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Kill Me If You Can

von

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Kyle ließ sich auf das elegante Sofa fallen.

„Ne’ ziemlich tolle Wohnung hast du, Herr Polizist.“, sagte er und machte es sich gleich bequem.

„Ach ja, findest du?“, entgegnete dieser und setzte sich neben Kyle.

„Wie ich vorhin schon sagte, könnte sie dir gehören, wenn du auf meinen Vorschlag eingehst.“ Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und bot Kyle ebenfalls eine an, was dieser jedoch ablehnte, und so zündete nur er sich eine an, bevor er weiter redete.

„Also was denkst du; wirst du mich töten?“

Kyle musterte ihn misstrauisch. Meinte der Kerl das etwa wirklich ernst?

„Und wenn ich das tu, überlässt du mir aller ernstes deinen ganzen Besitz?“

„Meine Immobilien, mein Vermögen – alles, ja.“, bestätigte der Mann.

„Hört sich wirklich verlockend an. Und ich muss nichts weiter tun als dich zu töten?“

Der Mann nickte.

„In meinem Testament steht, dass derjenige der mich tötet meine ganzen Besitztümer übertragen bekommt. Unabhängig davon wer, wann, wie und wo. Wer mich tötet kriegt alles. Du musst nach meinem Tod nur meinen Anwalt informieren und dir wird alles zugesprochen. Hier, eine Kopie des Testaments.“ Er holte das zusammengefaltete Stück Papier aus seiner Hosentasche hervor und überreichte es Kyle.

Trägt er das etwas immer mit sich rum?, fragte sich Kyle im Stillen und begutachtete die Kopie genau.

Mal angenommen der meint das wirklich ernst, dann wäre das ja verdammt geil!

„Also gut, ich bin dabei!“

„Ach ja?“, fragte der Mann und klang ein wenig verwundert. „Ich hätte ehrlich gesagt nicht mit einer so schnellen Zusage gerechnet.“, sagte er und drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Hast du denn gar keine weiteren Fragen mehr?“

„Doch, eine habe ich noch.“, antwortete Kyle.

„Und die wäre?“

„Dein Name.“

Der Mann zögerte einen kurzen Moment.

„Alastair. Alastair Lacroix.“

„So, Al, dann wollen wir mal.“, sagte Kyle und rückte näher an Alastair heran. „Ich bin übrigens Kyle. Irgendwelche letzten oder speziellen Wünsche?“, fragte er noch, während er Alastair bereits das Hemd aufknöpfte.

„Ja, einen: nimm bitte deine Hand da weg.“, erwiderte Alastair und meinte damit die Hand, die Kyle bereits auf seinen Schritt gelegt hatte.

„Och, was für ein Spielverderber. Ich könnte dein Ableben wirklich um einiges angenehmer gestalten, wenn du mich einfach machen lässt. Außerdem schmeckt erhitztes Blut um einiges besser.“, erklärte Kyle und setzte ein verführerisches Lächeln auf. „Wir hätten also beide was davon.“

Doch der sture Blick in Alastairs Augen sagte Kyle, dass dieser seine Meinung diesbezüglich nicht ändern würde.

Kyle seufzte enttäuscht.

„Also gut, also gut. Da es dein letzter Wunsch ist, lass ich dich in Ruhe. Auch wenn’s echt schade ist, du bist nämlich genau mein Typ, Herr Polizist.“

„Kannst du endlich aufhören zu reden und zur Sache kommen?“, fragte Alastair, der langsam ungeduldig wurde.

Ja, wirklich schade., dachte Kyle noch bevor er seine Vampirzähne in Alastairs Halsschlagader versenkte und trank. Und es schmeckte unerwartet köstlich! Eigentlich war Kyle gar nicht so hungrig, aber Alastairs Blut, das nun seine Kehle hinunter rann, schmeckte eindeutig nach mehr. Das Alastair schließlich aufstöhnte, wie sie es alle irgendwann taten aus Schmerz oder Lust (oder beidem), steigerte Kyles Verlangen nach dem Blut noch mehr. Er würde ihn leer trinken, bis auf den letzten Tropfen wollte er dieses Blut.

Doch plötzlich stockte ihm der Atem. Er verschluckte sich und ließ von Alastair ab, hustend und würgend fiel er vor ihm auf den Boden. Kyle versuchte vergeblich nach Luft zu schnappen, doch irgendetwas schnürte ihm die Kehle zu, sein innerstes brannte entsetzlich als stünde es in Flammen und er wand sich qualvoll. Das letzte was er hörte, bevor er das Bewusstsein verlor, war Alastair, der seinen Namen rief.
 

Als Kyle wieder zu sich kam, ging es ihm unerwartet gut. Ja, es ging ihm geradezu prächtig! Er schlug die Augen auf und fühlte sich wie neugeboren. Ungläubig setzte er sich auf. Er erinnerte sich noch zu gut an das brennende Gefühl in seinem Inneren, nachdem er von Alastair getrunken hatte, und hatte in diesem qualvollen Moment wirklich gedacht, auch er müsste nun endlich sterben. Doch jetzt lag er hier, auf einem herrlich weichen Bett und fühlte sich besser als jemals zuvor. Er setzte sich auf.

Was ist da nur passiert?, fragte er sich. In eben jenem Moment betrat Alastair das Zimmer.

„Ah, du bist wieder aufgewacht.“, bemerkte dieser und kam näher.

„Du warst drei Tage lang bewusstlos. Obwohl, ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob du nur bewusstlos oder wirklich tot bist. Also hab ich dich erstmal hierher gebracht.“ Er setzte sich neben Kyle auf das Bett.

„Äh, ja, danke. Mir geht es wieder gut.“

„Das freut mich. Dann kann ich dich ja bitten wieder zu gehen.“, sagte Alastair nüchtern.

„Wie bitte?“, fragte Kyle leicht verwundert.

„Da du es nicht geschafft hast mich zu töten, brauch ich dich nicht mehr.“, antwortete Alastair. „Wirklich schade, ich hatte gedacht für einen Vampir wäre es vielleicht möglich.“

„Klar ist das möglich! Ich weiß zwar nicht was da beim letzten Mal passiert ist, aber ich bring dich auf jeden Fall um! Wenn nicht durch Blutsaugen, dann halt eben anders!“

Alastair betrachtete ihn einen Moment.

„Nein, vergiss es.“, sagte er schließlich und erhob sich wieder. „Du hattest deinen Versuch. Wenn nicht durch Blutsaugen, dann gar nicht.“

„Ach, seit wann gab es denn so eine Bedingung?“, fragte Kyle energisch. „Es hieß doch bloß „wer mich umbringt“ und nicht „wie“! Glaub mir, ich kenn noch andere Wege dich umzubringen!“

Doch Alastair schüttelte entschieden den Kopf.

„Zwecklos. Geh nach Hau…!“ Noch bevor Alastair seinen Satz beenden konnte, hatte Kyle ihm schon die Faust in den Bauch gerammt. Kyle war schon alleine durch seine vampirischen Kräfte stärker als ein normaler Mensch, aber die Leichtigkeit, mit der er die Haut und die Muskeln durchtrennte, überraschte selbst ihn. War er stärker geworden?

„Bitte entschuldige, war jetzt nicht die feine Art sich bei seinem Gastgeber zu bedanken.“, sagte er noch als Alastairs Körper leblos zu Boden glitt. „Aber jetzt hast du ja bekommen, was du wolltest.“ Mit einem letzten Blick auf Alastairs blutbesudelte Leiche schritt er aus dem Zimmer heraus. Schade um das schöne Blut, dachte er noch und wischte sich die Hand an seinem Hemd sauber, doch nach dem letzten Mal als er dieses Blut getrunken hatte, sehnte er sich nicht gerade nach einer Wiederholung.

„So, wo liegt jetzt diese Testament-Kopie…“, murmelte er, als er ins Wohnzimmer ging. Jetzt nur noch den Anwalt informieren und dann war, voraussichtlich, das alles hier bald seins.

Auf einer Kommode, auf der ein altmodisches, aber immer noch funktionsfähiges Telefon stand, fand er auch Alastairs Adressbuch und die Nummer des Anwalts.

„Guten Tag, ich rufe an wegen Alastair Lacroix. Ja, genau. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass er…“

„…nicht tot ist.“

Kyle schreckte zusammen, als er die bekannte Stimme hörte und ihm der Telefonhörer aus der Hand genommen wurde.

„Ja Henry, ich bin es. Bitte entschuldige die Störung. Ich melde mich später noch mal.“, sagte Alastair hörbar angestrengt und legte auf.

Endlich konnte Kyle sich aus seiner verblüfften Starre lösen und drehte sich um. Hinter ihm stand Alastair, lebendig, und hielt sich die Hand vor den verwundeten Bauch. Er sah nicht gerade amüsiert aus über diese Situation.

„Was… wie kann das sein, ich hab dich getötet!“, fragte Kyle fassungslos.

„Nun, offenbar nicht.“, gab Alastair zurück und setzte sich schwerfällig in einen Sessel. „Ich sagte doch, es ist zwecklos.“ Mit einem traurigen Grinsen hob er die Hand von der Wunde weg. Kyle traute seinen Augen kaum. Sie war bereits fast vollständig verheilt!

„Was, zum Teufel, bist du? Ich kenne keinen Vampir, bei dem eine solche Verletzung so schnell heilt!“

„Nein, ein Vampir bin ich nicht. Glaube ich. Zumindest trinke ich kein Blut und kann mich auch bei Tageslicht nach draußen begeben.“, erklärte Alastair. „Ich weiß nicht, „was“ ich bin. Ich weiß nur eins: ich kann nicht sterben.“

„Hättest du mir das nicht früher sagen können?!“, entfuhr es Kyle entrüstet.

„Hätte ich, hab ich aber nicht.“, antwortete Alastair knapp und Kyle hatte so den Eindruck, als würde er nun doch ein wenig amüsiert grinsen.

„Aber mal ehrlich, hättest du mich nicht auf eine etwas unblutigere Art umbringen können? Hast du eine Ahnung wie schwer man Blutflecken wieder rauskriegt? Wobei das Hemd kann ich jetzt eh wegschmeißen.“

Trotz der Tatsache, dass Alastair leicht verstimmt war, dass Kyle seinen Fußboden und sein Hemd ruiniert hatte – von der Blutspur, die sich nun vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer zog mal ganz zu schweigen – amüsierte ihn Kyle irgendwie. Ja, doch, er fand gefallen an dem Jungen, an seiner Art überstürzt zu handeln, seinen braunen Augen mit denen er ihn nun wie ein verschrecktes, aber neugieriges Reh musterte und – Gott – er war eine Schönheit, wenn er schlief. Alastair hatte die letzten drei Tage an seinem Bett gewacht und war kaum von seiner Seite gewichen. Auch wenn er schon glaubte, sein Blut – welches sein Leben seit Ewigkeiten erhielt – hätte Kyle umgebracht. Es war etwas schwierig gewesen den schwachen Puls festzustellen und soweit Alastair wusste, zerfielen Vampire außerdem zu Staub und Asche wenn ihr Leben endete. Wobei sein Wissen über Vampire oder andere mysteriöse Wesen zugegeben eher gering war. Obwohl er selbst ein Unsterblicher war, interessierte er sich relativ wenig für die anderen Unsterblichen. Zumal es sich auch als äußerst schwierig erwies, etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Sie hielten sich von Menschen fern, für die gewöhnliche Masse unentdeckt um sich, ihre Art und ihre Gleichgesinnten zu schützen. Alastair hatte vor einigen Jahrzehnten einen Werwolf getroffen – er lief ihm zufällig bei Vollmond über den Weg – und wurde von ihm angegriffen. Natürlich überlebte er den Angriff und trotz seiner Verletzungen verwandelte er sich in den nächsten Vollmondnächten nicht in einen Wolf. Nachdem der Werwolf ihm die Brust aufgeschlitzt hatte und gerade wieder, in dem Glauben ihn getötet zu haben, seines Weges ziehen wollte, erhob sich Alastair bereits.

„Ich habe dich getötet! Wieso stehst du wieder auf, Mensch!?“, fragte der Werwolf misstrauisch und knurrte.

„Die Antwort auf diese Frage suche ich selbst schon seit langem.“, erwiderte Alastair.

Der Werwolf trat langsam näher und sog einige Male tief Alastairs Geruch ein.

„Du riechst ganz eindeutig nach Mensch. Nicht nach Vampir, nicht nach Wolf, nicht nach Dämon oder Hexe – du riechst nach Mensch. Und die riechst auch nicht so alt, wie deine Augen mir sagen dass du es bist.“

Dies war seine erste Begegnung mit Henry. Damals war Alastair bereits 256 Jahre alt und Henry noch ein Teenager. Mittlerweile stand Alastair kurz vor seinem dreihundertsten Geburtstag und Henry, der nun sein gegenwärtiger Anwalt war und über ihn und seine unsterbliche Tragödie Bescheid wusste, war kurz vor dem Ruhestand. Normalerweise bedauerte Alastair die Sterblichkeit seiner Bekanntschaften nicht sonderlich, eigentlich beneidete er sie sogar darum, aber Henry war einer seiner wenigen Vertrauten und Freunde, deren Tod er wahrhaftig betrauern würde. Auch Henry hatte einige Versuche unternommen Alastair zu töten. Aus Freundschaft, weil er wusste, wie sehr Alastair sein Leben über hatte. Doch auch er war letztlich erfolglos geblieben und hatte sich schließlich darauf beschränkt nach einem Weg zu suchen, der erfolgversprechend wäre. Bislang leider ohne die gewünschten Resultate.

Alastair seufzte innerlich. Henry war einer der wenigen Freunde die er hatte, doch eine große Unterhaltung bot er ihm nicht gerade. Wie auch; Henry hatte ein Leben, eine Familie, einen Beruf. Auch wenn er ein Werwolf war, so konnte er doch zumindest ein menschliches Leben führen ohne erkannt zu werden, denn der entscheidende Unterschied zu Alastair war, dass Henry alterte und Alastair nach wie vor wie ende zwanzig aussah. Nie konnte er lange an einem Ort bleiben ohne dass die Menschen begannen ihn misstrauisch anzusehen und hinter seinem Rücken zu tuscheln. In diesen Fällen schätzte Alastair die Großstadt in der er nun lebte. Er war bereits vier Mal umgezogen innerhalb der Selben Stadt und hatte es geschafft unentdeckt zu bleiben. Nicht, dass Alastair etwas dagegen gehabt hätte, wenn die Menschen ihn aus Angst umbringen würden. Tatsache war, sie hatten es sogar schon getan. Mehrmals. Alastair war am Galgen gehangen, wurde enthauptet, hatte auf dem Scheiterhaufen gebrannt (was die wahrscheinlich unangenehmste Erfahrung seines bisherigen Lebens war), und war dennoch nicht gestorben. An die Schmerzen seiner Regeneration erinnerte er sich leider nur zu gut – gerade in diesem Moment wo sich die klaffende Wunde an seinem Bauch wieder vollends schloss – und er war einfach nicht gerade sonderlich scharf darauf diese Erfahrung ein weiteres Mal zu machen ohne das gewünschte Ergebnis in Aussicht zu haben. Deshalb zog er es vor, von den Menschen unentdeckt zu bleiben und wie ein Mensch unter ihnen zu leben.

Doch nun hatte er einen Vampir aufgegabelt. Kyle war nicht der erste Vampir, den er jemals gesehen hatte. Er war schon einigen über den Weg gelaufen, doch die meisten nahmen Reißaus, wenn sie ihn sahen. Alastair hatte nie Gelegenheit mit einem von ihnen zu sprechen und auch Henry konnte sich nicht erklären, warum die anderen unsterblichen ihm aus dem Weg gingen. Kyle war der erste Vampir, dem seine Gegenwart nichts auszumachen schien. Warum nur?

„Kyle, wärst du vielleicht so freundlich mir ein Glas Wein zu bringen?“, fragte Alastair. „Und falls du möchtest, ich meine, falls Vampire Wein oder was auch immer zu sich nehmen können, nimm dir auch ein Glas und setz dich zu mir. Ich möchte mit dir reden.“

„Ach, auf einmal willst du reden?“, fragte Kyle genervt und ging zu dem Schrank mit den Weingläsern auf die Alastair deutete, entnahm zwei Gläser und eine noch halbgefüllte Glaskaraffe Wein und setzte sich auf den Couchtisch Alastair gegenüber. Er drückte Alastair die Gläser in die Hand und füllte sie wortlos.

Wirklich, dieser Vampir war faszinierend. Seine dunklen schwarzen Locken fielen ihm in das makellose, blasse junge Gesicht während er konzentriert und mit einer mürrischen Miene den Wein einschenkte. Eigentlich fühlte sich Alastair generell nicht zum gleichen Geschlecht hingezogen. Lag es also vielleicht an der vampirischen Ausstrahlung? Auch als Kyle ihn bei ihrem ersten Zusammentreffen unsittlich berührt hatte, was es Alastair nicht wirklich unangenehm gewesen. Nur war er in diesem Moment viel zu sehr damit beschäftigt zu sterben, anstatt sich Gedanken über seine plötzlich aufkeimenden Gefühle zu machen, und er hatte den Vampir deshalb zurückgewiesen. Er hatte ihn auch vorhin wirklich nach Hause schicken wollen. Aber als er ihm die Faust in den Magen gerammt hatte und Alastair in seinem eigenen Blut lag und sich regenerierte, da hatte er sich ernsthaft amüsiert. Er konnte es nicht länger leugnen – Kyles Gegenwart, seine Gesellschaft, bereitete ihm tatsächlich Vergnügen. Der junge Vampir - zumindest nahm Alastair an, dass er jung war, obwohl er doch am besten wissen musste, dass man unsterblichen ihr Alter nicht am Äußeren ansehen konnte – war impulsiv, direkt, selbstbewusst und nahm sich was er wollte ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Er schien nicht besonders tiefgründig oder vernünftig zu sein, aber Alastair fand seine Art erfrischend. Wenn er ihn auch nicht töten konnte, so stand es wenigstens in Aussicht, dass er Alastair für einige Zeit gute Unterhaltung bot.

„Also können Vampire auch etwas anderes trinken als Blut?“, fragte Alastair und reichte Kyle eines der Gläser zurück.

„Wir können alles Trinken und Essen was wir wollen, aber es macht uns nicht satt und hilft uns auch nicht unsere Kräfte zu regenerieren. Dafür brauchen wir nun mal Blut.“, erklärte Kyle und musterte Alastairs völlig verheilten Bauch. „Warum hast du mir nicht vorher gesagt, dass du unsterblich bist?“

Alastair nahm einen großen Schluck des dunkelroten, schweren Weines. „Nun, ich hatte gehofft, Erklärungen wären nicht nötig. Ich hatte gehofft, du würdest mich töten und dann hätten sich alle weiteren Fragen erübrigt. Tatsache ist, mit dem Zerfetzen meiner Innereien kann man mich nicht töten. Glaub mir, ich habe schon so einiges probiert um meinem Leben ein Ende zu bereiten und bisher erwiesen sich alle Versuche als sinnlos. Ein Vampirbiss stand noch nicht auf meiner Liste der „unwirksamen Todesursachen“, was sich nun aber geändert hat.“

„Du hast gut geschmeckt.“, sagte Kyle, bevor er sein Glas Wein mit einem Zug leerte. Leider wurden Vampire nur nach einer sehr großen Menge Alkohol betrunken, und so schenkte er sich gleich nach.

„Wie bitte?“, fragte Alastair irritiert.

„Du hast gut geschmeckt.“, wiederholte Kyle es für ihn. „Süß und herb, besser als jedes andere Blut, das ich vorher genießen durfte. Besser als dieser teure Wein.“, fügte er noch hinzu, als er auch das zweite Glas leerte. „Aber dein uraltes Blut ist anscheinend etwas schwer bekömmlich für Vampire.“ Er stellte das Glas beiseite und erhob sich, beugte sich vor und stützte sich mit den Armen rechts und links auf den Sessellehnen über Alastair ab. „Wenn mir nicht schwarz vor Augen geworden wäre, hätte ich dich bis auf den letzten Tropfen leer getrunken, glaub mir. Und auch jetzt noch lockt mich der Gedanke an den Geschmack deines Blutes.“, sagte er, flüsterte er beinahe an Alastairs Ohr. „Aber ich habe meine Lektion gelernt.“ Er ließ von ihm ab. „Dein Blut ist anscheinend mit Vorsicht zu genießen, also kommt diese Art dich umzubringen nicht mehr für mich in Frage. Aber ich finde schon noch einen Weg dich um die Ecke zu bringen.“, sagte er überzeugt und grinste Alastair frech an.

„Du willst es also weiter versuchen?“, hakte Alastair nach.

„Na klar.“, erwiderte Kyle nickend. „Ich will diese Wohnung! Und dein Geld! Wenn ich rausgefunden habe wie man dich killt, dann werde ich keine Sekunde zögern dir die Lichter auszublasen, das schwör ich dir.“

Doch Alastair schüttelte nur den Kopf. „Es haben schon ganz andere versucht einen Weg zu finden, mich eingeschlossen. Wieso denkst du, dass ausgerechnet du schaffen solltest, was ich in den letzten 270 Jahren nicht geschafft habe?“

„Lass dich überraschen.“, antwortete Kyle schlicht.

Alastair hob die Augenbrauen. Oh ja, das würde er.

„Also gut. Ein Jahr.“ Er nahm einen weiteren Schluck. „Ich verlängere deine Frist mich umzubringen auf ein Jahr.“

„Einverstanden. Wo kann ich schlafen?“

Alastair verschluckte sich fast. „Wo kannst du schlafen?“, wiederholte er die Frage, als sei er sich wieder nicht sicher was Kyle gerade von sich gegeben hatte.

„Ich denke es macht Sinn, wenn ich in deiner Nähe bleibe und dich beobachte. So finde ich vermutlich schneller heraus wo deine Schwachpunkte liegen.“

„Kann es auch einfach sein, dass du momentan obdachlos bist, Vampir?“

„…das spielt vielleicht auch ein klein wenig eine Rolle.“, gestand Kyle mit einem Grinsen.

Wieder musste Alastair unwillkürlich schmunzeln.

„Also gut, vielleicht hast du sogar recht. Du kannst das Zimmer haben, in dem du bereits die letzten drei Tage rum gelegen hast.“ Er stellte sein mittlerweile leeres Weinglas auf dem Tisch ab und erhob sich. Sowohl seine äußeren als auch seine inneren Verletzungen waren nun wieder vollständig verheilt und er spürte auch den Blutverlust nicht mehr.

„Warte einen kleinen Moment.“, fügte er hinzu und verschwand kurz um die Ecke, nur um nach ein paar Sekunden mit einem Putzeimer und einem Mopp wiederzukehren. „Vorerst solltest du dort vielleicht ein wenig sauber machen.“

Bei dem Anblick des Putzzeugs fletschte Kyle angewidert die Zähne. „Das ist doch nicht dein Ernst.“ Doch nachdem er Alastairs sture Miene sah, stand er kopfschüttelnd auf und riss ihm den Mopp aus der Hand.

„Wenn du dich schon hier durchschnorren willst, kannst du dich auch ein wenig nützlich machen.“, rief Alastair dem vor sich hin grummelnden Kyle nach und hatte durchaus seinen Spaß daran.
 

Mal ehrlich, da ist man so nett und bietet einem verzweifelten Unsterblichen seine gnädige Hilfe an, und dann wird man auch noch zum Putzen verdonnert!, dachte Kyle übellaunig vor sich her, als er den Boden seines neuen Zimmer schrubbte. Das nächste Mal bringe ich ihn auf eine unblutigere Art um. Nachdem er den Boden so gut er konnte vom Blut gereinigt hatte – was mit den seltsam riechenden Spezialputzmitteln die Alastair ihm in die Hand gedrückt hatte auch relativ gut funktionierte – ließ er sich nachdenklich aufs Bett fallen. Eigentlich hatte er es doch ganz gut getroffen, nicht wahr? Er hatte mal wieder für eine Weile ein Dach über dem Kopf. Kyle war noch nicht sehr lange ein Vampir. Die Nacht seiner Verwandlung lag gerade mal fünf Jahre in der Vergangenheit. Damals war er vierundzwanzig gewesen. Fünf Jahre, und seine Existenz als Vampir hatte ihm auch nicht zu mehr Erfolg verschafft, als sein menschliches Dasein. Er hatte nach wie vor kein Talent mit Geld umzugehen und war chronisch Pleite. Zu allem Überfluss konnte er mit seiner vampirischen Sonnenlichtallergie nicht tagsüber arbeiten und alle Jobs die sich für nachts anboten und ihm als lukrativ genug erschienen, waren eher zwielichtig. Nicht, dass ihn das sonderlich gestört hätte. Mit seiner Verwandlung zum Vampir nahm auch sein menschliches Gewissen stark ab und seine moralische Einstellung veränderte sich. Mit seinen fragwürdigen Geschäften verdiente er eigentlich sogar ganz gutes Geld, aber genauso schnell wie er es verdiente, gab er es auch wieder aus. Kyle lebte für den Moment, kostete das Hier und Jetzt voll und ganz aus. Von daher war ihm Alastairs Todessehnsucht auch ein Rätsel.

Ob ich mich auch mal nach dem Tod sehnen werde, wenn ich so alt bin wie er?

Kyle schüttelte diesen tiefgründigen Gedanken von sich. Was nützte es jetzt darüber nachzudenken? Er wollte sich nicht die Nacht damit verderben schwermütigen Gedanken nachzuhängen, das schien Alastair in ihrer neuen Wohngemeinschaft schon zur Genüge zu tun für sie beide. Also setzte er sich wieder auf, betrachtete noch einmal den gereinigten Boden und beschloss dann, bei dem Anblick seines immer noch von Alastairs Blut beklebten Armes, dass er selbst auch mal wieder dringend eine Dusche nötig hätte.

Er brauchte nicht lange um das Bad zu finden, da es sich direkt neben seinem Zimmer befand.

Ohne zu zögern trat er ein und schaute nicht schlecht, als er Alastair gegenüber stand, der gerade eben aus der Dusche getreten war und sich ein Handtuch um die Hüften wickelte.

Kyle blinzelte irritiert.

„Ich hätte nichts dagegen, wenn du das nächste Mal anklopfen würdest.“, bemerkte Alastair gelassen.

„Du…du könntest auch einfach abschließen.“, entgegnete Kyle immer noch ein wenig verunsichert. Wieso hatte er ihn nicht gehört? Auch vorhin, als er sich Kyle am Telefon von hinten näherte, hatte Kyle ihn nicht wahrgenommen.

„Stimmt auch wieder.“, gab Alastair zu und nahm sich ein weiteres Handtuch um seine Haare trocken zu rubbeln. „Ich bin es eben nicht gewöhnt Mitbewohner zu haben. Wenn du Duschen möchtest; Handtücher findest du im dem Schank hier und alles andere in der Kommode unter dem Waschbecken.“

„Danke.“, war alles was Kyle herausbrachte, als er Alastair hinterher sah wie dieser das Bad verließ.

„Keine Ursache.“

Verdammt, war der Kerl sexy! Angezogen in den schicken Klamotten und mit den zurückgekämmten braunen Haaren sah Alastair spießig und, nun ja, langweilig aus. Aber so, halbnackt, tropfend, und mit zerzausten Haaren, was er ziemlich attraktiv. Er war groß und schlank, aber auch trainiert. Zudem hatten seine grauen Augen etwas wildes, dass so gar nicht zu ihm zu passen schien.

Kyle kannte sich gut genug um zu wissen, dass er eindeutig auf Alastair stand. Schon bei ihrer ersten Begegnung war er von den markanten Gesichtszügen und der Autorität die Alastair auf ihn ausübte angetan gewesen und er war vielleicht auch ein klein wenig ehrlich enttäuscht gewesen, als er bei seinem ersten Annäherungsversuch abgewiesen wurde.

Doch jetzt, nachdem er diesen herrlichen Anblick genießen durfte, fasste er einen erneuten Entschluss: er würde ihn verführen. Ja. Genau. Er würde ihn verführen und dann würde er ihn töten. Oder beides gleichzeitig? Wenn das ging, warum nicht? Warum sollte Alastair im Angesicht seines Todes nicht ein wenig Spaß dabei haben?

Wollen doch mal sehen, wie sich das machen lässt., dachte Kyle vergnügt, als er sich unter die Dusche schwang. Bisher hatte er noch jeden rumgekriegt den er haben wollte. Schließlich war er ein verflucht schöner Mann und sich dessen und seiner Wirkung auf beide Geschlechter durchaus bewusst. Während er an seiner Verführungsstrategie arbeitete – anstelle sich Gedanken um Alastairs Ermordung zu machen – seifte er sich gründlich den Körper ein um das Blut abzuwaschen, und an anderen Stellen, die eigentlich von den Blutspritzern unbefleckt geblieben waren, sogar noch etwas gründlicher.
 

22:30. Normalerweise würde sich Alastair um diese Zeit bereits zum Schlafen begeben. Er war kein sonderlicher Nachtmensch und eines der wenigen Dinge, die er am Leben vielleicht doch ein wenig mochte, waren der morgendliche Sonnenaufgang und der unvergleichliche Duft den die Welt bei Tagesanbruch verströmte. Aus diesem Grund zog er es vor zeitig ins Bett zu gehen und früh aufzustehen. Doch nun hatte er einen Gesellschafter, dessen Gegenwart er nur des Nachts wahrnehmen konnte. Also würde er sich eben eine Tasse Kaffee zubereiten müssen. Zu Alastairs Glück wirkten Genussmittel nach wie vor auf ihn wie zu seiner Zeit als er noch sterblich war.

Er hatte sich gerade angezogen, als ein lasziv in einem nur lose geschlossenen Bademantel gekleideter Kyle in sein Zimmer stiefelte. Mal wieder ohne anzuklopfen natürlich.

„Womit kann ich dir helfen, Kyle?“, fragte Alastair, während er noch die letzten Knöpfe seines weißen Hemds schloss.

Ohne zu antworten schritt Kyle wie selbstverständlich auf Alastairs Kleiderschrank zu und inspizierte kritisch den Inhalt.

„Also wirklich, du hast tatsächlich einen spießigen Kleidungsstil.“, bemerkte er, als er die gebügelten weißen Hemden und die sorgfältig aufgehängten Anzüge begutachtete.

„Du besitzt ja nicht auch nur eine einzige Jeanshose!“

„Tja, tut mir Leid für dich. Falls du etwas zum Anziehen brauchst kannst du dir erstmal etwas von mir nehmen. Ich denke nämlich nicht, dass du mit den blutverschmierten Sachen die du anhattest nach draußen gehen solltest.“

Widerwillig angelte sich Kyle eines der wenigen dunkelblauen Hemden aus dem Schrank.

„Deine Sachen sind mir mindestens zwei Nummern zu groß.“, maulte er. Aber angesichts der Tatsache, dass er gerade keine anderen Klamotten zum Wechseln besaß, blieb ihm gar nichts anderes übrig. „Hab ich das gerade richtig verstanden; wir gehen heute Nacht aus?“, fragte er, während er sich eine von Alastairs Unterhosen überstreifte.

„Ich denke, wir könnten noch so einiges gebrauchen, wenn wir ab heute zu zweit in meiner Wohnung leben.“ Mit einem Blick auf Kyle, der sich gerade eine von Alastairs schwarzen Anzugshosen anzog und den Gürtel bis ins letzte Loch schloss, damit sie nicht rutschte, fügte er noch hinzu: „Wir könnten dir zum Beispiel auch neue Kleidung kaufen.“

Kyles Augen leuchteten.

„Du bezahlst alles?“

„Nun, wie man es sieht – im Grunde geben wir dein zukünftiges Erbe aus.“

„Soll mir Recht sein. Aber… es ist beinahe elf Uhr und alle Geschäfte sind bereits geschlossen.“, bemerkte Kyle.

Alastair nickte. „Das mag stimmen, aber ich kenne da so einige Geschäfte, die für uns ganz sicherlich mit Vergnügen die Türen wieder öffnen werden.“, sagte er und ging ins Wohnzimmer um einen Anruf zu tätigen, der eben dies bewerkstelligen würde.
 

Als sie wieder in Alastairs Wohnung zurückkehrten, war es bereits vier Uhr morgens.

Kyle warf die vielen Tüten mit seinen neuen Klamotten vergnügt in eine Ecke des Eingangsbereichs und schritt geradewegs in das Wohnzimmer um sich erschöpft längs auf das gemütliche Sofa fallen zu lassen.

„Das hat richtig Spaß gemacht.“ Wirklich, die Dinge entwickelten sich geradezu perfekt nach seinem Geschmack.

Alastair, der gerade dabei war die Einkauftüten aufzuheben und in Kyles Zimmer zu bringen, enthielt sich jeglichen Kommentars. Obwohl auch er ihren gemeinsamen Einkauf mehr genossen hatte als vermutet.

„Du hättest mir sagen können, dass du so verdammt reich bist!“, rief ihm Kyle aus dem Wohnzimmer zu. „Dann hätte ich mir mehr Mühe gegeben dich umzubringen.“

„Bitte, tu dir keinen Zwang an.“, antwortete Alastair als er sich wieder zu Kyle gesellte und sich neben ihm auf das Sofa fallen ließ.

„Wie bist du so reich geworden? Verdient man als Polizist etwa so gut?“, fragte Kyle neugierig.

„Als Polizist?“ Alastair runzelte einen Moment fragend die Stirn. „Ach, du meinst wegen unserem ersten Zusammentreffen... nun, wie soll ich sagen; die Marke ist natürlich eine Fälschung.“

„Hab ich mir schon fast gedacht.“, gab Kyle kaum überrascht zurück. „Obwohl Polizist schon irgendwie zu dir gepasst hätte, so vom Typ her.“

„So, findest du? Ich war nämlich mal wirklich so was wie ein Polizist.“, erzählte Alastair. „Das ist allerdings schon sehr, sehr lang her. Die gefälschte Marke trage ich auch nur bei mir, weil sie sich schon einige Male als sehr nützlich erwiesen hat.“

Zustimmend nickte Kyle ihm zu. Auch er hatte bereits so einige gefälschte Papiere besessen und sich sein Leben damit erleichtert. Auch zu Lebzeiten schon.

„Erzähl mir mehr davon. Von deinem bisherigen Leben.“, bat er Alastair und nahm seine Hand. „Ich bin sicher, das Geheimnis deiner Unsterblichkeit liegt irgendwo darin versteckt.“

Alastair drehte den Kopf zur Seite und sah Kyle direkt in die Augen.

„Später. Nicht jetzt.“, sagte er, entzog ihm seine Hand und stand auf. „Bitte entschuldige mich für heute. Unser Ausflug hat mich erschöpft, ich bin leider kein sonderlicher Nachtmensch.“

„Wie schade. Dann… gute Nacht, Al. Und danke für die Klamotten.“, fügte Kyle noch hinzu.

„Gern.“, nickte Alastair ihm zu bevor er sich zunächst noch kurz ins Bad und dann in sein Schlafzimmer begab.

Kyle schaute auf die antike Pendeluhr, die an einer Seite des Wohnzimmers stand. Er hatte noch gut zwei Stunden Zeit bis Sonnenaufgang, die er sich irgendwie beschäftigen musste.

Er entschloss sich, erstmal einen kleinen Wohnungsrundgang zu machen. Bisher hatte er ja noch kaum Gelegenheit sein neues Heim und sein vorrausichtlich baldiges Eigentum genauer zu begutachten.

Alastair gehörte eine schöne Altbauwohnung nahe zur Innenstadt. Die Wohnung lag im zweiten Stock und bot vom Wohnzimmer mit den hohen Decken und Fenstern eine schöne Aussicht auf den Fluss, an dem das Wohnhaus lag.

Die Wohnung hatte eine Größe von ungefähr hundertfünfzig Quadratmetern und bestand aus einem kleinen Eingangsbereich der direkt in das große Wohnzimmer überging, sowie rechts vom Eingang einer geräumigen Küche nebst Esszimmer und links vom Eingang zwei großen Schlafzimmern zwischen deren Mitte sich das Badezimmer befand.

Obwohl Kyle immer dachte, er wäre eher der moderne Typ, fand er großen Gefallen an Alastairs Einrichtungsgeschmack. Ihm gefielen die dunklen Möbelstücke aus Kirschholz im Wohnzimmer und der schwere runde Esstisch mit den schweren dazugehörigen Stühlen im Esszimmer. Was Farben betraf, so schien Alastair eine Vorliebe für grün, dunkelblau und braun zu habe. Bei dieser Art von Einrichtung, wunderte sich Kyle dann doch ein wenig, über die modern ausgestattete Küche, in der wirklich alles an Küchenhilfsmitteln vorhanden war was man eventuell mal gebrauchen konnte.

Ob Alastair gerne kocht?, fragte sich Kyle und inspizierte den prall gefüllten Kühlschrank.

Eine Antwort auf diese Frage würde er wohl erst morgen, oder besser gesagt heute am späten Abend erhalten. Er ließ noch einen letzten Blick über die Küche schweifen bevor er sich nun auch in sein Zimmer begab.

Verwundert und auch leicht erfreut stellte Kyle fest, dass Alastair bereits alle seine neuen Kleidungsstücke in den großen Schrank neben der Tür geräumt hatte.

Ohne sich auszuziehen und in einen seiner neuen Pyjamas zu schlüpfen – von denen er immer noch nicht wusste warum Alastair darauf bestanden hatte sie zu kaufen, wo Kyle doch aus Gewohnheit immer in seinen normalen Klamotten schlief – ließ er sich einfach auf sein großes Bett fallen. Die Vorhänge und die Jalousie vor dem Fenster waren schon die ganze Zeit über geschlossen gewesen. Gut, dass Alastair mitgedacht hatte und ihn nicht einfach der Sonne ausgesetzt in diesem Zimmer aufgebahrt hatte. Vampire verbrannten zwar nicht sofort wenn sie mit der Sonne in Kontakt gerieten, aber es griff langsam aber sicher ihre Haut an, ihnen wurde schlecht und es zerrte stark an ihren Kräften. Kyle hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht weshalb das so war, aber über Dinge, die er seines Wissens nach sowieso nicht ändern konnte, dachte er nun mal prinzipiell nicht nach.

Kyle rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke, während er auf den Tag wartete. Mit dem Sonnenaufgang würde auch der Schlaf kommen und ihn bis zum Anbruch der nächsten Nacht wieder in eine wehrlose Leiche verwandeln. Kyle überlegte kurz, ob er Alastair wirklich trauen konnte, oder ob er lieber die Tür verriegeln und die schwere Kommode davor schieben sollte. Er seufzte kurz über seine misstrauischen Gedanken und schüttelte lächelnd den Kopf. Wenn Alastair ihn hätte töten wollen, dann hätte er bereits die letzten drei Tage dafür Zeit gehabt. Das Bedürfnis, sich einen sicheren Schlafplatz zu schaffen, hatte Kyle mit seiner Verwandlung zum Vampir entwickelt. Denn im Gegensatz zu Alastair hing er an seinem Leben und wollte nicht tagsüber von irgendeinem Vampirjäger oder so was – Kyle war zwar noch nie einem begegnet, hatte aber bereits von Menschen gehört die Jagd auf seine Art und andere Unsterbliche machte – während seiner wehrlosen Zeit überrascht und getötet werden.

Er war froh, dass er nicht in einem Sarg schlafen musste, auch wenn die Dinger im Notfall auch ihren Dienst erwiesen und sogar noch recht gemütlich waren, und räkelte sich gemütlich auf den kuscheligen Laken. Es dauerte nicht lange, da fielen ihm die Augen zu und er war eingeschlafen.
 

Als er wieder erwachte, hörte er genau in diesem Augenblick eine fremde Stimme aus dem Nebenraum Schreien.

„Herr Lacroix!“, schrie die Frauenstimme entsetzt.

Kyle zögerte keine Sekunde, sprang auf und stürmte aus dem Zimmer.

„Der schöne Sessel!! Sie wissen doch wie mühselig es ist eingetrocknete Blutflecken wieder zu entfernen! Hatten Sie mir nicht versprochen, ein wenig mehr auf sich achtzugeben?“, beschwerte sich die fremde Stimme vorwurfsvoll.

Kyle hielt in seiner Bewegung inne und starrte die Fremde unsicher an. Alastair stand wohlbehalten neben ihr und ließ brav ihre Schimpferei über sich ergehen.

„Bitte verzeihen Sie, Julietta.“

Wusste die Frau etwa über Alastairs Geheimnis Bescheid? Kyle ließ seinen Blick abschätzend zwischen den beiden hin- und herschweifen, bis Julietta ihn endlich wahr nahm.

„Oh, Sie haben einen Gast!“, bemerkte sie und verbeugte sich leicht beschämt. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich nicht so laut bei Ihnen beklagt; bitte entschuldigen Sie diese Unannehmlichkeit, Herr Lacroix.“ Mit immer noch geröteten Wangen wendete sie sich Kyle zu. „Mein Name ist Julietta Gerner und ich bin Herrn Lacroix's Raumpflegerin. Es freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Na na, nicht so ernst Julietta.“, sagte Alastair und legte ihr freundschaftliche die Hand auf die Schulter. „Mit Kyle können Sie ganz normal reden. Er wird für die nächsten Monate mein Gast sein.“

„Das kommt aber selten vor, dass Sie mal einen Gast haben, Herr Lacroix. Umso mehr freut es mich Sie kennenzulernen, Kyle.“, sagte Julietta und nickte Kyle mit einem netten Lächeln zu. Da Kyle immer noch nicht so ganz wusste, was er von der Situation halten sollte, lächelte er einfach nur zurück.

„Ja, freut mich auch. Freut mich wirklich sehr zu wissen, dass Alastair eine Putzfrau hat.“ Die normalerweise für die Reinigung seiner Fußböden verantwortlich ist!, fügte er noch in Gedanken hinzu. Alastair schien seine Gedanken zu erahnen und wies ihn mit einem Kopfnicken an, ihm in die Küche zu folgen.

Julietta blickte ihnen noch kurz nachdenklich nach, bevor sie sich daran machte von dem blutbefleckten Sessel, in dem Alastair nach Kyles Attacke noch gesessen hatte, leise vor sich her summend die Polster abzuziehen.

„Wieso lässt du mich den Fußboden wischen, wenn du doch eine Putzfrau hast?!“, war das erste was Kyle anmerkte, als Alastair die Tür hinter ihnen schloss.

„Und wieso scheint sie es gewohnt zu sein, dass ab und zu mal eine gewisse Menge Blut auf deinen Möbelstücken landet? Weiß sie etwa Bescheid?“

Alastair schüttelte den Kopf. „Nein, sie weiß nicht Bescheid. Sie denkt, ich leide unter Hämophilie.“

Kyle leckte sich mit der Zunge über die Lippen. „Und das hat sie dir abgekauft?“

Alastair zuckte mit den Schultern. „Offenbar schon. Aber schau; die große Menge Blut die ich verloren habe, und die in einer unnötigen Blutspur durch meine Wohnung verteilt war, konnte ich ihr nun wirklich nicht zumuten ohne dass sie ernsthaften Verdacht geschöpft hätte.“

„Und das Blut auf dem Sessel hast du wohl einfach vergessen?“

Wieder zuckte Alastair mit den Schultern. „Wundert dich das, bei dem was hier gestern los war?“

„Nicht wirklich.“, gab Kyle zu. „Warum kommt sie erst abends?“

„Weil sie tagsüber noch einen anderen Job hat, ganz einfach.“, antwortete Alastair und werkelte an der Kaffeemaschine rum.

„Möchtest du auch einen Kaffee?“

Kyle lehnte dankend ab. Obwohl er den Geruch von Kaffee liebte, war der Geschmack ihm zuwider.

„Möchtest du sonst etwas stattdessen?“, hakte Alastair höflich nach.

„Blut wäre nicht schlecht.“, sagte Kyle und gab mit einem frechen Grinsen seine spitzen Beißerchen frei.

„Habe ich leider nicht im Haus.“, bemerkte Alastair trocken. „Außer du möchtest einen weiteren Versuch starten mein Blut zu trinken.

„Hmm….“, machte Kyle und sog genießerisch die Luft ein, als würde er etwas besonders wohlriechendes Riechen. „Ich glaube, das stimmt nicht so ganz.“ Seine Augen wanderten vielsagend zu der verschlossenen Tür zum Wohnzimmer. „Da ist ein wahrer Leckerbissen in deiner Wohnung.“

„Denk nicht mal dran!“, warnte ihn Alastair. „Julietta ist tabu, verstanden? Und generell möchte ich, dass du deine Nahrung außerhalb dieser Wohnung zu dir nimmst.“

Bei Alastairs scharfem Ton zog Kyle missmutig die Nase hoch. „Da habe ich nun schon so eine schicke Bleibe und darf nicht einmal wen zum Angeben mitschleppen. Muss ich mir wohl für die Zeit nach deinem Ableben aufsparen.“

„Was du dann machst ist mir in der Tat vollkommen egal.“, gab Alastair zurück und schüttete sich eine Tasse frischen Kaffee ein.

„Dann wäre es dir auch egal, wenn ich mich – nachdem ich dich getötet habe – an Juliettas Blut verköstige?“, fragte Kyle mit unschuldiger Miene. Für diese Bemerkung erntete er zwar einen frostigen Blick, aber Alastair Widersprach ihm auch nicht.

„Also gut, wie dem auch sein; ich brauch jedenfalls dringend was zu Essen heute Nacht, deshalb werde ich mal eben losziehen.“, sagte Kyle mit einem Seufzen und ging Richtung Tür. „Sieh zu, dass du noch wach bist, wenn ich in drei, vier Stunden wiederkomme. Ich will das Gespräch von gestern wieder aufnehmen und hören, wie das mit deiner Unsterblichkeit genau begonnen hat.“ Mit diesen Worten schritt er aus der Küche, schenkte Julietta noch ein charmantes Lächeln und verließ die Wohnung für einen kleinen Mitternachtssnack.
 

Es war bereits ein Uhr nachts, als er zurückkehrte. Er hatte von einer jungen Frau getrunken, die Julietta ähnlich sah, zumindest war sie ungefähr im gleichen Alter, hatte das Selbe lange, braune Haar und trug ebenfalls wie die Reinigungskraft eine Brille mit runden Gläsern. Die Mahlzeit hatte ihn gesättigt, seine Reserven vorerst wieder gefüllt und seinen Zweck somit getan. Aber so wirklich befriedigt hatte ihn ihr Blut nicht. Während er von ihr trank und sie in seinen Armen seufzte, waren seine Gedanken ausschließlich bei Alastair. Bei seinem Blut, um genauer zu sein. Alastairs Blut hatte ihn wortwörtlich umgehauen. Und es hatte ihn so lange gesättigt, wie kein anderes Blut zuvor. Seine jetzige Mahlzeit war die erste nach fünf Tagen. Normalerweise hielt er es keine zwei Tage ohne zumindest einen Tropfen frisches Blut aus. Mir einem sanften Kuss auf die Lippen entließ er seine Blutspenderin aus seinen Armen, die daraufhin lächelnd und wie in Trance wieder ihrer Wege ging. Kyle war wirklich gut, fand er selbst. Seine Opfer merkten meistens nicht mal, dass er sie gebissen hatte und bedankten sich auch noch bei ihm für die schöne, leidenschaftliche gemeinsame Zeit. Zeit, die Kyle momentan lieber mit Alastair verbracht hätte.

Als er nun wieder vor Alastairs Wohnungstür stand, fiel ihm auf, dass er überhaupt keinen Schlüssel besaß.
 

Alastair trank bereits die fünfte Tasse Kaffee diesen Abend.

Er war müde, und dass er sich langweilte verbesserte seine Laune auch nicht gerade zusätzlich.

„Wie lange braucht er denn noch? Kann doch nicht so schwierig sein, was zum Naschen aufzureißen, wenn man so aussieht wie er.“, grummelte Alastair vor sich her, als es endlich an der Tür klingelte. Er vergewisserte sich, dass es sich wirklich um Kyle handelte der da vor der Tür stand, und öffnete ihm. Alastair notierte sich in Gedanken, Kyle seinen Zweitschlüssel zu geben. Während er lauschte wie Kyle die Treppen hochstieg – einen Fahrstuhl gab es in dem altmodischen Gebäude ja nicht – lehnte er sich gegen den Türrahmen und sah erwartungsvoll zum Treppenaufgang. Ob die Aufnahme von frischem Blut eine sichtliche Veränderung bei Kyle bewirkt hatte? Am frühen Abend, als Kyle gerade erst aufgestanden war, hatte er leicht sichtliche Schatten unter den Augen gehabt. Waren dies bereits Anzeichen dafür, dass ein Vampir neues Blut brauchte? Als Kyle endlich die letzte Stufe erklommen hatte und ihm vergnügt entgegenwinkte, sah sich Alastair in seiner Vermutung bestätigt. Die Augenringe waren verschwunden, die Haut wirkte strahlender und weniger blass als vorher.

„Das waren eindeutig mehr als vier Stunden.“, bemerkte Alastair kritisch. Kyle grinste ihm frech ins Gesicht.

„Manchmal dauert es eben ein wenig länger. Die Jagd macht schließlich den meisten Spaß daran aus.“

Alastair schloss die Tür hinter ihnen.

„Ich will gar nicht erst nach Details über deine „Jagd“ fragen. Und übrigens; würdest du bitte zukünftig deine Schuhe ausziehen, wenn du die Wohnung betrittst?“

Kyle stoppte in der Bewegung und schaute auf seine Füße. Er trug nach wie vor seine Straßenschuhe, so wie immer. Mit einem Seitenblick auf Alastair schlüpfte er aus den Schuhen und ließ sie einfach da liegen wo er sie ausgezogen hatte, bevor er seinen Weg ins Wohnzimmer fortsetzte.

Alastair schüttelte missbilligend den Kopf als er Kyles Schuhe nahm und ordentlich in das Schuhregal stellte. Der macht das doch extra!, stellte Alastair für sich fest und musste mal wieder zugeben, dass ihm Kyles folgsame und zugleich rebellische Art trotz allem gefiel.

Er gesellte sich zu ihm ins Wohnzimmer und nahm wieder auf der Couch neben Kyle platz. Normalerweise setzte er sich meistens in den Sessel, aber wenn er Gesellschaft hatte, zog er doch die Nähe zur anderen Person vor.

„Ich bin etwas müde und nicht in der Stimmung für irgendwelchen Smalltalk, also lass uns am Besten gleich zur Sache kommen.“, sagte Alastair bestimmt. Kyle nickte ihm zu.

„Meinetwegen. Also schieß los.“

„Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, wann ich unsterblich geworden bin.“, begann Alastair mit seiner Erzählung. „Kurz nach meinem neunundzwanzigsten Geburtstag wurde ich schwer verletzt, doch die Wunde verheilte unheimlich schnell vor meinen Augen und nicht einmal eine Narbe blieb zurück. Das war der Moment, wo es mir bewusst wurde, dass etwas nicht mehr mit mir stimmt und mit der Zeit, mit weiteren Verletzungen, mit der Tatsache, dass ich nie krank wurde und dass ich nicht alterte, bestätigte sich meine Vermutung langsam. Wirklich sicher war ich mir allerdings erst, als man mich das erste Mal enthauptete.“

„Das erste Mal?! Wie oft bist du denn bisher enthauptet worden?“, fragte Kyle, sichtlich schockiert darüber. Würde man ihn enthaupten, dann würde er sofort zu Asche zerfallen. Und zwar gleich beim ersten Mal.

„Nur zwei Mal. Danach habe ich stets versucht diese Art von Tod zu vermeiden. Es ist ziemlich unangenehm wenn man seinen Kopf wieder regenerieren muss. Um nicht zu sagen, es ist ziemlich schmerzvoll.“

„Und was ist mit deinem abgetrennten Kopf passiert?“, wollte Kyle wissen.

„Das weiß ich nicht. Jedes Mal wenn ich enthauptet wurde, blieb mein Geist? Mein Bewusstsein? Meine Seele? – ich weiß leider nicht wie man es am besten nennen soll – in meinem Körper, nicht im Kopf. Und mit dem Körper kann man leider nicht sehen was mit deinem Kopf angestellt wird.“

„Hm… und wenn man dich in viele kleine Stücke teilt?“

„Fügt sich irgendwann irgendwie wieder alles zusammen. Ich schwöre, ich habe nicht den blassesten Schimmer wie das funktioniert. Wenn ich wieder zu mir komme, bin ich einfach wieder an einem Stück. Ich habe schon einiges an Dingen gesehen, die ich als Mensch für unmöglich gehalten habe. Ich habe mich Jahrzehnte lang mit Alchemie und Magie beschäftigt, bin aber nirgends auf einen Hinweis gestoßen was mit mir passiert sein könnte.“

Kyle strich sich nachdenklich über das Kinn und stützte schließlich die Hand auf. „Fazit ist also: dich kann man nicht durch körperlichen Schaden umbringen.“ Das macht die Sache natürlich um einiges komplizierter, dachte Kyle frustriert, da er es eigentlich nicht so mit komplizierten Dingen hatte.

„Was ich dir auch gestern schon mitgeteilt habe.“, bestätigte Alastair.

„Wie sieht es dann mit seelischen Schäden aus?“, fragte Kyle nach. „Schließlich können Menschen auch an einem Schock oder gebrochenem Herzen sterben.“

Alastair machte eine unmerkliche Atempause, bevor er resignierend die Luft ausstieß.

„Von beidem hatte ich wahrlich schon genüge; sowohl bevor als auch nachdem ich unsterblich wurde.“

„Das heißt also, du hattest so einige Geliebte?“ Jetzt wurde Kyle doch neugierig.

„Natürlich, was denkst du denn. Wenn man so viele Jahre lebt wie ich, dann kann man sich durchaus mehrmals ernsthaft verlieben.“ Alastair schüttelte den Kopf. „Aber ich will darüber nicht reden. Schließlich werden dir meine Liebesgeschichten aus den letzten drei Jahrhunderten nicht dabei helfen meiner Unsterblichkeit auf den Grund zu kommen.“

„Wie schade.“, kommentierte Kyle, der durchaus Interesse an Alastairs vergangenen Affären hatte. „Aber hab ich da gerade Richtig gehört? Die letzten drei Jahrhunderte? Wie alt bist du denn genau, Al?“

„Wenn ich im Laufe der Zeit nicht Mal den einen oder anderen Geburtstag vergessen habe, dann werde ich im Dezember dreihundert.“

„Dreihundert! Wow. Nicht schlecht. Ich bin bisher noch niemandem begegnet, der so alt ist.“, gestand Kyle. „Es soll zwar auch ziemlich alte unter uns Vampiren geben, aber die halten sich anscheinend von den jungen Vampiren eher fern.“

„Sie werden schon wissen warum.“, gab Alastair müde zurück. „Du bist also einer von den „jungen Vampiren“? Was zählt den bei euch als jung?“, fragte er und gähnte.

„Was soll das denn bitte heißen?“, fragte Kyle ein wenig beleidigt zurück, dann zuckte er mit den Schultern. „Kein Ahnung, um ehrlich zu sein ab wann ein Vampir zu den Alten gehört. Aber ja, ich gehöre mit Sicherheit zu den Küken. Ich bin erst seit fünf Jahren ein Vampir. Als ich verwandelt wurde, war ich vierundzwanzig.“ Diesmal war es Kyle, der wieder auf das eigentliche Gespräch zurückkam. „Also wenn du mit ungefähr neunundzwanzig – so alt werde ich übrigens nächsten Monat – die ersten Anzeichen deiner Unsterblichkeit wahrgenommen hast, dann werden wir uns eben auf dein Leben davor konzentrieren. Erzähl mir am besten alles bis ins kleinste Detail: Wo du herkommst, wie du aufgewachsen bist, was für einen Beruf du hattest und erzähl auf jeden Fall auch von deinen Romanzen, klar?“ Kyle hatte sich Richtig in Rage geredet in der Aufregung was er alles über Alastair erfahren würde und schaute Alastair erwartungsvoll an, als dieser nicht antwortete.

„Al?“ Na toll, ist eingepennt…
 

Alastair schlief in dieser Nacht sehr unruhig. Wie immer, wenn er über sich und seine Unsterblichkeit mit jemandem redete, träumte er von den Dingen, die er bewusst in den Gesprächen ausgelassen hatte.

Alastair, Geliebter…

Alastair schreckte hoch. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn und sein Herz raste so sehr, dass es schmerzte. Zitternd rieb er sich mit der Handfläche über die Stirn.

„Vivienne…“, flüsterte er schwach. Musste er ausgerechnet von ihr träumen? Ihre Stimme hatte so nah geklungen. Selbst nach so vielen Jahrhunderten konnte er sich immer noch an den Klang ihrer vollen Stimme erinnern als wäre es erst gestern gewesen, dass sie in seinen Armen gelegen hatte.

„Wer ist Vivienne?“, hörte er eine so ganz und gar nicht nach einer Frau klingenden Stimme neben sich fragen. Alastair schaute irritiert zur Seite und versuchte die Lage zu begreifen.

„Was machst du in meinem Bett, Vampir?“, fragte er Kyle, der neben ihm seitlich auf der Decke lag, den Kopf mit seiner Hand abstützte und ihn beobachtete.

„Du bist gestern mitten in unserem Gespräch eingeschlafen.“, erklärte Kyle und räkelte sich genüsslich auf dem weichen Bett. „Also hab ich dich ins Bett getragen, nett wie ich bin. Und dann hatte ich keine Lust mehr in mein Zimmer zu gehen und bin einfach da geblieben.“, schloss er seine Erklärung.

„Aha…“, war das einzige was Alastair darauf zu antworten wusste. Er schaute auf den Wecker neben seinem Bett. Fünf Uhr dreißig.

„Solltest du nicht lieber in dein Zimmer gehen? Die Sonne geht bald auf.“

„Ein paar Minuten hab ich noch.“, erwiderte Kyle. „Erzähl mir lieber von dieser Vivienne, wegen der du so unruhig geschlafen hast.“

Kyle hatte ihn also beim Schlafen beobachtet? Aha, na schön. Er konnte es ihm nicht vorwerfen, schließlich hatte er ihn sogar drei Tage lang im Schlaf betrachtet.

„Ich glaube nicht, dass ein paar Minuten reichen werden um alles über Vivienne und mich zu erzählen.“, merkte Alastair an. „Ich werde dir schon noch von ihr erzählen, denn sie gehört zu den Menschen, die ich noch zu meiner Zeit vor der Unsterblichkeit traf.“

„Gib mir wenigstens einen kleinen Tipp wer sie war, damit ich nicht allzu neugierig Schlafen gehen muss.“, bat Kyle und stand auf um sich in sein Zimmer zu begeben.

„Vivienne… Sie war die Frau meines Bruders. Meine Schwägerin.“

Kyle zog die linke Augenbraue hoch. „Du warst also in die Frau deines Bruders verliebt?“

„Davon habe ich kein Wort gesagt!“

Kyle schüttelte mit einem schiefen Lächeln den Kopf. „War auch gar nicht nötig. Du solltest mal dein Gesicht sehen, wenn du ihren Namen aussprichst, Al.“, sagte er und ging zur Tür. „Ich brenne schon darauf mehr über euch beide zu erfahren.“, fügte er noch hinzu, bevor er in sein Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.

Alastair ließ sich wieder in die Kissen sinken und starrte an die Decke.

„Vivienne, wohin bist du nur damals verschwunden?“
 

Mit gemischten Gefühlen legte Kyle sich auf das Bett seines Zimmers. Es gab also eine Frau in Alastairs bisherigem Leben, von der er selbst nach einer Ewigkeit noch träumte. Obwohl Kyle nichts von ihr wusste, noch nicht, konnte er sie jetzt schon nicht leiden. Sie hatte Alastair Albträume beschert, zumindest hatte er so ausgesehen, als würde er nicht gerade die angenehmsten Dinge von ihr träumen. Er hatte sich hin- und hergewälzt und im Schlaf gestöhnt. Kyle hatte ihn die ganze Zeit dabei beobachtet. Er hätte nie gedacht, dass es so interessant sein könnte jemandem beim Schlafen zuzusehen. In dem Gesicht von dem sonst so emotionslos drein schauenden Alastair spiegelten sich so viele unterschiedliche Gefühle wieder, dass Kyle ihn ganz fasziniert angestarrt hatte. Bisher kannte er nur dessen mürrische Miene und die seltenen Anflüge eines leichten Lächelns. Unwillkürlich fragte sich Kyle, wie Alastair wohl ausschaute, wenn er richtig wütend wurde. Oder lachte.

Ein Lachen würde ihm bestimmt gut stehen, dachte Kyle und versuchte sich Alastair mit einem lachenden Gesicht vorzustellen. Bei der Vorstellung wie sich Alastairs Mundwinkel nach oben bogen und sich die Lippen für ein Lachen öffneten, strich sich Kyle lächelnd mit dem Zeigefinger über die eigene Unterlippe. Wie würde es sich wohl anfühlen diese Lippen zu küssen? Bevor Kyle diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, wurde er vom Tag eingeholt und in den üblichen traumlosen Schlaf geholt.
 

Genervt klappte Alastair den Laptop zu. Er hatte versucht ein wenig zu arbeiten, aber immer wieder wurde er an seinen Traum erinnert und an Kyle, den er als ersten nach dem Aufwachen gesehen hatte. Nachdem Kyle das Zimmer verlassen hatte, war Alastair, erschöpft von seinem unruhigen Schlaf, noch einmal eingeschlafen. Bis zum Mittag hatte er in seinem Bett gelegen und versucht an nichts zu denken. Schließlich war er aufgestanden, hatte sich eine Mahlzeit zubereitet und den Laptop hochgefahren. Doch bereits nach einer Stunde, in der er sich vergeblich abgemüht hatte ein paar Worte zu schreiben, gab er resignierend auf. Seine innere Unruhe würde ihm heute nicht bei seiner Arbeit weiterhelfen, also beschloss er einen Spaziergang zu machen. Er stand von seinem Arbeitsplatz auf, dem alten Sekretär der an einer Seite des Wohnzimmers stand, und wollte gerade Richtung Wohnungstür gegen, als er in der Bewegung inne hielt und zu Kyles geschlossener Zimmertür blickte. Noch ungefähr fünf Stunden bis die Sonne so weit untergegangen war, dass der Vampir wieder erwachen würde.

Alastair konnte der Versuchung nicht widerstehen und schlich in Kyles Zimmer. Da es absolut dunkel war, betätigte er den Lichtschalter und hüllte das Zimmer in künstliches Licht, welches dem Vampir nicht schaden konnte.

Da lag er wieder und sah nicht anders aus als ein normaler Mensch der schließ. Bis auf die Tatsache, dass Kyle sich im Schlaf nicht rührte und nur sehr flach atmete. Alastair trat näher, direkt neben das Bett. Kyles Zeigefinger lag immer noch auf seinen Lippen, während die rechte Hand auf seinem Bauch ruhte. Er hatte sich mal wieder einfach nur auf das Bett gelegt, in seiner normalen Kleidung, als schien er nichts von Schlafanzügen oder Bettdecken zu halten. Das schwarze T-Shirt das er trug war ein wenig hoch gerutscht so dass Alastair seinen nackten Bauch sehen konnte. Alles in allem sah Kyle ziemlich erotisch aus. Alastair beugte sich etwas vor um ihm eine verirrte Locke aus dem Gesicht zu streichen und sein Blick wanderte unwillkürlich wieder zu Kyles leicht geöffneten Lippen. Ob er irgendetwas von dem was Alastair mit ihm Tat spüren konnte, während er sich in diesem Zustand befand? Er setzte sich auf die Bettkante, nahm Kyles Hand die auf seinen Lippen gelegen hatte und platzierte sie bei seiner anderen Hand auf dem Bauch. Würde er es beim Aufwachen bemerken, dass Alastair seine Hand bewegt hatte? Würde er es schmecken, wenn Alastair ihn geküsst hätte? Kurz nachdem er diesen Gedanken gedacht hatte, schreckte er hoch. Unbewusst hatte er sich Kyles lockenden Lippen entgegengebeugt um genau das zu tun.

Was war nur mit ihm los? In den letzten Tagen, seit er Kyle in seiner Nähe hatte, benahm er sich wirklich nicht mehr wie er selbst. Beinahe fluchtartig verließ er dessen Zimmer wieder, streifte sich seine Schuhe über, griff nach seinem Mantel und machte sich zu seinem ursprünglich geplanten Spaziergang auf. Ein wenig frische, kalte Herbstluft war jetzt genau das was er brauchte.
 

Als Kyle die Augen wieder öffnete, wurde er gleich von einem herrlichen Duft überrascht. Er stand auf, streckte sich und schlenderte in die Richtung, aus der der herrliche Geruch strömte.

„Du kochst.“, stellte Kyle fest, als er die Küche betrat und Alastair mit einer Pfanne in der Hand am Herd stehen sah. Er trat näher an ihn heran. „Und es riecht einfach himmlisch! Was ist das? Steak?“, fragte er und deutete auf das noch rohe Fleisch.

„Ja und ja.“, antwortete Alastair und bereitete die Pfanne für das Braten des Fleisches vor. „Ich war mir allerdings nicht sicher ob beziehungsweise wie du dein Steak magst, deshalb habe ich noch gewartet bis zu aufstehst.“

„Ob ich Steak mag? Du machst wohl Witze!“, erwiderte Kyle. „Und du hättest dir denken können, dass ich es am liebsten blutig mag.“, fügte er noch grinsend hinzu.

„Ich hatte allerdings auch die Option in Betracht gezogen, dass du es lieber gleich roh essen würdest.“, konterte Alastair.

„Ich mag untot sein, aber dass heißt noch lange nicht, dass ich meinen Sinn für gutes Essen verloren habe.“, sagte Kyle gespielt entrüstet und ging in die Hocke um den Inhalt des Backofens zu begutachten. „Und was ist das was da so herrlich riecht da drin?“

„Rosmarinkartoffeln.“

„Hm…“, Kyle lief das Wasser im Mund zusammen. Das war das erste Mal seit langem, dass er sich auf ein gemeinsames Dinner freute. „Womit habe ich denn so ein Festmahl verdient?“

Alastair legte die beiden Fleischstücke in die Pfanne. „Ich hatte einfach Lust zu kochen.“ Normalerweise aß er bereits zu Mittag lange bevor Kyle erwachte. Doch an diesem Tag, an dem sein kompletter Alltag sowieso verschoben begonnen hatte und er am Nachmittag lange spazieren war, hatte sich auch sein Essensrhythmus dementsprechend nach hinten verlagert. Außerdem lenkte ihn das Kochen immer wieder von seinen Gedanken ab und die Aussicht auf ein gutes Essen hob seine Laune zumindest ein wenig an. Komisch eigentlich, dachte er, dass mich so essentielle Dinge wie Nahrungsaufnahme nach wie vor befriedigen.

„Kann ich dir irgendwie helfen? Den Tisch decken zum Beispiel?“, fragte Kyle nach und starrte weiterhin gebannt auf den Ofen.

„Ist bereits erledigt. Aber danke.“, verneinte Alastair.

„Hab ich mir fast schon gedacht.“, sagte Kyle und erhob sich wieder. Gespannt auf die Tischdekoration ging er in das Esszimmer. Ob Alastair der Typ war, der einfach nur zwei Teller hinstellte, oder ob er zu denen gehörte, die sich an ihrer Tischdeko auslebten? Kyle hätte Alastair beides zugetraut. Er blickte zu dem runden Tisch und nickte. Ja, das passte zu ihm. Eine schlichte, aber stilvolle Dekoration. Alastair hatte die Schönheit des Tisches für sich stehen lassen und keine Tischdecke darüber gelegt. Auf der Mitte des Tisches stand das übliche frische Blumenbouquet, welches Julietta bei ihren Besuchen auswechselte. Auf die heute besetzten Plätze hatte er grüne Platzdeckchen gelegt und einen dunkelbraunen Unterteller aus Holz darauf gestellt. Die Gläser, aus fein geschliffenem Kristall, wiesen oberhalb einen leicht grünlichen Farbverlauf auf. Eine Karaffe Wein und eine Flasche Wasser standen griffbereit.

Und das Besteck ist natürlich aus Silber., bemerkte Kyle und nahm eine Gabel in die Hand als er sich setzte.

„Ich wusste nicht, ob Vampire nun Probleme mit Silber haben oder nicht.“, gab Alastair zu als er mit zwei Tellern beladen das Esszimmer betrat. „Aber anscheinend ja nicht.“, fügte er mit einem Blick auf Kyle, der mit der Gabel herumspielte, hinzu.

„Nein, haben wir nicht.“, sagte Kyle und sog den unvergleichlichen Geruch des Essens ein, dass Alastair ihm servierte. „Es macht doch auch überhaupt keinen Sinn, dass uns irgendein Metall schaden könnte.“

„Wobei allein unsere Existenz doch angeblich schon die Grenzen des logischen sprengt. Warum sollten sich unsere Körper also an sinnvolle Verhaltensweisen halten?“

Kyle zog eine Schnute. „Ja ja, du hast ja recht.“, sagte er und winkte mit der Gabel ab. „Silber jedenfalls ist harmlos.“

„Und was ist mit den restlichen Vampirmythen?“, hakte Alastair nach, während er Kyle Wasser und Wein einschenkte. „Das mit dem Sonnenlicht scheint ja mehr oder weniger zuzutreffen.“ Er setzte sich nun schließlich auch. „Guten Appetit.“

„Danke, dir auch, Al.“, sagte Kyle und hatte auch schon das erste Stück des blutigen Fleisches in seinem Mund.

„Nun, was die üblichen Geschichten über uns angeht…“, sagte er mit vollem Mund und schluckte. „…davon sind ein paar wahr und andere – die meisten – totaler Blödsinn.“

Er schnitt sich bereits mit Vorfreude auf den nächsten Bissen das nächste Stück ab. „Uns schadet weder Silber noch fügen uns Kruzifixe irgendwelche Schmerzen zu. Sonnenlicht schadet uns auf Dauer und es ist auch ziemlich unangenehm, da unsere Augen sehr lichtempfindlich sind. Sterben können wir eigentlich nur, wenn unser Körper ernsthaft beschädigt wird. Wir besitzen zwar eine hohe Regenerationsfähigkeit, die je nach unserer letzten Blutmahlzeit stärker oder schwächer ausfällt, aber einen abgetrennten Kopf können wir nicht mehr regenerieren.“

„Hm. Das klingt meinem Fall schon sehr ähnlich.“, bemerkte Alastair. „Bis auf die Tatsachen, dass ich kein fremdes Blut brauche und mir die Sonne auch nichts ausmacht.“

„Und deine Regenerationsfähigkeiten wirklich unglaublich sind.“, fügte Kyle hinzu. „Apropos Fähigkeiten – hast du sonst noch irgendwelche besonderen Eigenschaften mit deiner Verwandlung entwickelt? Wir Vampire zum Beispiel werden körperlich stärker als ein gewöhnlicher Mensch.“

Alastair schüttelte den Kopf. „Nein, nichts dergleichen. Zumindest nichts von dem ich wüsste.“

Kyle war gerade dabei sich eine Kartoffel in den Mund zu stopfen. „Und ich dachte schon deine unglaublichen Kochkünste wären eine Zugabe gewesen. Mal ehrlich, dass ist total lecker!“, sagte er und schaufelte sich weiterhin genüsslich den Mund voll.

„Danke.“ Alastair schmunzelte mal wieder ob Kyles ehrlichen Kompliments. „Ob du es glaubst oder nicht; ich war früher ein wirklich miserabler Koch. Aber ich hatte mehr als zweihundertfünfzig Jahre Zeit um es zu lernen.“

„Du hast doch Kohle, warum hast du keinen Spitzenkoch der für dich privat kocht?“

„Das war aber nicht immer so.“, gab Alastair zu. „Es gab auch Zeiten zu denen ich weder Geld noch ein zu Hause besaß. Ich kann zwar nicht verhungern, aber da auch ich Hunger verspüre und schwächer werde wenn ich keine Nahrung zu mir nehme, ziehe es dennoch vor einen gefüllten Magen zu haben. Vorzugsweise mit gutem Essen. Ich muss meine Unsterblichkeit ja nicht unerträglicher machen als sie eh schon ist.“

Kyle schaute zum ersten Mal seit ihrem Gespräch von seinem Teller auf und sah Alastair nachdenklich an.

„Was genau passt dir denn an deiner Unsterblichkeit eigentlich nicht? Ich meine, ich bin zwar noch nicht so alt wie du und weiß auch nicht wie ich in einigen Jahrhunderten darüber denken werde, aber im Moment finde ich es super.“

Alastair spießte eine Kartoffel mit seiner Gabel auf. „Dann kann ich davon ausgehen, dass du freiwillig zu einem Vampir geworden bist?“

„Ja.“, antwortete Kyle knapp. „Und jetzt hör auf mir auszuweichen und beantworte meine Frage.“ Er zeigte mit der Gabel auf ihn. „Das machst du nämlich schon die ganze Zeit. Immer wenn es beginnt sich um dich zu drehen, erzähle plötzlich ich etwas über mich.“

Mit einem Seufzer begleitet griff Alastair erneut nach dem Wein. „Tut mit Leid, du hast Recht.“ Er schenkte ihnen Beiden nach. „Ich bin wirklich nicht gut darin von mir zu erzählen.“

„Was nicht besonders hilfreich bei meiner Mission dich ins Grab zu bringen ist.“, merkte Kyle an und steckte sich das letzte Stück Fleisch in den Mund. Auch Alastair legte sein Besteck zur Seite und beendete sein Mahl.

„Lass uns ins Wohnzimmer gehen, dann beginne ich mit meiner Geschichte.“

„Einverstanden. Aber diesmal pennst du nicht einfach vorher weg, verstanden?“
 

„Also, wo soll ich anfangen?“, fragte Alastair rhetorisch, als er sich auf das Sofa setzte und das Glas Wein auf dem Tisch davor abstellte. Kyle schaute ihn gespannt an.

„Ich wurde vor 299 Jahre, am 31. Dezember, in einer Kleinstadt in Frankreich geboren.“

„Du bist also Franzose?“, wurde er unterbrochen.

„Halbfranzose.“, korrigierte Alastair. „Meine Mutter war Deutsche und mein Vater französischer Kaufmann. Aufgrund des Berufes meines Vaters waren wir als Familie viel gemeinsam in Frankreich, Spanien und Deutschland unterwegs. Mit wir meine ich meine Mutter meinen Vater, meinen jüngeren Bruder und mich. Erst als die erste meiner beiden jüngeren Schwestern auf die Welt kam, zehn Jahre nach meiner Geburt, beschlossen meine Eltern einen festen Wohnsitz in Deutschland zu beziehen, in der Nähe einer Zweigstelle des französischen Handelshauses zu dem mein Vater gehörte. Wir hatten ein gutes Leben; es mangelte uns an nichts und unser Familienleben verlief weitestgehend harmonisch. Da ich im Gegensatz zu meinem jüngeren Bruder, Philippe, keinerlei Talent in der Handelskunst besaß, war relativ schnell klar, dass Philippe zukünftig die Geschäfte unseres Vaters weiterführen würde. Als ich also in das Alter kam um mir eine richtige Arbeit zu suchen, schloss ich mich der deutschen Garde an und trug so mit zum Lebensunterhalt meiner Familie bei.“

„Das meintest du also damit, du warst mal wirklich „so etwas ähnliches“ wie ein Polizist.“, unterbrach ihn Kyle erneut. „Für wen hast du gearbeitet?“

„Da mein Vater und mein jüngerer Bruder weiterhin des Öfteren auf Reisen waren, trug ich derweil die Verantwortung für meine Mutter und meine jüngeren Schwestern. Deshalb entschied ich mich dem privaten Garderegiment des Fürsten der Stadt in der wir lebten zu dienen. Wir waren so etwas wie die Stadtpolizei.“ Alastair nahm einen weiteren Schluck Wein. „Und ich mochte meinen Beruf wirklich gern.“

„Und zu dieser Zeit gab es keine besonderen Ereignisse? Irgendetwas, das deine Veränderung bewirkt haben könnte? Und wieso habe ich das Gefühl, du lässt deine Frauengeschichten mal wieder bewusst aus?“, bohrte Kyle nach. Doch Alastair schüttelte den Kopf. „So weit sind wir noch nicht. Als ich der Garde betrat, war ich gerade mal dreizehn und hatte noch nicht so viel Interesse an Frauen. Und meine Eltern drängten mich auch zu keiner arrangierten Ehe da es uns finanziell gut ging und sowieso mein Bruder als offizieller Nachfahre vorgesehen war. Meine ersten Erfahrungen mit Frauen – also meine ersten sexuellen Erfahrungen, wenn du es genau wissen willst – machte ich erst später. Allerdings ergab sich nie etwas Festes daraus und ich war um ehrlich zu sein auch nicht sonderlich an den Frauen interessiert, die eine feste Beziehung wollten. Also vergnügte ich mich lieber mit denen, die leicht zu haben und schnell zu vergessen waren.“ Er trank den letzten Schluck Wein aus. „Und dann kam Vivienne.“ Alastair machte eine kleine Pause und schaute nachdenklich ins Nichts. „Wie soll ich sie beschreiben? Sie war umwerfend. Die erste Frau, in die ich mich wirklich ernsthaft verliebte.“

„Doch sie war die Verlobte deines Bruders.“, schloss Kyle.

„Nein, er stellte sie direkt als seine Frau vor. Eines Tage kamen er und mein Vater von einer Reise nach Frankreich zurück und verkündeten uns die frohe Nachricht. Philippe und Vivienne hatten bereits in Paris geheiratet, nur wenige Tage nachdem sie sich kennengelernt hatte. Vivienne war ebenfalls die Tochter eines französischen Kaufmanns und mit der Eheschließung plante man natürlich auch die Zusammenlegung der Besitztümer unserer beider Familien. Aber wenn man Philippe und Vivienne zusammen sah, wusste man sofort, dass ihre Eheschließung nicht nur auf Wunsch der beiden Familien zurückzuführen war.“

„Beschreib sie mir.“, forderte Kyle interessiert. „Was für ein Mensch war diese Vivienne. Außer, dass sie umwerfend war natürlich, das hast du ja schon erwähnt. Ich will wissen, wie sie es geschafft hat, dir den Kopf zu verdrehen.“ Vielleicht erhalte ich so ja auch einen Hinweis, wie ich dich am ehesten rumkriege.

Mit einem tiefen Seufzer setzte Alastair seine Erzählung fort. „Sie war wunderschön. Ihre Haare waren wie flüssiges Gold, das sich entlang ihres blassen Gesichts über ihre Schultern und ihren Rücken in sanften Wellen ergoss. Ihre Augen waren so blau und so weit wie der Himmel. Und…“

„Stopp stopp stopp!!“, unterbrach ihn Kyle entsetzt und hielt sich die Ohren zu. „Das ist wirklich zu viel Gesülze für mich. Bitte etwas weniger Poetisch, nur die nackten Tatsachen bitte. Rotblondes Haar, blaue Augen. Mach hier nicht einen auf Autor von erotischen Liebesromanen.“

Entrüstet lehnte sich Alastair zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin zufälliger Weise seit einigen Jahren tatsächlich Autor von Romanen dieser Art.“

Kyle sah ihn durchdringend an und schnalzte mit der Zunge.

„Jetzt verarschst du mich, oder?“

„Sehe ich aus wie jemand der gut darin wäre Witze zu reißen?“

„Du siehst eigentlich noch nicht mal so aus als würdest du überhaupt Humor besitzen.“

„Eben.“, stimmte ihm Alastair zu und räusperte sich. Wo waren sie gerade stehen geblieben. Ach ja, er war dabei eine, vielleicht ein wenig übertriebene, Beschreibung von Vivienne abzuliefern.

„Sie war also eine Schönheit.“, knüpfte er an seine unterbrochene Erzählung wieder an. „Doch als Frau meines Bruders war sie für mich selbstverständlich unerreichbar. Ich hätte ihm niemals die Frau streitig gemacht. Also bewunderte ich sie stets nur aus der Ferne und verbrachte meine Nächte weiterhin bei meinen üblichen Gespielinnen.“

„Das ist traurig.“

„Manchmal mehr, manchmal weniger. Und das ging einige Jahre so. Als Mein Bruder und Vivienne heirateten, war ich zwanzig, mein Bruder neunzehn und Vivienne siebzehn. Die beiden führten ein erfülltes Eheleben als reisende Kaufleute, so wie es meine Eltern schon vor ihnen getan hatten, und als Vivienne ihr erstes gemeinsames Kind erwartete zogen sie für einige Monate dauerhaft zu meiner Mutter und meinen Schwestern. Da ich die dauerhafte Nähe und das Glück der beiden nur schwer ertragen konnte – so sehr ich es ihnen auch gönnte – arbeitete ich länger als gewöhnlich und verbrachte die meisten Nächte außerhalb. Das ging eine ganze Weile so weiter, bis ich schließlich…“

„…du einer anderen Frau begegnetest.“, beendete Kyle den Satz für ihn. Als Alastair ihn nur schweigend ansah, wusste Kyle, dass er ins Schwarze getroffen hatte und grinste.

„War das so offensichtlich?“, fragte Alastair nach. Kyle nickte und setzte eine neumalkluge Miene auf.

„So läuft das doch immer. Der Held der Geschichte ist unglücklich verliebt und dann kommt eine andere Frau und bringt alles durcheinander. Jetzt gibt es eigentlich nur zwei Optionen wie es weitergehen könnte: erstens; sie lässt dich Vivienne vergessen und du verliebst dich in sie oder zweitens; sie macht alles nur noch schlimmer indem sie sich in dich verliebt und Vivienne aus dem Weg räumen will.“, erklärte er wissend.

„Wieso gibt es nur diese zwei Möglichkeiten?“, wollte Alastair wissen.

„Nenne wir es… Lebenserfahrung. Frauen sind zwar unheimlich kompliziert, aber sie sind auch berechenbar.“, antwortete Kyle. „Und jetzt erzähl mir nicht, es wäre anders gewesen. Ich weiß, dass ich mit meiner Vermutung recht habe.“

Mit dem Anflug eines weiteren Lächelns an diesem Abend füllte Alastair bereits zum dritten Mal sein Glas Wein nach.

„Ich kann dir wirklich nicht widersprechen. Nur war es weder Option eins oder Option zwei. Es war unglücklicher Weise beides.“

„Oh.“, kommentierte Kyle. „Das ist natürlich der Stoff für ein echtes Drama.“

„Allerdings.“



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