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Alles was man zum Leben braucht

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Der erste Schnee

Es war wieder einer dieser langen, ereignislosen Schultage. Der Lehrer stand vor der Klasse und belehrte diese. Doch kaum einer der Schüler hörte ihm zu. Es war die letzte Stunde für diese Klasse und genau in dieser Stunde hatten wir den trockensten Stoff und den langweiligsten Lehrer unserer Schule. Wir hatten Geschichte mit Herrn Professor ‚Langeweile‘, so nannten wir Schüler ihn gerne, wenn wir über ihn redeten. An seinen richtigen Namen konnte sich kaum noch jemand erinnern. Während der Stunde sprachen wir ihn sowieso immer nur mit ‚Herr Professor‘ an, wenn ihn überhaupt jemand ansprach. Denn während er unterrichtete, redeten manche Schüler miteinander im Flüsterton, andere kritzelten auf ihrem Block herum anstatt sich Notizen von der Stunde zu notieren und wieder andere – solche Schüler wie ich – kauten auf ihrem Bleistift herum, blickten zum Fenster hinaus und sahen dem Schnee beim Fallen zu.

Endlich hatte es angefangen zu schneien. Es wurde sowieso schon langsam Zeit, dass der erste Schnee fiel. Wir hatten immerhin Anfang Dezember und eigentlich lag zu dieser Zeit hier bei uns schon ein paar Meter hoher Schnee. Doch dieses Jahr war anscheinend alles anders. Nichts war so wie sonst. Sogar die heutige Geschichtsstunde war nicht wie immer. Normalerweise war unser Lehrer immer überpünktlich da gewesen, normalerweise war er auch nie krank, wobei sich sicherlich die ganze Schule darüber freuen würde, wenn einmal der Geschichtsunterricht mit ihm ausfallen würde.

Heute jedoch war unser Lehrer etwas zu spät gekommen, manche meiner Klassenkollegen hatten sich schon gefragt, wo er abgeblieben war. Und normalerweise war unser liebster Herr Professor immer auf den Geschichtsstoff konzentriert, akzeptierte keine Fehler, kein Husten oder gar ein anderes Geräusch, das ihn bei seinen Erzählungen stören könnte. Er hatte immer einen alten Anzug an. Wie lange hatte er diesen Anzug denn schon? So wie der Anzug aussah, hätte ich mir gedacht, er würde aus der Steinzeit kommen, so viele Löcher wie dieser hatte.

Doch heute war er nicht pünktlich. Er kam exakt fünf Minuten zu spät und er trug auch nicht seinen alten Anzug mit den ganzen Löchern. Er trug einen graugestreiften, neuen Anzug. Es befand sich kein Loch oder gar ein Fleck vom Mittagessen auf dem Anzug. Normalerweise wenn er in die Klasse kam, konnte man raten was er zu Mittag hatte, da er anscheinend ziemlich tollpatschig beim Essen war und sein Anzug immer neue Flecken aufwies.

„Hallo meine Schüler!“, begrüßte uns der Professor. Die ganze Klasse blickte nach vorne und sah ihn an, als wäre er ein neuer Lehrer und das, obwohl er uns schon seit Jahren unterrichtete. Doch sein Erscheinungsbild heute war anders und das lag nicht nur an dem Anzug. Sonst hatte er einen Vollbart und zerzaustes, unfrisiertes Haar und trug eine dicke Hornbrille, zumindest sah er am Tag zuvor noch so aus. Doch heute war sein Bart weg, seine Haare hatte er frisiert und kurz geschnitten und auch die Brille trug er nicht. Er dürfte anscheinend beim Frisör gewesen sein und womöglich trug er jetzt Kontaktlinsen, anstatt diesem zentimeterdickem Fahrrad auf seiner Nase. Es wirkte wirklich ungewohnt, so ungewohnt, dass kaum ein Schüler den Blick von ihm lassen konnte. Anscheinend erkannten sie ihn im ersten Moment gar nicht und dachten womöglich wirklich, er sei ein neuer Lehrer. Doch wie kam es dazu, dass er sich nun so verändert hatte? Er hatte jahrelang seine Brille, den dunklen Vollbart und seine dreckigen schwarzen Haare, welche schon mal eine graue Strähne aufblitzen ließen, getragen und nun alles anders. Wollte er somit die Klasse zum Lernen bringen? Vielleicht klappte es ja, einen Versuch war es immerhin Wert für ihn.

Große Teile der Klasse hörten ihm heute zu. Nur wenige redeten im Flüsterton miteinander und nur ein oder zwei Leute kritzelten, obwohl sie dem Lehrer zuhörten, auf ihrem Block herum. Ich hingegen interessierte mich nach wie vor nicht für Geschichte. Ich kaute lieber auf meinem Bleistift herum und sah dem Schnee beim Fallen zu. Der Schnee verzauberte mich einfach so sehr, dass ich nicht einmal mitbekam, wie der Professor plötzlich vor mir stand und mehrmals meinen Namen sagte. Ich bemerkte es erst, als mir mein Sitznachbar und bester Freund Shawn mit dem Ellbogen in die Seite stieß. Zuerst blickte ich zu Shawn, welcher mich mit einem Nicken darauf aufmerksam machte, dass der Professor vor mir stand.

„Ja?“, kam es lustlos von mir. Was wollte er denn diesmal? Ich bin doch ganz still und leise hier gesessen und habe ihn ignoriert wie eigentlich in jeder Stunde von ihm. Sein neues Styling konnte mich nicht beindrucken und mich dazu bringen dem Unterricht zu folgen. Ich kannte den Stoff ja immerhin, denn er hatte ihn mir letztes Jahr schon einmal beigebracht und das in der Sommerschule. Mein Zeugnis war im Jahr zu vor so schrecklich gewesen, dass ich jeden Tag in die Sommerschule musste, um alles nochmal im Einzelunterricht zu lernen.

Warum Einzelunterricht? Nun ja, ich war der Einzige von der Schule der in die Sommerschule musste und es war nicht gerade wirklich ein Traum dort zu sitzen. Vor allem weil die Lehrer sofort mitkriegten, wenn man nicht zu hörte, weil sich die Lehrer auf einen spezialisieren können, da man ja der einzige Schüler in der Sommerschule war. Zwar hatte ich mir bis heute nicht mehr alles gemerkt, doch ich brauchte nur kurz etwas im Buch überfliegen und ich konnte mich wieder an alles erinnern. Einen kleinen Vorteil hatte ja die Sommerschule, in den zwei Monaten in denen ich dort alles gelernt hatte, was ich nun zum dritten Mal – die Sommerschule eingeschlossen – lernte, musste ich heute nicht mehr viel lernen. Es war alles in meinem Kopf abgespeichert. Dennoch war es ein wenig nervig eine Klasse zum zweiten Mal zu wiederholen. Man kannte den Stoff, zwar nicht auswendig und perfekt, aber man hatte ihn immerhin schon gehört, und musste es sich ein weiteres Mal anhören.

Insofern man mit den jüngeren Schülern nichts zu tun hatte, kam man in eine Klasse voller unbekannter Leute, außer wenn jemand aus der eigenen Klasse früher schon mal sitzen geblieben ist und man dann zufällig mit dieser Person wieder in die Klasse kam, so wie es bei mir und Shawn war. Er war vor etwa drei Jahren sitzen geblieben und ich war dieses Jahr sitzen geblieben und wie es der Zufall so wollte, steckte uns der Direktor in dieselbe Klasse.
 

„Hast du zugehört? Ich weiß, du hörst den Stoff jetzt schon mal zum dritten Mal, aber könntest du dennoch im Unterricht ein wenig aufpassen?“ Er war genervt, dass erkannte ich an seiner Stimme. Außerdem sah ich auf seiner Stirn eine einzelne Ader pulsieren. „Es fällt gerade der erste Schnee, Herr Prof. Der hat mich eben einfach beeindruckt. Immerhin ist der erste Schnee sonst schon vor über einem Monat gefallen und heute läge er normalerweise schon einen Meter hoch. Finden sie es nicht auch seltsam, dass erst heute, am 1. Dezember der erste Schnee fällt?“ Ich kaute noch immer auf meinem Bleistift herum und deutete mit dem Finger zum Fenster hinaus. Sein Blick wanderte zum Fenster und er blickte erstaunt nach draußen. War es ihm wirklich noch gar nicht aufgefallen das es anfing zu schneien? Die pulsierende Ader von seiner Stirn verschwand, sein Blick wurde sanft und auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Es war so ein Lächeln als wenn man einem kleinen Kind einen Lolli schenkt. Die Augen von einem Kind wurden dann immer riesig und sie fingen an zu funkeln und genauso sah nun auch unser Professor aus.

Fast die gesamte Klasse blickte nun zum Fenster hinaus. War ich der einzige gewesen dem es aufgefallen war, dass es anfing zu schneien? Der erste Schnee war bei uns immer etwas Besonderes. Früher als wir noch in die Volksschule gingen, gab uns unser Klassenlehrer immer frei wenn der erste Schnee fiel. Denn unser Lehrer damals, war genauso verrückt nach dem ersten Schnee wie wir damals. Ich war heute auch noch immer so verrückt nach Schnee wie damals als kleines Kind. Doch ich fragte mich, ob unser lieber Herr Geschichtsprofessor uns freigeben würde und wenn ich ehrlich war, wusste ich, dass er uns freigab. Das konnte ich an seinen funkelnden Augen erkennen. Der Professor schloss seine Augen, atmete tief ein und dann kamen die Worte über seine Lippen über die sich die ganze Klasse freute: „Wir machen Schluss für heute! Immerhin fällt heute der erste Schnee. Viel Spaß meine Lieben!“ Die gesamte Klasse wandte sich zum Lehrer um und sah ihn mit großen Augen an. Er ging zu seinem Lehrerpult und packte seine Sachen zusammen und der Klasse wurde klar, dass er es ernst meinte. Jeder packte seine Sachen so schnell es ging zusammen um raus zu kommen aus der Hölle, die sich Schule nannte. Ich hingegen blieb noch ein wenig sitzen und sah dem Schnee beim Fallen zu, bevor ich meine Sachen packte.

Ich wohnte glücklicherweise nur ein paar Blocks weit von der Schule entfernt. Manche andere Schüler mussten mit dem Bus eine ziemlich lange Strecke hinter sich legen, bis sie erst mal überhaupt ein paar Blocks von ihrem zu Hause entfernt waren. Ich konnte mich also ziemlich glücklich schätzen, dass ich es nicht so weit nach Hause hatte, immerhin hatte es in den wenigen Minuten seitdem ich die Schule verlassen hatte, ziemlich heftig angefangen zu schneien. Es fielen so viele Schneeflocken vom Himmel, dass innerhalb von kürzester Zeit alles unter einer dünnen Schicht Schnee lag. Jeder einzelne Ast von einem Baum, jeder einzelne Grashalm und jedes Dach eines Hauses hatte bereits einige Zentimeter Schnee auf sich liegen. Es war ein wirklich schöner Anblick. Ich blieb einmal kurz auf dem Weg stehen, zog meine Hände aus meiner Jacke und zog mir die Handschuhe aus, um ein paar Schneeflocken in meinen Händen aufzufangen und um sie solange zu betrachten, bis sie in der Wärme meiner Hände schmolzen. Obwohl die Temperaturen im Freien ziemlich niedrig waren, dürften meine Hände doch ziemlich viel Wärme besessen haben, da die Schneeflocken innerhalb kürzester Zeit in ihnen schmolzen.

Auf meinem Nachhauseweg befand sich ein kleiner Spielplatz. Auch hier blieb ich eine Weile stehen und beobachtete die Kinder wie sehr sie sich über den Schnee freuten und wie sie darin spielten. Ihr Leben war noch so sorgenfrei und unbeschwert, manchmal wünschte ich, ich könnte zurück in meine alten Kindertage, als noch nicht so viel zu Hause gestritten wurde. Als sich meine Eltern noch liebten, miteinander redeten und nicht aneinander vorbeiliefen, ohne sich eines Blickes zu würdigen. Es ging schon etliche Jahre so. Sie redeten nicht mehr miteinander, schliefen manche Nächte in getrennten Betten, was meistens der Fall war, wenn mein Vater mal wieder auf einer seiner unendlich langen Sauftour war.

Die Sauftouren von meinem Vater fingen ab dem Tag an, als er seinen Job vor einigen Jahren verloren hatte. Die Firma war bankrott und konnte ihn nicht mehr bezahlen. Er war jahrelang dort angestellt gewesen und hatte sich immer mühegegeben, doch es half nichts. Er war einer der ersten, die gekündigt worden waren. Mein Vater fühlte sich mies und versuchte seine Probleme mit Alkohol zu verdrängen. Zwar fand er innerhalb von wenigen Monaten wieder eine Arbeit, doch der Alkohol blieb und wurde zu seinem besten Freund. An manchen Tagen mehr, an manchen Tagen weniger. Doch er war fast täglich bei ihm zu Gast. Meine Mutter konnte es nicht jedes Mal ertragen und schlief deshalb in manchen Nächten auf der Couch im Wohnzimmer.

Ja, vor einigen Jahren waren meine Eltern wirklich unzertrennlich und nun stritten sie sich fast täglich. Sie versuchten es zu verheimlichen, doch ihre Streits waren meistens ziemlich laut und manchmal hörte man ein Knallen. Entweder, weil meine Mutter etwas, was gerade in der Gegend herumsteht und eigentlich nichts dafür kann, aus Wut zu Boden warf oder weil ihr mein Vater, welcher gerne mal auch schon frühmorgens anfing zu trinken, ihr eine gescheuert hat. Ehrlich gesagt, hoffte und bettete ich jedes Mal, auch wenn ich kein gläubiger Mensch bin und für mich kein Gott oder etwas Ähnliches existiert, dass es nur ein wertloser Gegenstand war, der zu Bruch ging und dass mein Vater nicht meiner Mutter eine Ohrfeige verpasst hat. Früher war einfach alles anders. Früher unternahmen unsere Eltern mit uns jedes Wochenende etwas. Egal ob wir dann nur einen, manchmal viel zu langen, Spaziergang machten, ins Freibad gingen oder einfach klettern waren. Früher war einfach alles irgendwie perfekt.

Ich schüttelte den Kopf. Wie lange stand ich nun hier schon vor dem Spielplatz? Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekam, wie schnell doch die Zeit vergangen war. Die Sonne schien langsam unterzugehen. Nun wurde es wirklich Zeit nach Hause zu gehen. Es befanden sich auch kaum noch Kinder auf dem Spielplatz. Doch ich schwelgte gerne in meinen Erinnerungen. In meinen Erinnerungen war noch alles gut gewesen. Es war noch alles perfekt gewesen. Es war noch nicht so… Wie war es jetzt? Dramatisch? Chaotisch? Ein Horror in den eigenen vier Wänden? Es war, im Gegensatz zu früher, einfach die Hölle auf Erden für mich. Am liebsten würde ich die Zeit ein paar Jahre zurück drehen und noch einige glückliche Momente mit meiner Familie erleben. Damals konnten wir noch über alles reden. Früher hatte ich meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, alles über mich erzählt. Doch egal was mir passierte oder was mir in der letzten Zeit widerfahren war, ich erzählte es niemanden. Nicht einmal mein bester Freund Shawn wusste manchmal, was genau in mir vorging. Keiner wusste manchmal, was ich wirklich dachte, was ich wirklich fühlte. Manchmal wusste ich es selbst nicht.

Nachdem ich ein Stück gegangen war, bog ich in eine kleine Straße ein und stand gleich vor unserer Haustür. Ich suchte in meiner Jacke nach meinem Schlüssel, ich ließ mir hierfür etwas mehr Zeit. Seitdem mein Vater mit dem Alkohol so eine innige Beziehung führte, wollte ich manchmal nicht einmal nach Hause, doch wenn ich nicht nach Hause kommen würde, hätte ich ziemlich viele Probleme am Hals. Meine Schwester hätte sich sicherlich über mein Zimmer hergemacht und womöglich herumgestöbert und im schlimmsten Fall bestimmte Dinge gefunden, welche nicht für ihre Augen bestimmt waren, welche für Niemandes Augen bestimmt waren, außer für die meinen.

Insofern ich einmal einen einzigen Tag nicht nach Hause kommen würde, wäre meine Schwester nicht das einzige Problem, es wären noch zwei weitere und diese beiden Probleme nannte ich ‚Ma‘ und ‚Paps‘, wobei ich meinen Vater in den letzten Jahren manchmal eher mit ‚Sir‘ oder mit ‚Vater‘ ansprach. Früher war er ein Vorbild für mich gewesen, mein Idol. Doch mein Idol zerbrach an seiner liebsten Droge, dem Alkohol. Meine Mutter würde womöglich vor Sorge durchdrehen, sie hätte Angst, dass ich wie mein Vater womöglich dem Alkohol verfallen wäre, dass mich dieser in seinen zehrenden Klauen hielt und jedes Mal, wenn ich von ihm flüchten wollte, mir solch einen Schmerz zufügte, dass ich dennoch wieder zurück kam und mein Vater würde womöglich einen ziemlichen Wutanfall bekommen. Im schlimmsten Fall würde meine Familie, so schätzte ich meinen Vater derzeit ein, vor allem wenn er wieder ein paar Gläser zu viel hatte, in einem Blutbad liegen, wenn ich einen Tag nicht zu Hause war. Dies war meine schlimmste Sorge. Immerhin liebte ich meine Mutter, sie hatte mich zur Welt gebracht. Sie hatte mich 9 Monate unter ihrem Herzen getragen und mir das Leben geschenkt und natürlich liebte ich auch meine kleine Schwester, zwar war sie ziemlich nervig, doch wenn sie ein Problem hatte, kam sie meistens als erstes zu mir.

Als ich schließlich den Schlüssel in meiner Jacke gefunden hatte, zog ich ihn heraus und betrachtete diesen in meiner Hand. Eigentlich wollte ich nicht nach Hause, doch ich musste. Ich musste nach Hause um das zu beschützen, was mir wichtig war, um das zu verstecken, von dem noch keiner wissen sollte und von dem nur ich wusste. Ich ballte meine Hand, in welcher sich der Schlüssel für unsere Haus befand, zu einer Faust, atmete noch einmal tief durch und warf einen letzten, flüchtigen Blick hinter mich, um sicherzugehen, dass niemand das mitbekam, was sich in unserem Haus abspielte. Was sich hinter unserer Fassade verbarg. Auch wenn wir keine wirklich glückliche oder gar perfekte Familie mehr waren, versuchten wir den Schein immer noch zu wahren, dass wir glücklich waren. Dass wir glücklich waren einander zu haben, auch wenn es eigentlich nur eine Lüge war, welche wir der gesamten Menschheit vorspielten und welche sie uns einfach so ohne Hintergedanken, ohne jemals versuchten hinter die Fassaden zu blicken, glaubten.

Ich legte meine Hand auf die Türklinke und erwartete das Schlimmste. Wenn ich nach Hause kam, konnte ich nie mit dem Besten rechnen, was früher für mich selbstverständlich gewesen war. Früher hatte meine Mutter noch frisch für uns alle gekocht, wenn wir nach Hause kamen, wir setzten uns gemeinsam an den Tisch, aßen das köstliche Essen, was unsere Mutter zauberte, sie war wirklich schon immer eine gute Köchin gewesen, und redeten darüber, was uns am heutigen Tag passiert war, sowohl über schlechte als auch über gute Dinge. Doch das letzte Mal als wir alle gemeinsam am Tisch gesessen hatten und unsere Mutter etwas Köstliches servierte, lag schon so lange zurück, dass ich mich kaum noch zu erinnern schien. Was hatte meine Mutter damals gekocht? Wie alt war ich? War es zu einem speziellen Anlass? Ich wusste es einfach nicht mehr. Zu viele Dinge waren seit damals passiert und verdrängten diese schöne, aber dennoch nicht gerade wertvolle Erinnerung in mein hinterstes Bewusstsein.

Ich öffnete die Tür so schnell es ging, um ins Haus zu gelangen und die Tür dann wieder hinter mir zu schließen. Wie bereits erwähnt, niemand sollte mitbekommen, wie es hinter unserer schönen Fassade wirklich aussah und kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, spürte ich schon eine Hitze. Die Hitze kam nicht von der Heizung, sondern eher von einem Streit. Wer stritt sich denn nun schon wieder? Waren es meine Eltern oder war doch eher meine Schwester an einem Streit mit meinen Eltern beteiligt? Ich hörte zwei weibliche Stimmen. Sie schrien herum. Es waren eindeutig meine Mutter und meine Schwester. Ich zog mir meine Jacke und meine Schuhe aus und stellte meinen Rucksack neben die Eingangstür. Die Stimmen kamen aus der Küche. Leise machte ich mich auf den Weg zu meiner Familie. Ich versuchte so leise wie nur möglich zu sein, immerhin wollte ich keine Aufmerksamkeit erregen und in den Streit hineingezogen werden.

„Mina! Wie kommst du bitte auf die verrückte Idee dir ein Bauchnabelpiercing stechen zu lassen? Du bist erst 14!“ Meine Mutter war vollkommen rot geworden im Gesicht. Sie war wirklich stinkwütend wegen meiner Schwester und ich verstand meine Mutter. Mina, meine kleine Schwester, hatte sich etwas machen lassen, was meiner Mutter nicht passte und wofür sie eigentlich das Einverständnis von unseren Eltern brauchte und so wie ich Mina kannte, hatte sie womöglich die Unterschrift von unseren Eltern gefälscht oder sie hatte einen Ausweis, der sie älter machte. Auch wenn sie erst 14 Jahre alt war, viele Leute schätzten sie schon auf 18 und somit war es für sie ein leichtes sich ein Piercing machen zu lassen und außerdem gab es genug Piercer, welche keinen Ausweis verlangten und einfach so die Leute piercten, wenn sie alt genug aussahen. Zwar machten sich die Piercer damit strafbar, aber es war ein gutes Geschäft für sie. Wenn Mami und Papi der lieben Tochter kein Piercing erlaubten, mussten sie einfach nur zu der richtigen Person hingehen und schon hatten sie ihr geliebtes Schmuckstück innerhalb von wenigen Sekunden. Doch es zog meistens schlimme Folge mit sich, wenn es die Eltern nicht erlaubten oder es die frischen Besitzer nicht richtig pflegten und ich hoffte nur, dass meine kleine Schwester keine Folgen von ihrem Schmuckstück bekommen würde. Eine Entzündung wäre nicht das wahre dort. War es Mina eigentlich von Anfang an bewusst gewesen, wie Mama darauf reagieren würde? Und wenn ja, was hatte sie sich denn überhaupt genau erwartet? Sie würde immerhin nicht einfach mit einem kleinen Streit davon gehen, dass hätte sie sich von Anfang an klar sein müssen, doch ob sie sich dessen auch klar war, wusste ich nicht.

Ich stand ein paar Zentimeter von der Tür entfernt. Mina und Mama waren so sehr in ihrem Streit verwickelt, dass sie mich gar nicht bemerkten und das war auch gut so, denn ich wollte nicht ein Teil dieses Streits werden. „Mama! Jede in meiner Klasse hat sowas! Ich wollte auch so etwas haben! Außerdem ist es wirklich hübsch!“, versuchte Mina gerade wirklich meine Mutter davon zu überzeugen, dass nichts schlimmes dabei war sich mit 14 Jahren ein Piercing machen zu lassen? Ich traute meinen eigenen Ohren nicht. Mina hätte immerhin zuerst unsere Mutter fragen müssen, ob diese es erlaubte und soweit ich wusste, hatte sie das nicht. Meine Mutter war schon feuerrot im Gesicht. Gleich würde ihre Bombe platzen. War sich Mina dessen bewusst? Ich hatte meine Mutter zuvor noch nie so wütend gesehen. Das rote Gesicht passte nicht zu ihren schulterlangen blonden Locken. Es sah irgendwie seltsam aus. Meine Mutter ballte die Fäuste und dann ging es los: „Mina! Du hättest mich fragen müssen, ob du dich piercen lassen darfst und dir nicht einfach nach der Schule schnell ein Piercing machen! Und es ist mir egal, ob deine Mitschüler auch so ein Piercing haben! Entweder du gibst das Ding sofort raus oder du hast drei Monate Stubenarrest!“ Ich wich zur Seite als meine Schwester an mir vorbeistürmte. Auch wenn sie klein und zierlich war, wenn sie wütend war, konnte sie mich ganz einfach umrennen. Denn Wut erzeugte immerhin Kraft.

Meine Mutter griff nach der Zigarettenschachetel, die auf dem Tisch lag und nahm sich eine Zigarette heraus. Sie zündete sie sich an, nahm einen tiefen Zug und lies ihren Kopf in den Nacken fallen, als sie den blauen Dunst aus ihrem Körper raus lies. Ihre Gesichtsfarbe wurde wieder normal. Meine Mutter rauchte eigentlich kaum, doch wenn sie einmal rauchte, dann gleich ziemlich stark. Es war nicht gut für sie, wenn sie viel rauchte, aber es war gut, dass sie es nicht tagtäglich machte. Ihr blonden Locken, welche in ihrem Nacken lagen, kitzelten sie und ihr entwich ein leises Lachen. „Darf ich auch?“, fragte ich sie. Sie hatte mich noch nicht bemerkt gehabt. Leicht erschrocken blickte sie mich an und als sie ihren Kopf wieder normal hielt. Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und hielt mir die Zigarettenschachtel samt dem Feuerzeug entgegen. Ich kam ihr entgegen und nahm die Zigarettenschachtel dankend entgegen. Als ich sie öffnete, sah ich, dass die Zigarettenschachtel schon fast leer war. Hatte meine Mutter heute etwa schon so viel geraucht oder hatte sie auch in den letzten Tagen, ohne dass ich es mitbekam, geraucht gehabt?

Ich nahm mir eine Zigarette aus der Schachtel heraus und zündete sie mir an. Meine Mutter setzte sich derweil an den Tisch und schnippte die Asche von der Zigarette weg. Sie sah auf die Zigarette. Anscheinend dürfte ihr etwas unangenehm sein, womöglich war es ihr unangenehm, dass ich wusste, dass sie so viel geraucht hatte. Ich setzte mich neben meine Mutter an den Tisch und legte die Zigaretten auf den Tisch. Erst jetzt viel mir auf, dass die Augen meiner Mutter mit etlichen Augenringen versehen war. Anscheinend durfte sie diese Nacht kaum geschlafen haben und als ihr meine Schwester von ihrem Piercing erzählt hatte, dürfte sie das noch dazu ziemlich fertig gemacht haben. Meine Mutter schien wirklich am Ende zu sein. Sie stütze ihren Kopf mit der freien Hand auf dem Tisch ab, die andere Hand mit der Zigarette fand zögerlichen den Weg zu ihren Lippen.

„Ich war in ihrem Alter nicht viel anders, Mum. Ich hab mir damals die Haare schwarz gefärbt und ich tue es heute immer noch, ja, aber mir gefallen nun mal meine schwarzen Haare und womöglich gefällt Mina so ein Bauchnabelpiercing. Mit 14 will jeder wie jeder sein und in dem Alter muss man lernen erwachsen zu sein.“, mit diesen Worten versuchte ich meine Mutter zu beruhigen. Sie sah mich immer noch nicht an. Sie war womöglich zu erschöpft um mich anzusehen, zu fertig mit ihren Nerven um im Moment überhaupt etwas zu tun oder gar um mir zu Antworten. Doch sie antwortete mir: „Es ist eine schwere Zeit, dass weiß ich auch so. Doch…“ Sie biss sich auf ihre Lippen, auch wenn ich ihr Gesicht kaum sehen konnte, da ihre Haare ins Gesicht fielen, konnte ich erkennen, dass sie sich in die Lippen biss. „Sie hätte mich wenigstens fragen sollen. Ich hätte doch ganz ruhig mit ihr geredet.“ „So ruhig wie mit mir damals? Du hättest mir beinahe den Kopf abgerissen als ich dich gefragt habe, ob ich mir die Haare färben darf und als ich dann mit den schwarzen Haaren mal nach Hause gekommen bin, hast du mir sowieso gleich Hausarrest gegeben!“, erinnerte ich sie. Ich lachte und konnte auch ihr ein Lächeln abringen. Einen kurzen Moment blickte sie auf, bevor sie dann wieder nach unten sah. Sie machte einen letzten Zug an ihrer Zigarette, bevor sie diese dann ausdämpfte.

„Wenn euer Vater von ihrem Piercing erfährt, ist hier die Hölle heiß. Danny, kannst du ein wenig mit ihr reden? Sie soll es wenigstens nicht eurem Vater sagen.“, bat mich meine Mutter.

„Gerne, Mum. Ich werde mit Mina reden. Aber tu mir einen Gefallen und leg dich ein wenig schlafen. Du siehst ziemlich fertig aus. Ein wenig Schlaf tut dir sicher gut.“, sagte ich ihr und dann dämpfte ich auch meine Zigarette aus. In meinem Kopf schwirrte es nur so von Gedanken, was sollte ich Mina sagen? Wie sollte ich mit ihr reden? Wie sollte ich anfangen mit ihr zu reden? Sollte ich sie gleich direkt auf das Piercing ansprechen oder vorher noch ein wenig mit ihr über alles reden was sie beschäftigte? Meine Mutter nickte, sie erhob sich und begab sich in das Wohnzimmer, welches sich gleich neben der Küche befand. Ich blickte ihr nach. Es war stockfinster im Wohnzimmer. Die Fenster waren zu.

Ich stand auf und ging zurück zur Eingangstür wo sich noch immer mein Rucksack befand. Ich packte den Rucksack und schwang ihn mir über die Schulter. Mein Rucksack war ziemlich leicht, denn es befanden sich kaum Bücher in ihm. Die meisten meiner Bücher lagen in der Schule, in meinem Rucksack befanden sich gerade einmal ein Federpennal und ein Notizblock, auf welchem ich mir die Notizen vom Unterricht aufschrieb. Ich ging die Stiegen nach oben, welche sich gleich neben der Eingangstür befanden. Meine Schwester und ich hatten oben unsere Zimmer und wir hatten auch ein kleines Bad mit einer Dusche oben, damit wir nicht immer nach unten rennen mussten, wo sich meine Eltern befanden. Ich ging langsam die Stufen hinauf, welche unter meinen Füßen immer wieder anfingen zu krächzen. Zwar war das Haus in dem wir wohnten nicht alt, aber dennoch knarzte es hin und wieder, wenn man auf bestimmte Stellen stieg.

Oben angekommen, ging ich erst mal in mein Zimmer. Mein Zimmer befand sich gleich, wenn man oben angelangte, auf der rechten Seite. Ich ging hinein. Die Rollläden bei meinen Fenstern waren noch oben und die Fenster selbst waren auch noch gekippt. Es war ein wenig kühl hier in meinem Zimmer und somit perfekt für mich. Ich liebte es schon als kleiner Junge, wenn es etwas kühler in meinem Zimmer war und ich mich dann unter die Bettdecke kuscheln konnte und es hatte sich bis heute nicht geändert. Doch mein Zimmer hatte sich verändert seitdem ich klein war. Früher hatte ich ein paar Bilder von meiner Familie hier stehen und das Zimmer war in weiß gestrichen. Heute befand sich kein einziges Bild von meiner Familie in meinem Zimmer und es war auch nicht mehr weiß. Mein Zimmer hatte eine dunkelgrüne Farbe angenommen und an der Wand hingen ein paar Totenköpfe. Mein Bett, welches früher ein Einzelbett war, war bereits zu einem Doppelbett geworden. Auf meinem Bett lagen meine Schlafsachen verstreut herum. Doch man konnte sie, dank der Farbe der Bettwäsche, leicht entdecken. Meine Schlafsachen waren in diversen dunklen Farbtönen, wohingegen meine Bettwäsche in einem unschuldigem weiß war.

Ich warf meinen Rucksack in die Richtung von meinem Bett, er landete ein Stück davor, genau dort wo ich ihn jeden Morgen finden konnte. Dann ging ich aus meinem Zimmer hinaus und schloss die Tür hinter mir. Ich blieb einen Moment stehen, die Türschnalle in der Hand und den Kopf gegen die Tür gelehnt. Mein Kopf zermalmte sich wieder vor Fragen. Wie sollte ich es nun wegen Mina angehen? Was sollte ich genau jetzt mit ihr besprechen? Würde sie mir gleich von Anfang an entgegen kommen und mir alles erklären oder müsste ich immer wieder nachfragen, bis sie mir endlich die Antworten geben würde, die ich haben wollte?

Es half nichts hier einfach zu stehen und nach zu denken, ich sollte nun besser handeln, sagte ich mir. Wenn ich nachdachte, brachte es mir nichts. Ich ließ die Türschnalle los und ging ein paar Schritte weiter zu Minas Zimmer. Es würde schon alles gut gehen, immerhin vertraute mir Mina blind. Sie konnte mit mir immer über alles reden, wenn sie nur wollte und ich hoffte wirklich, dass sie mit mir redete.

Als ich vor Minas Tür stand und gerade anklopfen wollte, fiel mir auf, dass die Tür nicht richtig zu war und noch einem kleinen Spalt weit offen stand. Ich bemerkte Minas Stimme. Sie hatte keine Freundin nach Hause gebracht, sie musste also telefonieren. Ich lauschte ihr also, auch wenn dies nicht meine Art war, doch wenn es um Mina ging, musste ich manchmal vorsichtig sein, denn auch wenn sie mir vertraute, verheimlichte sie mir gewisse Dinge.

„Könntest du es vielleicht bleiben lassen und diese Gerüchte noch weiter zu verbreiten? Was? Nein! Ich bin nicht von Luka schwanger! Luka und ich hatten uns gerade mal geküsst! Lass mich jetzt einfach in Ruhe! Bye!“, hörte ich meine Schwester herumbrüllen. Ich öffnete die Tür noch einen Spalt weit um sie zu sehen, ich wollte sie nicht in einer unangenehmen Situation stören oder wenn es ihr dreckig ging, sie nicht noch weiter runterziehen. Sie saß an der Wand, ich konnte sie von der Seite sehen. Mina hielt sich den Bauch und ihr rannen Tränen über das Gesicht. „Wie kommen die bitte darauf, dass ich schwanger bin? Ich bin mir doch selbst noch nicht sicher, ob es wirklich so ist…“ Sie schluchzte.

Meine Gesichtszüge entgleisten. Ich ging ein paar Schritte zurück, lehnte mich an die Wand und lies mich herunter sinken. Mina. Meine kleine Schwester Mina, die ich immer beschützen wollte, für die ich immer da sein wollte, war womöglich schwanger. Meine Welt hatte bereits einen kleinen Riss, doch nun brach sie vollkommen in sich zusammen. Nun war alles vorbei.



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