„Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald...
es war so dunkel und auch so bitter kalt.“
Hah! Wenn ich das schön höre! Die Gören in meinem Kindergarten singen das immer voll Inbrunst!
Wenn die wüssten.
Pah. Lügen, nichts als Lügen.
„Verliefen“ – von wegen! Die sind doch absichtlich in die Pampa gelatscht, um die Büsche zum Krachen zu bringen. Und Geschwister waren die auch nicht – will ich mal hoffen. Ähnlich haben die sich jedenfalls nicht gesehen. Hänsel war so ein hoch gewachsener Tunichtgut mit braunen Wusselhaaren, der nie etwas zustande gebracht hat außer hochtrabenden Reden darüber, was er nicht alles könne. In der Theorie war er der König der Welt, der schärfste Denker aller Zeiten, der genialste Erfinder von absolut allem, wenn ihm nicht solche Deppen wie da Vinci oder Galileo einfach die Ideen geklaut hätten. Ich will ja nicht wissen, wie die das hinbekommen haben wollen, denn in den hessischen Wäldern, in denen ich zu dieser Zeit wohnte, habe ich die irgendwie nie gesehen. Vielleicht hatten die ja immerhin die Telepathie erfunden, denn von der hatte Hänsel nachweislich keine Ahnung. Was für eine gnadenlose Nullnummer. Gretel war auch nicht besser. Blonde Zöpfchen hatte sie, nun gut – aber das war auch alles, was ihre Rübe je weltbewegendes zustande gebracht hat Schubsen zählt nicht, das kann ja jeder Idiot. Jedenfalls war sie Hänsel voll auf den Leim gegangen. Schon allein dieses blödsinnige Kichern! Gnade!
Ach ja, abgesehen davon war es weder „dunkel“ noch „bitterkalt“, sondern Tag und Hochsommer.
Ich will’s ja nur gesagt haben.
Diese beiden gnadenvollen Geschöpfe sind damals jedenfalls ohne Anmeldung und Warnung bei mir eingefallen. Um Proviant einzupacken waren sie anscheinend viel zu planlos – oder geil – gewesen.
Ich habe mir den Buckel krumm geschuftet für dieses Pfefferkuchenhaus. Okay, etwas spleeniges Hobby, ich gebe es zu – aber ich hatte und habe es ja nicht eilig. Backen Sie mal so viel Pfefferkuchen, bis man daraus architektonische Wunschträume wahr werden lassen kann! Na bitte.
Und dann stehen diese beiden Rotznasen plötzlich in meinem Vorgarten, trampeln die Kräuter nieder, treten die arme Katze und fressen die Veranda weg!
Ich dachte, mich trifft der Schlag!
Da zieht man schon in die Einöde, in einen übel beleumdeten Wald am Arsch der Heide – und dann so etwas!
Ich war sauer, gelinde gesagt.
Damals sah ich nicht aus wie heute – okay, eine erfreuliche Spätfolge, die diese beiden Deppen aber nun absolut nicht absehen konnten. Ich hatte ein arges Rückenproblem vom ständigen Kesselschleppen, meine Cousine hatte mir eine Warze angehext, weil ich ihren Mann als „Schwein“ bezeichnet habe… Entschuldigung, er war ein Schwein, als ich ihn gesehen habe – mit Rüssel und allem. Aber sie war immer schon cholerisch.
Wie auch immer, ich sah scheiße aus.
Ich habe mir diese beiden Matschbirnen also zur Brust genommen. Hat sie nicht beeindruckt. „Mann, Alte, ist doch nicht so schlimm, backste halt nach…“ „Hihhihi – Hänsel!“
Das war wahrscheinlich der Punkt, an dem ich endgültig die ein bisschen ausgerastet bin. Innerlich. Mein Schwager Ugbert ist da nicht so, der lässt es einfach raus. Wahrscheinlich ist er deshalb psychisch so stabil – und satt. Aber roher Bauer ist nicht so ganz so mein Fall. In Safransoße… vielleicht. Aber zäh! Wirklich nur, wenn man es mir aufdrängt. Aus Höflichkeit.
Aber Angst – ist lecker. Nicht nur das, ohne ab und an einen Happen Angst geht es mir nicht so super. Und damals war ich ziemlich auf Diät, gezwungenermaßen, das Land war entvölkert nach dem Dreißigjährigen Krieg. Eigentlich ist es die Angst der Kinder – so wahrhaftig und rein. Aber Teenager tun’s zur Not auch.
Ich habe also einen auf freundliche Oma gemacht, die gar nicht peilt, wenn man ihr dumm kommt – und ihnen ein leckeres Süppchen angeboten. Eigentlich waren die pappsatt nach dem Genuss des Eingangsbereiches – aber dennoch waren sie scharf darauf. Wollten mir wahrscheinlich eins überbraten, mich beklauen und sich eine lustige Woche davon machen.
Tja, wären sie mal nicht so gierig gewesen.
Als die beiden k.o. waren, habe ich Hänsel ins Kabuff befördert, in dem sonst Großonkel Rolf der Werwolf gelegentlich nächtigte. Und als auch Gretel wieder aus dem Land der Träume aufgetaucht war, habe ich den beiden verklickert, dass Hänsel demnächst bei mir auf der Speisekarte stehe. Und sie haben’s geschluckt. Gretel hätte jederzeit verduften können, aber dazu war sie schlichtweg zu doof. Sie gehörte zu jenem Schlag Mensch, der erst Mal alles glaubte und nichts allein gebacken bekommt. Ich kann ein Lied davon singen, ihr Pfefferkuchen war erbärmlich.
Der große Fehler an diesen Zeiten war, dass es keine Kontaktlinsen gab, Brillen waren auch eher spärlich gesät. Ich hatte jedenfalls keine, aber im hessischen Wald fielen die auch nicht gerade von den Bäumen.
Sie kennen die Geschichte, Sie wissen, was schief gegangen ist. Hänsels Angst schmeckte wie eingeschlafene Füße, nebenbei bemerkt. Ganz so dumm war er leider dann doch nicht.
Es war alles andere als angenehm, von dieser Dumpfkuh Gretel in den Ofen befördert zu werden,
Fast zweihundert Jahre habe ich gebraucht, um mich davon zu erholen.
Noch heute steht eine Kopie des Pfefferkuchenhauses im Innenhof meiner Bauhaus-Villa im Sachsenwald nahe Hamburg. Damit ich niemals vergesse, wie es damals war. Hessen sieht mich so schnell nicht wieder. Ohne Kontaktlinsen. Trank geht zwar auch, ist aber anstrengend. Und wo soll man in Hessen Salamanderzähne her bekommen? Nee… Hessen ist für mich gestorben. Die können mich mal.
Ich arbeite heute als Kindergärtnerin in der Tagesstätte „Sonnenblume“. Was? Ihr Kind geht da auch hin? Ich hoffe, es ist schreckhaft. Ansonsten erzähle ich ihm gerne ein Märchen…
