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Sterne

Der Herr der Diebe
von

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Heimat

Einfach fallen. Nichts mehr spüren. Loslassen.

Aufgeben.

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„Prop! Prop! Hey! Sag mal, träumst du?”

Prosper zuckte zusammen und riss die Augen auf.

Sein kleiner, blondgelockter Bruder stand vor ihm und wedelte mit seinen winzigen Kinderhänden vor seinem Gesicht herum.
 

„’tschuldige, Bo“, murmelte der Ältere, „Hab zu wenig geschlafen.“

Um glaubhafter zu wirken, unterstrich er das Ganze mit einem gespielten Gähnen und beobachtete dabei aus dem Augenwinkel das skeptische Gesicht von Wespe, die hinter Bo im Türrahmen erschienen war.

Sie durchschaute ihn immer.

Als sei er aus Glas und sie könne sein Gehirn sehen.

Wie einen Goldfisch im Aquarium.
 

„Riccio hat Kuchen gekauft!“

Bo schien völlig überzeugt zu sein, dass sein großer Bruder schlicht und einfach übermüdet war und krähte munter weiter.

„Komm schon, Prop, wir essen jetzt! Ich hab Hunger…“

„Du hast immer Hunger.“

Prosper lächelte und zerzauste dem Kleinen die goldenen Locken, die in alle Richtungen um sein gerötetes, pausbäckiges Gesicht abstanden.

Wespe hatte einmal gesagt, der Junge sehe aus wie ein Engel.

„Wie ein Barockengel“, hatte sie gesagt, „Weißt du, diese Gemälde an den Decken von Kirchen und so. Da ist er bestimmt irgendwo dabei.“
 

Und Prosper musste zusehen, wie sich alle auf der Straße nach Bonifatius umdrehten.

Musste hören, dass sie ihn so „süß“ fanden. So „schnuckelig“.

Wie konnte man einem naiven Kind verbieten, Bonbons von netten alten Damen anzunehmen?

Vor Kurzem noch hatte sie das beinahe an Victor verraten. Wie hatten sie auch damit rechnen können, dass der Detektiv sich einfach auf einen der überfüllten piazzas stellte und sich als - wie war das noch? - Wikinger ausgab.

Und Bo war natürlich sofort darauf angesprungen.

Hätte ihm beinahe verraten, wo sie jetzt ihr Zuhause gefunden hatten.
 

Nachdenklich ließ Prosper seinen Blick über die verlassenen Zuschauerbänke des Stella gleiten.

Über die Sterne auf dem Vorhang, an der Decke, auf jedem einzelnen Sitz.

Früher hatten sie immer zusammen den Himmel beobachtet, Scipio und er.

Es hatte ihnen das Gefühl von Freiheit gegeben, von dem sie sonst nur träumen konnten, wenn sie die Macht hatten, jeden einzelnen Stern zu sehen. Zu benennen. Mit anderen Sternen zu verbinden.

Scipio hatte ihnen das Leben gerettet, als er ihnen hier ein neues Heim geboten hatte; Bo hatte er vor dem Erkältungstod bewahrt.

Und Prosper…

Ja.

Prosper hatte in ihm einen Freund gefunden.

Jemanden, dem er tatsächlich sein Leben anvertrauen würde.
 

Und jetzt hatte er sie verraten.

Scipio hatte sie alle im Stich gelassen.
 

„Prosper?“ Wespe musterte ihn mit sanftem Blick. „Ich weiß, dass dir das hier zu schaffen macht, aber wir müssen uns echt zusammenreißen.“

Prosper nickte und erhob sich langsam.

„Ich weiß“, knurrte er, „Euch fällt’s doch auch schwer, einzusehen, dass er jetzt weg ist. Für immer, wie’s aussieht.“
 

„Hat uns sein Vater ja deutlich genug klargemacht.“

Riccio war zu der kleinen Gruppe getreten und grinste sie jetzt mit seinen schlechten Zähnen an. Er hatte regelmäßig Zahnschmerzen - wahrscheinlich bestand sein Kiefer nur noch aus Karies - und trotzdem konnte ihn niemand davon abbringen, immer wieder Kuchen, Törtchen und Schokolade zu kaufen.

Sie gönnten es ihm.

Schließlich hatte er in seiner Vergangenheit schon ausreichend gelitten.
 

Prosper nickte und schnaubte leise bei der Erinnerung an den Abend vor einer Woche, an dem sie erfahren hatten, wer der Herr der Diebe wirklich war. Ein verwöhntes Vatersöhnchen. Ein junger Mann, der sich alles kaufen konnte, was er wollte. Ohne Aufträge erfüllen zu müssen. Ohne sein Leben dem Diebstahl zu widmen, um wenigstens eine Mahlzeit am Tag zu haben.

Riccio war damals wieder seinem Instinkt gefolgt. War losgerannt, zum Haus der Massimos, um Scipio zur Rede zu stellen. Im Nachhinein betrachtet war es sogar gut gewesen, das wenigstens einer von ihnen gehandelt hatte. Sonst wären sie niemals dahinter gekommen, dass der eigentlich Grund für Scipios feiges Handeln sein Vater war.
 

Der Vater, der sie angeschrien hatte.

Der Vater, der Scipio vor ihnen allen geschlagen und damit gedemütigt hatte.

Der Vater, von dem sie nichts als sein wutverzerrtes Gesicht und seine laute, kräftige, mitleidslose Stimme kennen gelernt hatten.
 

Prosper wusste, dass die Anderen Scipio dafür hassten, was er getan hatte. Dafür, dass er ihr Überleben, ihren Kampf darum, ein besseres Leben zu haben, nur als Spiel sah. Um seinen Alltag vergessen zu können.

Um einmal erwachsen zu sein.

Er selbst - er wusste nicht, ob er Scipio wirklich hasste.

Natürlich war es grausam gewesen, ihnen die ganze Zeit etwas vorzuspielen - aber irgendwo konnte Prosper Scipio auch verstehen. Er hatte zwar selbst keinen Vater, aber allein die Vorstellung, so einen autoritären Vater zu haben, machte ihn schon fertig.

Warum sollten sie Scipio die Zeit als Herr der Diebe also nicht gönnen?
 

Wespe hatte Prosper einfach an der Hand genommen und ihn mit sich zum Tisch gezogen, auf dem Riccio und Mosca bereits Berge von Kuchen aufgetürmt hatten. Es gab nichts zu feiern. Das wussten sie alle. Und trotzdem versuchten sie, sich mit schönen Sachen abzulenken - soweit es ihnen nun mal in ihrer Lage möglich war.

Als Prosper den ganzen Süßkram vor sich sah, musste er sich beinahe übergeben.

Während sie sich jetzt hier den Bauch vollschlugen und versuchten, glücklich zu sein - während sie sich hatten, ihre Ersatzfamilie - saß Scipio vielleicht gerade schweigend in seinem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Oder - was noch schlimmer war - wurde von seinem Vater für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen, das er überhaupt nicht getan hatte.
 

„Willst du kurz rausgehen?“

Wespe. Gott, er liebte Wespe beinahe dafür, dass sie ihn so gut kannte.

„Ja. Danke. Entschuldigt bitte, ich - komm gleich wieder.“

Allgemeines Nicken. Na klar, sie verstanden es alle. Weil sie alle so zuvorkommend und verständnisvoll waren. Beinahe ekelhaft nett. Er brauchte jemanden, der ihn mit dem Kopf an die Wand schlug und ihn anbrüllte:

„Wach auf, Junge! Das Leben geht weiter, was machst du dir eigentlich Gedanken um so einen Idioten?!“

Aber es gab niemanden, der ihn aus seinen Gedanken zog.

Niemanden, der diese Lücke füllen konnte, die Scipio hinterlassen hatte.
 

Prosper floh beinahe aus dem Stella. Stürzte aus der Tür und vergaß beinahe, sie hinter sich zuzuziehen. Scipio hätte es nicht zugelassen, dass jemand die Tür offen ließ.
 


 

Scipio. Scipio. Scipio.
 

Es war einfach, ziellos durch die Straßen Venedigs zu rennen.

Einfach zu laufen, bis die Lunge schrie und das Herz nicht mehr mitmachen wollte.

Bis die Beine ihren eigenen Takt fanden und den Körper kaum noch zu tragen schienen.
 

Wäre Bo nicht gewesen - er wäre einfach weitergerannt.

Bis er nicht mehr konnte. Bis sich sein Körper wehren würde, weil kein Sauerstoff, kein Leben mehr in ihm wäre. Es war beinahe tröstlich, zu wissen, dass es diese Möglichkeit immer gab. Die Chance, einfach aufzuhören, wenn es zu viel wurde.

Aber Prosper war stark.

Auch ohne Heimat.

Ohne Eltern.

Ohne ein Zuhause.

Das Stella hatte ihm all das gegeben. Hatte er gedacht.

Jetzt kannte er die Wahrheit.

Es war Scipio gewesen, der ihm das Gefühl von Zugehörigkeit gegeben hatte. Von Familie, Trost, Wärme - Verständnis.
 

Die Gedanken blieben.

Drehten sich. Bekämpften sich. Ließen Prosper nichts mehr spüren.
 


 

Und dann stand er vor ihm auf der Brücke.

Die Brücke, die Bo und Prosper auf ihrer ersten Flucht durch Venedig überquert hatten.

Die Brücke, auf der Prosper und Scipio Sternenbilder bestimmt hatten.

Auch wenn sie beide keine Ahnung davon hatten.

Die Brücke, auf der Prosper aufgefallen war, dass zwischen ihm und Scipio mehr war.
 

Mehr als Freundschaft.

Mehr als Brüderlichkeit.
 


 

„Hallo Prop“, sagte der Herr der Diebe.

„Ich kann die Sterne wieder sehen.“

Und Prosper war zu Hause.
 



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