Zum Inhalt der Seite

Weltkugel in deiner Hand

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“ (Franz Kafka)

Die dichte graue Wolkendecke hing trübe über den frühen Morgenstunden, nur vereinzelte Strahlen der Sonne ließen den noch frischen Tau einer längst vergangenen regnerischen Nacht glänzen. Seichte Nebenschwaden schlichen durch die Straßen und Gassen, derweil der raue Meereswind bis in den alten Stadtkern hinein die Luft eisig durchschnitt. Das geschäftige Treiben, welches die Stadt täglich mit Leben füllte, schlief um diese Zeit selig, tauchte Wege und Plätze in leeres Schweigen. Einzig ein leiser Hall, welcher durch die Gassen wehte, war zu hören. Schnelle Schritte über die kahlen kalten Steine eilten unbeirrt ihrem Ziel entgegen. Der Flugstation, an der die Leviathan, ein prachtvolles Luftschiff, abflog. Es war das erste seiner Klasse, das für den Langstreckenflug erbaut und getestet wurde. Die damalige Taufe unter noch königlicher Hand war ein denkwürdiger Tag der Nation gewesen und erlaubte es den Reisenden erneut einen Schritt näher an den unendlichen Rand der Welt zu gelangen.

Entgegen den Straßen und Plätzen herrschte in der Abfahrtshalle reges Treiben. Lange Schlangen bildeten sich vor den Kartenschaltern, ein jeder drängte darauf einen Platz zu erhalten. Ungeduldig stellte sich Jules in die Reihe der Wartenden, zog den schwarzen Gehrock enger um seinen Körper. Aus dem sich unter dem Gehrock verbergenden Jackenrevers blitzte eine silberne Taschenuhr auf. Das kleine Wunder aus Zahnrädern und feinster Mechanik öffnete sich in seiner Hand und gab in stetig monotonem Ticken die Zeit auf die Sekunde genau bekannt. Die Initialen PV auf dem silbernen in filigranen Musterungen verzierten Deckel schimmerten im aschfahlen Licht der mit Ruß bedecken von Baumskelett ähnlichen leblosen Stahlträgern gehaltenen Glaskuppel, die die Abfahrtshalle nur spärlich erhellte. Nach einer schlaflosen Nacht in seinem Archiv unter der antiken Buchhandlung Charles Lutwidge Dodgson, die seit Generationen im Besitz der Familie Verne und seit jeher in einem kleinen altertümlichen Hause mit Schaufenster unter dem Torbogen in der Seitengasse, nahe dem Lessing-Keller, beherbergt war, stand Jules‘ Entschluss fest.

Das Billet kaufend, verstaute er dieses in seiner ledernen Reisetasche; das einzige Gepäckstück, welches er mitführte und in dem sich außer einem Notizbuch sowie Feder und Tinte nur noch sein Erspartes und das Index librorum prohibitorum befand. Schmale von Passagieren überflutete Gänge wiesen einem offenen Schlund gleich den Weg zur Leviathan. Im Passagierabteil der zweiten Klasse der Leviathan versammelten sich Kaufleute, Reisende, Familien und schlichte Arbeiter. Jules drängte sich durch die mitreisende Menge auf der Suche nach einem noch freien Platz. Im Speiseabteil, das die zweite mit der ersten Klasse verband, obgleich beide Schichten ihre eigenen, für die anderen, abgeschirmten Bereiche innerhalb des Abteils unterhielten, war es ihm vergönnt eine Sitznische zu ergattern, sodass er eine nachträgliche Frühkost zu sich nehmen konnte. Während des Wartens auf seine Bestellung erspähten seine Augen durch die sich öffnende Tür der ersten Klasse ein ihm wohl bekanntes Gesicht. Madame Elegantia. Ihr Name sprach für ihre Schönheit. Sie glich einer vollkommenen Muse, einem Ebenbild Aphrodites. Sie hatte nur einen Makel, ihre Nase war so spitz wie sie stolz war. Die edlen Herren umschwärmten sie wie ein Schwarm Bienen ihre Königin. Selbst Jules fühlte sich von ihrer Ausstrahlung angezogen, doch verbot ihm seine Unsicherheit und sein Stand sich ihr auch nur einen Schritt zu nähern. Stattdessen widmete er sich einer köstlichen Tasse Tee und schlug die Märe auf. Erneut beherrschten die innenpolitischen Unruhen der Triade die Schlagzeilen der Zeitungen, in die er sein Gesicht so tief vergraben hatte, dass seine Nase die Druckerschwärze einzuatmen vermochte.

Nach einem unbedeutsamen Flug, der neben gewöhnlichem keinerlei außergewöhnliches zu bieten hatte,landete die Leviathan pünktlich an der hiesigen Flugstation in Florilegia. Eine Stadt, die ihre Geburt durch den Zusammenschluss vereinzelter Dörfer erlebte und, neben der Hauptstadt, im vergangenen Jahrhundert zu einer der größten Städte der Nation Allegoria aufgestiegen war, was sie nicht zuletzt ihren Bürgern und deren lukrativen Geschäften verdankte. Durch die günstigen Verkehrsanbindungen, welche in gewissen Kreisen geradezu ein Wahrzeichen Florilegias darstellte, erreichte Jules vor der Flugstation einen der zahlreich überfüllten Jambuse, eine dampfbetriebene Straßenbahn mit zwei Wagonen und Dachsitzen, der auf direktem Wege in einen der zentralen Exzerpte zum Abecedarium fuhr. Dort, so erhoffte sich Jules, würde er Hinweise auf die altertümliche Schrift des Index librorum prohibitorum und ihre Bedeutung finden.

Dampfen und Qualmen lag in der Luft, Ruß stieg aus hohen Schornsteinen, die sich dicht an dicht säumten. Das Rattern und Knattern der metallenen Schienen und Räder war laut zu hören, ein schriller Pfeifton erklang. Jules stieg aus dem übrfüllten Jambus, der unter einem erneuten schrillen Pfeifen seine Weiterfahrt aufnahm. Seine Finger krallten sich fester in den ledernen Riemen seiner Tasche als sich sein Blick von der Straße aus Kopfsteinpflastern und den prächtigen Fachwerkhäusern, die sich ihm gegenüber darboten, abwandte. Vor ihm erstreckten sich die unzähligen Stufen, hinauf zu einem imposanten Bauwerk, dessen Bedeutsamkeit sich in jedem Stein wiederspiegelte. Das Abecedarium, ein enzyklopädisches Meisterwerk für jeden Wissbegierigen. Ein pompöses Fundament, welches das unsägliche Wissen namenhafter Dichter und Denker auf seinen marmornen Schultern trug. Ehrfürchtig setzte Jules seinen Weg fort, bestieg die Stufen und erreichte die aus massiver Mooreiche und mit Messing verzierte Flügeltür, die Eintritt ins geheiligte Innere erlaubte.

Ein langer Gang, dessen Wände und Decke mit einzigartigen Malereien großer Künstler, die den Forscher- und Entdeckerdrang des menschlichen Geistes auf Ewig verkörperten, veredelt wurden, eröffnete Jules nach Eintritt die gesamte Wissenspracht des Abecedariums. Wie gebannt hafteten seine Augen auf die unzähligen Abschnitte, kleine Wissensinseln, die jede ihr eigenes Fachgebiet beheimatete, die mithilfe der Nymphen, dampfbetriebener viersitziger Boote, auf den einzelnen Kanälen im Inneren des Mauerwerks erreicht werden konnten. Ein Netzwerk aus Wasserstraßen erstreckte sich im Abecedarium, unterhalb der spiegelnden Oberfläche blitzten die metallenen Schienenwege, auf welchen die Nymphen ihren Weg entlang glitten, und verlieh der größten Wissensstädte der Nation ihre Einzigartigkeit.

Die Augen schließend, um sich das ihm dargebotene Bild auf Ewigkeiten im Geiste einzubrennen, atmete Jules die Luft, welche die gesammelten Werke unsäglicher Jahrhunderte der Wissensneugier durchzog, tief ein in dem Versuch einen winzigen Teil dieser Errungenschaften in sich selbst aufzunehmen.

„Verzeihen Sie, Monsieur, wohin darf ich Sie geleiten?“ Eine liebliche Stimme riss Jules aus seinem tiefsten Bestreben. Sein geöffneter Blick erspähte die zierliche Gestalt einer jungen Frau, deren Körper in einem schlichten schwarzen Kleid gehüllt war, mit Stehkragen, der von einer filigran gebundenen Schleife umringt wurde. Sie saß in einer der Nymphen, wartend, dass Jules ihr seinen Bestimmungsort nannte.

„Bitte verzeihen Sie. Ich schwebte in Gedanken ob dieses imposanten Bauwerkes, dessen Auswahl jeden enzyklopädischen Geist ins Schwärmen verführt. Wahrhaftig eine Kathedrale des Wissens.“, sinnierte Jules.

„Diese Sichtweise teilen zahlreiche unserer verehrten Besucher, Monsieur.“ Ihr Blick war noch immer einladend in das keine Boot gerichtet. Jules überwand die geringe Distanz des Steges, der sich vor ihm erstreckte und nahm Platz in der Nymphe. „Setzen Sie bitte über zur Leihbibliothek.“, bat Jules und spürte kurz darauf wie sich die Nymphe im seichten Wasser langsam in Bewegung setzte. Vorbei an anderen Fachgebieten steuerte das kleine Boot auf eine der hintersten Inseln zu, ehe es anhielt und die junge Frau sich in aller Form der Höflichkeit von ihrem Passagier verabschiedete und anschließend weiterfuhr. Jules wandte sich den deckenhohen mächtigen Regalen zu, die unzählige Bücher beheimateten. Er sog den Atem tief in seine Brust ein, um erneut die einzigartige Luft, die in seiner Vorstellung mit Bruchstücken des gesammelten Wissens durchflutet war, in sich aufzunehmen. Langsamen Schrittes näherte er sich den schmalen Gängen, die einem Labyrinth gleich den Weg durch die einzelnen Epochen und Werke ebneten. Er suchte nach einer bestimmten Person, in der Hoffnung diese hier vorzufinden, beseelt mit dem Wunsch, dass diese eine Person ihm bei der Suche nach einer Übersetzung der Sprache, welche das Index librorum prohibitorum beheimate, die Entschlüsselung der verborgenen Geheimnisse, behilflich sein könnte. Der Weg führte ihn um ein aus massiver Buche bestehendes Bücherregal herum.

„Verehrter Poeta doctus.“, rief Jules freudig aus, als er die hagere Gestalt erblickte, die auf einer Rollleiter stand und ein dickes in Leinen gebundenes Schriftstück in Händen hielt. Die schüttere Erscheinung zeugte nicht nur von seinem Alter sondern auch von der Weisheit, zu der er in dieser Zeit gelangt war. „Poeta doctus Wells.“ Der angesprochene wandte sich auf der Leitersprosse stehend um, die goldenen Augengläser, ein Klemmer, auf der Nase zurechtrückend.

„Spielen mir meine Augen einen Streich…oder ist Er es wahrhaftig?“ Der Poeta doctus rückte seinen Klemmer erneut zurecht. Das Buch zurück ins Regal stellend, stieg er die wenigen Sprossen hinab, wandte sich nun gänzlich Jules zu, der näher an ihn heran getreten war.

„Seine Augen täuschen Ihn nicht. Es ist eine lange Zeit, verehrter Poeta doctus Wells. Ich trete mit einer ernsten Bitte an Ihn heran.“

„Der Eifer der Jugend schwellt noch immer in Seiner Brust. Mein Geist erinnert sich sehr genau, Sein Vater hatte bisweilen vergebens versucht Ihm das Bewahren der Contenance zu lehren.“

„Bitte verzeiht. Wie ist es Ihm ergangen? Erzielen Seine Studien die gewünschten Ergebnisse?“ Jules verneigte sich andeutungsweise, den Blick ehrfürchtig gen Boden gesenkt. Diese Geste der Höflichkeit ließ die Mundwinkel des Poeta doctus unmerklich sich zu einem Schmunzeln formen. Sein Schüler aus vergangener Zeit hatte sich nicht im Geringsten verändert. Der Übermut und die Neugier pochten noch immer in dieser jugendlichen Brust. Ein hohes Gut, dass nur wenige besaßen.

Nach einem Augenblick des Schweigens ergriff Wells das Wort. „Welche Bitte führet Ihn zu mir?“ Jules hob seinen Blick, richtete seine Haltung, einem Gentleman gleich, ehe er die Frage beantwortete. „Eine dringende Bitte führt mich zu Ihm. Eine Angelegenheit höchstem Interesses, die es verdient in Abgeschiedenheit besprochen zu werden.“ Der Poeta doctus verstand den Wunsch seines ehemaligen Schülers und deutete mit einer Handbewegung ihm zu folgen. Entlang eines aus Büchermauern bestehenden Ganges gelangten sie an eine Abzweigung. Diese überwindend, erreichten sie eine Seitennische, hinter der sich ein schlichter Schreibtisch, mit einer kleinen, aus einem filigran verziertem Messinggehäuse bestehender, Gaslampe, nebst Papier, Tinte und Feder sowie zwei gepolsterte mit Brokatstoff bezogene Stühle befanden. Der Poeta doctus bot Jules einen der Stühle an, derweil er ihnen einen Tee zubereiten würde.

Während der Poeta doctus begann den Wasserkessel zu erhitzen, verharrte Jules‘ Blick auf das die gesamte Wandbreite einnehmende Regal, in welchem sich zahlreiche antiquarische Werke stapelten. Er näherte sich diesen bedächtig. Vorsichtig, als seien die Werke unsagbar wertvoll und zerbrechlich, berührte sein Finger die einzelnen in Leinen und Leder gebundenen Buchrücken. „Novalis: Gedichte und Romane; Büchner: Woyzeck; Morgenstern: Aphorismen und Sprüche; Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus; Eichendorf: Novellen und Gedichte; Shakespears Werke: Band eins und zwei; Schiller: Band eins bis zwölf; Goethes Werke; Die Bibel.“, murmelte Jules die Titel der ersten Reihe, die sein Finger streifte.

„Beeindruckende Schriften, die der menschliche Geist in seinem Sehnen und Bestreben zustande brachte. Ein jeder von ihnen lehrt und lernt aus seinem Leben.“ Der Poeta doctus trat mit einem Tablett an den Schreibtisch heran. Zwei Tassen sowie die Teekanne, ein Milchkännchen und das Döschen mit Kandis befanden fanden ihren Weg auf den Tisch.

„Seine Sammlung ist beeindruckend.“

„Zu meinem tiefsten Bedauern vorwiegend Leihgaben des Abecedariums. Wobei der Verleih solcher Schriften eine Schändung ihrer Verfasser und dessen Ehrung in meinen Augen darbietet. Vielmehr sollte das Bestreben existieren sich selbst die Werke anzueignen, anstatt sie nach einmaligem Lesen wieder freiwillig aus der Hand zu geben.“ Wells nahm auf dem freien Stuhl gegenüber Jules Platz. Heißer Dampf und ein süßliches Aroma stieg aus den Tassen empor. „Verrate Er mir freundlichst, wurde Seine Erwartung nach der Anreise erfüllt?“

„Wahrhaftig. Eine einmalige Stadt, dessen geschäftige Straßen und prunkvolle Häuser den Wohlstand seiner Bürger auf geradezu verschwenderische Weise zur Schau stellen. Aber womöglich ist dies auch nur die Sichtweise meiner mittelständigen Empfindungen.“, offenbarte Jules seine Eindrücke Florilegias seinem ehemaligen Lehrmeister.

„Seine Worte spiegeln Seine ehrlichen Gedanken, ohne Zensur.“, bemerkte Wells, nahm einen ersten Schluck seines Tees. „Nun… Welche Bitte bedarf meiner bescheidenen Hilfe?“

Jules hob seine Reisetasche auf den Schoß, öffnete sie und entnahm ihr das in dunklem Leder gebundene Buch, dessen Kopfschnitt eine verblichene goldene Färbung aufwies. Bedächtig legte er es auf den Tisch, darauf achtend, keinerlei kleinste Beschädigung zu verursachen. Der Poeta doctus richtete seinen Klemmer, ehe er den Blick prüfend auf das Buch richtete. „Ist dies der Anlass Seiner Reise?

„Gewiss. Ich erwarb es kürzlich, sichtlich ohne die naturgegebene Bedeutung dieses Werkes zu kennen. Der ursprüngliche Einband verbarg sich unter einer Schicht aus Leinen, welche offensichtlich die wahre Natur zu verschleiern beabsichtigte. Ich entdeckte den für einen Laien nicht ersichtlichen Makel, behob ihn in meinem Bestreben, welches mich mein verehrter Vater einst lehrte, und erkannte den primären Titel. Ich gestehe ohne Scham, geehrter Freund, meine Kenntnisse reichten bei weitem nicht als dass sie fähig wären sich der Sprache, die das Werk beheimatet, zu bemächtigen. Aus diesem Grunde erbitte ich um Seine Hilfe und Fähigkeit die Sprache zu entschlüsseln und mir ihr Geheimnis zu offenbaren.“ Bedächtig lauschte der Poeta doctus der Ausführung seines einstigen Schülers, ehe er das Buch vorsichtig in Händen nahm, sich zunächst Einband und die Beschaffenheit der Seiten näher betrachtete.

Einer eingehenden Untersuchung unterzog er das literarische Geheimnis, bedachte jede Seite mit einem prüfenden Blick, der die Kenntnisnahme jeglicher Auffälligkeit zu deuten ersuchte. Nachdenklich stahl sich ein unhörbares Seufzen über seine dünnen Lippen, derweil sich Wells mit dem Handrücken über die Stirn wischte und den Klemmer von seinem Nasenrücken nahm.

„Seine Bitte stellt meine Kenntnisse vor eine schwierige Aufgabe, dessen Lösung ich nicht zu versprechen vermag. Es erscheint bisweilen die Lettern erlaubten sich einen Scherz in ihrer Darstellung. Einem Puzzel gleich, dessen einzelne Teilstücke sich in einem nach eigenen Grundmustern kodierten Labyrinth verbergen. Ich enttäusche Seine in mich gesetzten Erwartungen aufs Tiefste nur ungern, jedoch überschreitet das Werk auch meinen literarischen Geist. Einzig im Stande ist er den Begriff Utopia zu entziffern, jedoch ohne den Kontext, welcher sich aus den weiteren Begriffen erschließen könnte.“ Bedächtig schloss Wells das Buch nach seiner Ausführung und überreichte es Jules, dessen Bedauern über die nicht erhofften Erkenntnisse sich deutlich in seiner Mimik widerspiegelte. Ein betretendes Schweigen legte sich wie ein dichter Nebel über die abgeschiedene Nische. Wells goss sich eine weitere Tasse Tee ein, derweil Jules bisher nicht einen Schluck zu sich genommen hatte.

„Kenne Er jemanden, dessen Kenntnisse fähig sind die Geheimnisse der Lettern zu entschlüsseln?“, brach Jules das Schweigen, nahm das Index librorum prohibitorum in Händen und überflog die ersten Seiten mit einem nachdenklichen Blick.

„Meinem Geiste sind keine Literaten bekannt, welche Imstande wären eine derartige Leistung zu meistern. Es bedarf, wenn rein Spekulation an diesem Punkte auch nicht angebracht scheint, viel mehr eine Anzahl vielschichtigen Fachwissens, um dem Rätzel auf die Spur zu gelangen.“, sinnierte der Poeta doctus einen Schluck Tee zu sich nehmend.

„Wir sollten die Triade um Unterstützung bitten.“, sprach Jules seinen aufkeimenden Gedanken offen aus. Der Poeta doctus zog die Stirn in nachdenkliche Falten, die Tasse auf der Untertasse absetzend ehe er das Ergebnis seiner Überlegungen zu diesem Vorschlag verkündete. „Um ehrlich Antwort zu geben, erachte ich Seinen Gedanken als nicht sehr wirkungsvoll.“

„Darf ich um den Grund für Seinen Einwand bitten und erfahren? Die Triade versprach jeglichem Bürger offene Zuwendung in ihrem Bestreben, obgleich dieser weder dem gesellschaftlichen oder geistlichen Fortschritt diene.“

„Er ist gewiss vertraut mit den innenpolitischen Unruhen.“

„Ich las davon in der Märe.“

„Seine Worte erreichen in diesen Zeiten kein noch so offenes und wohlgestimmtes Gehör. Mir erscheint eine Umwälzung innerhalb der Triade Anlass für die Uneinigkeit der tragenden Entschlüsse für die Nation. Und bei weitem liegt der Auslöser nicht einzig an der in die Vergangenheit gerichteten Sichtweise der hohen Invokation. Es verbirgt sich ein größeres dahinter…“, der Poeta doctus beugte sich nach vorn, näher zu Jules heran und senkte die Lautstärke seiner Stimme, die zunehmend einem Flüstern glich als er weitersprach. „…ein größeres Streben, welches in jedem unserem Geiste haust. Die Gier, ein unstillbarer Hunger. Die Bewerkstelligung der Taten, die das eigene Gelingen zu überschreiten vermögen.“

„Er meint…“, Jules‘ wispernde Stimme versagte. Das tiefe Füllen seiner Lungen war zu hören, die die Tragweiter seine eigenen Worte zu begreifen ersuchten. Den Blick nach allen Seiten schweifend, dass ihr Gespräch auch keine ungebetenen Hörer erreichte. „Er meint einen Putsch?“

„Auszuschließen ist dies nicht.“ Der Poeta doctus begab sich zurück, in die polsternde Lehne des Stuhles. Seine Stimme nahm ihre gewohnt geduldige, ruhige Tonlage an. „Jedoch welche Bedeutung tragen meine Worte in sich. Ein alter seniler Narr, der sein Leben einem Haufen verstaubter Bücher widmet.“

„Verzeihet meine Offenheit, verehrte Freund, aber ich muss Seiner Äußerung widersprechen. Er ist unbestritten eine Koryphäe Seines Fachgebietes. Seine Lehren waren es, Er war es, der mir den Weg meines geistigen Strebens ebnete. Ein Weg, den mich mein verehrte Herr Vater, seine Seele sei meiner gnädig, nur bedingt beschreiten ließ. Aus diesem Grunde bin ich Ihm, meinem geehrten Lehrmeister, zu aufrichtigem und tiefsten Dank verpflichtet.“ Jules brachte die Bedeutung seiner Worte durch eine angedeutete Verbeugung erneut zum Ausdruck.

„Sein Empfinden ehrt das meinige zu tiefst. Jedoch…der verehrte Goethe selbst schrieb in seinem Werke: Da steh ich nun, ich armer Tor, Und bin so klug als wie zuvor! Heiße Magister, heiße Doktor gar Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, dass wir nichts wissen können! Auch mein Geist erkannte die Unwissenheit, welche tief in ihm schlummerte.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück