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Odoroki High

Ein Magical Girl-Fantasy-Mix
von

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Verwirrung

Aber laß mich dich warnen: Manch einer hier läßt sich nicht einfach von seinem schwer erkämpften Platz verdrängen. Wir haben alle eine schwere Zeit hinter uns. Doch wenn du nicht aufpaßt, dann wirst du mehr leiden müssen als jeder andere an dieser Schule.
 

Megumi Nagai
 

Kapitel 2 - Verwirrung
 

Sie waren durch ein dunkles Gewirr aus Gängen gewandert, in dem Aya die Orientierung verloren hatte. Das war vermutlich nicht einmal Mados Absicht gewesen - die Flure und Treppen waren einfach so zahlreich, daß es ganz und gar unmöglich schien, sich überhaupt jemals den Weg irgendwohin merken zu können. Auf den Geländern, welche die Galerien abschlossen, hockten alte Statuen, deren steinerne Augen die beiden Mädchen auf Schritt und Tritt zu verfolgen schienen. In der Stille des riesigen Hauses fühlte Aya sich mehr als unwohl, obwohl ihre neue Umgebung auch einen gewissen Reiz auf sie ausübte. Schon immer war sie fasziniert gewesen von solch unheimlichen alten Bauten. Sie war einmal mit ihrer Mutter in irgendeinem fernen Land im Urlaub gewesen. Damals war sie noch sehr klein gewesen und hatte sich bei einer Besichtungstour durch ein sehr altes Gebäude hoffnungslos verlaufen. Ihre Mutter hatte stundenlang mit Unterstützung der gesamten Reisegruppe nach ihr gesucht, bis ihre Tochter endlich wieder aufgefunden wurde.

Der Gedanke an ihre Mutter versetzte Aya einen schmerzhaften Stich. Sie konnte immer noch nicht fassen, was ihr angetan worden war. Ein Teil von ihr glaubte an einen schlechten Scherz, aber die Wahrheit war nun einmal sehr viel bitterer.

Aya seufzte. Sie bemerkte, daß Mado sie mitfühlend ansah, richtete den Blick aber stur geradeaus. Sie war nicht wirklich wütend auf Mado. Aber es konnte auch nicht schaden, diesen Eindruck zu erwecken.

Vor einer großen Eichentür blieb die andere schließlich stehen. Aya, die noch ganz mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war, bemerkte es zunächst nicht. Erst, als sie schon ein paar Schritte ohne Mado gegangen war, blieb sie stehen und sah sich um.

"Wir sind da." Mado deutete auf die Tür. Sie drückte sie mit ihrem Körpergewicht auf, ohne die Reisetasche abzustellen. "Das hier ist dein Zimmer. Naja, zumindest die eine Hälfte davon gehört dir." Sie trat in den großen, erstaunlich hellen Raum. Aya folgte ihr zögernd.

Das Zimmer war völlig anders, als Aya erwartet hatte. Sie hatte mit einem düsteren, unheimlichen Raum gerechnet, in dem die dunkle Atmosphäre schwer auf ihrer Seele lasten würde. Stattdessen betrat sie ein freundliches Zimmer, dessen Einrichtung weitgehend in hellem Blau und Gelb gehalten war. Leichte Vorhänge flatterten vor einem offenen Erkerfenster, Kissen waren auf den breiten Fensterbänken verteilt worden. Auf der linken Seite des Zimmers standen ein großes Bett, auf dem sich haufenweise Kuscheltiere tummelten, ein Schreibtisch, ordentlich aufgeräumt, ein Stuhl und ein großer Kleiderschrank. Ein kleiner Durchgang führte in ein winziges Badezimmer. Zwischen Schrank und Durchgang lehnte ein langer schlanker Kasten an der Wand. Er war tiefschwarz und sein Anblick jagte Aya einen Schauer über den Rücken, ohne daß sie wußte, warum. Ihr Blick glitt über die Wände. Überall hingen Poster von Pop-Idolen.

Völlig identisch zur bewohnten Seite war die rechte Hälfte des Raumes. Nur mit dem Unterschied, daß diese völlig kahl war und sämtliches Mobiliar unbenutzt.

"Die rechte Seite ist deine." Mado stellte Ayas Tasche auf dem Bett ab. "Du kannst dich so einrichten, wie du willst. Chika ist da eigentlich sehr tolerant. Und schließlich mußt du auch mit ihren extremen Groupie-Launen auskommen." Mado wackelte mit dem Kopf. "Du wirst sie erst später kennenlernen. Jetzt ist sie noch im Unterricht. Genieß die Zeit der Ruhe."

Aya sah zum Fenster hinaus. Man konnte auf den wunderschönen Park blicken, der das Haus umgab. "Muß ich denn nicht zum Unterricht?"

Mado schüttelte den Kopf. "Nein. Heute noch nicht. Morgen. Bis dahin laß dir etwas Zeit, um zur Ruhe zu kommen und deine Sachen auszupacken." Sie runzelte die Stirn, als dächte sie angetrengt nach. "Oh. Und das hier", fiel ihr ein, "ist noch nicht für dich bestimmt." Sie bückte sich und holte aus der Tasche das längliche, in schwarzes Tuch gehüllte Paket heraus, das Ayas Mutter ihr gegeben hatte. "Du wirst es später bekommen."

Aya zog die Schultern hoch. Im Moment war ihr ziemlich egal, ob sie dieses Paket erhalten sollte oder nicht. Es würde ganz sicher nur wieder ein weiteres Rätsel bilden, zu dessen Lösung sie nicht fähig war.

"Dann lasse ich dich jetzt alleine." Mado schien sich nur ungern von Ayas Seite entfernen zu wollen. "Richte dich etwas häuslich ein und verdaue das Geschehene, so weit es dir möglich ist. Falls du dich umschauen möchtest, kannst du das tun. Keine Angst, hier wird dich niemand beißen. Sie wissen alle, wie das ist." Ein Anflug von Traurigkeit schlich sich in Mados Züge. "Ich werde nach dem Unterricht zu dir kommen, falls du das möchtest."

Aya gab keine Antwort. Von draußen war Lachen zu hören.

"Möchtest du das?" Mado hakte noch einmal nach. "Ich will dir nicht auf die Nerven fallen und sicher wirst du genug damit zu tun haben, dich mit Chika anzufreunden. Sie ist sehr lebhaft, weißt du?" Als sie wieder keine Antwort erhielt, seufzte sie einmal tief. "Na gut. Falls du reden möchtest: Mein Zimmer ist nur ein paar Türen den Gang hinunter. Chika weiß, wo es ist. Frag sie einfach nach dem Weg." Sie wandte sich zum Gehen. Schon beinahe aus dem Zimmer hinaus, blieb sie noch einmal kurz stehen. "Es tut mir leid", sagte sie leise und schloß dann die Tür hinter sich. Aya blieb allein zurück.
 

Es war ein merkwürdiges Gefühl für sie, so ganz allein in diesem Zimmer zu sein, das fortan nun ihr Zuhause sein sollte und in dem sie doch eigentlich gar nichts verloren hatte. Sie fühlte sich so fremd und allein, daß ihr das Herz weh tat. Die Geräusche von draußen schienen so fern und unwirklich, als würde die ganze Welt nur Theater spielen. Und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, daß ihre Nebenrolle gestrichen worden war und sie sich jetzt mit dem Text der Hauptrolle vertraut machen mußte.

Sie wußte nicht, wie lange sie einfach nur vor sich hingestarrt hatte. Irgendwann brannten ihre Augen und in ihrem Inneren breitete sich eine leichte Unruhe aus. Sie drehte sich um, so daß sie die Tür nicht mehr sehen konnte, und ging langsam auf das Bett zu, auf dem ihre Tasche stand. Wenn sie ohnehin schon nichts ändern konnte, nicht jetzt, dann war es vielleicht klug, sich hier einmal etwas genauer umzusehen. Allerdings erst, wenn sie ihre Sachen ausgepackt hatte. Es würde eine Weile dauern, ehe sie wirklich den Mut finden würde, dieses Zimmer völlig allein zu verlassen.

Gut eine Stunde lang beschäftigte Aya sich mit dem Inhalt der Reisetasche. Sie hatte keine Ahnung gehabt, was Mado für sie mitgenommen hatte, und insgeheim war es ihre Befürchtung gewesen, daß sich nur ältesten und häßlichsten Kleider aus Ayas altem Schrank aus dem Innern der Tasche ans Licht zerren lassen würden. Aber Mado hatte treffsicher all ihre Lieblingssachen mitgenommen. Ob das nun ein Zufall war oder nicht... Aya wollte lieber nicht darüber nachdenken.

Als sie ihre Kleider im Schrank verstaut hatte, erkannte sie, daß es nun nichts mehr für sie zu tun gab. Ihre Zimmerhälfte wirkte immer noch leer und unbewohnt, aber es gab ja auch nichts, was Aya an die Wand hätte heften können, oder etwas, das sie auf den Schreibtisch hätte stellen können. Sie besaß nichts mehr. Im Grunde war da nur noch sie selbst.

Langsam und beinahe ängstlich schritt sie zum Fenster hinüber und sah hinaus. Im Park regte sich nichts. Alles war ruhig. Die Schüler schienen allesamt im Unterricht zu sein. Eigentlich die Gelegenheit, um sich umzuschauen. Es würden ihr nur wenige Menschen über den Weg laufen. Das hoffte Aya zumindest.

Die Zimmertür öffnete sich ohne den geringsten Laut. Noch einmal atmete Aya tief durch, ehe sie aus dem hellen Raum in den dunklen Korridor trat und die Tür hinter sich schloß. Ihr Blick fiel auf die dreistellige Zahl, die in Silberlettern an die Tür geschlagen war. 136. Nun, die Zimmernummer kannte sie jetzt. Das Schwierigste an diesem Ausflug würde wohl sein, sich den Weg hierher merken zu wollen. Aber darüber konnte sie sich später noch Gedanken machen. Im Moment überwog ihre Neugier und drängte die Angst ein Stück weit zurück.

Ayas Schritte hallten laut in den dunklen Gängen wider. Auf dem Hinweg war ihr das ganze Gebäude schon unheimlich erschienen, jetzt aber schien ein schwerer Schatten über das Haus gefallen zu sein, der das Böse erwachen lassen würde, sobald Ayas Wachsamkeit nachließ. Aus den dunklen Nischen tasteten sich schwarze Finger hervor, die sofort wieder verschwanden, wenn Ayas genauer hinsah. Doch in den Augenwinkeln konnte sie Bewegungen erkennen, die ihr das Herz in der Brust schwer werden ließen.

Sei nicht albern, ermahnte sie sich selbst. Es gibt keine Geister. Und es gibt nichts Böses in diesem Haus. Du bist nur fremd hier und es ist dunkel, das macht dir angst. Wenn du dich beruhigst, brauchst du dich vor nichts zu fürchten.

Während sie so im Geiste mit sich selber sprach und langsam etwas ruhiger wurde, begannen auch die Gänge heller und freundlicher zu wirken. Die Schatten verschwanden, die schwarzen Finger waren fort und es gab keine unheimlichen Bewegungen mehr, die Aya nicht zuordnen konnte.

Nach einer ganzen Weile, in der sie etliche Treppen hinabgestiegen war und sich inzwischen völlig verloren vorkam, weil sie den Weg zu ihrem Zimmer wohl niemals wiederfinden würde, gelangte sie an ein kleines Tor. Es trennte den dunklen Gang, in dem sie sich jetzt befand, vom Licht der Außenwelt. Aya blinzelte, als sie ins Sonnenlicht trat. Mit der Zeit hatten sich ihre Augen an das Halbdunkel im Inneren gewöhnt, doch nun stand sie draußen. Im Park der Odoroki High.

Die Sonne schien hell auf die gepflegten Anlagen. Ein Meer von Blumen ergoß sich zu Ayas Rechten, zu ihrer Linken breitete sich ein aus Hecken geformtes Labyrinth aus. Dahinter war ein junger Wald zu erkennen - die Baumkronen ragten noch nicht sehr weit über die Hecken hinaus. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Aya wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie drehte sich unschlüssig um und sah zu dem Gang, aus dem sie gekommen war. Im Gegensatz zum Licht des Tages wirkte er so finster und bedrohlich, daß sie keinerlei Lust verspürte, ihn wieder zu betreten. Nein. Sie würde sich etwas in diesem Park umsehen. Vielleicht gab es einen Platz, an den sie sich zurückziehen konnte, um ungestört nachdenken zu können.

So betrat Aya das Labyrinth und wanderte durch ein Wirrwarr aus Gängen, das ein geschickter Gärtner vor langer Zeit geformt haben mußte. Die Hecken waren alt und hoch gewachsen, so daß es nicht möglich war, einfach hochzuspringen, über sie hinweg zu blicken und sich so seinen Weg zu suchen. In Ermangelung dieser Möglichkeit mußte Aya auf ihren Orientierungssinn zurückgreifen, den sie in den letzten Jahren stark vernachlässigt hatte. Es dauerte lange, ehe sie wieder aus dem Labyrinth heraustrat. Mit klopfendem Herzen und ziemlich erhitzt, stand sie am Rande des kleinen Wäldchens, das sie von der anderen Seite bereits entdeckt hatte. Ein schmaler Pfad führte in den Wald hinein und Aya folgte ihm nach einigem Zögern.

Unter den Bäumen war es angenehm kühl. Feines Gras bedeckte den lichten Waldboden und das Zwitschern der Vögel über ihr beruhigte Aya schnell wieder. Sie fühlte sich beinahe wie in einem Traum - in dem Traum, den sie sich insgeheim immer gewünscht hatte, seit diese düstere Welt in ihrem Kopf entstanden war.

Sie kam an eine Lichtung, in deren Mitte sich ein See befand. Zwei Mädchen saßen in einiger Entfernung zu Aya und lachten leise. Sie trugen die Uniform der Odoroki High. Instinktiv versteifte sich Aya und huschte hinter eine kleine Gruppe von Bäumen. Angestrengt sah sie zu den Mädchen hinüber.

Sie mochten nicht älter als dreizehn Jahre sein. Beide waren sehr hübsch - das eine dunkelhaarig und mit Brille, das andere rotblond mit einem Gesicht voller Sommersprossen. Sie unterhielten sich so leise, daß Aya ihre Worte nicht verstehen konnte, doch ab und zu drang helles Lachen an ihr Ohr. Erst nach einigen Minuten fiel Aya auf, daß die beiden doch sehr beschäftigt waren. Sie hielten etwas in den Händen und schienen es mit Feuereifer zu reinigen. Und das, was sie so sorgfältig putzten, waren... Schwerter!

Unwillkürlich prallte Aya zurück. Sie rieb sich die Augen, blinzelte und sah noch einmal hin. Kein Zweifel, das waren Schwerter. Und zwar keine Pappschwerter oder sonstiges Spielzeug, das es überall zu kaufen gab... Nein, diese Waffen waren echt. Sie reflektierten das Sonnenlicht auf ihre ganz eigene Art und Weise und schienen außerdem sehr schwer zu sein. Eins der Mädchen hielt sein Schwert prüfend hoch und seine Muskeln spannten sich sichtbar an.

Das ist völlig verrückt! Tausend Gedanken schossen Aya durch den Kopf, die meisten davon totaler Unsinn. Sie bemerkte, wie sie die Angst wieder zu übermannen drohte. Hör auf, hör auf! Das sind doch nur zwei kleine Mädchen. Sie werden dir nichts tun. Und wer weiß, vielleicht gibt es eine ganz einfache Erkärung für das alles hier? Die Stimme der Vernunft sprach leise in Ayas Hinterkopf.

Die Stimme der Angst brüllte laut in ihrer Stirn. Mach, daß du hier weg kommst! Siehst du denn nicht, wie alle um dich herum verrückt zu sein scheinen? Am Ende kriegen sie dich auch noch. Und wer weiß, was dich hier alles erwartet?

Aya schlug sich ein paar Mal gegen den Kopf, bis die Stimmen verstummten. Dann huschte sie schwer atmend durch die Bäume davon, durchquerte das Labyrinth und lief, so schnell sie konnte, in ihr Zimmer zurück.
 

Irgendwo im Gebäude erklang ein dunkler Glockenton. Aya blinzelte und richtete sich schwerfällig auf. Nachdem sie sich wieder auf ihr Zimmer begeben hatte, hatte sie lange Zeit aus dem Fenster gestarrt - so lange, bis ihr die Augen wehgetan hatten. Dann hatte sie sich aufs Bett gelegt und die Augen geschlossen... Und war wohl eingeschlafen.

Sie hatte einen Traum gehabt. Einen von diesem öden Land, doch dieses Mal war es anders gewesen. Es war wirklich nur ein Traum gewesen, etwas, an das sie sich nicht mehr ganz deutlich erinnern konnte. Einem Schatten gleich huschte eine Erinnerung durch ihren Kopf, war aber nicht greifbar. Verwirrt runzelte sie die Stirn.

"Du siehst ganz schön fertig aus."

Als die Stimme erklang, blieb Ayas Herz beinahe stehen. Ihr Körper versteifte sich, die Hände ballten sich zu Fäusten, krallten sich in die Bettdecke unter ihnen...

Im Durchgang zum Badezimmer stand ein Mädchen. Es mochte etwa in Ayas Alter sein, wirkte aber durch sein kindliches Gesicht sehr viel jünger. Die blonden Haare hatte das Mädchen zu zwei Zöpfen gebunden - je einen links und rechts von seinem Kopf. Ein breites Grinsen zog sich über das hübsche Gesicht.

"Entschuldige. Hab ich dich erschreckt?"

Aya starrte das Mädchen lange an, ehe sie mühsam nickte. Sie hatte nicht bemerkt, daß jemand das Zimmer betreten hatte. Sie mußte sehr tief geschlafen haben, auch wenn das ansonsten noch nie vorgekommen war. Eigentlich war sie sehr schreckhaft und wachte bei dem leistesten Mucks auf. Augenscheinlich waren die Ereignisse der letzten beiden Tage doch etwas viel für sie gewesen.

"Ich bin Chika Katsuragi", stellte sich das Mädchen vor, verschwand aber sogleich wieder im Bad.

Mit klopfendem Herzen schwang Aya die Beine über die Bettkante. Das war also ihre Mitbewohnerin. Irgendwie hatte sie sich dieses Mädchen anders vorgestellt. Ayas Blick wanderte über die Starposter an der Wand. Flippiger. Ausgefallener. Irgendwie...

"Wie gefällt es dir hier?" Chikas Stimme klang etwas verzerrt aus dem Nebenraum herüber. "Hast du dich schon umgesehen?"

Schwerter... Zwei Schwerter, die in der Sonne blitzten. Zwei Mädchen, die ihre Waffen putzten...

Aya schüttelte den Kopf.

"Wir haben hier wirklich sehr viele schöne Anlagen. Okay, das Haus ist etwas düster, aber draußen im Park gibt es so viel Luft zum Atmen und so viel Sonne, wie du willst! Allerdings nur, wenn die Sonne scheint..." Chika kicherte.

Der Park... Schwerter...

Es gibt eine logische Erklärung dafür!

"Du bist nicht sehr gesprächig, hm?" Chika trat aus dem Bad, ihre Schuluniform über dem Arm und in Jeans und ein blaues T-Shirt gekleidet. "Mado hat mich schon vorgewarnt. Naja, ich denke, du wirst noch auftauen. Ist ja erst dein erster Tag hier." Sie ging zu ihrem Bett hinüber und warf die Sachen achtlos darauf. Dann trat sie an ihren Schreibtisch, zog eine der Schubladen auf und nahm ein kleines, in Leder gebundenes Buch heraus.

"Hier." Sie hielt es Aya hin und grinste. "Das sind meine Notizen über Schüler und Lehrer. Alle, die hier etwas zu sagen haben oder sonstwie wichtig sind, habe ich darin festgehalten. Damit hab ich angefangen, als ich neu an diese Schule kam. Es hat mir geholfen, mich zurecht zu finden und meinen Platz hier einzunehmen. Vielleicht kann es dir auch helfen."

Aya griff nach dem Buch und wog es in den Händen. Chika beobachtete sie aufmerksam dabei.

"Das ist wirklich sehr nett von dir", sagte Aya schließlich und seufzte. "Aber ich denke, du solltest das Buch lieber selbst behalten."

"Hm." Chika ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. "Wenn du meinst... Ich wollte dir nur helfen."

"Es ist nicht böse gemeint." Aya spürte, daß ihr Herz schmerzhaft zu schlagen begann. Hatte sie es sich bereits mit ihrer Zimmergenossin verdorben? "Ich denke nur, daß ich lieber selbst alles herausfinde."

Chika dreht sich um und sah Aya an. "Gut so!" Sie winkte mit der rechten Hand und Aya warf ihr das Buch hinüber. "Ich bin froh, daß du doch sprechen kannst." Grinsend richtete sie sich auf. "Und was machen wir jetzt?"

Beinahe gegen ihren Willen mußte Aya lächeln. Chika schien kein übler Mensch zu sein. Vielleicht... Vielleicht würde es ja doch nicht so schlimm werden an dieser Schule.
 

"Guten Morgen, Aya-san!"

Chika zog Aya die Decke weg und warf sie zu sich aufs Bett. Stöhnend wälzte Aya sich herum und versuchte, ihre Mitbewohnerin zu ignorieren, doch vergebens. Chika begann in hektische Aktivität auszubrechen und Aya, die noch nicht so ganz in die Realität zurückgefunden hatte, fragte sich, warum.

In der vergangenen Nacht hatten die beiden Mädchen viel miteinander geredet. Chika hatte Aya über die Schule aufklären wollen, doch diese hatte dankend abgelehnt. Das war irgendwie das letzte, worauf sie Lust gehabt hatte. Da gab es schon genügend Dinge, die sie nicht verstand. Also hatten sie sich gegenseitig Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählt, dabei einigen Spaß gehabt und waren erst weit nach Mitternacht eingeschlafen.

Und nun...

"Aya, steh auf, sonst kommst du noch zu spät zum Unterricht!"

Plötzlich war Aya hellwach. Ihr erster Schultag! Ein ungutes Gefühl begann sich in ihr breit zu machen. Ihre Hände zitterten und ein Bienenschwarm schien sich in ihrem Kopf breit gemacht zu haben. Was würde da auf sie zukommen?

Sie schwang ihre Beine über den Rand des Bettes und atmete tief durch. Chika wühlte in ihrem Kleiderschrank und war anscheinend hektisch auf der Suche nach etwas.

"Wie... Wie wird es sein, Chika?" fragte Aya besorgt, als sie sich endlich dazu zwingen konnte, aufzustehen. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Gummi gemacht.

Chika stöhnte und zog einen Strumpf aus ihrem Schrank, in den sie sogleich schlüpfte. "Mach dir darüber jetzt nicht so viele Gedanken. Es wird alles halb so schlimm werden. Zieh dich besser an! Ich möchte dich nicht allein zum Frühstück gehen lassen."

Aya seufzte und verschwand im Bad, um sich zu waschen und anzuziehen. Als sie wieder herauskam, drückte Chika ihr eine Schultasche in die Hand und packte sie am Arm, um sie mit sich auf den Flur zu zerren.

"Wir haben keine Zeit mehr!" keuchte Chika und schleifte Aya im Laufschritt mit sich. Sie durchquerten den schummrigen Hauptgang und liefen ungefähr ein Dutzend Treppen hinunter, bis sie endlich auf die ersten anderen Schüler trafen.

In Ayas Brust breitete sich Eiseskälte aus. Sie wußte, daß dieser Zeitpunkt hatte kommen müssen. Die anderen zu treffen hatte sie sich aber irgendwie anders vorgestellt. In eine Klasse zu kommen, vor allen vorgestellt zu werden und sich dann in dieser Gruppe zurechtfinden zu müssen... Damit konnte sie umgehen. Das hier war allerdings wie ein Spießrutenlauf für sie. Während sie mit Chika durch die immer dichter werdende Menge lief, hatte sie das Gefühl, von jedem unverhohlen angestarrt und bewertet zu werden. Diese Empfindung war so intensiv, daß ihr beinahe schlecht wurde. Bald war es nicht mehr so, daß Chika Aya hinter sich her zog, sondern daß Aya Chika vor sich her schob, um möglichst schnell an all diesen Menschen vorbeizukommen.

Nach einer kleinen Ewigkeit erreichten Chika und Aya die gtroße Halle, in der das Essen an die Schüler ausgeteilt wurde. Sie glich einem mittleren Kirchenschiff, erleuchtet von einer Unmenge kleiner Lampen, die in die Decke und die Wände eingelassen waren... So als wäre man von Sternen umgeben... Völlig fasziniert von diesem Anblick bemerkte Aya nicht, daß sich ihr bei ihrem Eintreten sämtliche Gesichter zuwandten und es plötzlich totenstill in der Halle wurde, die zuvor noch vom Gemurmel einiger hundert Schüler erfüllt gewesen war. Erst als sie hörte, wie Chika sich neben ihr räusperte, senkte sie den Blick und erstarrte sogleich. Das Lächeln, das auf ihren Lippen gelegen hatte, wich aus ihrem Gesicht und machte einem besorgten Ausdruck Platz.

"Komm einfach mit", raunte Chika neben ihr und zog Aya mit sich durch die Reihen der schweigenden Schüler. Aya versuchte, möglichst nicht auf die Gesichter der Menschen zu schauen, die sie so kühl so empfangen schienen. Doch dann entdeckte sie eins der Mädchen, die sie am Vortag im Wald beobachtet hatte, an einem Tisch und sah es an. Und was sie entdeckte, das verwirrte sie mehr als alles andere in den letzten beiden Tagen.

Das Mädchen - es war das rothaarige, sommersprossige - starrte mit offenem Mund zu Aya herüber, die Hände vor der Brust gefaltet. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck wie... Sehnsucht. Und in ihren Augen sammelten sich Tränen.

Aya sah all dies nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch in dieser Zeit schien sich das Bild des Mädchens in ihr Herz einzubrennen. Und in ihren Ohren rauschte das Blut. Was in aller Welt...?

"Setz dich hier hin." Chika drückte Aya auf einen Stuhl, den sie zuvor zurechtgerückt hatte und wandte sich dann der Menge zu. Aya konnte nicht sehen, was sie dann tat, doch innerhalb weniger Sekunden wandetn sich alle von Aya ab und die Atmosphäre in der Halle wurde wieder entspannter.

"Was war das?" fragte Aya, noch etwas gelähmt von diesem Erlebnis, als Chika sich neben sie setzte. Plötzlich schien sie niemand mehr zu beachten.

"Ach...." entgegnete Chika lahm und sah sehr ernst zu jemandem auf der anderen Seite des Tisches hinüber. Aya hob den Kopf und erkannte Mado, die ihr gegenüber saß.

"Die übliche Begrüßung", erwiderte Mado an Chikas Stelle. Allerdings paßte ihr Gesichtsausdruck nicht zu den Worten, die sie sprach. Sie sah besorgt aus. Und auch ein wenig wütend.

Neben Mado hob ein junges Mädchen den Kopf. Sie hatte zuvor still vor sich hin gegessen, doch nun schenkte sie Mado einen Blick, der in Aya ein unangenehmes Prickeln im Magen auslöste. Das Mädchen war sehr blaß und ihre langen schwarzen Haare schienen das zarte Gesicht wie ein Bilderrahmen zu umschließen. Doch in ihren dunklen Augen lag so viel Leben und Kraft, daß Aya scharf die Luft einsog und sich dann abwandte.
 

Später, als Aya in ihrem Klassenzimmer saß, all die neuen Gesichter um sich herum, war sie von den Geschehnissen am Morgen immer noch so verwirrt, daß sie keinen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Als der Lehrer sie der Klasse vorgestellt hatte, hatte sie nur ein paar helle, verschwommene Flecken vor sich wahrgenommen. Den Namen des Lehrers hatte sie sich nicht merken können. Seine Worte hatten für sie sowieso keinen Sinn ergeben. Wie betäubt und mit letzter Kraft, wie ihr schien, hatte sie ihren Platz erreicht.

Und dort saß sie nun seit geraumer Zeit und starrte nach vorn. Der Lehrer erklärte ihnen irgendetwas, dem Aya keinerlei Sinn abgewinnen konnte. Sie hing viel zu sehr ihren eigenen Gedanken nach.

Und so zog sich das auch bis zum Mittagessen hin.
 

"Wenn ich noch einmal eine so langweilige Unterrichtsstunde erleben muß, dann geh ich freiwillig von der Schule ab." Chika seufzte und stellte ihr Tablett auf dem Tisch ab. Rücksichtsvoll machte sie Platz, damit Aya an ihr vorbei zu dem ihr zugewiesenen Platz gehen konnte, ohne sich dabei verrenken zu müssen.

"Wenn du mehr Ahnung von dem Stoff hättest, würdest du dem Ganzen auch mehr Aufmerksamkeit schenken. Immerhin ist das ein sehr interessantes Thema." Mado begann lautstark ihre Nudeln zu schlürfen.

"Oh ja, du großes Genie", brummte Chika mißmutig und begann ihrerseits zu essen.

Aya folgte der Unterhaltung mit eher geringem Interesse. Sie stocherte in ihren Nudeln herum und verspürte nicht die geringste Lust, hier zu sitzen und mit den anderen zu essen. Abgesehen davon, daß sie keinen Hunger hatte, hatte sie einen Knoten im Hals, der größer und größer wurde. Obwohl sie wußte, daß keiner in diesem Raum sie beachtete, fühlte sie sich unwohl. Als würde sie von unsichtbaren Augen beobachtet werden, als würde hinter vorgehaltener Hand über sie gesprochen werden...

Ein Summen erhob sich in Ayas Ohren. Vermutlich war es nur das Rauschen ihres Blutes, vielleicht aber auch etwas anderes. Sie schob die Nudeln von sich fort und hob das Glas neben ihrem Teller, um einen Schluck Wasser zu trinken. Jedoch zitterte ihre Hand so stark, daß sie das Wasser über ihren halben Platz verteilte, statt es zu trinken. Schnell stellte sie das Glas wieder ab und atmete tief durch.

Das Summen in ihren Ohren wurde lauter. Langsam wurde Aya klar, daß ihre unmittelbaren Tischnachbarn ihr Gespräch unterbrochen hatten und sie besorgt ansahen. Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Das schwarzhaarige Mädchen, das schon am Morgen neben Mado gesessen hatte und dessen Namen Aya immer noch nicht kannte, runzelte die Stirn.

"Geht es dir nicht gut?" fragte es in einem Ton, der eher scharf statt freundlich klang.

Aya sah auf und blickte in die so dunklen Augen des Mädchens. Plötzlich hielt sie es nicht mehr länger aus. Sie sprang auf, warf dabei fast ihren Stuhl um und lief durch die Reihen der Schüler zur Halle hinaus. Sie hörte noch, wie Chika ihr etwas hinterher rief, doch sie war viel zu verwirrt, um es zu verstehen.

Sie lief durch die Gänge des Schulgebäudes, kam in Bereiche, die sie nicht kannte, aber es war ihr egal, ob sie sich verlaufen würde oder nicht. Im Moment wollte sie nur weg. Weg von all dem, was ihr hier Angst machte und was sie bedrückte. Sie wollte weinen, aber sie konnte nicht. Ihr Herz raste, alles um sie herum verschwamm... Doch es wollten ihr keine Tränen kommen.

Wie im Rausch bewegte Aya sich durch die Schule... Bis sie endlich durch eine große Flügeltür in den Garten hinaustrat. Auch wenn zur Zeit kein Unterricht stattfand, war keine Menschenseele zu sehen. Vermutlich aßen sie alle noch.

Aya sog die frische Luft tief in ihre Lungen ein und schloß die Augen. Die Wärme der Sonne auf ihrer Haut zu spüren, tat unendlich gut. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie kalt und unwirklich ihr das Innere der Odoroki High vorkam. Und wie unwohl sie sich dort fühlte. Bei dem Gedanken an den Vormittag und die Gefühle, welche sie die ganze Zeit verfolgt hatten, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Nein, sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Nun war sie hier und wollte für ein paar Minuten die Ruhe und die Sonne genießen.

"Wirklich ein sehr dramatischer Abgang."

Aya riß die Augen auf und sah sich erschrocken um. Im Schatten der Flügeltür, aus der sie selbst vor einigen Minuten getreten war, stand das Mädchen mit den schwarzen Haaren. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf schief gelegt. Ihr Blick war hart und kalt wie Eis.

"Bitte?" Aya war verwirrt.

Das Mädchen trat aus dem Schatten und im Licht der Sonne wirkte sie noch zerbrechlicher als zuvor. Ihre Haut schien beinahe durchsichtig zu sein. Nur ihre Augen... Die veränderten sich nicht.

"Du hast dir die Aufmerksamkeit aller zugezogen. Und das einem einzigen Tag. Glückwunsch."

Aya wußte nicht, was das Mädchen damit meinte. Sie fühlte sich, als würde sie auf einem Ozean treiben und immer, wenn sie die Hoffnung hatte, an Land gespült zu werden, kam eine große Welle und riß sie wieder in die offene See hinaus.

"Vermutlich brauchst du das. So als Neue. Und bei deinem Status", fuhr das Mädchen fort. "Aber laß mich dich warnen: Manch einer hier läßt sich nicht einfach von seinem schwer erkämpften Platz verdrängen. Wir haben alle eine schwere Zeit hinter uns. Doch wenn du nicht aufpaßt, dann wirst du mehr leiden müssen als jeder andere an dieser Schule."

Aya schnappte nach Luft. So sehr sie diese Worte verwirrten und verletzten: Sie spürte eindeutig Zorn in sich aufsteigen. Was kam ein Mädchen, das sie überhaupt nicht kannte, dazu, ihr solche Dinge an den Kopf zu werfen? Gerade wollte sie den Mund aufmachen und ihrer Wut Ausdruck verleihen, da warf das Mädchen den Kopf zurück und lachte.

Verdutzt vergaß Aya, was sie hatte sagen wollen. Das Mädchen lachte noch immer und es klang so hell und fröhlich, daß alle Boshaftigkeit vergessen zu sein schien. Als sie den Kopf wieder senkte, zwinkerte das Mädchen Aya zu und sagte: "Ich bin Megumi. Ich sage dir das als Freundin."

Damit drehte sie sich um und ging zurück ins Haus.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2002-09-14T16:05:30+00:00 14.09.2002 18:05
einfach grossartig, schreib schnell weiter


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