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Vertrau mir deine Flügel an

von

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Lernen zu vertrauen

Zur dunkelsten Stunde der Nacht, an der dunkelsten Stelle in ganz Kyoto, stand eine hochgewachsene Gestalt und wartete auf etwas. Es war ein Mann, Mitte 20, schwarzhaarig und schlank gebaut. Seine roten Augen fixierten die Wand eines Gasthofes. Er war ruhig und geduldig, obwohl seine Verabredung bereits viel zu spät war.

“Wie lange willst du mich noch beobachten, Akazumi?”

Seine tiefe Stimme durchschnitt die Stille der Nacht. Es gab keine Anzeichen dafür, dass er mit jemanden sprach, denn seine Silhouette war der einzige Schatten, den man in dieser Nacht sah. Doch kaum, dass der Hall seiner Stimme verklungen war, ertönte das helle Gelächter einer Frau.

“Du weißt also, dass ich hier bin. Beeindruckend, Kurokage Daren.”

Leise ertönte die weibliche Stimme des Schattens, der sich langsam vom Dach des Gasthofes abseilte. Vor dem Mann, der den Namen Daren trug, blieb der weibliche Schatten stehen und löste das Seil mit einem Messer von ihrer Taille.

“Warum hast du mich gerufen? Gibt es jemanden, den du beseitigt haben willst? Ich erledige es für ein kleines Taschengeld schnell und lautlos wie ein Ninja.”

Daren seufzte, als die vermummte Akazumi ihre “Dienstleistung” anbot. Ihr Ruf in der Unterwelt war ihm sehr gut bekannt, weswegen er sie aus hunderten ausgewählt hatte. Sie war eben die Beste, und nur die Beste war gut genug für ihn.

“Du sollst niemanden umbringen. Ich will, dass du jemanden für mich findest. Ein Mädchen.”

Akazumi wurde hellhörig, denn es war noch nie vorgekommen, dass jemand sie nicht für ein Attentat engagierte.

“Was denn, ist dir deine Freundin weggelaufen? Ist ihr dein Ruf als Dämon zu Ohren gekommen?”

Ausdruckslos sah Daren Akazumi an. Er ahnte, worauf sie hinaus wollte, denn er wusste alles über das vermummte Mädchen. Es war nicht schwer, etwas über das Ninjamädchen zu erfahren, auch wenn sie ihren Namen und die Spuren ihrer Vergangenheit verwischt hatte.

“Glaubst du etwa, ich bin einer dieser Dämonen, die deine Eltern ausgelöscht haben?”

Amüsiert lachte Daren auf und sah mit seinen blutroten Augen das Mädchen vor sich an.

“Keine Sorge, nur weil ich ein guter Kämpfer bin und mir meine Feinde den Titel eines Dämons gegeben habe, bin ich keiner. Ich bin genauso menschlich wie du.”

Misstrauisch sah das Ninjamädchen ihr Gegenüber an. Sie war nicht dumm und wusste, wem sie vertrauen konnte und wem nicht. Daren gehört mit Sicherheit nicht zu der ersten Gruppe.

“Also, wirst du diesen Auftrag annehmen?”

Das Ninjamädchen sah Daren an. Sie vertraute ihm nicht, aber der Auftrag klang interessant. Und der Mann zahlte gut. Eigentlich war dieser Auftrag viel zu verlockend, um ihn einfach abzulehnen.

“Also schön. Ich suche deine Freundin. Lass mir die erste Hälfte des Geldes und eine Beschreibung des Mädchens zukommen. Ich melde mich dann, sobald ich Erfolg habe.”

Nickend machte Daren klar, dass er alles verstanden hatte und wandte um. Für ihn war das Treffen beendet und ein voller Erfolg, denn er hatte nun, was er wollte. Nichts konnte ihn mehr aufhalten.
 

Früh waren Erenya und Mizu aufgestanden, denn neben dem eigentlichen Haushalt mussten sie auch heute wieder Ausschau nach bezahlter Arbeit halten. Meist erledigte Mizu Putzarbeiten in örtlichen Lokalen oder stopfte die Sachen ihrer Nachbarn. Einen festen Job hatte sie nicht, und obwohl sie ein hübsches Mädchen war, weigerte sie sich, das Rotlichtviertel auch nur in Betracht zu ziehen. Die kleinen Gelegenheitsjobs reichten, um sie über Wasser zu halten.

“Erenya, leg bitte die Futons zusammen.”

Die Puppe nickte, als sie die Bitte ihrer neuen Freundin vernahm. Ohne zu zögern ging sie zur Schlafecke, in der die Futons lagen und begann, diese zusammenzurollen.

Mizu beobachtete das Mädchen dabei und schmunzelte, denn man merkte schnell, dass ihr die Routine dafür fehlte. In einer Herberge bräuchte sie also erstmal nicht um Arbeit bitten, denn für diesen Job war die Puppe definitiv zu langsam.

‘Vielleicht kann Lhikan Hilfe gebrauchen.’

Mizu wusste, dass sie beide nicht an einem Ort arbeiten konnten. Für das Kellnern war das Mädchen noch nicht geeignet, denn die Rônin, die in einem Lokal speisten, waren nicht gerade höflich. Sie gaben einer weiblichen Bedienung gerne mal einen Klaps auf den Po, und körperliche Nähe vertrug die Puppe nicht. Sie ließ ja nicht einmal zu, dass Mizu sie umarmte. Obwohl das Mädchen sich nun langsam öffnete, vertraute sie Mizu nicht.

Nachdenklich sah Mizu auf das Geschirr, dass sie abspülte. Nun sprach Erenya zwar mit ihr, aber Vertrauen war immer noch Mangelware. Das Mädchen blieb ihr ein Rätsel, denn wenn Mizu ehrlich war, wusste sie noch gar nichts von Erenya. Sie sagte nicht, woher sie kam, weswegen sie ein Schwert bei sich führte und wer sie wirklich war. Die Puppe blockierte vollständig, wenn Mizu diese Fragen stellte.

Vielleicht brauchte sie noch etwas Zeit. Mehr als geduldig warten, konnte sie nicht. Es war allein an Erenya, sich ihr zu öffnen.
 

Staunend sah das Puppenmädchen sich in Lhikans Laden um. Sie war zwar schon den Tag zuvor hier gewesen, aber erst heute nahm sie alles wahr, als wäre sie über Nacht lebendig geworden.

“Hier ist es ja groß. Und voll. Wohnst du hier, Lhikan?”

Der Händler musste schmunzeln, als er sah, mit was für einer kindhaften Neugier das Mädchen durch seinen Laden wuselte.

Sie sollte heute hier arbeiten und er sollte auf das Mädchen aufpassen. In der Zwischenzeit suchte Mizu noch Arbeit für sich, damit sie heute genug Geld verdienen konnten.

“Nein, nein. Hier arbeite ich nur. Die Sachen, die du hier siehst, verkaufe ich an diejenigen, die es kaufen wollen. Deine Aufgabe ist es, die Bestände aufzufüllen.”

Mit einer vollen Flasche Sake ging er auf Erenya zu, die gerade neben dem Regal für Billigspirituosen stand. Dort füllte er die Lücke, die durch seinen letzten Verkauf entstanden war.

“Hast du das verstanden?”, fragte er sanft und lächelte die Puppe an, die ihm zunickte.

So schwer war die Arbeit nicht, und doch war Lhikan froh, wenn er am Ende des Tages genug verkauft und nicht zu viel zerdeppert hatte.

“Also dann. Fangen wir an.”

Frisch motiviert für seine Arbeit, zeigte Lhikan dem Mädchen noch das Lager und erklärte ihr, worauf sie besonders achten sollte.
 

Nachdenklich saß Yuki auf dem Dach des Gasthofes, in dem sie über Nacht verweilt hatte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und stärkte die von der Nacht geschwächten, müden Knochen. Nebenbei verfolgte sie das geschäftige Treiben unten auf der Straße. Schon auf dem ersten Blick erkannte sie die braven, anständigen Bürger und konnte diese von den schwarzen Seelen unterscheiden. Doch keiner von ihnen schien auch nur ansatzweise für die Suche nach dem Puppenmädchen geeignet zu sein. Sie brauchte ein paar tatkräftige Männer, die es unter Umständen auch mit Daren und seinen Männern aufnehmen konnten. Gutherzige Händler oder Bauern brachten ihr nicht viel.

“S-Samurai-sama, zeigt bitte Gnade!”

Flehend drangen die Worte eines verzweifelten Mannes an Yukis Ohr. Sie brauchte nicht lange, um den Mann zu finden, der von drei Schwertkämpfern um sein Geld gebracht wurde. Der Schneeengel schluckte, denn niemand schien dem Mann, der eindeutig in der Unterzahl war und nur seinen Sohn bei sich hatte, helfen zu wollen.

“Zwerg, was soll dieser fiese Blick?”

Verächtlich sah der Samurai den Jungen an, der die drei Männer voller Zorn ansah.

‘Ich muss kein sehender Engel sein, um zu wissen, dass es gleich sehr schmerzhaft für den Kleinen wird’, dachte sich Yuki und erhob sich von ihrem Platz.

Langsam schlich sie über die Dächer näher zu dem Ort des Geschehens. In allergrößter Not würde sie eingreifen, selbst wenn sie sich dann als Engel offenbaren musste.

“Gebt uns das Geld zurück, ihr Diebe!”

Yuki seufzte. Alles lief nun so, wie sie es kommen sehen hatte. Der Kleine wurde frech, einer der großen starken “Samurai” erhob schlagbereit die Faust und…

Der Atem des Schneeengels stockte, denn es hatte doch noch jemand den Mut gefunden, in das Geschehen einzugreifen.

Von ihrem Standpunkt aus konnte Yuki das Schwert an der Hüfte des blauhaarigen Jungen erkennen.

Vielleicht hatte sie mit ihm den Schwertkämpfer gefunden, den sie bei ihrer Suche brauchte.

“Ihr nennt euch selbst ‘Krieger’, obwohl ihr die Hand gegen ein Kind erhebt und klaut?”

Yukis Augen leuchteten. Genau so jemanden hatte sie gesucht. Einen Krieger, der auch mit Worten seinen Standpunkt klar machen konnte und nicht gleich zum Schwert griff.

Es wurde spannend, denn bei den Samurai wirkten einfache Worte nicht. Im Gegenteil. Kampfbereit zog der Dünnere von den drein sein Schwert und forderte den Jungen auf, es ihm gleich zu tun. Genauestens beobachtete der weiße Engel den Jungen, der nicht einmal die Hand an den Griff seines Katanas legte.

“Was ist los? Ist das Schwert an deiner Hüfte nur zur Zierde? Zieh es endlich!”

Yuki war verwundert, als der Schwertträger sein Waffe nicht zog und stattdessen ängstlich zurückwich und stolpernd zu Boden fiel.

‘Also doch nur wieder jemand, der sein Schwert spazieren führt’, grummelte sie innerlich und beobachteten den vor Angst gelähmten Jungen.

‘Oder besser, jemand der von seinem Schwert Gassi geführt wird.’

Erneut machte Yuki sich geistig dazu bereit, einzugreifen, denn der Junge war nicht einmal dazu bereit, sein Katana zu ziehen.
 

Es passierte alles so schnell, so dass Yuki nicht genau sagen konnte, woher der junge Samurai mit den langen braunen Haaren kam. Allerdings war sie beeindruckt, wie schnell er sich in den Weg gestellt und den Angriff abgeblockt hatte.

Yuki staunte nicht schlecht, denn der Samurai wirkte so jung. Sie schätzte ihn auf höchstens 17 Jahre.

Und wie Yuki waren auch die drei Krieger überrascht von dem plötzlichen Erscheinen des Jungen und seiner zwei muskulösen Kumpels.

Doch auch diese drei kampffähigen Männer schienen die Samurai nicht von ihrem hohen Ross runter zu bringen. So provozierten sie die neu hinzugekommenen und stürzten sich, nach einer kleinen Diskussion, auf diese.

Von ihrem Platz aus konnte Yuki den einseitigen Kampf beobachten, aus dem der junge Samurai und seine Freunde als Sieger hervorgingen.

Nun war sich Yuki sicher, diese Jungs sollten ihr bei der Suche nach dem Puppenmädchen helfen. Sofort lief sie wieder zu dem Dach des Gasthofes und sprang auf die Rückseite in ihr Zimmer. Sie hatte es wirklich eilig, denn sie musste sofort mit den Jungs sprechen.

Schnell warf sie dem Gasthofbesitzer das Geld für ihr Zimmer auf den Tresen und stürzte nach draußen in die Freiheit, doch die Samurai waren weg.

Da sie zu früh in ihr Zimmer gestürzt war, hatte sie nicht bemerkt, wie die drei Kämpfer das Feld wegen der Bewohner geräumt hatten. Nichts erinnerte mehr an ihre Anwesenheit und Yuki war wieder bei Null angekommen. Nun musste sie sogar ihre potentiellen Helfer suchen.
 

Lhikan sah staunend zu der Puppe, die gewissenhaft die Bestände auffüllte und mit den Kunden sprach, die Fragen hatten. Schon seit Monaten war sein Geschäft nicht so gut besucht gewesen wie heute. Er fragte sich, ob es vielleicht an Erenya lag, die freundlich zu den Kunden war und auch fleißig ihrer Arbeit nachging. Doch es hatte auch einen Nachteil, denn einige Rônin, die eher zu seinen ungeliebten Klienten gehörten, setzten den einen oder anderen Fuß in seinen Laden.

Vielleicht war das Mädchen Fluch und Segen zugleich. Aber vor allem war sie eine Freundin, die er beschützen musste, weswegen er sie hin und wieder wegen Belanglosigkeiten ins Lager schickte. Sie sollte nicht unbedingt einen falschen Eindruck von Kyoto bekommen. Und auch jetzt war es wieder an ihm, sie von den hauptsächlich männlichen Kunden wegzulocken, weswegen er auf die Puppe zuging und ihr sanft eine Hand auf die Schulter legte.

“Liebes, schau bitte noch einmal im Lager nach. Haben wir genug Sake?”

Der Händler lächelte das Mädchen an, das langsam ihren Kopf zu ihm drehte und ihn aus kalten, leblosen Augen heraus ansah.

“Nimm die Hand… da weg…”, zischte sie bedrohlich kalt, was den Händler zurückschrecken ließ.

Mizu hatte ihm bereits davon erzählt, doch er hatte es nicht glauben wollen. Nun wo er merkte, dass seine Freundin nicht übertrieben hatte, überlegte er, wie man dem Mädchen beibringen konnte, ihnen zu vertrauen. Es war schwierig, so etwas herauszubekommen, wenn man gar nichts von der Person wusste.

“Ist okay, ich gehe schnell nachsehen.”

Schnell war das Mädchen wieder normal geworden. Die Entfernung, selbst wenn sie gering war, schien ihr zu reichen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen lief sie hinter zum Lager, zu dem kein Kunde Zutritt hatte.

“Entschuldigung, ich brauche noch einmal Sake!”

Lhikan zuckte leicht zusammen, als er die Stimme eines Kunden hörte, den er heute eigentlich schon einmal bedient hatte. Wahrscheinlich hatte er einfach zu wenig gekauft. Im Grunde ging es ihn auch nicht an, was ein Kunde kaufte und wie viel davon. Freundlich lächelte er den Jungen an und nickte. Es war Zeit, wieder zu arbeiten.
 

Fast schon verzweifelt lief Yuki durch die Straßen. Sie hatte die Jungs aus den Augen verloren und niemand konnte oder wollte ihr sagen, wer sie waren. So langsam nervte es den Engel.

‘Ich bin scheinbar Experte darin, jemanden aus den Augen zu verlieren. Ganz super, Yuki.’

Sie war deprimiert, denn wenn sie ehrlich war, war sie ohne ein Schwert auch ziemlich aufgeschmissen. Im Notfall konnte sie sich zwar gegen schurkische Samurai wehren, aber nur, wenn sie sich dann auch als Engel offenbarte. Die Folgen so einer Offenbarung wollte sie sich nicht einmal ausmalen. Sie musste also unbedingt die Jungs finden, damit die ihr halfen, das Puppenmädchen ausfindig zu machen. Erst dann hatte sie auch die Chance, ihr Schwert wiederzubekommen. Sie vermisste es, denn sie hatte es mit eigenen Händen geschmiedet, und besaß es, so gesehen, schon seit sie eine kleine Putte war.

“Danke! Bis bald!”

In Gedanken versunken bemerkte Yuki nicht, wie ein junger Mann aus einem der Läden kam. Es war unausweichlich, dass sie mit ihm zusammenstieß und ihr Gleichgewicht verlor. Nur mit Mühe gelang es ihr, sich vor einem Sturz zu bewahren, indem sie ihre Finger in eine Lücke im Holz krallte und sich festhielt.

“Verdammt… Heute ist nicht mein Tag!”, fluchte das Mädchen und holte tief Luft.

Sie hatte sich wirklich erschrocken, denn wer rechnete schon in einer Geschäftsmeile damit, dass Personen aus Läden kamen.

“Nicht nur deiner. Zum Glück ist dem Sake nichts passiert.”

Yukis Augen weiteten sich, als sie die Stimme hörte. Sollte sie wirklich doch noch etwas Glück haben?
 

Murrend bemerkten die Samurai im Lokal, dass die weiblichen Besucher und auch die Bedienung förmlich an den Lippen eines rothaarigen Schönlings hingen. Sofort nachdem dieser das Lokal betreten hatte, konnten sie keinen Service mehr erwarten.

Mit einem charmanten Lächeln und einem verführerischen Blick durch seine eisblauen Augen, hatte er die Herzen der Bedienung im Sturm erobert. Sie waren so hin und weg, dass sie nicht einmal bemerkten, dass er sie nur aushorchte, weil er nach einem Mädchen suchte.

“Sicher ist ihm die Kleine fortgelaufen, weil er nur Augen für andere Frauen hat”, brummte einer der Männer seinem Kollegen zu, der lauthals loslachte.

Es war klar, wofür sie den Typen hielten. Und dieser schien auch keinen anderen Eindruck von sich erwecken zu wollen.

“Vielleicht ist es auch nicht seine Kleine. Das Mädchen, das er beschreibt, erinnert mich an die Kleine, von der ich schon gehört habe. Sie soll im Laden des Händlers arbeiten. Ein Freund von mir hat sie gesehen und meinte, durch sie habe er in das Gesicht eines Engels geblickt. Wenn ihr mich fragt, übertreibt er, denn so hübsch ist keine Frau.”

Erneut lachten die Männer am Tisch, als der Dickere von den Erfahrungen seines Freundes erzählte. Doch seine Freunde waren nicht die Einzigen, die ihm lauschten. Auch der Casanova hörte genau zu und entschied für sich, dass es sich hier um seine Beute handeln musste.

Mit einem Lächeln entschuldigte sich der Mann von den Damen, stand von seinem Platz auf und ging zu den Männern.

“Wo soll dieser Händler denn sein?”, fragte er freundlich, sah die Männer aber bedrohlich mit seinen eisigen Augen an.

Missmutig stellten die Männer fest, dass er alles mit angehört hatte. Und eigentlich hatten sie auch keine Lust, diesem Schnösel solche Informationen zu geben.

“Wie hast du vor, diese Information zu bezahlen?”

Obwohl es eindeutig war, dass sie ihm es nicht sagen würden, stellten die Männer eine klare Forderung. Geld gegen Informationen. Doch selbst wenn der Fremde ihnen das Geld in den Rachen warf, wollten sie nichts sagen. Sie wollten ihn veralbern, denn sie nahmen den Mann mit den eisigen Augen nicht ernst. Und das zeigten sie ihm sehr genau.

“Nun, meine Herren. Ich kann ja ihr erbärmliches Leben verschonen, wenn sie die Güte haben, mir zu helfen.”

Entsetzt, fast schon empört, weiteten die Männer die Augen. Sie trauten diesem Schönling nicht zu, dass er ein Schwert führen konnte, zumal er nicht einmal eines bei sich trug.

Sie hingegen waren gut ausgebildete Krieger. Sich also von so einer halben Portion bedrohen zu lassen, grenzte schon an Beleidigung.

“Was hast du Knirps gesagt?”

Der Casanova hatte es geschafft. Seine Worte hatten die Männer soweit provoziert, dass diese angriffslustig zu ihren Waffen griffen und sich auf den Mann mit den eisigen Augen stürzen wollten.

Seufzend sah der Schönling die Männer an, die mit ihrer Aggressivität die Frauen erschreckten.

“Die Männer hier haben wirklich keine Manieren”, flüsterte er und drehte sich zu den Damen um.

“Ich kläre das nur schnell, meine Damen. Bitte warten sie so lange auf mich.”

Charmant, wie schon vor dieser Eskalation, verbeugte sich der Casanova und nahm den Frauen, nur mit seiner Art, die Angst.

“Folgen sie mir bitte, meine Herren. Draußen lässt sich besser regeln, was es zu regeln gibt.”

Das charmante Lächeln war aus dem Gesicht des Schönlings verschwunden, als er das Lokal verließ und in eine kleine, dunkle Seitengasse ging.

Unauffällig folgten die Männer ihrem Opfer. Doch im Gegensatz zu dem Schönling wurden sie nie wieder lebendig gesehen.
 

Lhikan seufzte. Vor ihm stand ein Korb voll Lebensmittel, und dieser sollte zum Tempel von Yagi-sensei. Doch er konnte den Laden nicht verlassen, denn es war noch lange nicht Feierabend. Die Lebensmittel mussten aber vor dem Abendessen an ihrem Bestimmungsort ankommen. Er hatte keine andere Wahl gehabt, als Erenya um die Auslieferung zu bitten. Ihr alleine den Laden zu überlassen war das schlimmere Übel.

Für den Weg hatte Lhikan ihr deswegen wichtige “Befehle” gegeben.

“Also, Erenya, hast du alles verstanden?”

Lächelnd nickte das Mädchen und griff zu dem Korb.

“Sprich nicht mit Fremden! Geh mit niemandem mit! Geh auf direktem Weg zum Tempel und wieder zurück! Hast du das wirklich verstanden?”

Erneut lächelte die Puppe den übervorsichtigen Händler an und nickte. Er wusste nicht, ob sie wirklich verstanden hatte, was er ihr gesagt hatte. Im Grunde konnte er nur abwarten und hoffen.

Zweifelnd sah er dem Mädchen nach, das seinen Laden mit dem Lebensmittelkorb verließ.

“Ich hoffe sie hat es wirklich verstanden”, flüstert er und wandte sich, bei ihr mit seinen Gedanken, der Arbeit zu.
 

Wie versprochen war Erenya auf dem direkten Weg zum Tempel gegangen. Obwohl der Korb schwer war, hatte sie sich geweigert, ihn abzustellen und eine Pause zu machen. Selbst die Männer, die sie angesprochen hatten, hatte sie einfach ignoriert.

‘Lhikan wird sicher stolz auf mich sein’, dachte sich das Mädchen und ging zum Eingang.

Wenn sie in die Küche wollte, musste sie durch den Garten. Wie sie dahin kam, wusste sie genau. Sie liebte den Garten, auch wenn der Baum scheinbar nicht mehr lebte. Vielleicht half ihre Gesellschaft, so wie Mizu und die Gesellschaft des Samurai ihr geholfen hatte.

Sie versank in Gedanken, denn irgendwie musste sie dem Krieger doch danken. Es musste angemessen sein, seiner würdig. Nur wusste sie nicht, was das sein könnte oder wie teuer es vielleicht war.

Unsanft wurde Erenya aus ihren Gedanken gerissen, als jemand sie am Arm packte und wegstieß. Es ging alles so schnell, so dass sie nur wahrnahm, wie etwas Festes auf Metall prallte.

Fragend sah die Puppe zu dem Mann mit weißem Schal auf. Kerzengerade stand er schützend vor ihr, die Hand auf dem Griff seines Katanas gelegt. Sein Blick war starr in eine Richtung gerichtet. Irgendwas hatte gescheppert, soviel stand für das Mädchen fest. Vielleicht hatte jemand aus Versehen einen Stein nach ihr geworfen.

Suchend sah Erenya auf den Boden und erblickte schließlich ein schwarz lackiertes Stäbchen, nach dem sie vorsichtig ihre Hand ausstreckte.

“Fass das nicht an.”

Als sie die Stimme des Mannes mit den lilafarbenen Haaren hörte, zuckte sie zurück. War mit diesem Stäbchen etwas nicht in Ordnung?

Noch ein paar Sekunden verweilte der Samurai schützend vor Erenya, bis er entschied, dass die Gefahr vorüber war. Dennoch ließ er seine Vorsicht nicht vollkommen fallen und bückte sich zu dem Mädchen so herunter, dass er das Sichtfeld auf sie versperrte.

Doch ihr gegenüber zeigte er nichts von dieser Vorsicht. Er tat nur so, als würde er ihr mit dem Lebensmittelkorb helfen.

“Du solltest vorsichtiger sein. Dieses vergiftete Stäbchen war gezielt für dich bestimmt.”, erklärte er leise und mit gesenkter Stimme.

Die Puppe war verwundert und verstand nicht ganz, warum jemand vergiftetes Essbesteck nach ihr werfen sollte. Doch wenn man sie angegriffen hatte, musste sie dem Krieger wohl dankbar sein.

“Danke…”

Sie stockte, denn sie wusste seinen Namen nicht. Und Mizu hatte ihr erklärt, dass zu einem anständigen Dank auch der Name gehörte.

“Saito… Hajime.”
 

Fluchend hatte sich Akazumi aus dem Tempel zurückgezogen. So eine Gelegenheit wie eben gerade bekam sie sicher nicht noch einmal. Sie war froh gewesen, dass sie das Mädchen, das Daren ihr beschrieben hatte, gefunden hatte. Davon, dass sie ein paar Samurai als Bodyguards hatte, hatte Daren nichts gesagt.

Akazumi wusste nicht, was sie mehr ärgerte. Die Tatsache, dass das Mädchen einen Beschützer hatte, oder die Tatsache, dass dieser verdammt gut aussah.

Wütend riss sich das Ninjamädchen ihre schwarze Maske vom Kopf und enthüllte ihr langes, braungelocktes Haar. Ihre grünen Augen fixierten einen willkürlichen Punkt am Boden, während sie sich das Aussehen des hübschen Kämpfers in Erinnerung rief. In Ihrer Erinnerung wehte sein seidig wirkendes Haar im leichten Wind. Jede einzelne Haarsträhne wurde von hellrosafarbenen Kirschblütenblättern umspielt und hob das elegante Bild des Schalträgers nur noch mehr hervor.

Es war ihr absoluter Traumprinz. Sie konnte doch nicht gegen den Traum ihrer schlaflosen Nächte kämpfen. Wie sollte sie ihren Auftrag und ihr noch nicht vorhandenes Liebesleben nur unter einen Hut bekommen?

“Diese Welt ist so grausam! Warum nur? Was habe ich unschuldige Auftragskillerin getan, dass ich nun dazu verdammt bin, gegen meinen Freund zu kämpfen?!”

Sie verabscheute ihr Schicksal, doch sie konnte nur hoffen, dass Saito sie mal bemerkte und mit ihr Händchen hielt. Dass sie einen Auftrag hatte, war vorerst unwichtig.
 

So wie Lhikan es gewollt hatte, lief Erenya an der linken Seite von Harada in Richtung Lhikans Laden. Wahrscheinlich hatte sich der Händler das ganz anders vorgestellt, aber nachdem Saito dem Speerkämpfer erklärt hatte, was im Garten passiert war, wollte dieser sie nicht mehr alleine lassen. Egal was die Puppe auch sagte, er wollte sie sicher zum Laden bringen.

“Ich weiß, dass es dir unangenehm ist und es tut mir auch leid, aber wenn du in Gefahr bist, muss dich jemand beschützen.”

Erenya schwieg. Es mochte ja sein, dass das, was der Krieger sagte, richtig war, aber warum sollte man sie angreifen? Sie kannte hier niemanden und konnte doch noch niemanden verärgert haben.

“Wie… Wie heißt du eigentlich?”

Verlegen sah Erenya zu Boden und lief neben Harada her. Sie wollte sich bei ihm bedanken, doch dazu brauchte sie seinen Namen.

Und es verwunderte den Krieger, denn wirklich viel Persönliches hatte das Mädchen noch nicht von ihm wissen wollen. Doch es freute ihn auch, denn durch den Namen kamen sie sich ein kleines Stückchen näher.

“Harada Sanosuke. Und wie ist deiner?”

Immer noch verlegen sah Erenya zu Boden. Lautlos formte sie seinen Namen mit ihren Lippen und prägte ihn sich ein. Irgendwann würde sie ihn sicher brauchen.

“Attarath Erenya.”

Ihre Stimme war nur ein leises Flüstern, als sie Harada ihren Namen nannte, doch er verstand ihn auch so ganz gut und musste schmunzeln.

“Eri-chan also”, hauchte er und lächelte das Mädchen an, das vollkommen steif neben ihm herlief.

War ihr seine Anwesenheit vielleicht unangenehm? Mochte sie ihn nicht? Oder vertraute sie ihm und seinen Fähigkeiten vielleicht nicht?

“Sag, Eri-chan, warum bist du so steif? Habe ich was falsch gemacht?”

Erschrocken und ertappt fuhr die Puppe zusammen und blieb stehen. Sie selbst hatte nicht bemerkt, wie versteift sie in seiner Gegenwart war. So war sie doch auch nicht die Tage zuvor gewesen.

“Du hast nichts falsch gemacht, Harada-kun. Es sind nur die ganzen Umstände hier. Dieses… ungewohnte Leben.”

Langsam lief sie wieder los und holte den Abstand auf, den sie zu Harada hatte.

“Ist es hier so anders als Zuhause bei dir?”, fragte der Krieger.

Jetzt wo sie scheinbar bereit war zu reden, wollte er doch mehr von ihr erfahren.

“Sehr viel anders. Bei mir scheint immer die Sonne. Morgens weht der kühle Wind durch meine Vorhänge und trägt die Lieder der Vögel zu mir. Wenn ich dann aufstehe, begrüßt mich die Sonne und hüllt mich in ihre stärkende Wärme. Von meinem Fenster aus kann ich in meinen Garten sehen, in dem viele bunte Blumen das ganze Jahr über blühen. Und in der Mitte des Gartens steht der Kirschbaum, den einst mein Vater mit meiner Mutter gepflanzt hat. Ich liebe diesen Baum, sein schützender Stamm ist so warm und die Rinde so weich. Manchmal, wenn ich mir die Blumen zu lange angeguckt habe, schlafe ich dort ein.”

Harada konnte den verträumten Blick in Erenyas Augen sehen. Was sie beschrieb, klang wie das Paradies, und so ein Paradies gab es hier auf Erden nicht. Der Krieger war sich sicher, dass an Erenyas Beschreibung etwas nicht stimmte, doch sie schien so glücklich über diese utopische Welt zu sein, weswegen er ihre Worte nicht Lügen strafen wollte.

“Dieser Ort klingt viel zu perfekt, um wahr zu sein”, antwortete er stattdessen mit einem Lächeln.

Ohne Hemmungen sah ihn das Mädchen an. Sie war locker geworden, nicht mehr so steif, und sie lächelte ihn auf die unschuldigste Weise an.

“Irgendwann zeige ich dir mein Zuhause.”, erklärte sie mit den unschuldigen Worten eines naiven Kindes.

Es tat Harada weh, denn er wusste, dass er diese Welt niemals sehen würde. Und Erenya selbst würde sie wohl nur in ihren Träumen sehen können. Niemand konnte in einer Welt, wie sie beschrieb, leben. So eine Welt war nur eine Lüge, eine Illusion, doch traute er sich nicht, ihr das zu sagen.
 

“Endlich habe ich dich gefunden!”

Mit einem Lächeln lief ein rothaariger Mann mit eisblauen Augen auf Erenya und Harada zu.

Fragend sah der Krieger zu dem Mädchen, das ihn mit demselben fragenden Gesichtsausdruck ansah. Für ihn war also offensichtlich, dass Erenya den jungen Mann nicht kannte.

Schützend stellte er sich etwas vor Erenya und sah den Mann an.

“Wen hast du gesucht?”

Das Misstrauen war in Harada erwacht, denn weder er noch Erenya kannten den Schönling. Und doch sprach er einen vor beiden so vertrauensvoll an.

“Das Mädchen natürlich. Männer liegen nicht so in meinem Interessenbereich.”

Charmant lächelte der Mann zu Erenya, die sich schutzsuchend mehr hinter Harada schob.

Der Krieger wusste auch, wieso das Mädchen dies tat. Etwas an diesem Mann war nicht koscher. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm.

“Was willst du von ihr? Und woher kennst du sie?”

Harada kannte den Mann nicht. Er wusste auch nicht, wozu dieser fähig war, und was er von Erenya wollte.

“Mir wurde aufgetragen, sie zu finden und zurück in ihre Heimat zu bringen. Ich kenne sie so gesehen also gar nicht. Aber das ist auch nicht wichtig, denn es ändert nichts daran, dass ich sie besser kenne als du. Das Mädchen, dass du zu kennen glaubst, ist nichts weiter als eine schöne Fassade.”

Die Worte des Fremden waren absurd, auch wenn er Recht damit hatte, dass Harada das Mädchen nicht kannte.

Doch er musste sie auch nicht kennen, um sie beschützen zu wollen.

“Wer bist du?”

Ernst ruhten Haradas goldbraune Augen auf dem Schönling, der selbstsicher vor sich hingrinste. Obwohl Erenya sicher hinter ihm stand, schienen seine eisblauen Augen Haradas Körper zu durchdringen und sie zu fixieren.

“Kleines Engelchen… Versteck dich nicht vor mir. Ich bin ein Freund und will dich nur nach Hause bringen. Lass von diesem barbarischen Volk ab und komm mit mir.”

Langsam setzte sich der Mann in Bewegung und näherte sich Harada, der der Puppe immer noch als Schild diente.

Bereit, das Mädchen zu beschützen, legte Harada seine Hand auf den Griff seines Katanas. Wenn er gewalttätig werden würde, so würde auch Harada in der Sprache antworten, die er am besten beherrschte. Selbst auf die Gefahr hin, dass Erenya danach nie wieder mit ihm reden würde. Solange er sie in diesem Augenblick beschützen konnte, war es ihm gleich, was die Konsequenzen waren.

“Du willst dich wirklich hinter diesem Wurm verstecken? Vertraust du ihm so sehr? Würdest du ihn wirklich sterben lassen?”

Ein kaltes Lächeln zierte das Gesicht des Mannes, der nun doch auf halben Weg stehen blieb. Harada verstand nicht ganz, was dieser bezweckte, doch schienen seine Worte bei dem naiven Mädchen zu fruchten.

Langsam trat sie aus Haradas Schatten hervor und näherte sich in kleinen Schritten dem Schönling, der sich schon seines Sieges sicher war.

“Braves Engelchen.”
 

Haradas Augen weiteten sich, als Erenya mit jedem Schritt näher auf ihren sicheren Untergang zulief. Der Samurai wusste nicht, wie viel von dem, was der Junge sagte, wirklich wahr war. Er wusste es wirklich nicht, denn er kannte Erenya nicht. Doch er sah, wie traurig ihre Augen schimmerten, als sie sich dem Schönling näherte. Es war eindeutig, dass sie das nicht wollte. Und das war alles, was er wissen musste, selbst wenn das Mädchen ihm nicht vertraute.

Blitzschnell reagierte der Samurai und lief auf das Mädchen zu. Er würde sie nicht gehen lassen, nicht mit diesem Typen.
 

Erenya zuckte zusammen, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Fragend sah sie neben sich, wo Harada stand und ernst zu dem Schönling sah.

“Vertrau mir, nur dieses eine Mal”, flüsterte er ihr zu, ohne seinen Blick von dem Jungen abzuwenden.

Stattdessen nahm er seine Hand von Erenyas Schulter und überließ ihr diese Entscheidung.

Staunend sah sie in das ernste, kämpferische Gesicht des Kriegers. Obwohl sie den Worten des Fremden glaubte, vertraute sie Harada auf eine seltsame Weise. Sie traute ihm zu, dass er sie wirklich beschützen konnte.

Als Zeichen dafür, wie sie sich entschieden hatte, hob sie ihre Arme und klammerte sich schutzsuchend an den Größeren, neben ihr fest.

“Du traust diesem jämmerlichen Wurm wirklich zuviel zu, Engelchen. Es tut mir leid, dass du auf diese Weise erfahren musst, wie grausam die Regeln dieser Welt sind.”

Ungeachtet dessen, wo sie sich befanden, öffnete der Mann den Stoffgürtel seines Yukatas und warf sich diesen vom Körper.

Er hatte seine menschliche Robe abgelegt und stand in einer Rüstung vor ihnen, die überwiegend aus schwarzen Federn bestand. Es war nur zu deutlich, dass dieser Kerl nicht von hier kam.

“Wer bist du?”

Harada hatte noch nie so eine Rüstung gesehen und konnte damit auch nicht einschätzen, wie gut sein Gegenüber kampftechnisch war. Er musste hoffen, dass er nicht so gut war, dass er ohne seinen Speer alt aussah.

“Bring dich in Sicherheit, Eri-chan. Ich regele das.”

Da das Puppenmädchen ihm ihr Vertrauen schenkte, wollte er sie nicht enttäuschen und ließ sich seine eigene Unsicherheit nicht anmerken.

Das Mädchen nickte, löste sich von seinem Arm und rannte in eine Seitengasse, von der aus sie das Aufeinandertreffen der beiden Kämpfer beobachten konnte.
 

Verborgen vor den Blicken aller lag unter der Federrüstung das Schwert des Schönlings. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, es erneut ziehen zu müssen, aber der Krieger vor ihm forderte ihn heraus. Er hatte keine andere Wahl.

Zielsicher griff er unter das Federkleid und zog geräuschvoll das Katana aus seiner hölzernen Schwertscheide.

“Mach dich bereit, hier zu sterben, menschlicher Narr.”

Im Gegensatz zu den Augenblicken zuvor schwand die Freundlichkeit aus der Stimme des Schönlings. Seine eisblauen Augen verloren jeden menschlichen Glanz und die Haltung seines Körpers erinnerte Harada an Erenya, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

‘Sie scheinen doch ein paar Gemeinsamkeiten zu haben. Aber die sind gerade irrelevant. Sie will nicht zu ihm und ich werde nicht zulassen, dass er auch nur einen Finger an sie legt.’

Nichts konnte seinen Entschluss, für das Mädchen zu kämpfen, noch erschüttern. Er war sich zu hundert Prozent sicher was er tun musste.

Mit puppenhafter Eleganz stürzte sich der Schönling auf Harada und ließ gezielt sein Schwert auf dessen Kopf niedersausen. Blitzschnell zog Harada sein eigenes Schwert und blockte den Angriff ab.

Stille machte sich auf der sonst so belebten Straße breit. Nur das Geräusch aufeinander schlagenden Metalls durchschnitt die Stille.

Jedes Mal, wenn Harada einen Schlag von dem Mann abwehrte, wich dieser wieder zurück und holte zu einem neuen Schlag aus.

Seine Bewegungen waren so schnell und flüssig, dass Harada selbst nur dazu kam, seine Angriffe zu blocken. Es gab keine Lücke in seiner Verteidigung, oder bei seinen Angriffen.

“Du wirst sie nicht beschützen können, wenn du nur abblockst.”

Kaum dass der fremde Krieger das gesagt hatte, ließ dieser wieder sein Schwert auf Harada herabsausen.

Kräftiger als zuvor prallte seine Klinge auf die von Harada, der zum ersten Mal das Gefühl hatte, zu unterliegen. Während er wohl über kurz oder lang Probleme haben würde, diese Schläge auszuhalten, schien es dem Schönling nicht schwer zu fallen, mehr und mehr Kraft in seine Schläge zu setzen und den anderen das Leben schwer zu machen.
 

Ängstlich sah Erenya zu Harada, der, so gut es ihm möglich war, versuchte, sich zu wehren. Selbst sie als Laie erkannte, dass Harada unterlegen war und diesen Kampf verlieren würde, wenn nicht ein Wunder geschah.

‘Wenn du nicht die Kraft hast, jemanden zu beschützen, wie willst du dann dein eigenes Leben gestalten?’

Laut und deutlich hörte Erenya die ihr unbekannte Stimme in ihrem Kopf. Sie war weiblich und sanft, doch gleichzeitig klang sie ernst und fordernd.

‘Vertraue auf dich und du wirst anderen wahres Vertrauen schenken können.’

Erenya schluckte, denn die Stimme schien zu wissen, dass sie bereits an ihrer Entscheidung zweifelte. Sie vertraute nicht auf ihre Entscheidung und damit auch nicht auf Harada.

‘Du kannst etwas tun, um ihn zu retten, aber du musst es jetzt tun.’

Diese Stimme, sie klang so selbstsicher und sie schien auch mehr Vertrauen in Erenya zu haben, als sie es selbst anderen entgegenbrachte. Sie musste das lernen und können, wenn sie hier leben wollte.

In ihren Gedanken versinkend, sah das Puppenmädchen weiter zu den Kämpfenden.

Haradas Abwehr wurde schwächer, seine Reaktionsgeschwindigkeit ließ nach und schließlich wurde er von einem Schlag zu Boden geschickt.

“Das war’s, Menschenwurm.”

Erenya zitterte, als sie diese Worte aus dem Mund des Fremden hörte. Harada durfte nicht sterben. Nicht hier, nicht heute, nicht wegen ihr.

Ohne darüber nachzudenken, rannte sie aus ihrem Versteck und stellte sich, gerade als der Schönling sein Schwert erhob und auf Harada runtersausen lassen wollte, zwischen die beiden Männer.
 

Obwohl er den letzten Schlag gegen seinen Gegner tun wollte, hielt er in seiner Bewegung inne. Er konnte nicht glauben was er sah, als er auf das schwarze Haupt des Mädchens blickte. Er musste gestehen, dass er ihr das nicht zugetraut hätte. Schließlich hatte sie sich ihm als Zielscheibe angeboten und opferte sich für diesen menschlichen Wurm. Nur wegen ihr konnte er dem Krieger nicht zeigen, wo sein eigentlicher Platz war.

“Falscher Moment, Engelchen”, seufzte er und ließ sein Schwert sinken.

Unter diesen Umständen hatte alles keinen Sinn mehr. Dem Mädchen durfte nichts passieren, dennoch stand der Krieger im Weg, der nicht zulassen würde, dass sie ging. Und sie stand ihm im Weg, wenn er den Krieger ausschalten wollte. Es war eine verzwickte Lage. Ein Rückzug war so gesehen das taktisch klügste, was er heute noch tun konnte.

“Fein, ihr habt gewonnen!”, erklärte er und schob sein Katana zurück in die Schwertscheide unter seinem Federgewand.

“Hey, Kriegerwurm. Wir klären das ein anderes Mal. Merk dir bis dahin meinen Namen. Mugen Koji.”

Der Mann in der Federrüstung wandte sich von den Beiden ab und verließ die belebte Straße durch eine kleine Seitengasse.
 

Erleichtert ließ Erenya die Schultern hängen. Ihr war klar, in was für eine gefährliche Situation sie sich gebracht hatte, doch es war ihr geglückt. Sie hatte Harada vor dem Tod bewahrt.

Lächelnd drehte sie sich zu dem Kämpfer um, doch er erwiderte nur mit einem bösen Blick. Ihr Lächeln wich. Hatte sie etwas falsch gemacht? Hatte sie ihn in seiner Kämpferehre verletzt? Sie wusste es nicht. Was sie aber wusste, war, dass Harada ihr scheinbar böse war.

“Weißt du, wie gefährlich das war, was du gemacht hast?”, ruhig, aber doch erzürnt stellte Harada ihr diese Frage.

Das Puppenmädchen nickte nur, denn sie wusste wirklich, wie gefährlich ihr Handeln gewesen war.

“Dann scheinst du nicht sehr am Leben zu hängen, wenn du so etwas Unüberlegtes tust! Was hättest du getan, wenn dieser Mugen nicht innegehalten hätte?”

Ein wenig unsanft packte Harada, nachdem er aufgestanden war, das Mädchen am Handgelenk und sah ihr in die amethystfarbenen Augen. Er wollte sehen, was sie empfand. Was sie vielleicht dachte. Doch alles, was er in ihren Augen sah, war Traurigkeit.

Widerwillig ließ er sie los und sah weg. Diesen traurigen Anblick konnte er einfach nicht ertragen, nicht von dieser Frau, die ihm gerade das Leben gerettet hatte. Er konnte ihr so nicht mehr in die Augen sehen.

“Lass uns gehen. Du musst zurück zu deiner Arbeit.”
 

Schweigend liefen Erenya und Harada nebeneinander her. Keiner von ihnen traute sich, auch nur ein Wort zu sagen. Harada wollte sie nicht noch mehr verletzen, als er es wohl so schon getan hatte, und Erenya traute sich nicht, ihm überhaupt etwas zu sagen. Sie schwiegen den ganzen restlichen Weg lang, bis sie schließlich vor Lhikans Laden standen.

“Da sind wir.”

Es war das erste Mal, seit dem Vorfall, dass Erenya wieder Haradas Stimme hörte. Sie hörte aber nicht heraus, ob er noch wütend auf sie war, denn seine Stimme war neutral.

“Danke…”, flüsterte sie leise und lief zum Eingang.

Sie traute es sich nicht einmal, Harada anzusehen. Ihr war es unangenehm.

“Vielleicht… sehen wir uns ja wieder… im Tempel”

Erenya blieb stehen, als sie die Worte von Harada hörte. Er wollte sie also wieder sehen. Hieß das, dass er ihr nicht so sauer war, wie sie dachte?

“Und… Danke, weil du mein Leben gerettet hast.”

Das Herz des Puppenmädchens machte einen Hüpfer. Er hatte ihr nicht nur verziehen, nein er war ihr auch dankbar.

Mit einem Lächeln drehte sich Erenya zu ihrem Helden um und näherte sich ihm. Sie war gerade glücklich.

“Ich danke dir auch, dass du mir geholfen hast. Du bist mein persönlicher Held.”

Ein verwegenes Lächeln zierte Haradas Gesicht. Das Mädchen hatte Recht, doch mit dieser Tat würde er sich nicht schmücken. Als ehrenvoller Kämpfer war es einfach seine Pflicht gewesen.

“Dann sind wir quitt”, erklärte er schließlich lächelnd.

Dennoch verwunderte es ihn, dass Erenya ihm weiterhin näher kam und nicht einfach in den Laden ging, wo sie doch gerade ihre Verabschiedung zelebriert hatten. Erst vor ihm blieb sie stehen und sah ihm in seine goldbraunen Augen.

Vorsichtig stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und näherte sich seinem Gesicht. Sanft drückte sie ihre weichen, schmalen Lippen auf seine Wange und liebkoste sie, so dass dem Kämpfer die Röte in die Wangen schoss.

“Jetzt sind wir quitt”, hauchte das Mädchen ihm noch zu, ehe sie sich von ihm abwand und in den Laden ging.
 

Yuki war froh, als sie endlich vor dem Quartier der Roshigumi stand. Sie hatte es dank der Beschreibung des Jungen, der auf den Namen Ibuki Ryunosuke hörte, gefunden. Er hatte ihr auch gleich gesagt, mit wem sie sprechen sollte, wenn sie etwas Wichtiges zu klären hatte. Nun musste sie nur noch diesen Kondou und Hijikata finden.

“Entschuldigung, kann ich ihnen helfen?”

Freudig drehte sich Yuki zu dem Mann um, der sie angesprochen hatte. Er schien in seinen besten Jahren zu sein, war wahrscheinlich über 40, und seine warmen Augen verrieten ihr, dass sie wohl gleich an den richtigen Mann geraten war.

“Guten Tag! Ich wollte zu einem Kondou-san und Hijikata-san.”

Yuki hatte genug Zeit verschwendet, weswegen sie sofort auf den Punkt kam, was den älteren, braunhaarigen Mann sehr verwunderte.

“Was möchte eine so junge, liebreizende Dame wie sie von so einem kämpferischen Verein wie der Roshigumi?”

Noch hatte sich der Name der Roshigumi nicht in Kyoto herumgesprochen. Niemand kannte sie, und doch stand dieses Mädchen vor ihm und verlangte ihn und seine rechte Hand Hijikata.

“Weil es wirklich wichtig ist. Ich suche etwas hier in Kyoto, und ich bin auch nicht die Einzige, die es sucht.”

Die Worte des Mädchens weckten die Neugier in dem älteren Mann. Ihn interessierte nun, was dieses Mädchen, und scheinbar auch andere Leute, in Kyoto suchten. Vielleicht war genau dies die Gelegenheit, um sich zu beweisen und einen Namen zu machen.

“Es ist etwas, das in den falschen Händen zu einer gefährlichen Waffe werden kann.”

Der ernste Blick, den das Mädchen hatte, zeigte dem gediegenen Roshigumi-Oberhaupt, dass diese Geschichte vielleicht auch seine rechte Hand interessieren dürfte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-08-13T17:36:28+00:00 13.08.2012 19:36
>>Dass sie einen Auftrag hatte, war vorerst unwichtig<<

Sehr zuverlässige Auftragskillerin.

Und Koji hat eigentlich auch Mist gemacht. Der hätte doch dann noch locker Eri mitnehmen können nachdem der Typ schon am Boden lag. Aber OK, sowas kommt sehr oft vor XD



War mal wieder sehr schön zu lesen. Danke.
Von:  Miss-Tony-Prime
2012-08-10T13:24:15+00:00 10.08.2012 15:24
akazumi klaupt schon das sie mit saito... das er ihr freund ist XD, weiber! XD
aber endlich kommt sie harada näher, *freu* ich liebe diese momente >///<


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