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Herbstmädchen

Drachentänzerin
von

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Drachenheiligtum

Sie wurde wach, traute sich aber nicht die Augen zu öffnen. Mit fest zusammengepressten Lidern lag sie auf dem kühlen Marmorstein und atmete ruhig weiter, tat so, als würde sie noch ohnmächtig sein. Innerlich horchte sie aber auf jeden Laut in ihrer näheren Umgebung. Wo? Wann? Wie? Was? Wer? Das galt es jetzt zu beantworten.

Ein Kichern in ihrer Nähe lenkte ihre Aufmerksamkeit nach rechts. Eine Gruppe junger Mädchen, den Stimmen nach zu urteilen. Sie flüsterten leise, wahrscheinlich in einem Kreis sitzend und mit zusammengesteckten Köpfen. Fuxya konzentrierte sich auf die einzelnen Stimmen und hörte bald Unterschiede heraus.

„Sie ist schöner als wir“, meinte eine kindliche, schmollende Stimme.

„Schwarze Haare! Nur Drachen haben andere Haarfarben als Dragoniar“, stimmte eine tiefe, strenge Stimme hinzu, die jedoch nicht im Geringsten missbilligend klang – eher verwundert.

„Sie bringt weniger Gold mit als alle anderen Tänzerinnen“, fügte die erste Stimme an.

„Ein Mädchen kann sich den Reichtum nicht aussuchen, in dem es geboren wird“, antwortete die Zweite. Eine dritte Stimme setzte an. Sie war klar und hell, jedoch sehr leise.

„Was sie ohne Zweifel hübscher macht, als Maara es bei ihrer Hochzeit war.“

Alles klar. Die Frauen redeten über Fuxya und diese Maara, die zuletzt erwähnt worden war, war die als letztes berufene Tänzerin, Maara vir Nardarre. Die berüchtigte Hochzeit dieser Frau hatte Fuxya nicht miterleben dürfen, denn sie fand lange vor ihrer Geburt statt. Ihre Eltern waren jedoch dort gewesen und ihr Vater hatte immer von der überragenden Schönheit der Braut gesprochen – seine Frau war nicht eine Sekunde eifersüchtig über diesen Kommentar gewesen.

„Zu viel Gold. Zu viel Reichtum zerstört die Feinheit der Dragoniar. Menschen mögen sich mit Gold behängen und glücklich sein, erfolgreich sein, bewundert werden, aber nicht einmal eingehüllt in Gold reichen sie an die wahre Schönheit der Dragoniar heran“, kicherte das erste Mädchen.

„Pst, Calla! Das gehört sich nicht. Es waren Dragoniar, die die Menschen so erschufen“, verwarnte die zweite Frau das junge Mädchen, das Calla hieß.

„Oh! Ich bitte dich, Sonli!“, antwortete Calla bloß. Die Frau hieß also Sonli. Die dritte Stimme mischte sich wieder unter die anderen:

„Streitet nicht, Schwestern. Was ist eine Begrüßung, die im Ärger ausgesprochen wurde? Wie soll sich das arme Mädchen bei uns wohlfühlen, wenn ihr es gleich so empfangt?“

„Verzeih, Earsa“, entschuldigte sich Sonli. Calla stieß einen erstickten Aufschrei aus und grummelte dann:

„Ja, Verzeihung.“

Earsa antwortete nicht, aber die beiden Frauen erwarteten wohl auch nichts anderes, denn sie schienen nicht ungehalten über das Ausbleiben einer Erwiderung. Fuxya schwieg immer noch und versuchte, ihr jetzt wieder hastig klopfendes Herz zu beruhigen. Was hatte sie herausgefunden? Die drei Frauen hießen Calla, Sonli und Earsa. Was noch? Sie waren gekommen, um sie zu begrüßen. Und sonst? Sie waren Dragoniar und wussten um die Herkunft der Menschen, sprachen aber auch über die Drachen, als hätten sie sie persönlich gesehen: Also waren sie auch Tänzerinnen! Vielleicht sollte Fuxya die Augen öffnen und ihrem neuen Leben entgegenblicken. Doch dieser Gedanke wurde unterbrochen, als Sonli sich zu Wort meldete:

„Sie haben sie auch mit diesem Trank benebelt, nicht wahr?“

„Ja. Es ekelt mich immer wieder, dass sie denken, dass die Drachen auf dem Altar über die Bräute herfallen“, antwortete Earsa und ein Zittern in ihrer Stimme, verriet eine unterdrückte Wut.

„Schön wär’s! Aber die Priester vergessen immer, dass wir an erster Stelle als Tänzerinnen herkommen und nicht als Bräute. Unter den hunderten Mädchen einem Drachen aufzufallen, ist allein schon ein Wunder …“, seufzte Calla und Sonli schnaubte.

„Ist das alles, woran du denkst?“

„Du hast die Drachen noch nicht oft genug zu Gesicht bekommen, sonst würdest du genauso denken!“, beschwerte sich Calla. Earsa stieß ein kurzes Lachen aus und meinte:

„Bis einer dich aussucht, verbringst du noch hunderte Jahre damit, sie anzuschmachten.“

„Bitte?“, empörte sich Calla und schnappte hörbar nach Luft.

„Du bist etwas zu aufdringlich, Schwester. Mein Mann lacht gerne über die Annäherungsversuche von deiner Seite an einen Drachen“, erläuterte Earsa sachlich. Sie war also verheiratet! Aber gab es hier außer Drachen noch andere Männer? Oder war ihr Mann ein Drache? Verwirrt hielt sich Fuxya gerade noch davon ab, die Stirn zu runzeln.

„Wie ich wünschte, das auch einmal sagen zu können! Was für ein Glück du hast, einen von ihnen ergattert zu haben“, stöhnte Calla frustriert und beantwortete Fuxyas Frage. Earsas Mann war ein Drache! Interesse regte sich in Fuxyas Körper und brachte ihn zum Erbeben: Der Trank war noch nicht ganz abgeklungen. Ganz im Gegenteil, er schien nur ein wenig gedämpfter zu wirken, aber ansonsten an seiner Intensität nichts eingebüßt zu haben.

„Sie wird wach“, lautete Earsas Antwort auf Callas Frust und sofort ertönte das Rascheln der Kleider über Steinboden, als die Frauen nähertraten. Ärgerlich! Jetzt musste Fuxya also ihre Augen öffnen und konnte nicht weiter lauschen! Sie blinzelte und schaute in die Gesichter der Drei.

„Willkommen im Heiligtum der Drachen“, begrüßte Earsas Stimme sie und jetzt erkannte Fuxya auch das Gesicht der Frau. Sie hatte ihre braunen Haare in einem Zopf um ihren Kopf wie einen Kranz geflochten. An einigen Stellen ringelten sich Locken hervor und umrahmten verspielt ihr herzförmiges Gesicht. Ihre Haut war weiß und ihre Ohren so spitz wie die der Dragoniar. Sie war ebenso dünn und leicht muskulös wie die Kriegerinnen, die alle Frauen der Dragoniar waren. Ihre braunen Augen starrten sie aus unergründlichen Tiefen heraus an und ihre gerade Körperhaltung verriet nichts über ihren Gefühlszustand. Sie war dennoch eine unzweifelhaft schöne Frau.

Fuxya setzte sich vorsichtig auf und bekämpfte die Hitze, die in ihr aufstieg, während ein Schwindel ihr Sichtfeld zum Drehen brachte. Sie fasste sich an den Kopf und bemerkte, dass man ihr den Schleier zurückgeschlagen hatte. Ansonsten sah sie genauso aus wie bei ihrer Hochzeit. Es war also kaum Zeit vergangen.

„Geht es?“, fragte die zweite Stimme, die tief und streng klang. Sonli. Fuxya wandte sich zu der Frau um, die hinter Earsa hervorschaute. Sie war größer, stand aber ebenso aufrecht und schaute Fuxya ebenfalls sehr direkt an. Schüchternheit gab es in ihrer Miene nicht: Ihre dunkelblauen Augen strahlten eine Ruhe und ein Selbstbewusstsein aus, das Fuxya selten bei Frauen der Dragoniar erblickt hatte – außer bei Topazza, aber die hatte es ja auch weit gebracht. Wie Earsa hatte Sonli ihre Haare um den Kopf geflochten, sie waren jedoch von einem helleren Braunton.

Fuxya vertraute ihrer Stimme nicht, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt und der Kloß war in ihren Hals zurückgekehrt. Die Frauen sollten nicht sehen, dass ihr ihr Herz fast zum Halse herausschlug und sie Angst hatte. Also nickte sie bloß und bereute die Bewegung sofort. Es war, als würde ihr Gehirn in ihrem Kopf herumschwimmen und der bloße Gedanken daran ekelte Fuxya also hielt sie sich ruhig.

„Die müssen dir echt viel von dem Trank eingeflößt haben, wenn du immer noch davon beeinträchtigt wirst“, kommentierte Calla ihren Zustand. Natürlich war keiner der Frauen entgangen, dass es Fuxya nicht viel besser ging. Wie aschfahl sie wahrscheinlich aussah! Es musste wahrhaftig ein scheußlicher Anblick sein.

„Eine Karaffe“, krächzte sie und hustete ihren Hals frei. Zufrieden bemerkte sie, dass ihre Zunge sich lockerte und sie ihre Stimme zurückhatte, als sie auf die staunenden Gesichter hin erwiderte:

„Wahrscheinlich, um mich besonders lange außer Gefecht zu setzen.“

„Eine Karaffe? Ich habe eine Gläschen bekommen!“, schnalzte Calla, als wäre sie neidisch auf diese große Menge Feuertrank. Fuxya musterte die junge Frau: Sie war zwei Köpfe kleiner als Earsa, also auch kleiner als sie selbst. Ihr blondes Haar war in einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden und reichte ihr bis unter die Schulterblätter. Im Zopf befanden sich mehrere kleine geflochtene Zöpfchen, die sie sehr kriegerisch aussehen ließen. Ihre strahlend blauen Augen schauten voller Begeisterung auf Fuxya – es war, als sähe sie dort kleine Flammen tanzen. Calla war ebenso dünn wie die beiden anderen Frauen, aber ihre Haut strahlte leicht golden und ihre Brüste drückten sich gegen den eng um den Körper geschlungenen blauen Seidenstoff. Sie mussten beachtlich groß sein, ansonsten hätte Fuxya von ihnen wohl so wenig gesehen wie von denen der beiden anderen.

„Mir ist ein bisschen übel“, murmelte Fuxya und konnte mit Hilfe dieser Ausrede einen umfassenden Blick durch den Raum werfen. Fast hätte sie gedacht, sie wäre immer noch im Tempel der Dragoniar, läge nur andersherum, bis sie bemerkte, dass sie in einem spiegelverkehrten Saal war. Sie lag auf dem weißen Marmoraltar und zu ihrer Linken befand sich ein großes Bild. Dieses Mal jedoch nicht von Drachen über dem Tal der Dragoniar sondern von jungen Frauen, die mit wundersamem Schmuck und durchsichtigen Seidenkleidern in allen möglichen Farben durch wunderschöne Landschaften tanzten. Am Himmel waren Drachen, aber das Interessantere waren die unfassbar hübschen Männer, die sich am Boden befanden. Es waren äußerlich Dragoniar, aber sie trugen die gleiche Kleidung wie die Frauen, nur dass bei ihnen der Oberkörper freiblieb, während die Frauen mit Hilfe der goldenen Schnallen auf ihren Schultern ihren Busen eher notdürftig verbargen. Es war ein fantastisches Bild, denn es barg eine Schönheit, die Fuxya sich nie im Leben erträumt hätte: Die Landschaften waren so fruchtbar und protzten mit ihren Farben, als würde in ihnen das Leben entstehen.

„Dein erster Blick auf das Reich der Drachen, Schwester“, sagte Earsa mit feierlicher Miene und die vier Frauen schauten eine Weile auf das Bild, um die Wunder darin aufzunehmen. Als Fuxya sich davon abwandte, konnte sie auch den aus weißem Marmor gebauten Gebetssaal erkennen. Er sah genauso aus wie der auf der anderen Seite: Säulen stützten das Dach und säumten die freie Mitte des Saals. Dort standen keine Tischchen und lagen keine Kissen. Dort gab es nichts als in den Fußboden eingelassene Mosaiken mit wunderschönen Szenen. Sie handelten von Drachenkämpfen, - kriegen und –hochzeiten. Viele zeigten auch die Geburt eines neuen Drachensohnes. Hinter den Säulen, an denen sich wundersamer Weise Efeu emporrankte, der irgendwo und vor allem irgendwie im Fußboden entstanden war, blitzten mannshohe Fenster auf Hüfthöhe hervor. Durch sie entstand ein leises Lüftchen, das Tiergeräusche hereintrug. Man hörte auch das Rauschen der Bäume und Plätschern von Flüssen in der Ferne.

„Hier sieht es anders aus als auf der anderen Seite, nicht wahr?“, hauchte Sonli und die Strenge in ihren Zügen erweichte sich zu einem liebevollen Lächeln. Das stand der Frau deutlich besser und Fuxya nickte überwältigt. Auch hier fiel ein heller Lichtstrahl durch ein rechteckiges Loch im Dach auf den Altar, doch auch aus anderen Rechtecken drang Licht in den Raum und hellte ihn auf, weil sich die Lichter in dem bunten Glas der Mosaiken brach und unzählige Muster an die Wände warf. Atemberaubende Kunstfertigkeit, anders konnte man das nicht nennen.

Fuxyas Blick fiel auf die Öffnung, die das Tor zum Tempel markierte. Dieser stand eindeutig auf einer Berganhöhe, denn sie konnte weit in die Ferne schauen in eben jenes Tal, das auf dem Bild hinter ihr so fantastisch abgebildet worden war. In der Realität sah es noch viel besser aus. Eingerahmt von silbernen Bergen mit weißen Kronen und Nebelschweifen bildete das Tal einen satten grünen Kontrast dazu. Das Grün wurde vom schillernden Türkisblau der Seen und Flüsse durchbrochen, die in ihren Betten sanft plätschernd auf ein weit entferntes Meer zuflossen.

„Es ist ….“, stammelte Fuxya. Sie wusste gar nicht wie sie das ausdrücken sollte, doch die drei Frauen schienen sie durchaus verstanden zu haben, daher brauchte sie ihren Satz nicht zu Ende führen. Man hatte sie bereits verstanden. Noch einmal sagte Earsa:

„Willkommen im Heiligtum der Drachen. Schwester, dies ist dein neues Zuhause!“

Fuxya blinzelte die Tränen weg. Ihr wurde ein atemberaubendes neues Zuhause geboten und das zum gefühlten ersten Mal in ihrem Leben. Langsam tastete sie sich an den Rand des Altars und rutschte daran hinab, bis ihre Füße den kühlen Marmorboden berührten. Noch etwas unsicher vom Feuertrank wankte sie leicht hin und her. Sonli und Calla nahmen sie, ohne zu zögern, an den Arm und gingen mit ihr in der Mitte vorsichtig Richtung Ausgang. Earsa ging voran, schlug jedoch vorher den Schleier zurück, sodass Fuxya ihre ersten Schritte in das erlöschende Tageslicht der untergehenden Sonne und ihrer neuen Heimat mit einem Stoff im Gesicht tat. Das Gewicht der bestickten Stoffe lastete immer noch schwer auf ihr und ihre zittrigen Knie machten es ihr besonders schwer, auch nur einen selbstständigen Schritt zu tätigen, doch ihr Herz war seit Langem das erste Mal wieder voller Freude und Frieden, darum kümmerte das zusätzliche Gewicht sie nicht. Sie fühlte sich federleicht.

„Das Tal der Drachen“, summte Calla neben ihr und sang eine bekannte Melodie. Fuxya mochte sie wohl gelernt haben, als sie wie jedes Dragoniar-Mädchen noch die Tempelschule besucht hatte. Sie erinnerte sich jedoch nur flüchtig an den Liedtext und lauschte jetzt. Calla hatte eine tolle Singstimme – glockenhell und sanft. Fuxyas anfänglich schreckhaft rasendes Herz beruhigte sich zunehmend, während sie durch das Tor des Tempels schritt. Drei Stufen führten hinab auf einen mit Marmorplatten befestigten Weg, der in Schlangenlinien links den Berg hinabführte. Der Abgrund vor ihnen war mit einem Seilgeländer gesichert, doch nichts hätte Fuxya überreden können, hineinzuspringen, so wie sie sich vor einem Tag noch im Drachensee hatte das Leben nehmen wollen. Tränen stiegen wieder in ihr auf, während sie den Blick über das Tal schweifen ließ und ihr kalter Körper sich mit Wärme füllte. Keine der Frauen konnte ihre Tränen sehen, weil der Schleier ihr Gesicht undeutlich erscheinen ließ, doch sie alle bemerkten es. Keine sprach auch nur ein Wort, wofür Fuxya ihnen außerordentlich dankbar war. Sie begleiteten sie still die drei Stufen hinunter. Dort ließen Calla und Sonli Fuxya los, die sich bereits viel sicherer fühlte und tatsächlich nicht mehr wankte.

„Die Wirkung lässt hier schneller nach“, erklärte Sonli, die Fuxyas Unbehagen gespürt hatte. Dann lächelte sie wieder ihr zartes Lächeln und ging die paar Schritte zu Earsa, dicht gefolgt von Calla. Die drei Frauen drehten sich zu Fuxya um und Earsa begann zu reden:

„Das Tal der Drachen. Nur Auserwählte dürfen es betreten – nur Drachen und Tänzerinnen. Drachen sind, wie du sicherlich weißt, Schwester, immer männlich und von überragender Schönheit. Ich verrate dir jetzt unser größtes Geheimnis, das nicht einmal die Hüter wissen: Diese Männer auf dem Bild sind die Drachen. Verwunschene Dragoniar, die sich in die mit Flügeln gesegneten Echsen verwandeln können.“

Fuxyas Kinnlade klappte herunter und plötzlich spürte sie eine Flut Erleichterung durch sich hindurchschwappen. Andererseits schossen ihr genauso plötzlich tausende Fragen durch den Kopf. Auf Einige hatte sie ja jetzt eine Antwort: Drachen waren Dragoniar. Deshalb konnten sie mit Dragoniar-Mädchen Kinder zeugen! Aber weil diese Männer in der Lage waren, sich zu verwandeln, waren sie Heilig. Und nur die Kinder dieser Männer erlangten eben jene Fähigkeit, daher war die Rasse vom Aussterben bedroht: Dragoniar waren nicht besonders fruchtbar.

„Die Dragoniar denken bis heute, dass eine Tänzerin eine Braut ist, die den Drachen ihre Söhne gebiert, aber das stimmt nicht direkt. Tänzerinnen sind im Grunde Priesterinnen, die mit ihren magischen Kräften die Verwandlungen dieser Dragoniar ermöglichen. Die Drachen brauchen uns Frauen also nicht nur, um sich fortzupflanzen“, fuhr Earsa fort.

Plötzlich machte auch dies Sinn: Warum hätte man eine „Tänzerin“ berufen sollen, wenn man nur Kinder mit ihr zeugen würde? Die wahre Aufgabe einer Tänzerin war also, mit ihrer großen magischen Kraft den Drachen bei ihren Verwandlungen zu helfen! Fuxya fühlte sich sofort leichter. Dann war sie doch keine einfache Konkubine.

„Und noch ein Vorurteil heben wir gleich auf: Eine Tänzerin wird nicht mit einem Drachen verheiratet, den sie nicht kennt und nicht liebt. Sie hat eine freiere Wahl als jedes Dragoniar-Mädchen außerhalb. Wir hier heiraten nur die, die wir lieben. Auch Drachen nehmen uns Tänzerinnen nicht nur als Fortpflanzungsmittel wahr. Sie suchen in uns eine Gefährtin, die sie respektieren und die sie in ihrer Abwesenheit vom Tal, wenn sie die Welt bereisen, würdig vertritt. Die Partnersuche dauert hier länger als bloße hundert Jahre. Viele von uns heiraten erst, wenn wir die vierhundert Jahre überschritten haben.“

Fuxyas Herz machte Luftsprünge als sie das hörte. Sie war keine Konkubine! Keine Prostituierte! Sie konnte ganz sie selbst sein und lieben, wen auch immer sie wollte. Vielleicht war ja auch ein guter Mann für sie dabei? Ihr neues Leben schien immer besser zu werden. War das nun Grünhaars Plan oder war das hier pures Glück? Eigentlich war es egal, aber innerlich wollte sie trotzdem irgendwem dafür danken, hier herkommen zu dürfen.

„Dann muss ich also nicht … Massen von Kindern auf die Welt bringen?“, erkundigte sich Fuxya zögerlich, aber in ihrer Stimme schwang klar und deutlich Freude mit. Die Frauen lachten.

„Nicht zwangsweise. Es sei denn, du willst es natürlich, Schwester“, antwortete Sonli und Calla fügte hinzu:

„Earsa hier hat zwölf Söhne. Und sie ist noch jung genug, um mehr zu bekommen!“

Fuxya starrte die hochgewachsene Frau an und konnte sich des Respekts nicht erwehren, der in ihr aufstieg. Zwölf Stück! Das war keine schlechte Zahl. Earsa lächelte strahlend, ihr Antlitz war nicht erschöpft von all den Geburten und keine Fältchen verunzierten ihr Gesicht. Fuxya erinnerte sich mehr als genau an die jungen Mädchen, die nach hundert Jahren und fünf Kindern aussahen wie alte Frauen. Mit zweihundert Jahren schon dem Tod geweiht … Aber Earsa sprühte vor Glück.

„Beeindruckend“, lobte Fuxya und Earsa verdeckte ihre erröteten Wangen.

„Genug über mich. Reden wir weiter über das Drachental“, rügte sie die kichernden Frauen, die sofort wieder ernst wurden. Dann fuhr sie fort:

„Keine Frau muss hier heiraten. Für alle Tänzerinnen gibt es auch nicht genug Drachen. Im Moment haben wir um die hundert Herren und hundertdreiundvierzig Frauen. Aber wenn wir heiraten, dann für den Rest unseres Lebens.“

Fuxya nickte. Bei den Dragoniarn war es ähnlich. Nur dass keiner von ihnen lange genug lebte, um vom „Rest des Lebens“ zu plaudern, schließlich starben viele Frauen bei den schweren Geburten und die Männer häufig bei Übergriffen durch menschliche Armeen. Das Leben außerhalb dieses Tals war bei weitem nicht so einladend, wie die Dragoniar, die dort lebten, es immer darstellten. Hier würde es sicherlich angenehmer sein.

„Nun zur Gesellschaft: Die höchste Position hier ist der Drachenkönig. Chrysopras heißt er, du wirst ihn noch kennenlernen, Schwester“, erklärte Earsa und wurde von Calla unterbrochen:

„Chrysopras ist Earsas Mann, sie ist hier die Königin. Da es aber die Position der „Königin“ nicht gibt, nennen wir sie hier die Ausbildungsleiterin der Auserwählten.“

Fuxyas Augen weiteten sich vor Staunen. In welchem Land kam schon die Königin höchstpersönlich, um ein Bauernmädchen in ihrem Land willkommen zu heißen. Hastig neigte sie den Kopf, was Earsa nur mit einem leichten Nicken taktierte. Ihr war diese Unterwürfigkeit anscheinend unangenehm, denn sie sagte:

„Das musst du nicht. Wir Tänzerinnen haben alle das gleiche Schicksal. Wir sind Schwestern. Zwischen uns gibt es kein höher- und niedriggestellt. Schwester Earsa, so wirst du mich nennen.“

Fuxya nickte, immer noch nicht über die Überraschung hinweg, die man ihr so locker angetragen hatte. Calla schien das zu amüsieren, während Sonli bei den Worten Earsas bekräftigend nickte. Fuxya schwieg und hörte sich die weiteren Erklärungen an.

„Danach kommen die ersten zehn Drachenprinzen, dann die Ältesten unter den Drachen. Verheiratete Prinzen von elftem Grad und niedriger, die Kinder haben kommen nach den Ältesten. Männer, die eine Ehefrau haben, stehen höher in der Rangliste als Männer ohne. Männer mit Söhnen noch viel höher als Männer mit Ehefrauen, die kinderlos sind. Kinder gelten hier als größter Schatz, obwohl hier natürlich nur Söhne geboren werden – aus einem nicht erschließbaren Grund. Unverheiratete Prinzen von elftem Grad und niedriger, die kinderlos sind, stehen in der Rangliste über anderen Männern gleicher Sorte. Darunter kommen unverheiratete, kinderlose Männer und ganz unten Jungtiere, egal welchen Rangs. Wir Tänzerinnen befinden uns gar nicht auf der Rangliste. Wir werden geehrt, wie es uns zusteht, wo wir doch alles für die Herren aufgegeben haben. Außerdem sind wir alle gleich, daher darf es zwischen uns keine höheren und niederen Frauen geben. Verstanden?“

„Verstanden“, murmelte Fuxya und warf einen schnellen Blick hinab ins Tal, das durch die länger werdenden Schatten des endenden Sommertages in Dunkelheit gehüllt wurde. Wie wohl das Leben dort unten aussah? Bestimmt besser als außerhalb!

„Nun … du wirst hier noch einmal eine Ausbildung in den Dingen genießen, die du bereits in der Tempelschule gelernt hast. Wir wollen auf den Festen der Herren mit Perfektion glänzen, daher ist regelmäßiges Training vonnöten“, sagte Earsa und zeigte dann auf sich.

„Ich bin hier die Ausbildungsleiterin. Ich werde dir zu gegebener Zeit erklären, was du tun musst und vor allem wie. Alle Schwestern leben in einem Frauenpalast, während die Männer im Herrenhaus leben. Nach einer Hochzeit werden Braut und Bräutigam ihr eigenes kleines Reich beziehen: Meistens ein kleiner Marmorpalast. Schade, dass die Sonne jetzt fort ist. Man hätte dir die weißen Paläste zeigen können … Nun ja. Dann eben morgen, von jetzt an hast du genug Zeit, um dich in Ruhe umzusehen. Es wird dir hier an nichts mangeln. Ach! Bevor ich es vergesse, für Festlichkeiten versammeln wir uns im Zeremonienpalast.“

„Deshalb sagte ich doch, Sonli hat noch nicht so oft Drachenmänner gesehen! Du wirst sie in deinen ersten Ausbildungsjahren auch nicht sehen, weil man dich nicht zu den Zeremonien lässt, da es dir an Fähigkeiten mangelt. Wir üben schon hunderte Jahre und gehören manchmal nicht zu den Tänzerinnen, die bei Banketten auftreten. Viele von uns sind auch noch nicht als Zuschauer zugelassen“, schmollte Calla. Sonli runzelte die Stirn, warf Fuxya einen Blick zu und zuckte die Schultern. Ihr schien es nichts auszumachen, so schnell keinen Mann zu Gesicht zu bekommen. Fuxya lächelte. Fantastische Meinung!

Earsa räusperte sich und fuhr dann fort:

„Wir wollen verhindern, dass die Damen von ihrer eigentlichen Aufgabe abgelenkt werden und allzu früh in Liebeleien versinken, aus denen sie nicht zwangsweise unbeschadet wieder auftauchen. Erinnert euch doch bloß an Schwester Cordierita!“

Fuxya zuckte ob des Namens zusammen. Das war ihre Tante! Die, die nach der Rückkehr aus dem Drachental im Wahnsinn gestorben war. Man hatte vermutet, sie sei von den Geburten auf dieser Seite so mitgenommen worden, dass sie nicht mehr lebensfähig war. Aber das warf einen anderen Blick auf diese Situation. Interessiert hakte Fuxya nach.

„Cordierita?“

„Eine junge Braut, kurz bevor Maara herkam. Vor zweihundertfünfzig Jahren berufen. Sie kam aus dem gleichen Stamm wie du, Schwester. Somriar. Sie war von ungemeiner Schönheit, aber verliebte sich außergewöhnlich schnell. Sprang von einem Mann zum anderen, ohne je mehr von ihnen zu ergattern als einen spöttischen Blick. Bis sie sich ernsthaft verliebte und zurückgewiesen wurde – sie verschwand mit gebrochenem Herzen. Halbtot hat man sie wiedergefunden, halbwahnsinnig. Wir wussten, dass sie hier keine Ruhe mehr finden würde und haben sie mit einem Gedächtniszauber belegt zu ihrer Familie außerhalb zurückgeschickt. Man kann nur hoffen, dass sie das überstanden hat“, erklärte Sonli und seufzte. Mitleid war in ihre Züge geschlichen und ließ sie müde erscheinen.

„Sie ist tot“, hauchte Fuxya, was die Schwestern zusammenfahren ließ. Sie drehten sich zu ihr um und musterten sie, bevor Earsa fragte:

„Du kanntest sie?“

„Sie war meine Tante. Sie hat nicht lange gelebt. Ein Jahr höchstens. Ich erinnere mich nicht mehr so gut – ich war erst zehn Jahre alt, als sie starb. Sie ist verhungert, weil nichts ihr schmecken wollte.“

„Wie grausam!“, rief Calla aus und in ihrem Gesicht erschien eine tiefe Trauer, die die Heiterkeit ablöste, die sonst die Züge erhellte.

„Wenn Pruun das erfährt, …“, flüsterte Sonli und seufzte tief. Fuxya zog die Augenbrauen hoch.

„Wer ist Pruun?“

„Pruun war der Mann, der sie zurückgewiesen hat. Er dachte damals, sie sei keine Jungfrau mehr und auch er wäre nur ein Liebhaber. Als sie verschwand, wurde ihm klar, dass ihre Liebe für ihn echt war. Doch sie wollte ihn nicht sehen, bekam Panikanfälle, wenn er ihr zu nahe kam, als sie wieder auftauchte. Wir haben sie hinausgelassen, um sie irgendwann wieder unter uns aufzunehmen, damit Pruun sie dann heiraten kann. Wie furchtbar, dass es so enden muss“, erklärte Earsa und schüttelte den Kopf mit der in Falten gelegten Stirn. Fuxya neigte den Kopf und trauerte ihrer verstorbenen Tante nach. Erst jetzt sah sie das ganze Ausmaß der Verzweiflung, die sich in dieser Frau breitgemacht hatte und bereute, es nicht früher gemerkt zu haben. Sie hätte besser von ihr geredet, hätte sie es gewusst.

Sonli seufzte und meinte, wie um das Thema zu wechseln:

„Calla und ich werden in den Schwesternpalast gehen. Earsa, du wirst sicherlich zu deinem Mann zurückkehren, nicht wahr?“

„Ja, nehmt unsere neue Schwester mit und führt sie dort herum. Morgen hat Chrysopras sie zu sich gerufen. Er scheint ihr etwas sagen zu wollen, hat mir jedoch nicht verraten, um was es geht. Ich bin äußerst neugierig.“

„Dann folge uns, Schwester“, forderte Sonli Fuxya auf, die bereits lang genug gestanden hatte, um sich an das Gewicht der Stoffe gewöhnt und sich ausgeruht zu haben. Auch die Wirkung des Feuertranks war vorüber und mit zunächst noch zaghaften Schritten bewegte sie sich auf die Frauen zu. Als sie bemerkte, dass es ohne weiteres klappte, atmete sie erleichtert aus und ging dann aufrecht hinter Calla und Sonli her. Earsa blieb am Tempel und schaute ihnen reglos nach. Sie winkte nicht, als Fuxya sich ein letztes Mal umdrehte, dadurch wirkte sie umso stolzer und mit einem aufkeimenden Respekt in sich stellte die junge Frau fest, dass die Drachenkönigin ihrer Position mehr als nur würdig war.

„Dieser Weg führt ins Tal und verläuft an vielen Marmorpalästen vorbei. Ganz unten befinden sich dann Schwestern- und Herrenpalast. Der Zeremonienpalast ist in der Mitte des Tals“, erklärte Calla und machte dabei ausholende Bewegungen, die die ungefähren Richtungen der Gebäude wiesen. Fuxya schritt gemächlich hinter den Frauen her, die bald begannen, über Alltägliches zu plaudern: Die Wäsche, die neuen Badeöle, die neuen Lieder und neuen Tänze.

Der Weg ins Tal, der so viel länger war, als der Weg zum Drachensee erschien ihr in der untergehenden Sonne so kurz wie ein Wimpernschlag und Fuxya bekam nur am Rande ihres Bewusstseins mit, dass die Drei vom Straßenrand neugierig beobachtet wurden. Manchmal schauten außergewöhnlich hübsche Männer und stolze Frauen aus den Fenstern der weißen Paläste, die in den Felsen gebaut worden waren und ihre Terrassen nach Süden gebaut hatten. Die ganzen Farben, die Fuxya umgaben, machten sie fast blind und sie fühlte sich durch die gewaltige Reizüberlastung übermüdet.

Bevor sie sich gewahr wurde, war sie in einem großen hellen Raum. Sonli und Calla standen neben ihr und schauten sich um. Wieder waren Wände, Decke und Boden aus weißem Marmor. Links von ihnen, neben der Tür war ein in der Wand integrierter Steinschrank. Mit kunstvollen Verzierungen und Schnörkeln aus Stein umgeben, hätte er fast ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert, doch auf einem kleinen Podest in der Mitte des Raums stand ein ausladendes Bett, das mit Seidenbettwäsche bezogen war. Das Gestell war ebenfalls aus weißem Marmor, die Matratze war dafür aber aus weichen Daunenschichten.

„Schwester, das hier ist dein Zimmer. Schlaf gut, wir holen dich morgen früh ab und zeigen dir den Rest. Essen gibt es im Speisesaal und Baden kannst du im Waschsaal – auch das zeigen wir dir morgen. Begnüge dich mit diesem Waschtisch. Morgen werden wir dich genauso zurechtmachen, wie du uns heute erschienen bist. Das gehört sich für eine neue Braut der Drachen“, sagte Sonli und Fuxya zuckte fast zusammen, weil sie so lange nicht mehr angesprochen worden war.

„Es mag alles neu sein, aber eingewöhnen wirst du dich schnell. Das Leben hier ist besser als das draußen, sorglos und friedlich. Schlaf gut, Schwester“, bestätigte Calla Fuxyas Vermutungen. Dann entkleideten die Frauen sie, legten die weißen Stoffbahnen säuberlich in den Schrank und den Goldschmuck darauf. Sonli zeigte auf den Waschtisch rechts von der Tür. Ein kleines Nachtschränkchen, auf dem eine Goldschüssel voll Wasser stand und an dessen Griff ein weiches, flauschiges Handtuch hing. Fuxya war jedoch noch zu sehr davon abgelenkt, dass man sie, ohne mit der Wimper zu zucken, ausgezogen hatte. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass die Tänzerinnen Seidenkleider trugen, die ebenso durchsichtig waren wie Fuxyas Hochzeitskleid – nur in den unterschiedlichsten Farben, was von den weiblichen Reizen ablenkte.

„Danke“, verabschiedete sie sich und die beiden verließen zufrieden ihre Kammer. Alleine schaute sie sich im Wasser an. Ohne ihre Frisur und die ganze Schminke war sie wieder nur Fuxya vir Sallanis, Dragoniar-Schönheit mit gewissen Nachteilen. Sie seufzte und hoffte, dass die Schminke, die Calla, Earsa und Sonli getragen hatte normal war. Wenigstens konnte sie sich dann hübsch machen – jetzt, da sie anscheinend nicht mehr als hässlich galt. Zumindest hatten die Frauen nicht die Nasen gerümpft oder sie misstrauisch angeschaut.

„Wer weiß, was der Tag uns bringt, bis die Sonne am Abend in den Wellen versinkt …“, sang sie und machte sich daran, sich zu waschen und die furchtbaren Öle der anderen Welt abzuwaschen. Das hier war also jetzt ihr neues Zuhause. Von dem, was sie gesehen und gehört hatte, war sie begeistert gewesen. Ein Leben, von dem sie nur in ihren kühnsten Träumen geträumt hatte. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie ein Kichern in sich aufsteigen. Kein Verrücktes, Wahnsinniges. Ein Mädchenkichern voller Glückseligkeit.

„Fuxya vir Sallanis! Du Glückskind!“



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