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Die Geliebte des Verdammten

von

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Kapitel 1

Jessica Reeves, 27 Jahre alt, arbeitete seit fünf Jahren für die Geheimorganisation Talamasca. Die Talamasca hatten sie aufgesucht, weil sie Geister sehen konnte – eine Fähigkeit, die nur sehr wenige Menschen haben. Am Anfang war Jessica skeptisch gewesen. Eine Organisation, die sich mit dem Übersinnlichen beschäftigt? Doch dann hatten David Talbot, der Gedankenleser, und James Whitlock, ein Telekinetiker, sie überzeugt. Wirklich, ihr fiel es schwer das Übersinnliche zu ignorieren, wenn einer der Männer, die ihr gegenüber saßen, ihre Gedanken lesen konnte, während der andere ihre Kaffeetasse schweben ließ.
 

Also war die rothaarige Schönheit mit den funkelnden grünen Augen der Organisation beigetreten – und hatte es nie bereut. Sie besuchte Spukhäuser, unterhielt sich mit Poltergeistern und beruhigte Menschen, die von den Geistern berührt worden waren. Nichts hätte ihr mehr Spaß machen können, so dass sie letzten Endes sogar ihr Medizinstudium abbrach, um sich vollends den Talamasca zu widmen. Sie erzählte niemandem davon – niemandem außer ihrer Tante Maharet. Freunde hatte sie ohnehin so gut wie keine, sie war eine schüchterne, zurückhaltende Frau.
 

Aber Maharet – Maharet war ganz und gar nicht begeistert gewesen, als sie ihr von den Talamasca berichtet hatte. „Die Talamasca leisten ohne Frage hervorragende Arbeit“, hatte sie ihr in ihrem Brief geschrieben. „Aber für eine junge Frau wie dich gibt es besseres im Leben, als alten Gespenstern nachzueilen. Konzentriere dich auf das Leben, nicht auf den Tod.“
 

Jessica war enttäuscht gewesen, hatte der Sommer den sie als Kind mit Maharet verbracht hatte doch einen so wichtigen Eindruck auf sie gemacht. Der ganze Sommer war ihr seltsam umwirklich vorgekommen. Maharet und Mael waren niemals vor Sonnenuntergang aufgetaucht. Und sie erinnerte sich noch schwach an eine Art Party, die Maharet damals abgehalten hatte. Alle Gäste waren wunderschön gewesen, genauso wie Maharet selbst. Sie hatten sich alle auf eine gewisse Weise ähnlich gesehen, so verschieden sie auch gewesen waren. Und dann, ja dann kam Marius. Marius, der gute Freund ihrer Tante, der sie sanft aus dem Wohnzimmer getragen hatte, in dem die Gäste versammelt waren. Marius, der sie so lange gehalten hatte, bis sie wieder eingeschlafen war. Der wunderschöne Marius, so sanft, mit seinen eisblauen Augen. Noch nie hatte sie sich so heimisch gefühlt wie in der Gesellschaft von Maharet und Marius. Es war ihr damals schwer gefallen, zu ihren Adoptiveltern zurück zu kehren. Sie liebte sie, keine Frage, aber in Maharets Haus hatte ein ganz besonderer Zauber geherrscht.
 

Jessica schüttelte ihren Kopf und ging weiter durch das Ordenshaus der Talamasca in London. David Talbot hatte sie zu sich gerufen, und sie war gespannt – es kam nur selten vor, dass sie mit dem Obersten der Talamasca selbst ins Gespräch kam. Was er wohl von ihr wollte?
 

Als sie sein Büro erreichte, klopfte sie leicht an die Tür. „Komm herein, Jessica“, hörte sie seine angenehme tiefe Stimme. Sie hob ihre Hand an den messingfarbenen Türknauf und betrat den Raum. Das Büro war angenehm eingerichtet. Dunkler Holzboden und dunkle Möbel gaben dem Raum ein antikes Aussehen, mehrere bequeme Ledersessel und eine schöne Couch waren im Zimmer verteilt. Jessica hielt kurz inne als sie sah, dass nicht nur David Talbot anwesend war. James Whitlock und Jeremy Hanson waren ebenfalls vor Ort. Jessica begrüßte die Männer mit einem warmen Lächeln, aber innerlich war sie aufgeregt. Hatte sie einen Fehler begangen, der die Aufmerksamkeit der drei ranghöchsten Ordensmitglieder auf sich gezogen hatte? Sie konnte sich nicht erinnern.
 

Freundlich bedeutete David Talbot ihr, auf dem Ledersessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Die anderen Männer saßen ebenfalls neben ihm und blickten sie gerade heraus an. „Du wunderst dich sicher, warum wir dich hergerufen haben, nicht wahr, Jessica?“, begann David Talbot das Gespräch.
 

Jessica nickte. „Ja, ich hatte nicht damit gerechnet. Hat es ein Problem bei meinem Besuch bei dem Spukhaus in Essex gegeben, von dem ich nichts weiß?“
 

Die anwesenden Männer schmunzelten. „Nein, nein, ganz und gar nicht. Dort ist alles prima gelaufen, der Poltergeist hat sich wirklich beruhigt und macht den Hausbesitzern nicht mehr ganz so viel Ärger.“ David Talbot pausierte kurz bevor er weiter sprach. „Wir haben vielmehr einen neuen Auftrag für dich, einen Auftrag, der eine Menge Fingerspitzengefühl und Erfahrung benötigt. Dabei haben wir an dich gedacht.“
 

Jessica horchte sofort interessiert auf. „Ein neuer Auftrag? Hat er wieder mit Geistern und Spukhäusern zu tun?“
 

Talbot schüttelte den Kopf. „Nein, Jessica, diesmal geht es um andere Wesen. Ich bin mir sicher, du hast schon einmal etwas von Blutsaugern, von Vampiren, gehört?“
 

Im Kopf der rothaarigen Frau drehten sich die Rädchen schnell. Vampire? Gab es so etwas überhaupt?
 

David Talbot blickte die erneut ernst an. „Ich weiß, was du jetzt denkst, und nicht nur weil ich Gedankenleser bin. Du glaubst nicht, dass Vampire überhaupt existieren. Du denkst, dass sie nur Fabelwesen sind. Doch ich vergewissere dir, das ist nicht der Fall. Vampire existieren. Die Talamasca haben sie schon seit vielen hundert Jahren beobachtet.“
 

Jessica schluckte, während ihr Weltbild gehörig ins Wanken geriet. „Das ist alles etwas schwer zu glauben, aber, aber – ich vertraue Ihnen. Gehe ich recht in der Annahme, das mein nächster Auftrag etwas mit Vampiren zu tun haben wird?“
 

Der Ordensoberste nickte und strich sich seine weißen Haare aus dem Gesicht. „Genau, besser gesagt mit einem Vampir. Er hat vor vielen hundert Jahren einmal in Venedig gelebt und, wenn man unseren Quellen glauben darf, lebt dort heute wieder. Wir möchten, dass du dir die Sache einmal genauer ansiehst. Er arbeitet als Maler, es sollte also nicht so schwer sein, in Kontakt mit ihm zu geraten. Wichtig ist nur, dass du deine Gedanken vor ihm abschirmst – diese Wesen können Gedanken lesen. Und er darf nicht wissen, dass du zu uns gehörst. Er scheint zwar einer der friedlicheren Vampire zu sein, aber bei diesen Wesen kann man nicht vorsichtig genug sein.“
 

Talbot stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum. Er schritt auf einen Teil der Wand zu, der von einer Plastikplane verhängt war. Als er sie zurück zog, stockte Jessica der Atem.
 

An der Wand hingen vier Bilder, die alle den selben Mann zeigten. Einen blonden, großgewachsenen, blassen Mann mit eisblauen Augen. Es war Marius – daran bestand kein Zweifel. Während David Talbot zum sprechen ansetze, krallte sich Jessica am Schreibtisch fest. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust.
 

„Jedes dieser Gemälde stammt aus einer anderen Periode und zeigt dennoch den selben Mann. Er ist der Vampir, den du suchen sollst. Sein Name ist... Jessica, geht es dir gut?“
 

„Marius“, flüsterte Jessica, die inzwischen kreidebleich geworden war. „Sein Name ist Marius.“
 

Talbot und die anderen beiden Männer warfen ihr einen kalkulierenden Blick zu. „In der Tat, sein Name ist Marius. Woher wusstest du das?“, fragte David Talbot schließlich.
 

„Ich kenne ihn.“, antwortete sie schlicht. Vor ihren Augen drehte sich alles. Marius, ein Vampir? Dann wäre Maharet, ihre liebe, weise Tante ja auch ein Vampir! Das konnte einfach nicht sein! Doch die Indizien sprachen alle dafür – sie hatte sie niemals essen gesehen, sie tauchten erst nach Sonnenuntergang auf und sie sahen sich alle irgendwie ähnlich – weiße Haut, überirdische Schönheit, Kraft, Schnelligkeit... Jessica schwindelte es.
 

Die drei Männer warfen sich schnelle Blicke zu. „Du kennst ihn? Aber woher?“, fragte James Whitlock sanft. „Bist du ihm schon einmal begegnet?“
 

„Ja“, wisperte Jessica mit dünner Stimme. „Als ich zehn Jahre alt war. Ich habe den Sommer bei meiner Tante Maharet in Amerika verbracht. Marius war auch dort. Und Mael. Sie waren immer alle so sanft zu mir, so als wäre ich eine zerbrechliche Puppe. Sie kamen immer erst nach Sonnenuntergang ins Haus, ich habe sie nie Essen gesehen. Und es geschahen immer so seltsame Dinge. Einmal zerbrach eine Vase weit von mir weg, während Mael mir gegenüber saß. Er hat sich dafür entschuldigt, so als wäre er es gewesen – aber er war viel zu weit von ihr entfernt.“ Sie hielt kurz inne. „Und Marius – als einmal eine Party bei meiner Tante stattfand, nach dem ich bereits im Bett war, da kam einer der Gäste auf mich zu und wollte meinen Hals küssen. Marius hat ihn quer durch den Raum geschleudert und mich dann in seine Arme genommen und ins Bett getragen. Er blieb bei mir bis ich eingeschlafen war. Als ich aufwachte, lag ein Zettel auf meinem Kopfkissen auf dem er sich verabschiedete. Er musste zurück nach Hause. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Und nach dem ich wieder zu Hause war, habe ich auch Maharet und Mael nie wieder gesehen. Mit meiner Tante stehe ich aber nach wie vor in Briefkontakt.“
 

Nach dem sie fertig gesprochen hatte herrschte im Raum ein verdutztes Schweigen. Für drei lange Minuten sagte niemand etwas. Jessica starrte abwesend auf dem Boden und fuhr sich mit einer Hand durch ihre langen roten Haare. Schließlich brach David Talbot das Schweigen.
 

„Das ist... Jessica, das ist einfach unglaublich. Du kennst Vampire persönlich? Deine Tante ist ein Vampir? Wie oft schreibt ihr euch? Wie war Marius zu dir?“
 

Die junge Frau nahm sich Zeit zum antworten, während immer noch tausende Gedanken durch ihren Kopf schwirrten. „Ich schreibe meiner Tante mindestens einmal die Woche. Sie schickt mir auch immer schöne Geschenke zu Weihnachten und meinem Geburtstag. Marius tut das manchmal auch. Dieses Armband hier“ - sie deutete auf einen breiten, silbernen, reich verzierten Armreif, der sehr antik aussah - „hat Marius mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Seinen dazugehörigen Brief habe ich leider bei einem Umzug verloren.“ Ihre Stimme klang traurig und hohl. „Wenigstens weiß ich jetzt, warum sie mich damals verlassen haben. Sie haben nach dem Vorfall auf der Party wahrscheinlich gedacht, es sei zu gefährlich für mich.“
 

David Talbot legte ihr väterlich die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, Jessica, dass das erstmal viel zu verdauen ist. Wir werden jemand anderen finden, der Marius aufsucht...“
 

„NEIN!“, rief Jessica plötzlich aufgeregt. Dann beruhigte sie sich sichtlich. „Nein. Ich habe so viele Fragen – ich muss Marius einfach finden. Ich muss es mit meinen eigenen Augen sehen, aus seinem eigenen Mund hören. Ich weiß, er wird mir nichts tun. Ich bin ideal für diese Aufgabe, wenn man es objektiv betrachtet.“
 

Talbot nickte. „Wenn du dir sicher bist...“
 

„Ich bin mir sicher.“, sagte Jessica mit fester Stimme. „Ich bin mir so sicher, wie ich es noch nie in meinem Leben war.“



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