Ein Kuss – oder doch ein Versehen ...?
Plötzlich fuhr Aoi zusammen. Mogu, Hirotos kleiner Hund war auf seinen Schoß gesprungen und riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Was hatte dieses Wauzi sich nur angewöhnt? Kaum hatte er einmal innig mit dem kleinen deutschen Spitz gekuschelt, schon dachte er, er könne sich alles erlauben. Aber süß war er trotzdem ...
Langsam wurde auch die Musik lauter gestellt. Der Abend schien richtig in Fahrt zu geraten. Alle plauderten wild durcheinander und besuchten abwechselnd das junge Paar, das am Kopf des Tisches Platz genommen hatte.
Aoi beobachtete sie ganz genau. Er sah eine überaus amüsierte Tomoko, die offensichtlich viel besser mit der Rasselbande aus PSC-Musikern zurechtkam, als er je für möglich gehalten hatte. Sie war schön, lustig und charmant. Sie passte zu Uruha. Genau so eine Frau brauchte ein Mann wie er an seiner Seite. Aber er sah auch einen verunsicherten Uruha, der offenbar bemerkt zu haben schien, dass er, Aoi, ihn beobachtete. Er blinzelte, weil er sich dabei ertappt fühlte, wie er wieder Augenkontakt zu dem kühlblonden Rhythmusgitarristen gesucht hatte und dann bemerkte, dass Aoi den Blick bereits auf ihn gerichtet hielt. Uruha war gut geschminkt, seine Haut verfärbte sich nicht im Geringsten. Aber es gab etwas, das ihn schon immer verraten hatte, wenn ihm etwas peinlich war, oder er sich ertappt fühlte... seine Ohrspitzen, die Dank der neuen Frisur herrlich frei lagen und gut sichtbar leuchtend rot schimmerten.
Nun war Aoi mit einem Mal bewusst geworden, dass Uruha sich ebenso über sich selbst zu wundern schien, wie er sich über den Gitarristen wunderte. Und ihm wurde klar, dass es zwischen ihnen noch einen ganz anderen Faktor gab, der noch verschleiert in ihrem Sein herumgeisterte.
Aoi wandte den Blick zum Schrein. Da stand Isshis Bild mit der schwarzen Schärpe und daneben das von Uruha und Tomoko.
Es war wirklich so, wie alle es immer sagen: Ein Leben geht, ein Leben kommt.
Es bewahrheitete sich immer wieder …
Leben und Tod, so klar und deutlich in ihren Standpunkten – doch der Weg, der beide miteinander verband, ging selten grade aus und führte nicht selten kurzzeitig ins Nichts. Ein Kieselstein fällt zu Boden und das Schicksal der Menschheit verändert sich dramatisch. Vielleicht war es ebenso ein solcher Kieselstein, der im März jenes furchtbare Erbeben ausgelöst hatte. Aoi hatte in letzter Zeit oft darüber nachgedacht, welchen Sinn sein kurzes Dasein auf diesem Planeten hatte, sein Gastspiel unter dem blauen Himmel über Japan.
Er war immer wieder zu einem Ergebnis gekommen: Er wollte jenen Menschen, die mochten, was er tat, für kurze Zeit das Gefühl der Endlichkeit nehmen. Einen Abend lang die Zeit stillstehen lassen und sie vergessen machen, was sie verunsicherte und ängstigte. Nach dem 11. März war ihm diese Absicht nur noch wichtiger geworden. Und er war sich sicher, dass die anderen Mitglieder von the GazettE sich ähnliches vornahmen.
Und ihm war auch bewusster denn je, dass die Zeit, die er auf dieser wunderschönen Erde verbringen durfte, nicht mehr als das Hundertstel eines Wimpernschlages der Zeitgeschichte war. So kurz, dass es jeden Augenblick zu genießen galt, so flüchtig, dass er nie wieder auf etwas verzichten wollte. Und er war sich sicherer als jemals zuvor, diese Zeit mit Uruha teilen zu wollen. Wenn er gekonnt hätte, würde er ihn heiraten, verdammt! Von der Stelle weg!
Dann musste er doch über sich schmunzeln. Aber er schämte sich nicht für diesen Gedanken, wie er es vielleicht vor einem Jahr noch getan hätte. Die Ereignisse im Frühjahr hatten sie alle reifer werden lassen. Überhaupt war es ihm egal geworden, was andere Menschen von ihm dachten. Sollten sie ihn doch für schwul, oder sonst was halten! Er fühlte, was er fühlte. Und auch wenn er durch Uruhas kleine Geste nun verunsichert war, so blieb doch unter dem Strich stehen, dass Uruha ihn mochte, dass Aoi ihm etwas bedeutete. Das reichte, das reichte tatsächlich aus, um nicht an der eigenen Einsamkeit zu verzweifeln. Ein Stück von dem Glück des verlobten Paares wurde so zu seinem.
Verträumt tätschelte Aoi die Stelle an seinem Hals, die Uruhas Lippen berührt hatten. Eine flüchtige Geste, die doch umso bedeutsamer für ihn war.
Und Uruhas Ohren sagten ihm schlicht, dass dies kein Versehen gewesen war ... keinesfalls ...
Als er aufstand, um zum »DJ« rüberzugehen, der sich die Herrschaft über die Musik des Abends und auch über die Lautstärkeregler zu eigen gemacht hatte und der sich als Tora entpuppte, bemerkte er nebenher, wie am »Stammtisch«, an dem Ruki, Reita, Kai, Saga und Hiroto saßen, schon fleißig über grausame Hochzeitsspiele nachgedacht und sich sogar einiges notiert wurde. Er hatte im Vorbeigehen nur etwas von Laken mit Nagelschere zerschneiden, Topfschlagen und ähnlichen Peinlichkeiten und Quälereien gehört. Langweilig würde die Hochzeitsfeier der beiden bestimmt nicht werden, das war ihm spätestens klar, als er aus Sagas Mund nur ein lautes »TABASCO?!« hörte.
Er grinste und schüttelte den Kopf. Unterwegs drehte Chiyu ihm einen »Sex on the beach« an. Das könne er mal wieder brauchen, zumindest sah er so aus. Wenn Chiyu wüsste ... Aoi war schon lange ausgehungert. Aber das war wohl das Los, wenn man immer »zu haben sein« musste. Oder wenn man schlicht mit den Tokioter Frauen nichts anfangen konnte. Warum musste auch ausgerechnet Uruha das unverschämte Glück und so einen Goldgriff gelandet haben? Aoi war sich sicher, dass er nicht der einzige hier in diesem Festraum war, der so dachte.
Er verbrachte eine halbe Stunde bei Tora, hatte alles stets im Auge. Dann begab er sich zur Tür, um die Eltern der beiden Verlobten zu begrüßen. Tomokos und Uruhas Mütter waren fast in Ohnmacht gefallen, als sie die kleinen Bodies entdeckt hatten. Damit war es also raus. Die Väter freuten sich scheinbar auch, zeigten dies aber nur in einem zufriedenen, ausgeglichenen Lächeln. Uruhas Vater rollte mit beiden Fußballen gleichzeitig auf und ab und wippte so vor sich hin. Er war stolz wie Oscar.
Tomokos Mutter war ebenso zart und süß wie ihre Tochter. Die langen braunen Haare wellten in großen Locken über ihre Schultern, die Brille auf ihrer Nase, die kleine Sterne an den Bügeln hatte, kleidete sie und unterstrich ihr offenes Wesen ... Trotz ihrer einfarbigen Kleidung hätte Aoi sie als ausgesprochen bunt beschrieben. Ihr Gesicht war voller Mimik und Herzlichkeit. Tomokos Vater war ein stattlicher Mann in einem grauen Anzug, groß gewachsten, seine Haare kurz und schwarz. Er war der ruhige Gegenpol, doch auch er musste bei dem Gefühlsausbruch seiner Frau herzhaft lachen.
Uruhas Eltern hatten Aoi auch gleich freudig gegrüßt. Man kannte sich ja noch aus der Jugendzeit der beiden Gitarristen her. Die Mutter hatte ihre Haare nun kürzer, zu einem schicken angeschrägten Bob geschnitten. Sie trug ein wunderschönes schlichtes Kleid und die Halskette, die Uruha ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte.
Sein Vater war an den Schläfen schon leicht angegraut, doch im Herzen jung geblieben und fit wie ein Turnschuh. Das war wahrscheinlich dem Hang zum Joggen geschuldet, den er mit seinem Sohn teilte. Er trug ein gut geschnittenes Sakko und dazu eine dunkelblaue Levi’s Jeans.
Das ist bestimmt ein ziemlicher Kulturschock für die vier, dachte Aoi sich, und strich sich durch die blonden Strähnen. Er war die halbe Zeit damit beschäftigt, alle miteinander bekannt zu machen. Dann nach einer geschlagenen Stunde unentwegten Small Talks zog ihn eine freche Frauenhand am Ärmel auf die Tanzfläche, zwischen die anderen. Aoi war ein wenig überrascht, aber als er in Tomokos glückliches Gesicht sah, musste auch er schmunzeln. Das hatte er nicht erwartet. Er blickte sich kurz nach Uruha um und entdeckte ihn, der Mutter seiner Verlobten einen Tanz schenkend, auf der anderen Seite der Tanzfläche.
»Hey, der ist mir! Man könnte meinen, du hast nur Augen für ihn!«, schmollte sie, weil Aoi nicht sofort auf sie reagierte.
»Vielleicht habe ich das ja auch«, kokettierte Aoi zurück und sein unvergleichliches Aoi-Lächeln wurde noch breiter, als er Tomokos Wangen erröten sah. Aber er wollte gar nicht wissen, was sie sich gerade vorstellte. Sie blinzelte mit den Mascara-Wimpern und lächelte verlegen.
»So, so?«, machte sie nur und ließ sich von dem Rhythmusgitarristen an der Hand drehen. Der feine Stoff ihres knielangen Kleides drehte sich mit. Als Aoi sie wieder abfing und seine rechte Hand an ihrer Hüfte ruhte, legte sie kurz den Kopf an seine Schulter.
»Vielen Dank für den wunderschönen Abend. Das hatte ich mir nie so schön erhofft. Danke ...«
»Schon gut, ein Aoi tut, was ein Aoi kann ...« Eine kurze Umarmung und ein Lachen folgte.
Ein Räuspern. Uruha stand neben ihnen einem gespielt skeptischen Blick.
»Darf ich mal abklatschen?« Der nächste Griff um Tomokos Taille bedeutete schlicht: Meins.
»Ach, keine Sorge, Schatz, der hat eh nur Augen für dich«, setzte sie spitz hinzu und kicherte.
Das war's. Aoi war ausgeknockt. Der Punkt ging an sie. Er hob kurz die Schultern und senkte sie wieder. Seufzte. Dann ließ er beide von dannen tanzen und weich blickte er ihnen nach.
Es war einfach eine seltsame Situation ... Doch er freute sich für sie.
Aber nun war er es, dessen Ohren sich an den Spitzen einfärbten, als Tomoko ihm keck über Uruhas Schulter zuzwinkerte ...
Was war das nur für ein Chaos, das in seinem Inneren tobte? Aber er konnte nichts anderes tun, als warm zu lächeln. Dieser Song umgab ihn wie eine schleiernde Wolke. He's not that into you … Ach Tora, schlechtes Timing – ganz schlechtes Timing. Im nächsten Moment überkam Aoi schon ein Schwall von Emotionen, den er ohne zu gehen nicht mehr hätte ertragen können. Er drehte sich um – Zeit für eine Zigarette. Erstmal raus und wieder zur Besinnung kommen.
Fall X. Es war wieder einmal Fall X. Wieder hatte er einmal zu viel »Hier!« geschrien, an irgendeiner Stelle einen Haken zu viel in seinen Lebensvertrag gemacht. Er stand allein mit sich und der Stadt auf der Terrasse im Hof, eine Marlboro Menthol qualmte zwischen seinen Fingern und die Aschespitze wuchs und wuchs, weil Aoi zu sehr mit Grübeln beschäftigt war, um zu ziehen. Er mochte Uruha. Das war keine besondere neue Erkenntnis. »Der hat doch eh nur Augen für dich ...«, kamen ihm Tomokos Worte wieder in den Sinn. Sie hatte recht. Schon seit Wochen hatte Uruha seine Gedanken bestimmt. Schon seit Wochen? Nein, er hatte schon seit Jahren einen festen Platz in Aois Gefühlswelt. Nur warum begriff er diese Dinge erst jetzt? Warum dachte er erst jetzt darüber nach, was er wirklich für den Leadgitarristen empfand?
Nachdenklich wanderte sein Blick durch die Nacht, durch den mit Lichterketten festlich geschmückten und schummrig beleuchteten Garten. Asche rieselte auf die schönen mediterranen Fliesen, als er wieder schwer seufzen musste. Im nächsten Moment beschleunigte sein Herz. Was war das? Er spürte etwas. Einen Duft. Eine Aura. Dann lächelte er schon wieder. Uruha.
»Brauchst du einen Moment für dich?«
Aoi drehte sich um. »Ja, und du hast ihn grad zerstört.«
»Soll ich wieder gehen?«
»Nein, auf keinen Fall ...« Aoi mochte es, wie der laue Abendwind durch die Haare des anderen streifte, der grade in diesem Moment aus seiner Alibizigarettenschachtel einen Kaugummi zog. Ein Gag, den er sich angewöhnt hatte, um mit dem Rauchen aufzuhören.
»Ich wollte mich auch noch mal bei dir bedanken. Danke, dass du dir so viel Mühe gegeben hast.«
»Schon gut … Das war doch das Mindeste ...«, sagte Aoi nur und drückte den abgebrannten Glimmstängel am Ascher aus. Er lehnte sich gegen die Brüstung, die die Terrassenfläche von dem kunstvollen Steingarten trennte. »Wann hast du's gemerkt? Dass sie die Richtige ist, meine ich.«
»Weiß ich nicht genau. Das Gefühl war einfach auf einmal da. Und dann hat es sich so ergeben.« Uruha stellte sich dicht neben seinen Freund. Was sie beide miteinander redeten, brauchte kein fremdes Ohr hören.
»Ich wünsche mir, auch so viel Glück zu haben wie du.«
»Das kommt schon noch. Irgendwann begegnet dir auch jemand, mit dem du dein ganzes Leben verbringen möchtest. Das geht schneller als du denkst«, sagte Uruha nur und stolperte über seine Worte. Er schien nervös zu sein.
Mit geheimnisvoll funkelnden Augen blickte Aoi nun direkt ins Gesicht des Mannes neben ihm, das ihm so vertraut war wie kein anderes. Er machte eine kurze Pause, sagte einen Moment lang nichts.
»Schon passiert ...«, flüsterte er wie zu sich selbst.
Uruha schien es gehört zu haben. In seinem Mienenspiel konnte Aoi leichte Verwunderung erkennen.
Dann drehte der Rhythmusgitarrist sich wieder um, sah durch das französische Fenster hinein zu den Tischen mit den beiden Bildern. Mit einem Mal fiel eine Last von ihm ab. Er verstand, dass er sich geändert hatte. Dass er keine Angst mehr hatte vor der Meinung anderer. Es war sein Leben, sein Wimpernschlag in der Zeitgeschichte. Diesen Wimpernschlag langen Intervall, in dem er auf diesem Planeten geduldet wurde, galt es zu nutzen.
Uruha war immer noch sprachlos. Nicht mutig genug, um noch einmal genau nachzufragen, was oder wen Aoi gemeint hatte, unsicher, ob er sich angesprochen fühlen sollte oder nicht.
Aois Gesicht schien so entspannt und ausgeglichen. Friedlich. »Bist du schon mal auf einem Schiff gefahren, um dich herum nichts als Wasser? Nichts als endlose Weite … Hast du schon mal eine Nacht durchgemacht und dich morgens um drei Uhr in der Frühe wie ein Genie gefühlt? Hast du schon mal auf einer Zugfahrt mit einem Wildfremden das beste Gespräch deines Lebens geführt und ihn danach nie wieder gesehen? Hast du schon mal mit einem Radiergummi ein Kind zum Lachen gebracht? Bist du in deiner Garage zu Hause einfach länger im Auto sitzen geblieben, weil du diesen Song im Radio unbedingt noch zu Ende hören wolltest?« Die Augen beider Gitarristen trafen wieder aufeinander. »Das sind alles Kleinigkeiten, einige unter vielen, die mir in diesem Jahr passiert sind. Dinge, die unscheinbar sind, aber die ein Leben erst wertvoll und erfüllt machen. Diese kleinen Dinge sind meine ‘Namenlose Freiheit’.«
Uruha musste gerührt schmunzeln. So etwas konnte auch nur Aoi sagen.
»Und dazu gehört auch, mit dir zusammen auf der Bühne ein Gitarrenduett zu spielen. Dir mit deinem Lieblingspudding eine Freude zu machen. Beim Fitting auch mal deine Jacke anprobieren zu dürfen. Mit dir aus einer Flasche zu trinken. Heute Abend mit der Frau, die du liebst, zu tanzen … «
Nun wurde Uruha wieder rot. Die Ohren leuchteten mehr oder weniger gut versteckt hinter den Haaren des Jüngeren.
»Die Katastrophe im März … die Zeit und die Angst danach … Isshis Tod … Das alles hat mich verändert. Über viele Dinge, die mich verärgert und verletzt haben, kann ich jetzt nur noch lachen. Ich hab aufgehört nach der Liebe zu suchen – stattdessen genieße ich die Zeit mit den Menschen, die ich mag. Ich hab aufgehört darüber nachzudenken, warum ich hier in Tokio einfach keine Frau finde – stattdessen habe ich darüber nachgedacht, ob ich dem einen Menschen in meinem Leben nicht schon längst begegnet bin. Und wenn mich ein gutaussehender, sympathischer Mann anbaggern würde – heute würde ich nicht mehr so einfach nein sagen …«
Uruhas Mund klappte unweigerlich etwas auf. Aoi …
Dieser sah, wie das Gesicht des Größeren sich erneut wandelte. Seine Augen blinzelten ihn aufmerksam an und seine Verwunderung schien noch einmal eine Steigerung erfahren zu haben. Mit diesem letzten Satz begann sich etwas in Uruha in Bewegung zu setzen. Sein Brustkorb ging schneller auf und ab. Fasziniert wanderten seine Augen von der einen Seite von Aois Gesicht zur anderen. Wieder ein heftiges Blinzeln. Aber so recht deuten, was in dem anderen vor sich ging, konnte Aoi nicht. Uruha …
Wo kam plötzlich diese Spannung zwischen beiden her? Es war keine Anspannung, sondern pure Elektrizität. Aoi konnte sich nur vage ausmalen, dass Uruha dieses Geständnis in irgendeiner Weise eine Erkenntnis brachte, die alles auf den Kopf stellte.
Uruhas Hände begannen zu zittern. Sein Blick wanderte von Aois Augen hinab auf seinen Mund, seinen Hals hinunter auf die beiden Erhebungen von seinen Schlüsselbeinen, folgte der silbernen Kette, Glied für Glied, bis zum Anhänger auf Aois Brust, dessen unteres Drittel beinahe im schwarzen Revers verschwand. Dann schloss Uruha die Augen. Einen Moment schien er in sich zu gehen. Und noch während er nach ein paar Sekunden die Augen wieder öffnete, kam er auf Aoi zu, der ihn nun verwundert musterte.
»Du meinst in etwa so?«, murmelte er nur. Und im nächsten Moment lagen seine Lippen watteweich auf Aois Mund. Es war kein fordernder Kuss – eher ein kurzes, wirklich kurzes Stelldichein.
Aoi hatte keine Zeit zu reagieren. Aber seine Augen klappten ohne sein Zutun halb zu – und dann war es auch schon wieder vorbei. Uruha blieb aber sehr dicht vor ihm stehen. Aoi war baff. Er wusste wirklich nicht, was er davon halten sollte. Uruha, dies hier ist deine Verlobungsfeier!, dachte er nur.
Dann aber grinste Uruha nur schelmisch frech. Es hatte etwas von: Ich will dich doch nur ärgern. Nun war Aoi klar, dass das nicht ernst gemeint war. Dabei hätte er schwören können … Schade, eigentlich.
»Ja, in etwa so ...« Huch, seine Stimme war etwas zittrig und rau. Er versuchte ein cooles Aoi-Grinsen, das dann schließlich auch gelang. In seinem Innern war aber gerade ein Erdbeben 10,1, ein Tsunami, ein Taifun, Dürre und der Monsunregen gleichzeitig ausgebrochen. Er drohte zu explodieren und dann im All zu verglühen – so musste gegen Ende Dezember 2012 der Weltuntergang aussehen! Okay, Angesichts der Geschehnisse war dies ein schlechter Vergleich. Aber genau so fühlte er sich gerade! Dafür blieb er erstaunlich ruhig.
»Ich … ich werd wieder reingehen«, schmunzelte Uruha zurück und hob die Hand, um mit Aoi einzuschlagen. »Danke für deine Worte … und erinnere mich dran, dass ich dich auf meiner Hochzeitsfeier die Rede halten lasse … okay? Ich kann so was nämlich nicht ...«
Dies war für Aoi gerade eine Horrorvorstellung! »Ich schreib dir schon was Schönes zusammen … «, mehr brachte er nicht heraus.
Uruha hatte sich schon umgedreht und gab ihm ein Handzeichen zum Gruß, dann federte er mit gewohnt uruhalässigen großen Schritten von dannen.
Was war das denn jetzt?
Aois zitternde Hände, die sich bis eben in den Jackentaschen versteckt hatten, schnellten hervor und klammerten sich nun an die Balustrade hinter ihm. Heiß. Ihm war heiß. Sein Gesicht glühte feuerrot. Sein Herz klopfte Stakkato. Sein Mund war trocken … Das mussten die Folgen des Klimawandels sein.
Eine halbe Stunde hatte er damit verbracht, sich halbwegs wieder einzukriegen. Innerlich immer noch außer Atem, taumelte er zurück zur Party. Nein, es wurde nicht besser. Es ging Schlag auf Schlag weiter: Als Aoi an der Damentoilette vorbeiging, streckte sich ihm ein Arm aus der Tür entgegen, schnappte sich seinen Ärmel und zog ihn mit in die unbekannte Galaxie! Na ja - so unbekannt nun auch wieder nicht, schließlich war es nur eine Toilette … Aber, Moment mal …!
»Tomoko?« Aoi war wieder baff.
»Hai.« Sie schien irgendwie aufgeregt zu sein. »Ich hab euch gesehen!«
»Bitte was?«
»Dich und Kouyou! Ihr habt euch geküsst!«
Nun war Aoi wieder sprachlos. Sie musste durchs Fenster geschaut haben. In ihm tobte schon wieder der nächste Sturm. Es schien die Nacht der Stürme zu werden … Für sie brach nun sicher eine Welt zusammen. Aoi machte sich auf eine Schimpftirade gefasst. Sie würde ihm eine knallen. Links und rechts. Sie würde weinen und nie wieder mit ihm reden. Wie hatte er das nur zulassen können?! Ausgerechnet auf der Verlobungsfeier der beiden. Alles kam nun auf seine Antwort an.
Doch er musste gar nicht erst antworten …
»Das war süß!«, kicherte sie auf einmal und ihre Augen strahlten.
»Aber ...«, nun konnte Aoi gar nichts mehr sagen.
»Kouyou hat mir erzählt, dass ihr das früher auch immer auf der Bühne gemacht habt.«
Das stimmte, Fan-Service. »Ach … hat er das?« Aoi wusste mit dieser Situation gar nichts anzufangen. Diese Frau war einfach …
»Und?«
»Was – und?«
»Na … küsst Kouyou heute besser?«, lachte sie laut los und setzte sich auf die marmorne Waschbeckenanlage, ließ die Beine baumeln und grinste schräg.
Wo hatte diese Frau nur ihre entwaffnende Frechheit her?
Einen Augenblick lang konnte der Rhythmusgitarrist nur blinzeln. Dann merkte er, dass sie wirklich nicht böse war. Er grinste wieder aoihaft.
»Er schmeckt anders«, sagte er, ohne rot zu werden.
»So? Warum das?«
»Er raucht nicht mehr ...«, Aoi ließ sich beruhigt an die Fliesen hinter sich kippen, na ja, beruhigt ... »Früher haben wir beide gleich geschmeckt. Also fast, wir haben ja auch fast die gleichen Zigaretten geraucht.«
Tomoko taxierte Aoi genau. Beide lächelten sich frech zu. Dies war definitiv der seltsamste Abend, den Aoi seit Langem erlebt hatte.
»Interessant!«, sagte Tomoko nur und sprang in einem Satz wieder auf die Beine. Die großzügig gelockte Strähne an ihrer rechten Gesichtsseite federte. John Frieda machte es möglich. Mit einem strahlenden Lächeln kam sie Aoi nun sehr nahe. Er spürte ihr trägerloses Kleid an seinen unter der Brust verschränkten Armen. Spätestens jetzt war es Zeit, nervös zu werden.
»Das würde ich ja zu gerne probieren.«
Was? Hatte sie das gerade wirklich ..?
Zu spät. Aoi konnte wieder nicht reagieren! Ihr Mund lag schon auf seinem! Und sie küsste fordernder als Uruha! War er hier im falschen Film? Wollten sie ihn reinlegen, war das ein Freundschaftstreuetest???
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfundzwanzig … Fünf. Ganze Fünf Sekunden! Länger als der Balkonkuss von William und Kate! Jahrelang nichts – und nun hagelte es Küsse!! Und – überhaupt – was war denn hier eigentlich los?!
»Uh ...«, machte sie und wedelte sich mit der Handfläche Luft zu, »das hatte etwas Wildes, Männliches an sich … dieser Marlborogeschmack ...« Schon lagen ihre Hände wieder hinter ihrem Rücken und sie hoppelte verlegen auf den Absätzen auf und ab, die Wangen leicht gerötet.
Aoi war immer noch sprachlos und glühte ebenfalls vor sich hin. Einen Moment lang konnten beide noch innehalten. Dann brachen sie in süßes Lachen aus.
»Hey, das hier bleibt aber unter uns, Baby ...«, meinte sie gespielt cool, als wäre sie der Mann. »War nur eine kleine Rache für Kouyous Terassenkuss-Angriff auf deine Lippen vorhin.« Dann legte sie sich einen Finger auf ihren und dann wechselte er zu Aois Mund. Sie kicherte wieder und drehte sich um sich selber, ihr Kleid drehte sich wie in einem 60er-Jahre-Tanzfilm mit.
»So! Und jetzt möchte ich mit euch beiden tanzen!«, rief sie und zog einen verdutzten Aoi an der Hand wieder raus aus dem Damenklo auf die Tanzfläche.
Einen perplexen Hiroto, der sie beide gemeinsam aus dem Damenklo kommen sah, hatten sie nicht bemerkt. Und als Tomoko ihren Verlobten und den Rhythmusgitarristen an der Hand nahm und sie zu dritt im voll besetzten Lokal tanzten, wusste er erst recht nicht mehr genau, was er von dieser Situation halten sollte. Dass keiner außer den Dreien zur Musik tanzte, schien sie nicht zu stören. Auch Uruha hatte sich anscheinend an diese Situation gewöhnt, denn langsam begann er zu lächeln, dann sogar zu lachen, denn Tomoko führte die Hände der beiden Männer gleichzeitig an ihre Lippen und hauchte Küsse darauf. Sie lachten zu dritt und freuten sich – unterbrochen wurden sie vom plötzlichen Gegacker, das vom Eingang herschallte. Tomoko sah sich um und begann zu quietschen, denn ihre Mädelsclique war eingetroffen, selbst eine Freundin, die eigentlich auf Hokkaido arbeitete, stand zwischen dem Gespann. Tomoko sprang auf ihre Mädchen zu und wurde geknuddelt und gedrückt. Ein neuer Moment, in dem ihren Eltern schmerzlich bewusst wurde, dass ihr kleines Mädchen zu einer neumodernen Frau mutierte.
Aoi und Uruha blieben auf der selbst ernannten Tanzfläche zurück und beobachteten das weibliche Treiben aus sicherer Entfernung.
»Aoi ...!« Uruhas Tonfall glich einem bedrohlichem Knurren.
»Ja?«
»Möchtest du mich nicht vor dieser Meute retten? Sie werden mich zerquetschen ...«
»Nur vor lauter Zuneigung und Wohlwollen.« Aoi begann zu prusten. »Kann es sein, dass du vor ihren Mädels mehr Angst hast als vor euren Eltern?«
»Es fühlt sich fast so an ...« Er schluckte schon jetzt schwer, da langsam immer mehr weibliche Blicke auf ihn gerichtet waren.
»Ein paar Minuten musst du durchstehen – danach überlege ich mir etwas für dich.« Der Ältere zwinkerte und mischte sich ins Partyvolk, das sich so langsam am Buffet kugelig aß. Nachdem auch er endlich ein paar Happen hatte zu sich nehmen können, sah er auf und bemerkte, dass der liebe Uruha gar nicht so viel Angst zu haben brauchte. Tomokos Truppe entpuppte sich als sehr gesittet – zumindest machten sie den Eindruck oder sie waren selbst etwas eingeschüchtert durch die vielen männlichen Gäste, die in den Charts so manches Mal ihr Unwesen trieben.
Tomoko war die einzige Frau im Raum, die gelöst lachte und mit den Musikern scherzte, als kannten sie sich schon seit Jahren. Na ja. Sie als Fan vielleicht, als Jemand, der sich für Musik interessierte, hatte sie wahrscheinlich schon etwas von allen gelesen, ihre Musik gehört, trotzdem war sie unaufgeregt und normal. Aoi erkannte, dass sie genau der Typ Frau war, den sie alle hätten als Partnerin gebrauchen können. Jemand, der sie nicht in den Himmel lobte, weil sie Musik-Stars waren, sondern weil sie aus freiem Herzen liebte.
»Alles Roger?« Der jüngere alice nine.-Gitarrist setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, selbst Teriyaki-Spieße und Wan-Tans auf dem Teller. Mit Hilfe von Messer und Gabel zog er ein Fleischstückchen vom ersten Spieß ab und ließ es unter der Tischkante verschwinden. »Sieht so aus, als ob Uruha-kun ein glückliches Händchen bewiesen hätte ...«
»Das hat er definitiv, eine bessere Frau kann er sich kaum wünschen«, antwortete Aoi ihm und genoss seinen gebratenen Reis mit Gemüse und Fleisch.
»Haben sie schon einen Termin für die Hochzeit? Oder wissen sie schon, wann der kleine Nachwuchsmusiker kommt?« Ein leises Winseln ertönte und nach einem glücklichen Hiroto-Grinsen verschwand wieder ein Stück Fleisch.
»Die Geburt sollte in ... pff ...« Aoi rechnete. »Fünf bis sechs Monaten sein. Und die Hochzeit sollte aufgrund der Rundungen, die da noch kommen werden, entweder in spätestens drei Monaten oder nach der Geburt stattfinden.«
»Wirst du ihr dabei helfen, ein Hochzeitskleid auszusuchen? Schließlich hast du das ja mal beruflich gemacht ...«
»Ich glaube eher nicht daran!«, lachte Aoi und bekam rosa Wangen. »Dafür sind ihre Freundinnen besser geeignet, finde ich. Du hast ja wahrscheinlich gesehen, wie sie auf sie einredeten und quietschten und so ... So wie ich das sehe, werden sie sich innerhalb der nächsten Tage um das Hochzeitskleid kümmern.«
»Ich hab etwas anderes gesehen.« Hirotos Stimme war plötzlich dunkel und ernst, sodass Aoi aufhorchte und in ein ebenso ernst blickendes Gesicht sah. »Wenn Uruha-kun nichts dagegen hat oder ihr euch zu dritt vergnügt, soll es nicht mein Problem sein, allerdings kann ich nicht still bleiben, sollte es anders sein.«
»Wovon redest du bitte?« Was hatte Hiroto gesehen?
Der jüngere Gitarrist kämmte sich mit den Fingern durch die Haare. »Ich möchte nicht Moralapostel spielen, aber die beiden heiraten und werden Eltern, du solltest dich nicht einmischen.«
»Was?!«
»Du und Tomoko-chan, ihr seid Hand in Hand aus der Damentoilette gekommen. Entweder du besprichst dich mit ihr und sagst es Uruha-kun – oder ich tue es.«
Aoi fiel die Gabel aus der Hand. »WAS?!«
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Tomokos Finger tanzten auf seiner Handinnenfläche, um ihn zu beruhigen, während sie mit ihren Freundinnen sprach und sie sich über schüchterne Flirtversuche seiner Musikerkollegen amüsierten. Eine von ihnen war mit SuG-Gitarrist Masato auf der Tanzfläche und die nächste flirtete über Augenkontakt mit einem Saga, der viel zu schüchtern war, um irgendetwas zu sagen.
Am besten war es sicher, er dachte über das Album-Release von Toxic nächsten Monat nach. Das war sicher geschickter als an Aoi zu denken. Oder an das, was sie auf der Terrasse getan hatten. Ein Windhauch von einem Kuss war es gewesen, aber auch ein Moment ihrer Zweisamkeit. So kurz es auch gewesen war, es war geschehen – und er schämte sich nicht dafür.
Tomoko suchte seinen Blick und lächelte ihn an, als wüsste sie Bescheid über das, was in ihm vorging. »Wir gehen bald«, formten ihre Lippen und sie legte ihre Stirn an seine. Sie hatte recht ... seine Unkonzentriertheit konnte man auch auf die fünf Stunden Dauerbeschallung schieben. Er nickte und erwiderte ihr Lächeln.
Als sie gingen, war Aoi etwas blass um die Nase, aber Tomoko lud ihn für den morgigen Tag zum Nachmittag ein und bedankte sich nochmals mit einer festen Umarmung, woraufhin seine Mundwinkel doch wieder in die Höhe zuckten. Nach diesem langen, ereignisreichen Abend war Uruha froh, dass er ins Bett fallen und auch gleich die Augen schließen konnte.
Nachdem sich Tomoko auch abgeschminkt und zu ihm gelegt hatte, surrte sein Handy, womit es eine Nachricht ankündigte. Murrend hob er den Arm, langte auf den Sessel, der ihm als Nachttischschrank diente, ergriff das kleine Technikwunder, tippte darauf und öffnete träge beide Augen einen Spalt breit. Dann fiel ihm das Handy aus der Hand.
»Hm? Kouyou? Ist irgendetwas passiert?« Tomoko drehte sich zu ihm und streichelte seine Wange, doch Uruha schüttelte den Kopf, versuchte sich mit einem Grinsen.
»Ich glaube, da will mich Jemand auf den Arm nehmen ... In der Nachricht steht, du hättest mich heute Abend betrogen ...«
»Oh Gott ...«
»Oh Gott – wie ‚Wie kommt man denn auf die Idee?’ oder wie ‚oh Gott, ich wurde erwischt’?« Er lächelte zu sehr, um es ernst zu meinen.
»Hm ...« Sie streckte die Arme über den Kopf und setzte sich seufzend auf. »Du musst da jetzt kein Drama draus machen – das mach ich ja auch nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich hab dich mit Yuu gesehen. Und dann habe ich ihn auch geküsst. Es war nur ausgleichende Gerechtigkeit.«
Uruha blinzelte. Und blinzelte noch mal. Seine Verlobte war ein gescheites Mädchen ... und er hatte unheimliches Glück, dass sie Spaß verstand und nicht nachtragend war.
»Du hast mir etwas zu erklären, Kouyou ...« Weil Uruha nichts sagte, lächelte sie sanft, als sie weitersprach. »Du liebst ihn, habe ich recht?«