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Die Magie der Worte

von

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Akt 11: Ein unvermeidliches Schicksal - Ein Zusammenspiel zwischen Priesterjagd und Lebensbaum

Trotz aller Härte bleibt eine schwache Hoffnung. Doch ohne die Bereitschaft Schmerz zu ertragen führt der Weg ins Nichts. Es wird geschworen immer ehrlich zu sein. Hier und jetzt und auch in der Zukunft. Was getan wird, muss aus Überzeugung geschehen.

Das Schwert des Schicksals wird gezückt, doch die Lüge kann die Wahrheit nicht täuschen…

Ein absurdes Glück erblüht, als der Nebel sich lichtet, aber das Schicksal lässt Glück auf Dauer nicht zu. Das zu akzeptieren fällt nicht leicht.

Eine schwere Entscheidung wird einem großen Herzen abverlangt…

Erkenne Dankbarkeit, erkenne Schande, erkenne deine Mutter, erkenne deinen Vater und deine Freunde.

Erkenne deine eigene Machtlosigkeit und du erkennst dich selbst!

 

Romeo holte zum Schlag aus, ebenso wie Juliet.

„Um unserer Liebe willen! Lass mich tun, was ich tun muss!“, rief sein Gegenüber, als sie seinen Schlag parierte.

„Das kann ich nicht!“, erwiderte er.

Meine Augen waren geweitet, ich kämpfte immer noch mit Entsetzen, mein Herz schmerzte in meiner Brust. Was war das nur für ein Gefühl, welches mich so fesselte?

Plötzlich konnte ich Juliets Stimme in meinem Kopf hören:

„Durch die Streiche seines Schwerts fühle ich, was Romeo fühlt. Und ich spüre seine Liebe.“

Auch Romeos Gedanken konnte ich wahrnehmen:

„Liebste Juliet, ich verlasse dich in dieser schweren Stunde nicht! Ich gehe mit dir den Weg bis zum Ende!“

Juliet erinnerte sich an das erste Treffen, wo Romeo sie vor der einstürzenden Treppe gerettet hatte, auch ich sah die Bilder klar und deutlich vor mir: Ein schneeweißes, fliegendes Ryuba.

Juliet als der Rote Wirbelwind. Romeo…

Andere Erinnerungen überdeckten die ersten: Ich sah, wie ein Hemd im Feuer verbrannte.

Also deswegen hatte sie das Taschentuch gestickt…

Dann der erste Kuss der beiden auf der Brücke. Das Feuerwerk.

Sie konnten sich gar nicht hassen oder bekriegen. Das ging nicht! Es war unmöglich!

„Oh Romeo, wir können an unserem Schwur nicht mehr festhalten. Unsere Wege müssen sich trennen... weil wir uns lieben.

Die Liebe ist das Kind der ewigen Freiheit. Und die letzte Freiheit ist der Tod. Ich habe dir nichts von Escalus erzählt, um unsere Liebe zu bewahren. Ich konnte diese Wahrheit nicht mit dir teilen, weil Zweifel und Mutlosigkeit mich sonst übermannt hätten. Es hätte mir das Herz gebrochen.

Ich liebe dich. Mehr als mein Leben. Und selbst wenn ich nicht mehr da bin, wird diese Liebe ewig bleiben.“

War ich nun verrückt? Wieso konnte ich ihre Stimmen wahrnehmen?

„Weil ich sie hören kann“, hörte ich Ophelia antworten und erschauderte augenblicklich.

Sie war hier… Ich drehte mich suchend um, konnte jedoch niemanden entdecken.

Romeo schlug Juliet nach einem erbitterten Kampf das Schwert aus der Hand, welches mehrere Meter weit von ihr wegflog.

Eigentlich war dieser Kampf etwas unfair gewesen… schließlich hatte Juliet nicht mehr ihre vollen Kräfte! Der Samen von Escalus musste sie ungemein schwächen.

Beide atmeten flach.

Romeo warf sein eigenes Schwert weg, während Juliet erschöpft auf die Knie sank.

Der junge Montague ging auf seine Geliebte zu und zog sie hoch in seine Arme, bevor er sie innig küsste.

Hinter uns brachen noch die restlichen stehenden Säulen auseinander.

Selbst die Decke bekam Risse und stürzte ein. Romeo und Juliet trennten sich voneinander und blickten verängstigt nach oben, wo nun Wasser aus der Öffnung strömte.

Ich vermutete, dass wir uns unter dem riesigen Schlossteich befanden und daher auch das ganze Wasser kam.

Plötzlich schoss etwas aus der klaren Flüssigkeit, das ich sofort wiedererkannte:

Es waren die Wurzeln des Baumes Escalus. Dennoch waren sie anders als sonst: Sie flimmerten schwarz.

Ich hatte diesen Baum noch nie in der Realität gesehen, immer nur in meinen Träumen.

Ich begriff plötzlich, was es mit diesem riesigen Geschöpf von Lebewesen auf sich hatte, das die ganze Welt hielt…

Neo Verona war verloren.

Eindeutig!

„Romeo!“, rief Juliet verzweifelt, als sich die einzelnen Steine unter der Brücke bereits hoben.

„Juliet!“, erwiderte der Montague ihr Rufen, er hatte die Hand ausgestreckt und schien stehenbleiben zu wollen.

„Romeo, zurück!“, brüllte ich, als ein besonders großer Ast zwischen Romeo und Juliet schwebte und schließlich die Brücke zwischen ihnen entzwei schlug.

Wir wurden von Juliet getrennt, zwei dicke Äste versperrten uns x-förmig den Durchgang.

Escalus schien sich noch ein allerletztes Mal aufzubäumen…

„Was geschieht hier nur?“, fragte ich panisch, immer mehr Äste tauchten aus dem Wasser auf, welche allesamt schwarz waren und eine Art Durchgang um die Grundrisse der Brücke bildeten.

Ich bekam die Antwort auf meine Frage. Ich hätte es wissen müssen…

„Ich hole die Tochter der Capulets. Die Vereinbarung muss eingehalten werden.

Der Samen muss keimen!“, sagte Ophelia und Juliets Augen weiteten sich ängstlich, als auch sie die Sprecherin erkannte.

Ihre rostrote Rüstung zerbrach an ihren Schlüsselbeinen, genau an der Stelle, wo sich der Samen befand… er leuchtete hell und das Symbol, das winzige Mal, das aussah wie ein Tropfen, breitete sich weiter aus.

Ich zuckte zusammen und ging keuchend in die Knie.

Dieser Schmerz… er war wieder da!

Juliet wurde in die Luft gehoben und fing an zu schreien, als ihr grün leuchtende Flügel aus dem Rücken brachen. Dann sprang das mystisch grüne Licht auf ihren ganzen Körper über, was sie hell erstrahlen ließ.

„Juliet! Was geschieht mit dir?“, entfuhr es Romeo entsetzt.

„Oh Romeo...“, stöhnte Juliet leise, bevor sie von uns weggezogen wurde.

Vor uns war die Brücke zerbrochen. Wir konnten ihr nicht zu Hilfe eilen!

„ROMEO!“, schrie die Capulet-Tochter verängstigt.

„JULIET!“, brüllten Romeo und ich durcheinander.

„Sie ist verschwunden!“, rief ich entsetzt.

Mein Körper stand unter Strom. Ich konnte es immer noch nicht so ganz realisieren, dass Juliet wirklich sterben würde.

Ich bückte mich, hob Romeos Schwert auf und hielt es ihm hin.

„Komm, Romeo. Wir beide werden jetzt über den Spalt kommen!“

Der Montague-Sohn nahm seine Waffe wieder an sich und ich blickte zu den Wurzeln.

Auch, wenn die Kluft uns nicht durchlassen würde, ich würde einen Weg finden!

Entschlossen legte ich meine Finger an die Lippen und pfiff so laut ich konnte.

Es dauerte nicht lange, dann hörte ich ein mir bekanntes Wiehern und meine Ryubastute flog durch das Loch in der Decke zu uns hinunter.

Ich lobte sie für ihr schnelles Erscheinen und Romeo und ich stiegen auf.

Mithilfe des fliegenden Tieres war es kein Problem über die zerstörte Brücke auf die andere Seite zu kommen.

Ich landete und schickte mein Ryuba fort. Ich wollte sie in Sicherheit wissen.

„Wieso fliegst du nicht weiter?“, wollte Romeo wissen.

„Weil es nicht geht. Der Baum würde es nicht zulassen. Wir benötigen eine andere Strategie“, sagte ich entschieden und er starrte mich an.

„Was meinst du damit?“

„Diese Wurzeln… sind von bösen Geistern besessen. Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass Escalus wegen dieser bösen Geister stirbt. Wir müssen versuchen, sie zu vernichten!“, erklärte ich schnell. Die Zeit lief uns davon!

In der Ferne konnten wir Juliet schreien hören.

„Böse Geister? Aber… woher willst du das wissen? Und wie können wir sie vernichten?“, fragte Romeo weiter und in diesem Moment musste ich schmunzeln, so gefährlich und skurril diese Situation auch gerade war.

„Ich ziehe Geister an seit ich ganz klein bin. Ich kann sie sehen. Sie sind überall um uns herum im Baum. Und die einzige Möglichkeit, sie uns vom Leib zu halten, ist folgende: Wir müssen Wortketten spielen!“

„Wortketten? Warum spielen? Wir haben jetzt keine Zeit für solche Albernheiten!“, kommentierte Romeo leicht gereizt.

„Es ist ein magischer Bannkreis. Er hält die Geister ab. Dadurch können wir uns schützen!“, erklärte ich ihm.

„Und wie geht das?“, wollte er wissen.

„Ganz einfach. Ich bilde ein Wort, welches aus zwei aneinandergereihten Wörtern besteht, welche man auch einzeln verwenden kann. Und du musst dann mit diesem letzten Wortteil eine neue Wortkette bilden.

Wenn ich zum Beispiel sage: „Schreibfeder“, dann sagst du ein Wort mit „Feder“, beispielsweise „Federhut“. Dann muss ich wieder mit „Hut“, weitermachen, verstanden? Wir müssen uns immer abwechseln und die Kette darf nicht abbrechen, das ist wichtig!“, betonte ich.

„Gut, verstanden!“, sagte Romeo knapp und hob sein Schwert in Angriffsposition.

„Ich fange an: Priesterjagd!“, begann ich und Romeo erwiderte: „Jagdhunde!“

Wir rannten los, während ich mir hastig ein neues Wort überlegte: „Hundeschwanz!“

Die Wurzeln von Escalus schlugen nach uns aus, prallten jedoch an einem unsichtbaren Schild ab.

Sehr gut! Mein Plan funktionierte tatsächlich! Ich erinnerte mich an das letzte Mal, wo ich Wortketten gespielt hatte: Es war mit Mokona zusammen gewesen und wir waren mit einem Käfig unterwegs, in dem sich zwei Mondvögel befanden, welche nur bei Vollmond sichtbar waren.

Romeo und ich kämpften uns den Weg frei, während wir unsere Wortkette aufrechterhielten:

Schwanzwirbel!“, sprach der Montague-Sprössling.

Wirbelwind!“, entgegnete ich.

Windspiel!“

Spielfolge!“

Folgeherrscher!“

Herrscherschwert!“

Ich konnte Ophelia sehen, sie stand mit dem Rücken zu uns dem Baum Escalus zugewandt, vor welchem Juliet schwebte.

„Die Harmonie und die göttliche Vorsehung, die ewig erfüllt werden muss... Wenn die Tränen der Göttin die Erde befeuchten, wische sie mit deinem flammenden Haar fort, denn du bist die Auserwählte“, sagte die Priesterin feierlich und streckte ihre verdorrte Hand nach der Capulet-Tochter aus, welche panisch anfing zu schreien und sich zu winden.

Schwertschmied!“, hielt Romeo hastig die Wortkette weiter am Leben.

Schmiedeofen!“, erwiderte ich.

Ofenfeuer! Ich komme!“, rief Romeo und wir mussten vor einer besonders dicken Wurzel lange anhalten, da es einige Zeit in Anspruch nahm, sich durch den Ast zu kämpfen.

Irgendwie musste ich augenblicklich an Lanzelot denken, als ich mein nächstes Wort formte:

Feuertod…“

„ROMEO!“, schrie Juliet und wir arbeiteten uns die steilen Stufen zum Baum hoch, sprangen über Lücken in diesen und rammten unsere Schwerter in die Treppe, als ein erneutes Beben den Boden aus dem Gleichgewicht brachte und wir abzustürzen drohten.

„Wortketten? Ihr seid ja doch schlauer, als ich erwartet hatte. Aber es wird euch nichts nutzen! Denn eure Ketten sind vielleicht stabil genug, um dem geschwächten Baum zu entkommen… Aber mir nicht! Ich werde das Ritual abschließen, die Tochter der Capulets kann mir nicht entkommen!“

„Du kriegst sie nicht! Nicht meine Juliet!“, brüllte Romeo verzweifelt und wollte Ophelia angreifen, doch wir wurden von ihr nach hinten geschleudert und kamen stöhnend auf dem harten Boden auf. Na toll. Sie hatte uns gleich die gesamte Anhöhe hinuntergeworfen. Wir waren wieder so weit weg von ihr und der Rothaarigen.

Ophelia nutzte ihre Chance und schwebte zu Juliet hinauf, damit sie ihr direkt ins Antlitz sehen konnte.

Die Prinzessin war mittlerweile am Baumstamm von Escalus gefesselt und konnte sich nicht mehr bewegen.

„Wunderschön bist du, Tochter der Capulets!“, sagte sie grinsend und beugte sich zu ihr vor.

Juliets Augen weiteten sich panisch, als Ophelia sie küsste.

Ich rappelte mich auf. Verdammt! Warum konnten wir nur hilflos zusehen!?

„Juliet...“, wimmerte Romeo verzweifelt.

Langsam wich der entsetzte Ausdruck aus Juliets Augen und sie sah ins Leere, bis schließlich ihr Kopf auf ihre Brust sank.

„Versinke im Fluss des Todes! Verschmelze mit dem Baum Escalus! Der Samen beginnt zu keimen...“

Nach Ophelias Worten fiel Juliet in ihre Arme.

„Juliet, du... du darfst nicht... JULIEEEEET!“, schrie Romeo.

Nein! Es durfte nicht so kommen! Sie war doch nicht etwa…?!

„Was hast du Juliet angetan?“, fragte ich bebend.

„Sie hat den Kuss des Todes empfangen. Der Lebensbaum verlangt dieses Opfer. Sie wird nie wieder erwachen. Sie bleibt hier“, antwortete uns die Priesterin und ich spürte, wie Romeo neben mir erzitterte.

„Das nehme ich nicht hin!“, beschloss der junge Montague neben mir und hob entschlossen sein Schwert auf.

Todeskuss…“, setzte Romeo unsere Wortkette beinahe betäubt fort.

„Ich hole mir meine Geliebte zurück!“, schrie er feurig, in diesem Moment jedoch wackelten die übriggebliebenen Reste der Brücke unter uns und die Treppe, welche uns zu Juliet gebracht hätte, stürzte vor unseren Augen in die Tiefen des Wassers, in welchem Escalus stand.

Ich sah die Wurzeln an: Das Grün, welches noch vereinzelt auf ihnen zu finden war, verdorrte, dieser Vorgang zog sich langsam bis nach oben hin weiter fort.

Kusshand!“, erwiderte ich verängstigt.

Handdruck!“

Druckgefühl!“

Irgendwie wurden unsere Worte immer skurriler. Aber ich konnte nichts daran ändern, mir fiel in dieser stressigen Situation einfach nichts Besseres ein.

„Die Zeit drängt. Escalus stirbt“, versuchte Ophelia zu erklären und ein dicker Ast schirmte Juliet und sie vor unseren Blicken ab, doch ich schüttelte verbittert den Kopf.

Das würde ich nicht zulassen…

„Halt! Warte!“, rief Romeo und urplötzlich sausten die Wurzeln von Escalus auf uns herab, sie schienen noch wilder geworden sein als zuvor.

„Wir müssen die Kette wieder aufrichten! Gefühlsleben!“, rief ich und Romeo sah mich verzweifelt an.

Lebensbaum!“, erwiderte er dennoch und wir hielten uns an einer wild umherschlingernden Wurzel fest, welche uns über die Schlucht zum Lebensbaum hinüberbrachte.

Mein Magen drehte sich bei dieser Bewegung zwar beinahe um, doch das war es mir in diesem Moment wert.

Juliet brauchte unsere Hilfe, und zwar dringend!!

Wir konnten die Worte dieser Hexe noch klar und deutlich hören, obwohl sie sich vor uns geschützt hatte:

„Das Namenlose ist der Anfang und das Ende von Himmel und Erde. Ich bringe dir die Tochter der Capulets. Nimm sie entgegen, Escalus!“

„Hör auf, Ophelia!“, rief ich, doch die Priesterin ignorierte mich.

Sie hob ihre Hände, welche mittlerweile beide vertrocknet waren.

„Stets ohne Wunsch sieht man das Geheimnis. Stets voller Wünsche sieht man die Erscheinungsform. Zwei Flügel tragen das Leben. Sie entspringen der gleichen Quelle, unterscheiden sich jedoch. Dieser hier erscheint dunkel. Durch den Atem der Erde erneuert er sich.“

Juliet begann bei ihren Worten plötzlich golden zu leuchten.

Sie bewegte sich immer noch nicht, ihre Arme waren ausgestreckt, sie sah beinahe so aus, als wäre sie an ein unsichtbares Kreuz genagelt worden.

„Juliet, nicht!“, brüllte Romeo neben mir panisch.

Die Wurzeln hatten mich getroffen, da unsere Wortkette erloschen war, ich wischte mir Staub und Blut aus meinem Gesicht und starrte nach oben.

Der Stamm von Escalus teilte sich, Juliets Flügel breiteten sich aus und umschlossen sie.

„Bitte bleib bei mir!“, rief Romeo und ich knirschte mit den Zähnen, während Ophelia selbstgefällig grinste.

„ICH WILL DICH NICHT VERLIEREN!“

Romeo tat mir so leid, wir konnten beide nichts ausrichten, ohne einen geeigneten Plan waren wir völlig hilflos.

Juliet wurde so dicht von ihren goldenen Flügeln umschlossen, dass ich sie kaum mehr richtig erkennen konnte. Dann wurde sie in den offenen Stamm des Baumes gezogen, welcher sich anschließend wieder zusammenzog und es sah so aus, als wäre die Rothaarige nie hier gewesen, niemals an diesem Ort.

Doch etwas veränderte sich: Escalus fing wieder an zu sprießen.

„Meine Juliet...“

Ich half Romeo auf, welcher zwischen seiner Wut, aber auch gegen Machtlosigkeit und Verzweiflung anzukämpfen schien.

„Trotzdem zerbricht die Welt weiter. Diese verzweifelte Kraft... Ich spüre sie“, stellte die Priesterin fest.

„Ja, natürlich! Schließlich will sie kein Baumableger werden!“, antwortete ich erzürnt.

„Sie will es nicht...“, wiederholte die Hexe gedankenverloren und blickte zu uns nach hinten.

„Es wäre auch ungerecht! Warum soll sie... für etwas ein Opfer bringen, für das wir alle die Schuld tragen? Sag mir, warum!“, forderte Romeo zu wissen.

„Aber es ist nicht nur sie. Viele Capulets mussten sterben. Und sie haben durch ihr Blut Neo Verona und unsere Welt gestützt. Wollt ihr denn... dass die totale Zerstörung eintritt?“, fragte Ophelia und ich musste schlucken. Wollte ich das? War ich hier in dieser Welt nicht eigentlich nur ein Gast?

Nein… ich realisierte in diesem Moment, dass ich schon lange ein Teil von ihr geworden war.

Für Romeo und Juliet wollte ich… dass diese Welt weiterexistierte!!

„Wenn das unser Schicksal ist, dann soll es so sein! Ich habe meiner Geliebten geschworen, dass ich mit ihr gehe! Bis in den Tod und darüber hinaus!“, sagte Romeo entschlossen und ich sah ihn überrascht an. Er würde das Ende der Welt in Kauf nehmen?

Liebe war ein wahrhaft starkes Gefühl…

„Was bist du doch für ein Narr...“, antwortete die Priesterin und schwebte direkt vor uns.

Ich musste schlucken und dem Drang widerstehen, nicht vor ihrer flimmernden Gestalt zurückzuweichen.

Auch sie war besessen… es war nicht nur der Baum, sondern die bösen Geister hatten auch sie fest im Griff! War das der Grund, warum sie so schlimme Taten vollbrachte?

Warum sie Juliet opfern wollte?

„Du siehst nicht, in welchem Zustand die Welt ist...“, stellte Ophelia fest.

„Du bist es, die den Zustand der Welt nicht sieht!“, widersprach ihr Gegenüber und starrte ihr immer noch entschlossen in die Augen.

Die Priesterin hob eine verdorrte Hand, welche immer größer wurde und richtete sie gegen Romeo.

„Verzweifle, verdorre... Löse dich auf!“

In diesem Moment… fasste ich einen Entschluss.

Ich wusste, dass Yuko mir strengstens verboten hatte, mich in den Lauf der Geschichte einzumischen, doch es war mir gerade völlig gleichgültig.

Dieses Mal handelte ich – und zwar mit vollster Absicht!

Ich hob mein Schwert und schlug Ophelia die erhobene Hand ab.

„Schnell, Romeo, geh du zu Juliet! Ich lenke sie ab!“, befahl ich und der Montague-Sohn gehorchte mir.

„Jetzt müssen wir wohl ohne Ketten auskommen… auf Distanz wirken sie nicht!“, merkte ich noch an und der Geliebte von Juliet nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

„Wie sinnlos...“, kommentierte Ophelia und ließ eine Wurzel von Escalus angreifen.

„JULIET!“, brüllte Romeo, als er sich weiter zu ihr durchkämpfte, „Ich komme dich holen, Juliet! Ich bin gleich bei dir...“, versuchte der junge Mann weiterhin auf seine Geliebte einzureden, welche ihn jedoch offensichtlich nicht mehr hören konnte.

Der junge Mann arbeitete sich weiter vorwärts und schaffte es schlussendlich sein Schwert in den Lebensbaum zu rammen und in das Innerste seines Stammes einzudringen.

„Der Baum Escalus möchte nicht derart belästigt werden“, rief Ophelia und wollte Romeo erneute Hindernisse aufbürden, als ich mich einmischte:

„Lass Romeo durch!“, verlangte ich und holte zu einem erneuten Schlag aus, „Ich bin jetzt dein Gegner!“

„Verschwende keine Kraft. Das Mädchen folgt seinem Schicksal...“, sagte Ophelia ruhig und blickte mir in die Augen. Ihre rechte Gesichtshälfte war nun ebenfalls verdorrt. Ob ihr Leben mit dem des Baumes verknüpft war?

Ich ließ kurz mein Schwert sinken, beinahe betäubt von ihrer Aussage, welche so sicher, so… allgegenwärtig klang.

„Du solltest dein Schwert nicht sinken lassen, Watanuki“, erinnerte mich die Priesterin an meine Deckung und ich schlug einen erneuten Ast entzwei, welcher von hinten auf mich zugeschossen kam.

„Warum tust du das, Ophelia? In meinen Träumen warst du immer… so mitfühlend! Wieso tust du so etwas Grausames?“, fragte ich und die Hexe musste lächeln.

„Etwas geheimnisvoll Geformtes, das schon vor Himmel und Erde entstand... In Schweigen und Leere steht es einzig und unwandelbar da... Es ist immer gegenwärtig und in Bewegung“, antwortete sie mir.

„Hör auf in Rätseln zu sprechen, Ophelia!“, rief ich und hob mein Schwert höher.

„Hast du es nicht bereits selbst bemerkt, Watanuki? Du hast all diese Träume gehabt… die Welt ist dem Untergang geweiht, wenn Juliet sich nicht opfert!“

„Nein! Ich glaube daran, dass man sein eigenes Schicksal ändern kann, wenn man es will! Juliet hat es bewiesen! Immer und immer wieder hat sie ihre Bestimmung verändert!“, widersprach ich ihr und setzte zu einem erneuten Angriff an.

„Diese Sturheit, die ihr Menschen in euch tragt… sie ist schlussendlich euer Untergang.

Der Egoismus, der euch prägt, vergiftet Escalus…“

„Ich bin nicht egoistisch!“, rief ich.

„Du weißt, dass ich nicht aus dieser Welt komme, daher kann es mir theoretisch gleichgültig sein, was mit ihr passiert! Aber das ist es mir nicht! Ich kämpfe um der beiden Menschen willen, welche gerade dort oben sind! Ich will, dass sie glücklich werden!“

„Das ist unmöglich!“, antwortete Ophelia und traf mich mit einer Wurzel, die aus meinem toten Winkel angeschossen kam.

Ich wurde nach hinten geschleudert und keuchte auf, als mir der Aufschlag die Luft aus meinen Lungen presste.

„Oh Romeo, beeil dich doch endlich, ich weiß nicht mehr, wie lange ich sie noch aufhalten kann…“, flüsterte ich. Ich merkte, dass ich nicht wirklich ein Meisterkämpfer war und so langsam aber sicher mit der Situation überfordert war.

Als ich auf dem Rücken lag, nutzte ich die Gelegenheit und schaute kurz in den Nachthimmel, wo ich die Sterne erkennen konnte. Escalus hatte sich bereits seinen Weg nach oben gebahnt und die komplette Decke über uns weggesprengt. Kein Wunder, dass so viele Teile herabgeregnet waren, ganz von den um sich schlagenden Wurzeln abgesehen.

Das Firmament war irgendwie dunkel… zu dunkel…

 

Und die Nacht wurde immer dunkler und dunkler und das Feuer loderte noch ein letztes Mal, es bäumte sich noch einmal auf, bevor es schlussendlich starb.

 

Würde es Escalus genauso ergehen? Würde er ohne Juliets Willen, sich für ihn zu opfern einfach erlöschen, so wie ein Feuer, welches irgendwann zum Tode verurteilt war?

Ich sah Romeo schon lange nicht mehr. Er war in den Stamm vorgedrungen und befand sich hoffentlich bei Juliet.

Escalus trieb nach oben hin plötzlich zwei riesige Blätter aus, welche grünlich leuchteten und Juliets Flügeln sehr ähnlich sahen… Romeo war doch nicht etwa zu spät gekommen?

Entsetzt starrte ich auf dieses Phänomen, als Ophelia meine Aufmerksamkeit erneut an sich zog.

Ich wich ihrem Angriff aus und flüchtete in die höher gelegenen Baumabschnitte, bis ich hoch oben bei den seltsam geformten Blättern angekommen war.

Plötzlich hörte ich einen markerschütternden Schrei:

„Wach... auf! JUUUUUUUULIET!“

Also hatte Romeo sie noch nicht wach gekriegt… Verdammt nochmal!

Was mich in diesem Moment fast wahnsinnig machte, war Ophelias beinahe schon irres Grinsen. Sie leuchtete tiefschwarz, die Geister in ihr schienen stärker zu werden.

Zeitgleich wurden die Blätter von Escalus immer größer und klappten auseinander.

Dies hatte zur Folge, dass der Baumstamm bis ganz unten aufbrach.

Anscheinend bedeutete dies nichts Gutes, da Ophelia leidend aufschrie und weiterverdorrte.

Beinahe ihr ganzes Gesicht glich nun einem verholzten Baumstamm, ihre leuchtend blauen Augen waren fast vollkommen unkenntlich geworden.

Doch dies war noch nicht alles: Ein helles, goldenes Licht erschien in der Mitte der Blätter und breitete sich schlagartig aus.

Ich wurde geblendet, ließ mein Schwert fallen und hielt mir die Augen zu.

Zuerst dachte ich, dies sei das Ende: Dieses Licht schien alles in seiner Umgebung zu verschlingen, doch als ich meinen stockenden Atem wahrnahm, roch ich plötzlich etwas, mit dem ich nun gar nicht gerechnet hatte...

Ich traute mich die Augen zu öffnen, um mich mit meinem Augenlicht selbst davon zu überzeugen und tatsächlich: Mein Geruchssinn hatte mich nicht getäuscht: Überall fielen weiße Iris vom Himmel.

Es sah aus, als ob es schneien würde, doch dieses Mal war es kein Schnee, sondern ein Regen aus weißen Blumenblüten.

Ich öffnete verzaubert eine Hand und eine Blume landete weich und warm darin.

„Eine weiße Iris? Juliet…?“, hauchte ich und sah zu Romeo herüber, welcher die Capulet-Tochter in seinen Armen hielt.

Die beiden grünen Blätter waren verschwunden und der höchste Teil des Baumes hatte sich in eine Art Plattform verwandelt, auf welcher wir nun standen.

Ich hob mein Schwert auf, ging langsam zu den beiden hinüber und ließ mich neben Romeo  auf die Knie fallen.

„Sieh mich an, Juliet...“, bat der junge Mann, woraufhin die Rothaarige langsam ihre Augen aufschlug.

Ein Gefühl von Erleichterung und Glück schoss durch meinen Körper.

Ich war so froh, sie war wieder wach, sie war bei uns!!

„Oh... Oh Romeo“, begrüßte sie ihn schwach und wir mussten lächeln.

„Du bist wieder frei, Geliebte. Ich erlaube dem Schicksal nicht mehr, dich so zu quälen.

Die Folter, der du ausgesetzt warst, hat ein Ende. Ruh dich in meinen Armen aus“, sagte Romeo sanft und Juliet schloss lächelnd die Augen.

Hatte ich durch mein Eingreifen wirklich das Schicksal verändert?

Nein… denn Ophelia war noch nicht besiegt!

Die zu einer Holzversion ihrer selbst gewordene Priesterin tauchte hinter Romeo auf.

Der Regen von Irisblüten hörte plötzlich auf, als die Hexe erschien.

„Der Pulsschlag des Verfalls ist immer noch spürbar. Die Welt kann nur weiter überleben, wenn sie die große Kraft von Escalus besitzt... und dafür habe allein ich zu sorgen.

Der Baum Escalus ist das einzige Lebewesen, das es zu schützen gilt. Und deswegen lasse ich auf keinen Fall zu, dass er stirbt.“

Romeo legte Juliet sanft auf der Plattform ab, erhob sich und richtete sein Schwert auf Ophelia.

„Dass dir der Baum am Herzen liegt, kann ich verstehen. Aber die Menschen sind es, die es zuerst zu schützen gilt!“, sprach er entschlossen, durch Juliets Rettungsaktion war er verletzt worden, Blut tropfte aus einer Wunde an seiner rechten Wange.

„Du widersetzt dich, junger Krieger! Das ist ein Fehler!“, schrie Ophelia, sie hatte die Augen verengt.

Eine Wurzel schoss auf Romeo zu, welcher überrascht die Augen weitete.

Für mich geschah dies alles in Zeitlupe: Romeo zückte sein Schwert, doch das Entsetzen in seinen Augen wich nicht.

Ophelia steuerte mit ihrer spitzen Wurzel genau auf seinen Körper zu…

Ich realisierte, dass ich mit meiner Ablenkung vorhin noch gar nichts verändert hatte!

Die Änderung des Geschichtsverlaufes… folgte erst jetzt!

Ich musste es einfach tun, es waren nur vier Schritte, die ich entfernt war…

Ich rannte zwischen sie und breitete schützend meine Arme vor Romeo aus.

„Watanuki, weg da!“, brüllte der Montague-Sprössling, aber ich reagierte nicht.

Meine Augen fixierten die Wurzel, welche nun auf mich zuschoss und Panik ergriff meine Gedanken, jedoch konnte ich nicht mehr fliehen, selbst wenn ich gewollt hätte…

Meine Beine bewegten sich nicht mehr, meine Augen waren geweitet.

Es sollte so sein. Ich würde hier sterben.

Für Romeo und Juliet… für ihre Liebe, für das Schicksal, welches die beiden miteinander verband… und für ganz Neo Verona!

Ein Schatten war für mich die einzige Vorwarnung, denn die nächsten Ereignisse überschlugen sich:

Ich spürte, wie ich von etwas Großem zur Seite gestoßen wurde.

Hart landete ich auf dem Bauch und blieb keuchend liegen.

„Watanuki! Habe ich dir vor einiger Zeit nicht ins Gewissen geredet, dass der Freitod keine Wahlmöglichkeit darstellt?“, hörte ich eine vorwurfsvolle Stimme über mir.

Ich blickte nach oben, wo ein Ryuba wieherte. Mein Ryuba… Und sie trug einen mir sehr bekannten Reiter auf dem Rücken… Anscheinend hatten sie mich zur Seite gestoßen.

„William?“, entfuhr es mir ungläubig.

Der Dichter landete und richtete mich auf.

„Du hast dich zu viel eingemischt, Watanuki. Du sollst hier nicht sterben. Weder du, noch ich“, sagte William ernst und hielt meine Hand fest, als er mich nach oben zog.

Mein Blick schweifte zu Romeo.

„R… Romeo!“, entfuhr es mir, als ich mit wachsendem Entsetzen sah, dass die riesige Wurzel ihn durchbohrt hatte und er nur noch schwerfällig atmete.

Doch nicht nur er hatte eine tödliche Verletzung eingesteckt: Auch Ophelia war von seinem Schwert durchstochen und verschmolz mit Escalus zu einem leblosen Stück Holz.

Den Mund hatte sie noch zu einem lautlosen Schrei aufgerissen, den jedoch niemand mehr zu Gehör bekam, da sie kurz daraufhin zersplitterte.

Die Wunde Romeos sah wirklich schlimm aus… Seine Rüstung war zerstört und dunkelrotes Blut tropfte zu Boden.

Der Untergrund bebte erneut und langsam fiel alles um uns herum auseinander:

Türme brachen weg, Boden löste sich und fiel ins Nichts. Der schwebende Kontinent löste sich auf. War das der endgültige Untergang?

Ich lief zu Romeo hinüber und kniete mich neben ihn, wie durch ein Wunder lebte er noch.

Ein paar Irisblüten hatten sich noch in der Luft verirrt, doch dieses Mal kamen sie mir wie Tränen vor, welche in den Himmel schwebten, was mir zeigte, dass wir abstürzten, langsam sank der Boden nach unten und wir mit ihm.

„Oh Romeo!“, rief Juliet, welche offensichtlich aufgewacht war.

Sie eilte zu uns herüber und stütze ihren Geliebten, ich machte ihr Platz.

„Juliet...“, flüsterte der Verletzte schwach und hatte sich etwas zu ihr aufgerichtet.

„Oh Romeo...“, wiederholte Juliet kraftlos und Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln.

Der sterbende junge Mann ihr gegenüber legte seine rechte Hand an ihre Wange, welche Juliet mit ihrer linken festhielt.

„Du hast Gefühle in mir geweckt, die ich nicht kannte. Durch dich habe ich lieben gelernt. Ich bin so glücklich. Ich habe in unserer Liebe... ein Zuhause gefunden. Juliet... Der Klang deiner Stimme schallt in mir. Ich wandere zwischen den Welten mit dir als Gefährtin“, erklärte er stockend und blickte ihr mit einem immer trüber werdenden Blick in die Augen.

„Romeo...“, hauchte Juliet und hielt ihn weiterhin fest.

„Oh Juliet. Ich werde deinen Namen nicht mehr rufen können... und meine Augen werden dich bald... nicht mehr... erblicken, Juliet“, endete er und zuerst dachte ich, dass die beiden sich noch einmal küssen würden, doch Romeo sank vornüber auf Juliets Schulter, die Augen geschlossen, der rechte Arm löste sich von ihrer Wange und schwang locker Richtung Boden.

Er war tot.

Juliets Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie fing an zu schreien, hell und grell hallte ihre Stimme im Abendhimmel wider.

Ich senkte den Kopf. Wofür hatte ich eigentlich gekämpft? Romeo war tot… ich hatte ihn nicht beschützen können.

Mein Blick wanderte zu William, ich verengte die Augen.

„Empfindest du Hass für mich, weil ich dich statt ihm gerettet habe, Watanuki? Glaubst du, dass man bei so etwas eine Wahl hat?“

Ich musste schlucken. Was empfand ich gerade?

Verzweiflung. Pure Verzweiflung, Machtlosigkeit, Trauer. Das war die richtige Beschreibung meiner Gefühle.

Um uns herum zerbrachen noch die Reste des Schlosses, Juliet weinte, sie hielt immer noch Romeo in den Armen.

Ich legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter, doch sie schluchzte weiter, was mich nicht verwunderte. Ihr Herz war gebrochen. So wie meins in diesem tieftraurigen Moment.

William hatte sich wieder auf meine Ryubastute gesetzt.

„Steigt auf! Die Welt bricht zusammen!“, forderte er uns auf und ritt näher.

„Na komm. Wir nehmen dich mit“, bot ich ihr an, allerdings ignorierte Juliet unsere Worte.

„Romeo... Sag meinen Namen noch ein letztes Mal. Dir muss kalt sein, mein Geliebter. Ich lass dich nicht allein“, flüsterte sie und strich ihm ein letztes Mal sanft über die Lippen.

„Romeo wollte dich erlösen, Juliet. Er wollte an deiner Stelle sterben, er hat dich wirklich über alles geliebt!“, versuchte ich behutsam auf sie einzureden, meine kurzen Haare wehten im Wind.

„Wir bleiben zusammen... bis dass der Tod uns scheidet. Und nichts, was geschieht, kann uns je wieder trennen.

Romeo hat seinen Schwur gehalten. Er ist bis in den Tod bei mir geblieben.

Und deswegen... will auch ich das tun!!“, entschied sie entschlossen.

„Aber das darfst du nicht, Juliet!“, widersprach ich ihr entsetzt und sie sah mich liebevoll an.

Ihre rostroten Haare schwangen im Wind, ihre grünen Flügel hingen an ihrem Rücken hinunter, ihr Leuchten war erloschen.

„Ich bin hier... um euch zu retten. Und um die Welt zu beschützen, in der ich euch und Romeo begegnet bin. Ich wollte mein Schicksal annehmen, aber dabei Romeos Liebe nicht verlieren. Doch beides geht nicht, nur deswegen habe ich Romeo verloren… weil ich etwas Unmögliches wollte!“, erklärte sie mir.

„Und der Lebensbaum Escalus ist schon tot...“, bedauerte ich leise.

„Nein. Nein, das ist er nicht.

Diese feinen Flügel und das Samenkorn in meinem Körper leben noch. Ich kann ihren Herzschlag spüren.

Der Baum Escalus lebt in meiner Brust. Und bevor sein Herzschlag endgültig verstummt...“ Ihre Worte brachen ab und sie drehte sich wieder zu Romeo, um den Schluss nicht aussprechen zu müssen.

„Tu das nicht, Juliet...“, bat ich sie eingehend. Ich kämpfte bereits mit den Tränen.

Ich wollte nicht, dass sie starb! Ich hatte sie hier kennengelernt… zusammen mit ihr gelacht und viele Abenteuer erlebt. Sie war so eine starke Frau. Sie durfte nicht einfach so sterben!

Juliet drehte sich noch einmal zu mir um, in ihrem Blick lagen Güte und Freundlichkeit, beinahe schon aufmunternd klangen ihre letzten Worte an uns:

„Bitte geht!“

Ich rührte mich nicht von der Stelle.

„Komm, Watanuki. Sie hat sich entschieden!“, sagte William, welcher den Kopf hatte sinken lassen und wollte mich zu sich ziehen, doch ich riss mich los.

„Nein!“, antwortete ich bestimmend, beinahe betäubt, doch das nächste Mal griff der Dichter härter zu und zog mich auf das Ryuba.

Juliets Flügel richteten sich auf und leuchteten erneut grün.

„Nein, Juliet!“, rief ich und wollte nach ihr greifen, allerdings versperrten mir Williams Arme den Fluchtweg, da er noch immer die Zügel festhielt.

„NEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEIN, JULIEEEEEEEEEEEEEET!!!“, schrie ich und Tränen der Verzweiflung entflohen meinen blauen Augen.

Der Flugwind trug das Zeugnis meiner Gefühle zu Boden, als sich meine Ryubastute in die Luft erhob.

Ein helles, goldenes Leuchten kam von Juliet, welches die gesamte Nacht erhellte.

Es tauchte Escalus in einen goldenen Schimmer.

Juliet hielt Romeo immer noch in den Armen, hob seine linke Hand an ihre rechte Wange und drückte ihn an sich.

„Ich liebe dich so, Romeo. Ich bleibe für immer bei dir. Ich lass dich nicht gehen.“

Der Wind trug ihre Worte zu uns, das Ryuba flog noch nicht besonders hoch.

Juliets Flügel wuchsen weiter, bis sie riesig waren.

Goldene Funken gingen von ihr aus, welche die Nacht hell glitzern ließen.

„Ein warmes Licht erhellt den Himmel“, sprach William langsam, ich drehte mich zu ihm um und bemerkte, dass auch er weinte.

„In diesem Moment fand ein Dichter seine Tränen ebenfalls wieder“, lächelte er und schien auch zu spüren, dass diese goldenen Funken die Trauer in unseren Herzen zu vertreiben suchten und uns beruhigten.

„Lebensbaum Escalus, höre mein Gebet und nimm mein Opfer an. Mein Herzschlag soll dich neu beleben!!“

William zog die Ryubastute nach oben.

Ich schluchzte immer noch.

„Juliet!!“, flüsterte ich hilflos, als wir hoch über dem abstürzenden Land schwebten.

In diesem Moment teilten sich ihre beiden Flügel in sechs auf, welche noch größer wurden und den Sturz des Kontinents abzufangen schienen.

„Höchste Zeit von hier zu verschwinden!“, meinte William relativ gefasst und die Ryubastute flog durch die Wolkendecke, welche diese Welt umgab, nach unten.

Dort konnten wir die Geschehnisse besser verfolgen: Der Kontinent setzte im Meer auf, wodurch eine riesige Welle ausgelöst wurde.

Der Morgen brach an, welcher von einem Regenbogen begleitet wurde.

Doch der Kontinent… war in Sicherheit! Zur Insel geworden, setzten sich die zusammengebrochenen Teile wieder zusammen und grüne Wiesen und Bäume wuchsen aus dem verdorrten Boden empor.

William und ich landeten auf einer Wiese voller Irisblumen.

Dies war die Ruine der Kirche von Neo Verona, wo Romeo und Juliet sich so oft getroffen hatten…

„Dass Escalus die Welt trug, wussten wir nicht. Auch dass Neo Verona in der Luft schwebte, war uns unbekannt. Richtungslos wie der rastlose Wind trieben wir durch die Weltgeschichte. So wie im normalen Leben. Wir treiben ruhelos durch unser Dasein, auf dem Weg nach einem Ziel, welches uns jedoch verborgen bleibt.“

Ich sah ihn an, tiefe Trauer erfüllte mein Gemüt, gerade jetzt, wo ich wieder an diesem Ort stand, welcher so viele Erinnerungen in sich trug.

Ich nahm meine Brille ab und schniefte laut.

„Der Kampf, der Hass, die Traurigkeit, die Schmerzen, doch die Liebe hat gesiegt, denn die höchste Tugend liegt darin der Liebe und nur der Liebe zu folgen.

Denn die Liebe ist der Keim der Schöpfung, das habt ihr beide uns gelehrt!“, sprach William, pflückte eine Irisblume und roch daran.

Ein lautes Wiehern ertönte und ein schneeweißes Ryuba gesellte sich zu meiner Stute, welche ihren Artgenossen freudig empfing.

„Das ist das Ryuba von Romeo…“, stellte ich leise fest und als Chielo mich sah, wieherte er freudig, bevor er sich gierig zu den Iris hinunterbeugte, um zu grasen. Ja. Das weiße Ryuba liebte Irisblumen, ich erinnerte mich…

Immer noch weinend fiel ich auf die Knie, als die einströmenden Erinnerungen mein Gemüt schwer werden ließen.

„Watanuki… diese Tat, welche du begehen wolltest, dich für jemand anderen zu opfern, hat mir gezeigt, dass du endlich das gelernt hast, was du vorher nie verstanden hast: Du hast die Erfahrung gemacht wie es ist, mit anderen mitzufühlen und deren Schicksal zu verstehen.

Diese Bewusstheit für dein Verhalten hast du nun erreicht. Du hast Respekt vor Geschichten gelernt, du hast verstanden… sie wertzuschätzen!“

Ich sah ihn mit tränenverschleiertem Blick an.

William beugte sich zu mir hinunter und wischte mir die Tränen von den Wangen.

„Juliet hätte nicht gewollt, dass du so viel weinst, Watanuki“, sagte er sanft und ich schniefte.

Verdammt, seit wann war ich denn so sentimental?

Doch schließlich… formte sich ein Lächeln auf meinen Lippen.

„Du hast Recht, Willy… das hätte sie nicht gewollt… sie hätten es beide nicht gewollt!!“

Und da entdeckte ich etwas, das vorher noch nicht hier gewesen war: Es wuchsen nicht nur Irisblumen auf dieser Wiese, nein… sondern plötzlich auch wunderschöne, rote Rosen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-08-08T13:48:12+00:00 08.08.2012 15:48
Ich kann Caro nur zustimmen
Ich weiß echt nicht, was ich da noch anfügen soll, außer:
Schon wieder so viel Ophelia für mich...
Danke...
*grummel*
Von: Maryhase
2012-07-13T18:13:03+00:00 13.07.2012 20:13
Ein Zusammenspiel zwischen Priesterjagd und Lebensbaum...
Ja, wer aufgepasst hat, hat gemerkt, dass du dich mit diesem Kapitel selbst übertroffen hast!! Eine Wortkette zu bilden, die mit Priesterjagd beginnt, Wörter aus den Gegenständen der Geschichte enthält und dann auch noch mit Lebensbaum endet...
Ich ziehe meinen nicht vorhandenen Hut vor dir!!
Okay, der liegt neben mir, aber ich trage ihn gerade nicht XD

Du weißt, ich habe am Ende von Romeo x Juliet nicht geweint, und ich habe leider auch hier keine Tränen vergossen, dafür habe ich es mir bildlich vorgestellt, was nicht viele schaffen!
Du jedoch hast es mit diesem Kapitel wieder geschafft!!!
(Soll ich meinen Hut jetzt doch aufsetzen?)

Joa, im Anime würde hier jetzt stehen:
The End
Aber wir müssen ja noch wissen, wie Watanuki-kun wieder zurück gekommen ist ^^
Also, auf auf!!
Watanuki!!
Zurück in die Zukunft!! XDD

Drück dich,

Caro =3


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