adresse unter dem Vorwand, ich müsse ihr Unterlagen vorbeibringen. Das beschauliche Häuschen der O'Graths befand sich etwas verlassen in der unmittelbaren Nähe einiger Äcker. Es standen nur wenige Häuser hier. Ich zögerte einen kurzen Moment, ehe ich auf die Türklingel drückte und die Zeit, die es dauerte, ehe Cat die Tür öffnete, kam mir deutlich länger vor, als sie tatsächlich sein mochte. Meine Schulkameradin sah mich erneut erschrocken an, öffnete den Mund, um was zu sagen und schloss ihn dann wieder. Ich war mir recht sicher, dass sie die Tür gleich wieder vor mir zuschlagen oder schreien würde, doch Cat gehörte zu den wenigen Personen in meinem Leben, die mich doch noch überraschen konnten. Sie sah kurz prüfend hinter sich, als wolle sie sicher gehen, dass niemand etwas mitbekam, dann trat sie durch den kleinen Türspalt, den sie geöffnet hatte und schloss die Tür flüsterleise hinter sich. Sie griff nach meiner Jacke und zog mich fort. Ich war so verblüfft, dass ich mich einfach von ihr über den Feldweg, tief in die Äcker, schleifen ließ. Wir liefen, bis die Häuser nicht mehr in Sichtweite waren, dann erst ließ sie mich plötzlich los, als ob meine Berührung ihr zuwider gewesen wäre.

„B-i-s-t du verrückt?!“, fauchte sie mich an.

Ich verstand nicht genau, was sie damit speziell meinte und warf ihr dementsprechende Blicke zu.

„Hier aufzutauchen!“, ergänzte sie.

Ich war noch immer perplex. Die Tatsache, dass meine Augenfarbe sich verändert hatte, schien sie gerade weniger zu interessieren, als die, dass ich vor ihrer Haustür gestanden hatte.

„Du kamst nicht mehr in die Schule, da dachte ich, ich komme mal vorbei.“

Catriona strich sich die langen, im Wind wehenden, Haare aus dem Gesicht. „Es ist besser, wenn du dich von mir fernhältst.“

Sie sagte das mit einer solchen Ruhe und Gelassenheit, dass es mich erneut verwunderte. Noch vor wenigen Tagen war sie vor mir geflüchtet, das war wenigstens eine nachvollziehbare Reaktion gewesen. Nun aber stand sie da, und wenn man von etwas absah, das in ihr zu kochen schien und herauswollte, waren keine negativen Emotionen mehr von ihrer Seite aus zu erkennen. Keine Angst. Keine Unsicherheit. Ich hingegen bekam es mit eben letzterer zu tun. Ich wusste nicht genau, ob es klug war, an meiner ursprünglichen Ausrede festzuhalten, da mir aber nichts anderes auf die Schnelle einfiel, tat ich es.

„Wegen eines simplen Scherzes? Ich meine, wer hat nicht schon Blutkapseln in den Mund genommen und plötzlich im Unterricht Blut gespuckt oder ein Furzkissen auf den Lehrerstuhl gelegt?“

Sie schloss ihre Augen kurz zu engen Schlitzen. „Willst du mich verarschen? Meinst du wirklich ich erkenne einen Vampir nicht, wenn er vor mir steht?“

„Was redest du da?“, fragte ich möglichst überzeugend. „Ich bin kein Vampir.“ Und damit hatte ich ja auch nicht gänzlich Unrecht, auch wenn ich mich in den letzten Wochen durch und durch wie einer gefühlt hatte und auch mein Vater davon überzeugt schien.

„DAS dachte ICH auch“, fauchte sie nun. Sie machte den Eindruck auf mich, als wisse sie deutlich mehr, als ein Großteil der Menschen. So als wisse sie Bescheid. Cat lief von links nach rechts, stemmte die Arme in die Hüften, dann strich sie sich wieder durchs Gesicht. Ich beobachtete sie, versuchte zu verstehen. War sie einfach nur ein eingeweihter Mensch, der den Volturi bis dato entkommen war? Oder war sie vielleicht etwas gänzlich anderes? Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die umliegenden Gerüche aufzuspalten und zu erkennen. Ich roch die Überreste der Getreidestummel um uns herum, ich roch die Tiere, die hier mal vorbeigekommen waren und natürlich den Duft der Menschen. Aber letztere waren alt. Sie kamen nicht von ihr. Ich konnte keinen Duft von ihr wahrnehmen. Es war, als existierte sie gar nicht. Warum hatte ich das bisher nie gemerkt? Wie konnte mir das entgehen? Hatte ich sie einfach zu den Gerüchen der Menschen, die in der Schule und in Balinasloe um uns herum waren hinzugezählt, ohne zu merken, dass Catriona gar keinen Eigengeruch hatte? Jetzt war nicht mehr länger nur sie daran, nicht zu wissen, was ihr Gegenüber war.

„Was bist du?“, fragte ich tonlos und sah sie misstrauisch an.

Catriona verschränkte die Arme und sah mich an wie ein trotziges Kind. Ihr Pulli, mit den verschiedenen Streifen in Dunkelrotschattierungen und Beige, war ein starker Kontrast zu ihrem blonden wehenden Haar und dem tristen Hintergrund. „Bist du so naiv zu glauben, die Natur würde eine Kreatur erschaffen, ohne auch einen Gegenpart zu kreieren? Etwas, das ihm Einhalt gebietet? Ohne uns würden Vampire sich doch endlos vermehren und die Menschen hätten keine Chance.“

Ihre Worte verwirrten mich nur noch mehr. „Aber es existiert ein Gegenpart. Die Werwölfe.“

Catriona schnaubte verächtlich. „Die haben vielleicht die Fähigkeit, Vampire zur Strecke zu bringen, aber das macht sie nicht zu einem wirkungsvollen Gegenstück. Sie sind nur eine andere Raubtierart und genauso gefährlich für die Menschen. Man kann die Menschen nicht mit einer Bestie vor einer anderen Bestie schützen. Außerdem sind sie, unseres Wissens nach, schon lange stark dezimiert.“

Als sie den letzten Satz sagte, war mir klar, dass sie wohl ausschließlich von den Kindern des Mondes redete, nicht aber von den Gestaltwandlern und der Kloß in meinem Hals, obgleich noch vorhanden, verringerte sich etwas. Ich schluckte kurz. „Wie du meinst, Catriona. Also wenn du einer von denen bist, die die Vampire in Schach halten sollen, warum weiß ich dann nicht von eurer Existenz? Mein Urgroßvater lebt seit tausenden von Jahren und hat euch nie erwähnt.“

„Weil wir einfach keinen Vampir, der uns begegnet ist, am Leben gelassen haben, so dass er es hätte weitererzählen können. Und du tust gut daran, wenn du jetzt gehst, Anthony.“

Es fiel mir noch immer schwer, daran zu glauben, dass dieses Mädchen eine Gefahr für mich sein könnte, aber ich hatte keine Ahnung, was sie war und welche Fähigkeiten sie besaß und die Tatsache, dass sie keinen Geruch hatte, war für mich Beweis genug, dass sie nicht bluffte.

„Du lässt mich laufen?“, fragte ich verwundert und stellte kurz darauf fest, dass es provozierend wirken musste.

„Wir jagen nicht alle Vampire. Diejenigen, die zivilisiert genug sind, unter den Menschen zu leben, lassen wir in Ruhe. Ich wusste zunächst nicht, was du bist. Ich hatte gewusst, dass du kein Mensch warst, also wollte ich es herausfinden.“ Ihre Wand begann zu bröckeln und ihre Stimme wurde zittriger. „Ich dachte eine Zeit lang, ich hätte mich geirrt. Später hat mein Vater mir erzählt, dass es in dieser Gegend Vampire gibt, die keine Menschen jagen. Ich hatte nie einen davon gesehen, also hielt ich dich für einen davon. Ich dachte, vielleicht hast du deswegen keinen so starken süßlichen Vampirgeruch. Aber“, fuhr sie fort und nun brachen die Tränen aus ihr heraus. „Ich weiß jetzt, dass du keiner von denen bist. Du hast einen Menschen ermordet, Anthony. Ich weiß nicht, was du bist, aber ich weiß, dass mein Vater dich jagen wird, wenn er davon erfährt. Ich weiß, dass du kein Monster bist, zumindest hast du mir vorgegeben, keines zu sein, auch wenn du abweisend bist. Du lebst unter den Menschen so wie wir. Ich bitte dich, um deiner Selbstwillen, hör auf. Hör auf, Leben auszulöschen!“

Ich starrte sie an, während sie sprach. Was sie sagte, ließ mich nicht völlig kalt. Ihre Worte hätten genauso gut die meiner Schwester oder meiner Mutter sein können. Ich wusste, dass sie Recht hatte, aber ich wusste nicht, ob ich die Kraft haben würde, das Richtige zu tun.

„Kennst du diese Vampire?“, schluchzte sie.

Ich nickte, ohne sie anzusehen. „Ja, ich bin ein Teil dieser Familie. Gewesen. Bevor...“ Ich brach ab. Bis jetzt hatte ich alles vertuschten wollen, und das, was meine Familie wusste, hatte sie als Unfall angesehen und mir keine Schuld zugesprochen, aber ich wusste es besser. Ich wusste, ich war schuldig. Und Catrionas Worte, die mich nicht in Watte packen wollten, sondern einfach die Wahrheit waren, machten es mir zum ersten Mal auch von einer anderen Person deutlich als nur von meinem schlechten Gewissen.

„Hör auf damit“, wiederholte Cat. „Bitte.“

Ich sah langsam zu ihr auf, sagte aber nichts. Cat wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Wenn du es nicht für mich tun möchtest, dann wenigstens für dich oder deine Familie.“

Und wieder erstaunte dieses Mädchen mich mit ihrem Wissen, das sie einfach nur einem Bauchgefühl her zu haben schien. Meine Familie war ein triftiger Grund aufzuhören. Ich hatte es mir mehrmals vorgenommen und hatte nun doch drei Menschen auf dem Gewissen. Aber nun, nun wollte ich es schaffen. Endgültig.
 

Noch am selben Abend stand ich wieder in meinem Badezimmer und musterte meinen feuerroten Blick im Spiegel. Als ich die Dose mit den Kontaktlinsen aufschraubte, hatte ich mir fest vorgenommen, dass ich dies nicht mehr all zu oft tun müsste, dass das hier vielleicht sogar die letzte angebrochene Dose war, und ich die Linsen nicht mehr brauchte, wenn meine Augen zu ihrer natürlichen grünen Farbe zurückgekehrt waren. Ich stopfte das Döschen wieder in meine Tasche und drehte mich um, um die Badezimmertür zum Gehen zu öffnen, da bemerkte ich, dass sie einen Spalt offen gewesen war. Ich übte leichten Druck auf die Tür aus und sie schwang langsam auf. Hinter ihr stand meine Schwester und das Herz rutschte mir in die Hose. Wie viel hatte sie mitbekommen?
 

***
 

[Mariella]
 

„Mariella“, sagte mein Bruder lächelnd. Er wirkte unsicher. Ich umarmte ihn zaghaft und versuchte mein

Zittern mit aller Kraft zu verbergen, als ich ihm über den Rücken strich, so wie ich es immer tat.

„Ani“, sagte ich, um die drückende Stille, die für einen Moment zwischen uns geherrscht hatte, zu brechen. „Schön, dass du wieder hier bist.“

Ich vermisste meinen kleinen großen Bruder so sehr, dass es mir schon im Herzen wehtat und wünschte mir nichts sehnlicher als eine heile Familie. Nun war dieser Wunsch von einem Moment auf den nächsten in unerreichbare Sphären katapultiert worden. Ich zwang mir dennoch ein Lächeln ins Gesicht.
 

Am nächsten Tag stand ich müde am Fenster und sah der Sonne beim Aufgehen zu. Die zaghaften Strahlen, die sie trotz der kalten Wintermonate auf den Boden warf, ließen meine Haut glitzern wie den Schnee vor unserer Tür. Der Winter in Irland war deutlich kälter und länger als in den Staaten. Ja, damals waren wir noch glücklich gewesen. Man mochte glauben, der Reichtum in unserem Besitz und ewige Jugend reichten aus, um glücklich zu sein, aber dazu zählte weit mehr als das. Manchmal war eine kleine Familie in einem Reihenhäuschen irgendwo auf dem Land oder in einer kleinen Stadt reicher als wir.

Immer wieder und wieder kamen mir die Bilder des gestrigen Tages in den Sinn. Wie ich seine Ankunft gespürt hatte und hinunter in den Keller gegangen war. Meine Schritte über den gefliesten Boden. Und dann, wie ich das Licht im Bad bemerkte und erwartungsfroh durch den Türspalt sah – und beobachtete, wie mein Bruder seine Kontaktlinsen in seine Augen setzte.

Der Mord an dem Mädchen war schon viel zu lange her, seine Augen mussten ihre ursprüngliche Farbe längst wieder angenommen haben. Es gab nur eine Möglichkeit, warum sie es nicht getan haben sollten: Er hatte gar nicht aufgehört das Blut zu trinken. Plötzlich ergab alles einen Sinn, seine lange Abwesenheit, seine Zurückhaltung. Er hatte sich von uns ferngehalten, damit wir es nicht bemerkten. Ich strich mir über die Stirn. Ich kam mir so dumm vor. Ich kannte ihn so gut, wie ihn sonst keiner kannte. Warum hatte ich es nicht bemerkt? Warum hatte ich es nicht erkannt? Warum hatte ich ihm nicht geholfen?

Und was konnte ich jetzt noch tun, um ihm zu helfen? Würde er damit aufhören, wenn ich ihn darum bat? Ich war mir eigentlich recht sicher, dass er es versuchen würde. Ob er es allerdings schaffen würde, konnte ich nicht sagen. Wahrscheinlich nicht allein. Nein, nicht allein. Wenn ich es für mich behielt, würde ich damit nicht fertig werden. Ich müsste das Geheimnis ebenfalls für mich behalten, dazu würde er mich zwingen, und das würde ich nicht schaffen. Meine Familie würde helfen können. Gemeinsam würden wir es schaffen, meinem Bruder zu helfen. Carlisle kannte sich damit aus, Vampire zur vegetarischen Lebensweise zu verhelfen. Ich ballte die Fäuste zusammen. Ich war mir sicher, er würde helfen können. Einen Moment überlegte ich, ob ich Will anrufen sollte. Aber der war mit seiner schwangeren Frau sicher genug beschäftigt, außerdem würde Ani genauso wenig auf Will hören wie auf unseren Vater.
 

Am Nachmittag ging ich zu Urgroßvater ins Arbeitszimmer. Er saß gerade über einem Buch. Draußen begann es wieder zu dämmern, daher hatte er die Leselampe eingeschaltet. Als ich jedoch eintrat, sah er sofort auf, lächelte mich sanft an und schien seine ganze Aufmerksamkeit schlagartig auf seinen Besuch ausgerichtet zu haben.

„Hallo, Mariella“, sagte er freundlich.

„Hi“, sagte ich und lächelte kurz.

Carlisle legte die Hände auf dem Schreibtisch übereinander. „Was kann ich für dich tun?“

Ich suchte nach den richtigen Worten. „Nun... ich... ich hab da so eine Vermutung... es ist nicht besonders schön und... na ja...“

„Ja?“, hakte mein Urgroßvater ruhig nach.

„Es geht um Ani“, nannte ich das Kind nun beim Namen. „Ich hab gestern zufällig gesehen, wie er seine Kontaktlinsen eingesetzt hat.“

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, doch er wirkte noch immer sehr gelassen und ruhig.

„Ist es möglich, dass seine Augenfarbe sich langsamer regeneriert?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Carlisle schüttelte sanft den Kopf und lächelte nun wieder zaghaft. Ich wusste, er versuchte sein Arztlächeln aufrecht zu erhalten, aber ich erkannte trotzdem Bitterkeit darin.

„Oder oder... vielleicht hat er was von den Blutkonserven im Keller getrunken?“

Wieder ein Kopfschütteln. „Die sind noch alle an Ort und Stelle.“

„Dann vielleicht von wo anders?“

Carlisle seufzte. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.“
 

Während mein Urgroßvater die Familie zusammenrief und versuchte, sie auf das Kommende vorzubereiten, ging ich schweren Herzens in den Keller und sah nach meinem Bruder. Er lag auf dem Bett, und als ich näher kam, öffnete er langsam seine Lider.

„Hey, Ani“, sagte ich leise und setzte mich auf die Bettkante. Er sah mich müde an. Wahrscheinlich hatte er seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Er sah zwar nicht fit aus, aber ausnahmsweise war das für mich ein gutes Zeichen. Wenn er das Töten, sollte er es wirklich getan haben, nicht genoss, dann war die Wahrscheinlichkeit, ihn davon abbringen zu können, größer, als wenn er von seinem Handeln überzeugt war.

„Warst du den ganzen Tag hier?“, fragte ich.

Er nickte nur.

„Ich war mit Alice und Oma ein bisschen shoppen“, log ich.

„Und warst du erfolgreich?“, fragte er und lächelte dabei sanft.

„Na ja, du kennst doch Alice. Die findet immer was.“

Er musterte mich kurz, dann sah er wieder auf die Decke. „Das stimmt.“

Ich überlegte kurz, was ich als nächstes sagen könnte. Mir fiel nichts besseres ein, also schlug ich ein Thema an, das ihm weniger gefallen würde. „Es gibt gleich Abendbrot. Möchtest du auch?“

Jetzt sah er mich wieder an. Er machte den Eindruck, als würde er abwägen, was er antworten sollte. Ich ging davon aus, dass er wie immer verneinen würde, doch ich irrte mich.

„Ja, wieso nicht.“

„Oh“, sagte ich. „Soll ich... soll ich dir was runterbringen?“

Zweifel machten sich in mir breit. Hatte ich mich vielleicht doch verguckt? Oder wollte er nur zu Abend essen, um uns in Sicherheit zu wiegen? Meine Mundwinkel begannen langsam zu zittern. Es tat mir weh, dass ich die Gesinnung meines eigenen Bruders, den ich bis dato zu kennen geglaubt hatte, nicht wusste und darüber rätselte. Dass ich bei ihm tatsächlich auf die Idee kam, dass er so berechnend war und mich in falscher Sicherheit wiegen wollte.

Als ich eine Weile in Gedanken versunken nichts sagte, ergriff Anthony wieder das Wort. „Du kannst ruhig vorgehen. Ich komme gleich nach.“

Ich nickte und schenkte ihm erneut ein Lächeln, wobei ich aufpassen musste, nicht gleich loszuheulen. „Okay.“

Ich verließ sein Zimmer, schloss langsam die Tür hinter mir und ging in die Küche, wo Carlisle die Familie um unseren großen marmorierten Esstisch versammelt hatte. Ich bekam beim Betreten des Raumes nur Wortfetzen mit, aber offensichtlich, hatte er bereits erklärt, was los war.

„Nein, Jacob“, protestierte mein Edward. „Wenn du jetzt die Beherrschung verlierst, machst du alles kaputt.“

Mein Blick wanderte zu meinem Vater, der meinen Großvater, die Hände auf dem Tisch zitternd und zornig zu Fäusten geballt, anschaute. „Ich wüsste nicht, was es da noch kaputt zu machen gibt!“

„Mehr, als dir momentan bewusst ist“, meinte mein Urgroßvater. „Jasper, setz dich bitte neben Jacob.“

Jasper nickte und setzte sich neben meinen Dad, während meine Mum auf dessen anderer Seite saß. Ich bekam es mit der Angst zu tun, als sich plötzlich Emmett neben die Eingangstür stellte. Machten die sich hier auf ein Massaker gefasst?

„Mariella, kommst du?“, sagte Seth sanft. Seine Stimmte zu hören tat mir gut. Ich wüsste niemanden sonst, der mir in dieser furchtbaren Situation mehr hätte helfen können als mein geliebter Seth. Ich ging zu ihm, setzte mich auf den Stuhl zu seiner Linken und er nahm meine hellen Hände in seine rostroten und lächelte mich beruhigend an.

„Als du Renesmee kennengelernt hast, warst du dir vollkommen bewusst, was sie war. Dass du da keine menschlichen Kinder erwarten konntest, war dir doch ebenso bewusst, oder nicht?“, sagte mein Großvater erzürnt, jedoch immer noch sachlich. Als sie erwähnt wurde, warf ich einen Blick auf meine Mutter. Sie sah aus, als ginge sie gerade durchs Feuer, hatte eine Hand an die Stirn gelegt und stütze sich mit der anderen Müde am Tisch. Aus ihrem Gesicht war sämtliche Farbe gewichen und ihre Haare wirkten ungekämmt, weil sie sie dauernd nervös nach hinten strich. Ihre Augen waren glasig. Sie tat mir so leid, und ich wusste nicht, wie ich ihr helfen sollte.

„Schon“, konterte mein Vater. „Aber ich dachte eigentlich, nach dreißig Jahren hätte sich das Thema längst erledigt. Wenn er wenigstens von Anfang an so gewesen wäre, dass er erst jetzt so abgeht, zeigt doch nur, wie wenig Respekt er vor dem Leben anderer Leute hat!“

„Daddy“, versuchte ich ihn anzusprechen, doch er reagierte gar nicht auf mich.

„Wir haben ihm das SO sicher NICHT beigebracht!“, meinte er zornig und stand auf, während meine Mutter mehr und mehr in sich zusammensackte.

„DAD!“, brüllte ich jetzt quer über den Tisch. Alle Augen im Raum waren schlagartig auf mich gerichtet, selbst die dunklen Augen meines Vaters. „Siehst du nicht, wie schlecht es Mommy geht?“

Mein Dad sah sofort zu meiner Mutter hinunter, setzte sich wieder hin und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Hey... Nessie...“, flüsterte er sanft. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Meine Mutter begann zu wimmern und zu schluchzen und brachte kaum ein ordentliches Wort heraus. Mein Vater drückte ihren Kopf an seine Brust und strich durch ihr bronzefarbenes Haar. „Sht... sht... nicht weinen, Nessie. Es wird alles wieder gut.“

„Was ist denn hier los?“

Die fünf Worte, aus dem Mund meines Bruders, ließen fast alle Blicke, die zuvor auf meine Eltern gerichtet waren, zur Tür umschwenken. Anthony sah in die Runde und blieb nun ebenfalls bei Mom und Dad hängen. Letzterer strich seiner Frau noch immer

sanft über den Rücken. Als sie von seiner Brust aufsah und ihren Sohn mit tränenden Augen musterte, strich mein Vater einige Haare weg, die ihr im nassen Gesicht klebten. Erst dann wanderte sein Blick langsam zu Anthony.

„Anthony, schön, dass du hier bist, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen“, meinte Urgroßvater sanft. Mein Bruder sah ihn nur mit einem skeptischen Blick an. Er spürte, dass etwas nicht stimme und obwohl er seine Haltung optisch nicht veränderte, bemerkte ich, wie er in Abwehrhaltung überging. „Möchtest du uns... vielleicht... irgendetwas sagen?“, fragte er weiter, doch mein Bruder schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein, nichts.“

Aus der hinteren Ecke kam ein Stöhnen, das ganz offenbar unserem Vater zuzuschreiben war. „Aber offenbar ihr mir“, sagte Ani dann. „Was ist hier los? Ist was mit Mutter?“

Wieder meldete Dad sich zu Wort und schien sich dabei stark zurückhalten zu müssen. „Deiner Mutter ginge es bedeutend BESSER, wenn du nicht so ABDREHEN würdest!“

Anthony erwiderte gar nichts.

„Na, da verschlägt es aber jemandem die Sprache“, stichelte Dad weiter.

„Jacob“, mahnte Edward, doch mein Vater ignorierte auch ihn.

„Hättest du die Güte, uns nicht mehr länger zu verarschen?“ Der Geräuschpegel stieg kontinuierlich, während mein Vater weiter bohrte.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete Anthony kühl.

„Oh doch, das weißt du ganz genau!“, schrie mein Vater nun. „Und jetzt nimm verdammt noch mal deine Kontaktlinsen raus!“

Und da war er, der Blick, den ich befürchtet hatte. Die Augen meines Bruders, die sich, ohne dass ein Wort seine Lippen verließ, auf mich richteten. Er brauchte nichts sagen. Es war schon alles gesagt. Ich wusste, er machte mich für diese Versammlung verantwortlich. Das Geschrei meines Vaters, die Sticheleien, alles meine Schuld. Die Tränen schossen mir in die Augen und Seth strich mir weiter über den Rücken.

Ani verleugnete sich nicht weiter. Mit wenigen Handgriffen hatte er die dünnen Linsen aus den Augen genommen, und als er die Augen anschließend wieder aufschlug, blickten zwei feuerrote Vampiraugen uns an.

Ein paar von uns senkten den Blick, Rosalie schürzte lediglich die Lippen, Alice schüttelte ungläubig den Kopf und meine Mutter begann erneut zu schluchzen. Einzig Emmett, Jasper, Carlisle, Seth und Edward blieben gelassen.

„Wie viele?“, fragte Letzterer ruhig. Die Möglichkeit, dass er zu Blutkonserven gegriffen hatte, schien bereits vom Tisch zu sein, bevor ich mich richtig an sie klammern konnte.

„Drei, das Mädchen aus Balinasloe eingeschlossen.“

„Was hast du mit den Leichen gemacht?“, fragte Großvater weiter.

„Nichts“, antwortete Ani, ohne einen von uns anzusehen. Sein Blick fixierte die Tischkante.

„Kanntest du die Opfer?“

„Eine kannte ich... ja.“

„Woher?“

„Sie war in meiner Parallelklasse.“

Wieder setzte sich ein Teil des Puzzles zusammen. Ich erinnerte mich, dass vor einigen Wochen eine Kollegin in der Bibliothek erzählt hatte, dass eine junge Schülerin tot in einem Waldstück gefunden wurde.

„Ich fass es nicht“, sagte mein Vater. Sein Ton hatte es Verächtliches. „Jetzt legst du schon deine Klassenkameraden um? Vor was machst du denn dann noch Halt, wenn du schon kleine Mädchen ermordest? Attackierst du uns vielleicht auch irgendwann?“

„Das würde ich nie tun, und das weißt du auch!“, protestierte mein Bruder.

„Ja... ja... ich glaubte mal, dass ich was über dich wüsste“, sprach mein Vater weiter und stand nun langsam auf. Während er auf meinen Bruder mit langsamen Schritten zuging, erhob sich auch Jasper und meine Mutter sah besorgt auf. Emmett, an der Tür, postierte sich ebenfalls.

„Aber spätestens jetzt“, fuhr Dad mit durchdringender fast flüsternder Stimme fort. „Weiß ich, dass ich nichts über dich weiß.“

Anthony hob langsam den Blick und seine roten Augen blickten in die dunklen unseres Vaters. „Va-“, setzte er an, wurde aber von einer ordentlichen Ohrfeige unterbrochen, kaum dass Dad nah genug herangekommen war. Mein Bruder taumelte nur kurz, dann stand er wieder felsenfest und sah Vater erschrocken an.

„Benutz dieses Wort nicht mehr für mich“, befahl er.

Mein Herz rutschte in die Hose. Etwas Schlimmeres hätte Vater für Anthony wohl kaum sagen können. Für ihn waren diese Wort weit schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Für ihn waren sie die Bestätigung dessen, was er immer befürchtet hatte. Und ich wusste genau, was jetzt kam. Was für eine Welle sich nun über uns aufbäumte und unser Familienleben überfluten würde, und ich wollte mich wie ein dicker Fels davor stemmen und sie abwehren, als ich blitzschnell aufstand und zu meinem Bruder laufen wollte. Doch im selben Moment sah ich, wie er zu flackern begann. Alle anderen sahen ihn jetzt nicht mehr, abgesehen von Großmutter und mir. Er hatte sich unsichtbar gemacht, sich umgedreht und den Raum eilig verlassen. Erschrocken blieb ich an der Stelle stehen, an der er eben noch gestanden hatte und blickte meinen Vater ungläubig an. Sein Gesicht war immer noch voller Zorn.

„Mariella“, sagte Bella nun. „Er will das Anwesen verlassen.“

Das war mein Stichwort. Ich rannte nur noch los, übersprang auf der Treppe fast alle Stufen und stürzte in sein Zimmer. Er hatte dort gerade eine große Schublade geschlossen und faltete nun ein Papier ohne mich anzusehen, ehe er es sich in die Jackentasche steckte.

„Was machst du da? Was hast du vor?“, fragte ich verzweifelt, obwohl ich genau wusste, was er da tat.

„Nach was sieht es denn aus?“, antwortete er enttäuscht und packte weiter seine Sachen.

„Nein, Ani! Bitte geh nicht!“, rief ich ihn verzweifelt an. „Das kann man doch alles klär'n!“

„Da gibt es nichts mehr zu klären. Du hast Jacob gehört.“

Ich hatte mir gerade noch ein Dutzend Bitten und Flehen überlegt, aber dass er nun Vaters Vorname benutzte, ließ mich kurz verstummen.

„Er ist nur enttäuscht“, sagte ich dann. „Er wird sich wieder beruhigen. Du hast es doch nicht genossen, diese Menschen umzubringen. Ich weiß, dass du das nicht wolltest. Und das ist doch schon der erste Schritt. Gemeinsam können wir das sicher schaffen. Du wirst nie wieder einen Menschen töten, da bin ich mir ganz sicher.“

„Ach ja?“, meinte Ani, dann drehte er sich um und verließ durch die Klappe das Zimmer, und ich kroch hinterher und lief ihm einige Meter quer übers Gelände hinterher.

„Ani, bitte überleg dir das noch mal. Bitte lass mich nicht allein!“ Ich machte einen Satz nach vorn, packte ihn am Arm und sah ihn eindringlich an. „Ich brauche dich.“

„Das hättest du dir überlegen können, bevor du mich verraten hast.“

„Ich hab das doch nicht getan, um dir zu schaden. Ich wollte dir helfen!“

„Schöne Hilfe, Mariella, wirklich!“

„Ani, es tut mir leid! Bitte! Es tut mir leid!“

Heiße Tränen stiegen mir in die Augen und kullerten über meine Wangen, die im Mondlicht noch heller aussahen. „Du bist mein Bruder, und ich liebe dich...“, flüsterte ich weinend und ließ dann müde seine Jacke los.

Er drehte sich nun ganz zu mir um. Einen Moment schien er mich nur zu beobachten, wie ich da zitternd und heulend mit ihm auf dem kleinen Hügel vor unserem Anwesen stand, dann jedoch nahm er mich langsam in den Arm. Ich kuschelte mich an seine Brust, er legte seine Wange auf meinen Kopf und strich mir sachte durch das Haar.

„Nein, mir tut es leid“, sagte er leise. „Ich habe dein Vertrauen zuerst gebrochen. Ich hätte der Versuchung nicht nachgeben dürfen. Ich hätte so leben müssen, wie unsere Eltern es uns beigebracht haben. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich kann Vater sogar verstehen. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich auch ausrasten.“

Ich lachte bitter und schluckte dann.

„Wie auch immer...“, fuhr er fort. „Sag Mutter bitte, dass es mir gut geht und dass sie sich keine Schuld zu geben braucht. Und Vater auch nicht. Niemandem. Und, Mariella?“

Schluchzend sah ich zu ihm auf. Er wischte mir mit dem Daumen eine Träne aus dem Gesicht, lächelte mich an und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, meine kleine, große Schwester.“

Dann ließ er mich langsam los, drehte sich um und verschwand für die Augen unserer Familie, die das Szenario im Hof der Villa beobachtet hatten. Ich jedoch sah, wie das flackernde Bild meines Bruders kleiner und kleiner wurde, bis er selbst für vampirische Augen am Horizont nicht auszumachen war. Eine Weile sah ich noch in die Ferne, dann ging ich zurück zu unserer Familie, wo meine Mutter ungläubig von einem zum anderen sah und noch immer flossen Tränen über ihr hübsches, jedoch müdes Gesicht.

„Was steht ihr hier nur rum und schaut zu?! Wollt ihr ihn denn gar nicht aufhalten?!“

„Vielleicht tut es ihm ganz gut mal ohne uns zu leben und seine eigenen Erfahrungen im Leben zu machen“, sagte Jasper sachlich.

„Und ihn weiter morden zu lassen?“, fügte Alice hinzu.

„Diese Erfahrung hat doch der eine oder andere von uns auch schon gemacht. Manchmal muss man erst diesen Weg gehen, um zu kennen, welcher Pfad einen wirklich glücklich macht. Früher oder später findet er sicher zu seiner Familie zurück“, meinte Edward.

„Was, wenn nicht, Edward?“, mutmaßte Bella.

„Dann ist es so“, sagte Vater trotzig.

„Jake“, fuhr Bella ihn an.

„Die Zukunft wird es schon zeigen“, ergriff Carlisle nun das Wort. „Fürs Erste lassen wir den Dingen ihren Lauf.“

Es machte mir Angst, dass sie ihn einfach gehen ließen, aber im Grunde waren mir ihre Worte gleich. Ich würde nicht zusehen, wie mein Bruder aus meinem Leben verschwand. Ich brauchte ihn, und ich war mir sicher, dass er mich auch brauchte. Doch wir waren noch nicht komplett. Und wenn ich es nicht allein schaffte, Anthony zurückzuholen, dann würde ich unser Trio eben wieder komplett machen...
 

- Ende Kapitel 04 -



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von: abgemeldet
2011-09-01T22:24:34+00:00 02.09.2011 00:24
Hi
Chaela du schreibst unglaublich. Ich liebe deine Geschichten. Ich hab nur eine Frage. Wie überwindet man sich so etwas ins Internet zu stellen? Ich hab schon ganze Bücher geschrieben und die liegen in meinem Zimmer versteckt. Außer zwei Leuten hat nie jemand auch nur ein wort gelesen.
Von:  funnymarie
2011-08-20T18:43:28+00:00 20.08.2011 20:43
hallo, ich noch einmal^^ hab gerade deine "kleine" neuigkeit gelesen auf deiner seite! und ich kann dir da nur zu stimmen! ist schon schade, wenn man sich soviel mühe macht und dann doch nur so wenig kommentare bekommt! und wenn, dass sie nur kurz sind!
also hier mein zweiter versuch, einen etwas längeren kommentar zu gestalten^^
schon dein erster teil war wirklich grandios! jake und nessi waren einfach super niedlich zusammen! und dann das nessi schwanger geworden ist! und unser kleiner nachzügler ani! auch dass ihnen gefahr von den volturi gedroht hat, war sehr spannend! und du hast vor allen dingen wirklich deine charaktere nahtlos in die welt von stepfanie meyer eingeführt^^
nun zu dem zweiten teil! das der große bruder mit leah schon kinder hat, fand ich toll! schade, dass man so wenig von ihnen mitgekriegt hat! und ich hoffe ja trotzdem, dass leah und er sich doch noch umentscheiden! und doch noch ein unsterbliches leben wählen^^ und haben die enkel von jake und nessi eigentlich auch besondere fähigkeiten?
warum haben eigentlich mariella uns seth noch keine kinder? wollen sie sich zeit lassen oder kann mariella im gegensatz zu ihrer mutter keine kidner bekommen?
und ani^^ der ist wirklich genial! hoffentlich schafft er es, wenn er alleine loszieht, seine sucht nach blut zu überwinden! ich hoffe es sehr.
und nun zu cat! hat sie die vampire von den volturi getötet?
man hat ja bisher noch nicht erfahren, was mit ihnen passiert ist!
und das bella eine besondere beziehung zu ani hat! fand ich toll^^
schade, dass sie nun erleben muss, wie ihre menschlichen eltern sterben! das ist bestimmt schlimm für sie und wird es noch werden, wenn charlie stirbt!
so, ich hoffe, ich konnte deiner geschichte mit diesem kommentar etwas gercht werden^^
wie gesagt, ich freu mich auf das nächste kapi (mein standartsatz^^) und bin gespannt
lg funnymarie
Von: abgemeldet
2011-08-18T15:23:56+00:00 18.08.2011 17:23
OMG..ich war gerade fast fertig mit dem Kommentar und dann...genau dann ist mein Internet abgestürzt Gott sei Dank gibt es hier auf Mexx die Funktion 'ungespeicherte Entwürfe'
Die hat mir echt den Arsch gerettet, ich weiß nicht ob ich die Gedulg gehabt hätte alles noch einmal zu scheiben
Animexx, ich liebe dich!
Aber jetzt wieder zum wesentlichen :D

Gerade habe ich dir einen ausführlichen Kommentar versprochen und jetzt wirst du auch einen bekommen

Am Ende des letzten Kapitels hätte ich niemals gedacht, dass Tony Mel wirklich umbringt. Naja ich hab irgendwie daran geglaubt, dass er sich im letzten Moment noch einmal zusammenreißt oder sowas. Dann auch noch dieser eine andere Kerl..aber wenn man es recht bedenkt. er hätte doch diese Frau sicher umgebracht, wenn Tony nicht gewesen wäre oder?
Also hätte es so oder so einen Toten gegeben. Also besser diesen fießen typen als irgendeine arme Frau oder. Vielleicht sollte tony es so sehen. Aber ob ihm das hilf..schließlich ist für ihn ja nicht schlimm das jemand gestorben ist, sondern dass er der schuldige daran ist.

Was zur Hölle ist Cat?
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie mehr ist als ein Stinknormales Mädchen. Wirklich nicht. Vorallem nicht nach ihrer Reaktion auf die Volturi. Hätte sie für eine eingeweihte dann vielleicht nicht anders reagieren müssen?
Zum Beispiel sofort ihren Vater verständigen, der ja ein Vampirjäger zu sein scheint.
Ich finde es merkwürdig, dass weder cat noch tony vorher gemerkt haben, dass mit dem anderen irgendetwas nicht stimmt. Naja Tony hat wohl mit sowas einfacch nicht gerechnet...
Vorher hatte ich irgendwie eine leichte Abneigung gegen das Mädel, jetzt freu ich mich wegen ihr schon total auf das nächste Kapitel, weil ich unbedingt wissen will was sie ist. Außerdem mag ich sie total gerne, seit der Aussprache mit Tony.
Dazu kommt, dass ich jetzt so neugierig bin, was sie sein könnte, dass ich sogar ein bisschen das internet durchforstet hab, was es außer vampiren, werwölfen und Gestaltenwandlern noch so gibt..
ich hab übrigens nichts gefunden xD
Jetzt muss ich mich wohl überraschen lassen.

Mariella kann ich einerseits sehr gut verstehen, also dass sie sich sorgen um ihren Bruder gemacht hat, andererseits wäre es schlauer gewesen erst mal nur mit ihrem Bruder zu reden oder wirklich NUR mit Carlisle oder irgendeiner anderen Vertrauensperson. Nachdem sie es der ganzen Familie einfach so verkündet hat, hat sie es wohl nur noch schlimmer gemacht.
Jake ist meiner Meinung nach ziemlich OOC geworden.
Ich meine in Biss zur Mittagsstunde haben wir ihn als Bellas Sonnenschein kennengelernt. In Rising Sun war er immer noch der fröhliche und Liebenswerte Kerl, der alles für seine Renesmee getan hätte. Der Charakter wurde perfekt übernommen.
In Blood Moon scheint Jake jedoch ein völlig anderer zu sein..
Gibt es in spätere Kapiteln auch eine Erklärung, warum es so geworden ist?
Immer wenn ich Stellen mit Jake lese frage ich mich ob das auch wirklich Jake ist, was mit ihm passiert ist, warum er seinen Sohn schon immer so verachtet hat, obwohl es früher also als Baby doch Mariella war die Menschennahrung komplett abgelehnt hatte. Und wie ein Rudeltier, welches abhängig ist von familie, überhaupt so zu seinem Sohn stehen kann..
Anderseits kann es in Rudeln ja mal vorkommen dass ein Tier ausgestoßen wird und die Familie sich dann gar nicht um das junge kümmert oder irre ich mich da?
Vielleicht ist ja sowas auch irgendwie zwischen Jake unf Tony


Das Ende des letzten Kapitels hat mir aber sehr gut gefallen. Irgendwie mag ich zurzeit Will total gerne und freu mich schon total darauf dass er bald wieder vorkommen wird :D

Mehr gibt es zu dem kapitel eigentlich meiner seits nicht mehr zu sagen, außer dass es mich mal wieder gefesselt hat bis hin zum letzten Wort^^
Ich freue mich schon auf die zwei neuen Charakter die im nächsten Kapitel auftauchen werden. Eigentlich wollte ich auch einen einsenden, aber mir ist dann irgendwie keine Idee gekommen und als es dann so weit war und ich zumindest ne grobe Idee hatte, war auch schon Einsendeschluss xD
Das ist typisch ich, aber naja. Jetzt kann ich dafür umso gespannter sein, auf die neuen Personen.
Außerdem bin ich eh nicht auf deiner Website angemeldet und ich glaube das war doch voraussetung oder?

Ach ja. auf deiner Website hab ich mich ein bisschen umgesehen und habe das lexikon entdeckt, dass es ja erst seit neuem gibt, ich finde diese neue Rubrik wirklich sehr gelungen.

EIgentlich wollte ich als Entschädigung dafür dass ich dir bei Kapitel 3 nicht wirklcih etwas geschrieben habedafür hier ein bisschen mehr schreiben, aber leider fällt mir gerade nicht wirklich ein was.
Außer, dass ich mich schon sehr auf das nächste Kapitel freue^^

Von:  vamgirly89
2011-08-14T19:00:04+00:00 14.08.2011 21:00
Kann mich nur den beiden anschließen. Ani tut mir so leid. Jake sollte ihn in den arm nehmen und trösten und ihn nicht eine Ohrfeige verpassen. Bin schon auf das nächste gespannt. Also schnell weiter schreiben.

Von:  funnymarie
2011-08-14T13:10:34+00:00 14.08.2011 15:10
hi, da kann ich mich jennalynn eigentlich nur anschließen^^
super, wie du alles beschrieben hast und ich bin ja gespannt, ob mariella es gelingt^^
und was wohl noch mit cat passiert^^
ich freu mich sehr auf das nächste kapi
lg funnymarie
Von:  jennalynn
2011-08-14T08:23:55+00:00 14.08.2011 10:23
Also ich muss wirklich sagen das deine beiden FF Rising Sun und Blood Moon zu den besten Geschichten gehören die ich gelesen habe. Du schreibst einfach großartig. Deine Geschichten zum Verlag und BOOM Die Biss Reihe hat Band 5 und 6 einfach super. Großes Lob und schreib bitte bitte schnell weiter.

LG


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