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Meeresruf

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hahaha... Nach einem Jahr das nächste Kapitel...
Ich entschuldige mich herzlichst für meine Langsamkeit und hoffe euch gefällt das nächste Kapitel und versuche, dass nächste Kapitel schneller zu schreiben und hochzuladen.
Ich habe das Kapitel vor dem Hochladen nicht probegelesen. Komplett anzeigen

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Deine Sehnsucht

 Ich sah ihr nach, wie sie langsam im Meer verschwand. Sie drehte sich nicht zu mir um, ich konnte ihren Gesichtsausdruck nur erahnen. Ich hätte gerne noch ihr Gesicht gesehen, wenigstens ganz kurz, bevor sie in ihr mir fremdes Heimatland zurückkehrte, bevor das Meer sie verschluckt hatte.  

 Ich blickte ihr noch lange hinterher, wollte nicht gehen, ich klammerte mich an eine kleine Hoffnung, dass sie nicht vielleicht doch noch einen Blick zu mir werfen würde, zu mir zurückkehren würde. Ich wusste jedoch, wie nutzlos und unerfüllt dieser Wunsch war und blieb.  

 Der Wind pfiff und die Wellen schlugen hin und her, in das Meer und wieder zum Strand hin, keines von Beiden erfüllte diese Leere in mir, brachte mir den größten Schatz wieder zu mir, den Schatz, den ich erst vor kurzem kennengelernt hatte.  

 Nach einigen Minuten oder auch Stunden ging ich vom Strand weg. Auch ich warf nun keinen Blick mehr zurück, es würde zu sehr schmerzen, den leeren Strand zu sehen. Ich versuchte, meine Tränen zurückzuhalten, doch ich spürte wie sie warm meine Wangen herunterrollten und meine Sicht verschleierten. 

 Die Straßenlaternen warfen ihr kaltes Licht auf die hohen Büsche in der Straße und erhellten nur das Nötigste. Oben, im Himmel, leuchteten die Sterne. Der Mond wurde von dahinziehenden Wolken immer wieder kurzzeitig verdeckt. Der nachtblaue, fast tiefschwarze Himmel schien so endlos wie die weiten Meere zu sein, in die sie verschwunden war. 

 Entschlossen schüttelte ich den Kopf und vertrieb all die dunklen Gedanken aus meinem Kopf, versuchte, sie zu verbannen. Nein, jetzt war keine Zeit für miese Laune und Pessimismus. Ich erlaubte mir einen langgezogenen Seufzer und machte mich dann auf den Weg. Der Asphalt war so unwirklich und hart unter meinen Füßen. Ich fing an, eine beliebige Melodie zu summen. 

 Ich hörte seine Schritte wiederhallen und sich in den Ästen der Bäume verhingen, nochmal erklangen und verschwanden. Wieder seufzte ich. Ich dachte zu viel nach, malte mir zu viel sentimentalen Unsinn aus. Aber so war ich und würde ich immer sein, und doch, hatte ich es nicht akzeptiert. 

 Die Lichter meines Hauses kamen in Sicht. Warm und hell luden sie mich ein, einzutreten und mich geborgen zu fühlen. Heute Nacht nahm ich die stille Einladung an, die mich immer wieder erreichte. Ich durchschritt den einfach gehaltenen Kiesgarten mit einem Teich, in dem Fische schwammen. Sanft glitzerten ihre Schuppen im Licht des Hauses. Ich nahm meinen Schlüssel heraus und steckte ihn in das Schlüsselloch, drehte und öffnete die Tür. Ein vertrautes Klicken ertönte und ich trat ein, sperrte die Dunkelheit aus und badete ihm warmen Licht der Lampe, die an der Flurdecke hing. 

 Ich lehnte sich an die Wand und atmete tief den Geruch ein. Danach zog ich meine Schuhe aus und begann damit, alle Lichter auszuschalten, die gerade nicht benötigt wurden. In all der Eile, in der wir beide das Haus verlassen haben, hatte ich es komplett vergessen. Ein Stich zuckte kurz, aber schmerzhaft, durch mein Herz, als die Erinnerungen an sie wieder hochkamen. 

 Ich verdrängte sie aus seinem Kopf. Wieder einmal. 

 Ich schritt die Treppen zu seinem Zimmer hinter einer Buchenholztür hoch und ließ meine Hand eine Weile lang auf dem rundem und lackiertem Holzgriff ruhen. Ich drehte sie und drückte die Tür nach innen auf. Auch in meinem Zimmer war das Licht an und erhellte den kargen, nicht besonders persönlich gestalteten Raum. Die Wände waren weiß gestrichen, wie fast alles andere in diesem Raum. Ein weißes Bett stand in einer Ecke, ein weißer Schreibtisch mit einigen Blättern und Stiften stand in einer anderen, während ein kleiner, ebenfalls weißer Schrank trostlos mit wenig Inhalt sein Leben in noch einer anderen Ecke verbrachte. Auf dem Boden, der mit weißem Laminat ausgelegt war, lag ein blauer Teppich, aber das war auch schon alles an Farbe. 

 Ich plumpste auf mein Bett und sog tief den Duft ein, der nach Geborgenheit roch. Ich schlief ein. 

 

 Der nächste Morgen brach an und mein Wecker klingelte mich aus den Federn. Heute begann das neue Schuljahr an der Sienamni-Akademie. Ich zog mich rasch um, putzte Zähne und aß wie jeden Morgen nichts zum Frühstück. 

 "Ich gehe jetzt!", rief ich in das leere Haus, niemand würde mein Rufen erwidern können. Und doch verspürte ich tagtäglich erneut den Drang, es sagen zu müssen. Ohne auf eine sowieso nicht kommende Antwort zu warten verließ ich das Haus und schloss sorgfältig die Tür ab. Die Sonne ging gerade auf und erhellte die Welt mit ihrem warmen Schimmer. Ich verweilte eine Weile auf der Stelle, ehe ich mich in Bewegung setzte und nach Osten ging. Dort ging die Sonne auf, und ebenfalls in der Richtung lag die Akademie. Ich würde eine Weile nicht mehr hierher zurückkehren, denn heute begann das erste Trimester. 

 Langsam ging ich die Straße entlang. Das warme Licht der bald erlischenden Straßenlaternen war in der Wärme der Sonne kaum zu spüren, doch blendeten mich die kleinen Lichtkegel doch ab und zu. Der Weg zur Akademie war gefüllt von nachdenklicher Stille. War sie nun unten angekommen, war sie jetzt bei ihren Eltern? Ob sie sich wieder erinnern konnte? Fragen über Fragen stürmten auf meinen Kopf ein, doch auf keine wusste ich eine Antwort. Ich erhoffte mir eine, wenn ich wieder mit ihr rede. Es war sehr schwierig und außerdem regelwidrig innerhalb eines Trimesters ohne Erlaubnis das Schulgelände zu verlassen, doch ich hielt diese Ungewissheit wahrscheinlich nicht mehr lange aus. 

 Während ich nun den Weg zur Schule ging, begegnete ich niemandem. Wie jedes Mal, wenn die Akademie ihre Pforten für die Zuhörer öffnete, waren alle anderen, normalen Leute weg. Wohin sie jedes Mal verschwanden, wusste ich nicht. Ich hatte sie noch nie gesehen, die "normalen" Menschen. Selbst unsere Lehrer waren Genies unter Genies, meine Mitschüler waren allesamt ebenfalls Zuhörer. 

 Ich dachte und ging vor mich hin, durchschritt die leeren Wege. Ich musste nicht darauf achten, ob Autos dabei waren, mich zu überfahren, oder nicht, es gab hier sowieso niemanden, der mich überfahren könnte. 

 Nach einigen Minuten Gehen erhoben sich die in ihrem eigenem Glanz strahlenden Tore der Akademie von dem Asphalt der Straße. Der Weg, dem ich bis hier gefolgt war, endete an den weißen und an sich auftürmenden Wellen erinnernde Tore. Ich trat an das Tor hinein. Gespenstisch leise öffnete sich die Tore und ließen mich in ihr Inneres hinein. Links und Rechts waren hohe Mauern mit weißblauem Putz, die Mauer war mit hochsensiblen Alarmanlagen ausgestattet. Der Kies unter meinen Füßen knirschte und ich verlangsamte meine Schritte, denn bald würde ich wieder in meinem Gefängnis sein. Einen Weg rauszufinden war theoretisch unmöglich, doch bekanntlich sah die Praxis stets anders aus. 

 Der Kiesweg führte direkt und ohne jegliche Umwege direkt zum ebenfalls weiß verputztem Wohnhaus der Zuhörer. Nebenan war die Beobachtungsstation für die Muscheln und ihre Aktivitäten. Ehe ich meine Hand der Edelstahlklinke der Eichenholztür nähern konnte, schwang sie auf. Ich erblickte meinen Zimmer- und Klassenkameraden, Lien Hunt. Er war für gewöhnlich ein recht lauter Junge, der kein Blatt vor den Mund nahm. Manchmal hasste ich ihn dafür, doch es gab auch Momente, wo mir seine Worte Klarheit gegeben hatten. Wie jedes Mal begrüßte er mich mit überschwänglicher Freude. 

 "Na, wie waren deine Ferien so? Hast du deinen alten Freund vermisst?", lachte er mit seinem gutmütigem und vor allem breitem Grinsen. Ich war, wie jedes Mal, überwältigt von seiner Offenheit und der puren Freude, die von ihm ausging. Ich hatte, bevor ich ihn getroffen hatte, nicht geahnt, dass es so ehrliche Menschen wie ihn gab. Er zog mich auch schon mit in die Kühle des Hauses hinein, ehe ich auch nur einen Laut von mir geben konnte. Er nahm mich am Arm und zog mich rasch durch die Flure. Natürlich war auch hier alles Blau und Weiß eingerichtet, die Forscher meinten, dass wir uns in einer solchen Umgebung wohler fühlten und besseren Kontakt zu unseren Muscheln pflegen konnten. ob daran etwas Wahres war, wusste ich nicht so recht, aber da ich die Farbkombination auch so mochte, hatte ich mich auch zu Hause mehr oder weniger so eingerichtet. 

 Lien führte mich in unser Zimmer, welches im oberstem Stockwerk lag. Da wir vergleichsweise kurz hier waren, ungefähr ein Jahr, mussten wir die oberen Zimmer belegen. Es gab auch keine Aufzüge, die Forscher meinten, wir sollen uns durch das Treppensteigen fit halten, was bis zum zehntem Stock wohl etwas verständlich war. 

 Lien schloss die Zimmertür, sobald ich und er im Raum waren. Es war geräumig und mit Blick zum Meer, wie jedes Zimmer, und ausgestattet mit allem, was wir brauchten. Seufzend ließ sich Lien auf das Bett plumpsen. 

 "Wann sie sich wohl endlich entscheiden wollen, dass wir Aufzüge brauchen?", brachte er hervor. Obwohl er eigentlich topfit sein müsste, setzte es ihm nach den zweiwöchigen Ferien doch etwas zu. "Wieso bist du eigentlich nie außer Atem? Ich habe dich wirklich noch nie schwitzen sehen, oder?", fragte er mich mit einem gespielt neidischem Unterton. 

 "Vielleicht bin ich auch einfach in einer besseren körperlichen Verfassung als du", meinte ich und setzte mich ebenfalls auf mein Bett. 

 "Ach, lass uns nicht weiter über dieses liederliche Thema sprechen!" 

 "Du hast damit angefangen", gab ich zurück. 

 "Egal, egal! Also, wie waren deine Ferien? Hast du dich mit ihr treffen können?", legte er direkt die wichtigste Frage für uns beide auf den Tisch. 

 Ich druckste ein wenig herum: "Wie sieht es denn bei dir aus?" Ich wollte nicht die Ereignisse schildern, die ich erlebt hatte. 

 "Na, will der feine Herr sich mal wieder aus der Schlinge ziehen? Aber na schön, da du es anscheinend nicht willst, muss ich wohl den Anfang machen. Ja, ich habe sie getroffen." Seine Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an. "Es war genauso wie in den letzten Ferien auch, doch das Gruseligste war, wie ich finde, dass es genauso war, wie von den Forschern geschildert." Sein Blick verhärtete sich ein wenig, eher er fortfuhr: "Ich bin zum Meer gegangen. Etwas in mir sagte mir, dass ich hineingehen sollte. Es war stürmisch, doch ich folgte der inneren Stimme, sie klang genauso wie Etoile." Er sagte es mit schwärmendem Ausdruck, doch ich verzog ein wenig das Gesicht. Die Muscheln hatten keine Namen, nur Zahlen, doch er bestand immer wieder darauf, sie so zu nennen. Das hatte ihn schon den einen oder anderen Tadel eingebracht, doch nach meiner Begegnung mit ihr konnte ich ihn besser verstehen. 

 "Als ich dann also auf das Meer zulief, verschwand der Sturm zusehends. Ich trat in das Wasser, natürlich erwartete ich, dass ich versinken würde, doch ich tat es einfach nicht. Ich bekam Panik, doch da war wieder ihre Stimme, die mir gut zuredete. So ging ich also weiter auf dem Meer. Als ich ein schwaches Licht erreicht hatte und nach unten sah, da sah ich sie endlich wieder. Sie war so wundervoll wie immer. Ich kniete mich hin, wir unterhielten uns. Wir waren nur durch die Oberfläche des Meeres getrennt. Es war beinahe gruselig. Ich konnte nicht zu ihr, sie konnte nicht zu mir. Das Meer hatte sich an der Oberfläche verhärtet, und doch habe ich leichte Wellenschläge gespürt. Es war... ja, wirklich gruselig, doch dadurch, dass sie da war, war alles nur noch halb so schlimm." Er ist richtig ins Schwärmen geraten, seine Augen schienen in das Leere zu starren. An den Ort, wo sie war. 

 Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass Lien der Einzige aus unserem Jahrgang war, der bisher so mit seiner Muschel kommunizieren konnte. Und was meinen Vorfall betraf, es war mir immer noch ein Rätsel wie und warum sie zu mir konnte. Doch da riss mich Lien wieder aus meinen Gedanken: "Und, nun erzähl doch schon. Wie waren deine Ferien?" Er sah mich voll Neugierde an. 

 "Ich weiß nicht wie ich es sagen soll...", sagte ich wahrlich bekümmert. Ich wollte es ihm, nach seinem mehr als ehrlichem Bericht, wirklich sagen, doch ich wusste nicht, ob ich das durfte, konnte. Ich wusste es einfach nicht, ich fühlte mich regelrecht zerrissen. 

 Ich ahnte, dass er es mir, wie schon so oft, ansah. 

 "Dann erzähl es mir ein andermal, okay? Aber du musst es mir auf jeden Fall vor der Verschmelzung erzählen, sonst ist ja alles zu spät und du nimmst dein schönes Geheimnis ja mit ins Meer", sagte er nach einer Weile. Ich nickte erleichtert und war wie immer verwundert, wie gut mich jemand verstand.  

 "In zehn Minuten fängt der Unterricht an. Wir bitten die Schüler des Jahrgangs Nr. 1 in die Klassenräume 01, 02 und 03, je nach ihrer persönlichen Erfahrung mit ihren Muscheln. Danke", ertönte die leicht leiernde Durchsagenstimme. Sofort stand Lien mit großem Schwung vom Bett auf, sodass ich mich jedes Mal wunderte, wieso er von seinem Schwung nicht ergriffen wurde und umfiel. 

 "Dann mal los", sagte er mit einem eiferndem Unterton. Ich wusste, dass er gerne mehr über seine Muschel erfuhr und über ihre Lebensweise. Man konnte sagen, dass er in "Etoile" verliebt war, doch die Forscher meinten, dass es nur eine Nebenwirkung war, die auftrat, damit die Verschmelzung besser ablief, doch nachdem ich sie selbst getroffen hatte, wusste ich nicht so recht, ob das wirklich wahr war, oder waren die Gefühle, die ich damals empfand, falsch? 

 Erneut nahm er mich am Arm und zog mich hinter sich her. Nun ging es erneut die vielen, vielen Stufen hinunter und dann noch den kleinen Fußmarsch auf dem Kiesweg zum kleinem Schulgebäude. Es war kaum größer als das Wohnheim, doch türmten sich hinter seiner eher kleinen Gestalt die riesigen Forschungsanstalten auf. Das Schulgebäude an sich war diesmal in Blau verputzt, auf unserem Weg trafen wir noch andere Schüler, einige schlossen sich uns an, als wir auch die zweite, dritte und so weiter bis zur zehnten Durchsage für jeden Jahrgang hörten. 

 Als wir uns in die verschiedenen Klassenräume aufteilten, winkte mir Lien nochmal kurz zu, ehe er Klassenraum 03 betrat, der, wohin die von uns gebeten wurden, die am meisten an persönlicher Erfahrung mit ihrer Muschel hatten. Dort gingen nur noch drei andere hin, die meisten gingen in 01 herein, die mit den wenigsten Erfahrungen. Ich ging, obwohl ich nach dem normalen Maßstab wohl eher nach 02 musste, ebenfalls nach 01, da ich mir immer noch nicht im Klaren darüber war und ich nicht bereit war, mit den Forschern darüber zu sprechen. 

 Es hatten sich schon viele im Raum versammelt. Ich setzte mich schnell auf einen freien Platz, richtete meinen Blick zur Tafel und wartete auf die Kameraübertragung von einem der Forscher. Nachdem der Letzte registriert wurde, schloss sich die Tür automatisch und das Bild wurde übertragen. Wir sahen nun den Kopf- und Schulterbereich von Forscher 01, der die "Normalen" betreute. Wie immer hatte er ein freundliches Lächeln, das mir ein mulmiges Gefühl vermittelte, aufgesetzt. 

 "Willkommen zurück an der Akademie. Ihr seid also diejenigen, die noch keinen oder kaum einen persönlichen Kontakt mit euren Muscheln gepflegt hatten, doch seid beruhigt: Das ist der Normalfall, Ausnahmen wie in 02 und 03 sind wirklich äußerst selten. Wir beginnen das erste Trimester nun mit einem kleinem, informativem Film. Ich hoffe ihr lernt viel. In der Zwischenzeit macht ihr euch bitte Notizen. Nach Ablauf des Filmes komme ich zu euch und wir besprechen ihn gemeinsam", sagte er mit einem für mich säuselndem Unterton, der mir einen Schauer über den Rücken jagte. 

 Wir hatten wie gewöhnlich zwei Minuten um Blatt und Stift herauszuholen, bevor anstelle der Übertragung von Forscher 01 der Film lief. Es herrschte Stille, alle starrten konzentriert auf den Bildschirm und machten sich ebenso konzentriert Notizen. An dieser Akademie war etwas Anderes nur äußerst selten vorhanden, jeder wollte mehr über diese geheimnisvolle Welt unterhalb der Meeresoberfläche wissen, zumal es überall hieß, sie seien von unbeschreiblicher Schönheit. Ich machte mir ebenso viele Notizen wie die anderen, in diesem Punkt war ich wohl mit den anderen identisch. Überhaupt ähnelte ich den anderen doch sehr, noch hatte ich keinen eigenen Drang wie die Älteren und auch Lien entwickelt, doch ich merkte, dass es so langsam etwas wurde. 

 Die Bilder flimmerten vor unseren Blicke und Informationen strömten regelrecht auf uns ein. Wir schrieben mit, nur das Kratzen der Stifte über das Papier war zu hören. Bald endete der Film auch schon wieder, doch in unseren Köpfen spukte der Stoff einer ganzen Unterrichtswoche. Pünktlich betrat auch Forscher 01 den Raum und sah sich zufrieden um. Die ganze Zeit hatte er sein Lächeln im Gesicht, als wir den Film besprachen. Jeder meldete sich, und heute fiel mir zum ersten Mal auf, dass es beängstigend war, es war so, als wäre wir alle einer Gehirnwäsche unterzogen, so eine Macht übten auf uns die im Meer schlummernden Wesen auf uns. 

 Nach Besprechung des Filmes hatten wir auch schon wieder frei. Manche wollten noch mehr Unterricht haben, noch mehr erfahren, doch die Forscher meinten, dass sie nicht gut für unsere Gesundheit. Nach einer gerade mal einstündigen Unterrichtsstunde gingen wir zurück in das Wohnheim oder verstreuten uns auf dem weitläufigem Gelände. Am beliebtestem war wohl die Terrasse mit Blick zum Meer, wo Ältere manchmal von ihren Erlebnissen berichten. 

 Lien fing mich vor dem Klassenzimmer ab und zusammen gingen wir wieder zurück in unser Zimmer. Deutlich erfrischter kamen wir oben an. Diesmal öffnete ich die Türe und schloss sie hinter uns. 

 "Wie war deine erste Stunde?", fragte ich ihn diesmal zuerst. 

 "Wie immer. Wir haben über unsere Erfahrungen mit einem der Forscher gesprochen und das war's dann auch schon. Den Rest haben wir uns mehr oder weniger selbst unterhalten", sagte er gelangweilt. Er schnappte ich seine bunten Jonglierbälle, der einzige bunte Farbfleck in unserem Zimmer, denn selbst unsere Kleidung war einheitlich blau-weiß. Geschickt wusste er mit den Bällen umzugehen, es war sein liebster Zeitvertrieb und er machte es oft zwischendurch, wenn wir uns unterhielten. "Ich wette ihr habt einen Film geguckt und ihn dann besprochen, nicht wahr?" Er grinste vorrauschauend. 

 Ich nickte. 

 "Meinst du, es ist wirklich nötig soviel darüber zu wissen? Ich meine, wenn wir mit ihnen verschmelzen, bringt uns das Wissen doch gar nichts mehr", lenkte er unser Gespräch in eine Richtung, die mich nachdenklich stimmte. 

 "Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht", beteuerte ich stirnrunzelnd. Es hatte etwas Wahres, so wie alles, was er sagte. Nachdenkliche Stille meinerseits und Schweigen seinerseits erfüllten den Raum. Ich dachte nach. Über sie, über mich, aber vor allem dann doch über sie. 

 Sie hatte genau gewusst, was sie wollte. Sie wollte... Ja, was wollte sie eigentlich? Ich wusste es, ehrlich gesagt, bis heute nicht richtig. Was hatte sie aus meinen Armen getrieben? Ich glaube nicht, dass es an mir lag. Wieso hatte sie mir einen Kuss gegeben? Wusste sie, was sie tat? Ich nicht. Ich wusste... überhaupt nichts. Ich fühlte mich auf einmal so schwach und nutzlos. Ich sank in den weichen Stoff meines Bettes ein und ehe ich ahnte, was geschah, sank ich in das Reich der Träume ein. 

 

 Wo war ich? 

 Weiß umgab mich, ich sah kein Ende. Ich drehte mich um mich, sah immer nur diese eine Farbe. 

 Ein ungewöhnlicher Traum. 

 Ich zuckte mit den Schultern und folgte diesmal meiner spontanen Ader: Ich ging einfach drauflos, in der Hoffnung, ein Ziel, ein Ende, irgendetwas zu finden. 

 So wanderte und wanderte ich also durch das Weiß, das scheinbar nie aufhörte, egal, ob ich nun nach rechts oder links ging. Während meines Marsches fiel mir nichts ein, worüber ich nachdenken konnte. Ich fühlte mich regelrecht befreit. Befreit von all den Sorgen, den Fragen über mich und sie, befreit von dem Dasein als Zuhörer, befreit von den ewigen Besserwissern, den Forschern. Einfach nur frei. 

 Ich breitete meine Arme wie Flügel aus und spürte einen nicht vorhandenen Wind, der mir durch die Haare strich. Ich fühlte eine Hand an meiner Schulter, drehte mich überrascht um, denn ich kannte diese Hand, glaubte sie zu kennen. Es war ihre Hand, ihre zarte, kleine Hand. Ich blickte in ihr sanftes Lächeln, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ich schreckte nicht zurück, tief in mir drinnen musste ich es wohl gewusst haben. Ich rührte mich nicht und sie ebenfalls nicht. Wie Statuen standen wir hier. Mir fiel auf, dass sie zu schweben schien. 

 "Wonach sehnst du dich?", fragte sie mich lautlos, ohne ihre Lippen zu bewegen, und doch schallte die Frage laut und klar durch meine Gedanken. 

 

 Ich schreckte hoch. Was war das für ein Traum gewesen? 

 Nein, es war kein Traum. 

 Doch, oder? 

 Ich war, wie so oft in letzter Zeit, verwirrt. Ich wusste, ihre Nähe, ihre Worte, sie selbst, war echt gewesen. Doch wo waren wir? Ich erinnerte mich an die Worte der Forscher, die gesagt hatten, dass wir unseren Muscheln auch im Traum begegnen konnten. Sie konnten mithilfe ihrer Kraft in die Träume ihrer Zuhörer eindringen und mit ihnen reden. 

 Sollte ich das wirklich glauben? Ich wusste nicht mehr, was richtig und falsch war. Ich fühlte mich zerrissen. Wie sehr sehnte ich mich nach der Freiheit, die ich verspürt hatte? Sie war tief verborgen, das ahnte ich, doch wie sollte ich sie aus ihrem Versteck hervorlocken? 

 Vielleicht kommt sie heraus, wenn ich ihre Frage beantworte. Sie hallte immer noch klar durch meine Gedanken, ein Echo: "Wonach sehnst du dich?" 

 Wieso fragte sie so etwas? Ich hatte keine Antwort, weder auf meine, noch auf ihre Frage. Frustriert brummte ich, all diese Ungewissheit, all diese Änderungen, ich war langsam alles leid. Kurzerhand ging ich aus meinem Bett, sah kurz nach, wieviel Uhr es war und zog mir Schuhe an, ehe ich durch die Zimmertür in den Flur trat. Es war kurz nach fünf, die Sonne würde bald aufgehen. Ich stieg so schnell ich konnte die Treppen hinunter. 

 Die ersten warmen Sonnenstrahlen begrüßten mich, als ich aus der Tür schritt. Ich verweilte noch ein wenig und setzte dann meinen Weg zur Terrasse fort. Um diese Uhrzeit war niemand hier, ich war also allein. Der Klang der an die Bucht krachenden Wellen stimmte mich traurig, doch die Sonne bewegte sich immerfort höher an den Himmel und nahm die dunklen Zweifel, die mich aufgefressen hatten, mit sich. Ich lächelte und lauschte der Melodie der Wellen, während die Sonne immer höher den Himmel erklomm. 

 "Mann, auf dich aufzupassen ist echt die Hölle!", schreckte mich eine Stimme aus meinen Tagträumen auf. "Wieso schleicht man sich auch in aller Frühe aus dem Bett? Erklär mir das mal!" Ich drehte mich um und sah in das verschlafen wütende Gesicht von Lien. Ich war völlig überrascht ihn hier zu sehen, dass ich erstmal gar nicht antwortete, bevor er mich an den Schultern packte und mich durchrüttelte. Ich fasste ihn an den Armen, um ihn wegzuschieben, war jedoch zu schwach dafür. Er krallte seine Hände in meine Schultern, während er mit beinahe weinerlicher Stimme sagte: "Ich habe mir Sorgen gemacht, okay?" 

 Halt. 

 Seine Stimme war weinerlich gewesen, in seinen Augen glitzerte etwas. 

 Tränen? 

 Mir wurde zum ersten Mal bewusst, wie sehr er an mir hängen musste. 

 Wieso? 

 Ich wusste nicht, was ich in solch einer Situation machen musste. Nach nicht allzu langer Überlegung streichelte ich ihm, wie bei ihr, als ich sie gerade aufgelesen hatte, über den Kopf, doch ich war mir unsicher, ob das auch Jungs half, sich zu beruhigen. 

 Lien wandte schnell den Kopf von mir ab nachdem er sich beruhigt hatte und sah peinlich berührt irgendwohin. "Los, wir müssen los", sagte er mit roten Wangen und ebenfalls roten Augen. 

 "Sicher? Geht es dir wieder besser?", fragte ich, unschlüssig, was ich tun sollte. 

 "Ja, los!" Er nahm meinen Arm und zog mich in Richtung des Schulgebäudes. Während er mich so dahinzog, mich nicht ansah und einfach immerfort weiterschritt, kam es mir so vor, als wäre dies ein glücklicher Moment. 

 

 Ich saß im Klassenzimmer und wartete wie die anderen darauf, dass der Lehrer kam. Wie in einer normalen Schule plapperten vor dem Unterricht, wenn der Lehrer noch nicht da war, alle wild durcheinander. Doch auch hier unterschied sich etwas von anderen: Die Themen, über die geredet wurde. Das Thema war häufig der Unterricht oder etwas Anderes, was ähnlich war. Über Stars und Sternchen, das neueste Buch oder die aktuelle Mode redete niemand. 

 Ich saß kerzengerade auf meinem Stuhl am Fenster und schaute starr nach vorne, ich hatte nicht wirklich Freunde in meiner Freunde gefunden, wenn es so etwas an der Akademie denn gab. Die Sonne schickte ihre warmen Strahlen in unser Zimmer, doch hatten wir alle kein Auge für das Land, denn wir alle werden irgendwann in den Tiefen der Fluten versinken, dies ist unser Wunsch. 

 War es das wirklich? Ich konnte die Worte der anderen einfach nicht so leicht nachvollziehen, es kam mir so vor, als ob sie einfach das wiederholten, was wir im Unterricht gelernt hatten, aber ob es der Realität entsprach? 

 Ich war wirklich ein Zweifler. 

 

 Nach dem heutigem Unterricht wichen alle auf die Terrasse aus und merkwürdigerweise fand ich auch Lien heute dort. Er saß etwas abseits von der Menge und starrte angestrengt in die Wellen, die das Meer an die Felsen trieb, als ob er irgendetwas sehen könnte. Sein Blick wirkte seltsam leer, als wäre er ganz weit weg. Plötzlich packte mich die blanke Angst, ihn verlieren zu können. Ich eilte schnell zu ihm, doch als ich ihn antippen wollte, hielt ich inne. 

 Ich seufzte leise und ließ mich schließlich neben ihm nieder. Für den Augenblick wäre es wohl besser, ihn in seiner Traumwelt, oder wo auch immer er gerade war, zu lassen und aufzupassen, dass die anderen ihn nicht störten, doch diese lauschten gerade einer Geschichte eines Älteren. Der Wind strich sanft über das Gelände der Akademie, die Sonne versteckte sich hinter dahinziehenden Wolken, tauchte die Welt, in der nur das Rauschen des Meeres wichtig war, in einen dunklen, nicht lange gebliebenem Schatten. 

 Lien starrte weiter in die Leere, doch merkte ich, dass sein Blick unmerklich immer ein wenig schweifte, als würde er sich immer wieder daran erinnern, dass er etwas suchte. Ich folgte seinem Blick, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Ich gab es auf und schloss schließlich die Augen, gab mich ganz dem Meeresrauschen hin, hörte eine sanfte Stimme traurig, aber durchdringend singen. 

 Ich konnte nicht verstehen, was sie sang, doch es war auch nicht wichtig. Ich hörte sie, hörte ihr zu und das allein reichte. 

 

 "Seit wann bist du hier?", fragte Lien mich verwundert. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, dem Gesang von ihr zu lauschen raubte mir jegliches Zeitgefühl. Ich hatte ebenfalls nicht gemerkt, dass ich ebenfalls gedankenverloren auf das Meer geschaut hatte. 

 "Weiß nicht mehr so genau... Jedenfalls habe ich mir Sorgen gemacht, weil du so in die Leere gestarrt hast", antwortete ich. Ich stand auf und klopfte mir den Dreck von der Hose. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich seine Hand, die er nach mir ausgestreckt hatte. Ich zog ihn hoch, fiel jedoch selbst durch den Schwung fast hin. Er streckte sich und sah nachdenklich in das Meer, als ob er immer noch gedanklich weit entfernt war. 

 Ich folgte seinem Blick, in den Ohren immer noch der wiederhallende Klang ihres Klageliedes und ihrer Frage, die simpel und doch kompliziert war. Wonach sehnst du dich? 

 Ich wusste einfach keine Antwort auf die Frage. Wollte ich bei ihr sein? Ja, das wollte ich. Ein geradezu unerträgliches Ziehen in den Tiefen meiner Brust entstand immer, wenn ich an sie dachte. Ich wusste dieses Gefühl einfach nicht einzuordnen. 

 Vielleicht sollte ich einfach in mich horchen, der Wunsch, das Etwas, wonach ich mich sehne, müsste doch dort zu finden sein, oder etwa nicht? Seufzend betrachtete ich die Wellen des Meeres, die auf de Strand zukamen. Als ich noch bei ihr war, war alles irgendwie einfacher, als würde sie meine Instinkte wecken, die in der jetzigen Welt wohl keine so große Rolle spielten. 

 Was sie wohl gerade machte? Mein Blick schweifte wie meine Gedanken hin und her, rastlos erfasste ich jede Einzelheit meiner Umgebung. Lien schien es nicht anders zu gehen, auch er starrte geistesabwesend in die Leere. 

 Waren ich und Lien uns ähnlich? 

 Ich wusste es nicht, ich wusste nichts von den anderen Schülern, außer, dass wir dasselbe Schicksal teilten. 

 Ich sah zum Himmel hinauf, doch ehe ich meinen Kopf vollends in den Nacken legen konnte, ahnte ich, dass der Himmel keine Antworten für mich haben konnte. Und meine Ahnung wurde bestätigt, noch nie wirkte der Himmel so weit entfernt. War er schon immer so weit... oben? Und ich soweit unten? 

 Fragen häuften sich, doch die eine Frage ließ ich nicht aus den Augen, denn sie hatte sie mit gestellt. 

 "Habe keine Angst." 

 Eine Stimme, dir mir schmerzlich vertraut war, flüsterte diese simplen Worte. Doch gerade diese simplen Worte brachten mir wenigstens eine simple Wahrheit näher: Ich hatte Angst. Angst wovor? 

 Den Himmel aus den Augen zu verlieren, das Licht nie wieder zu sehen, Lien ans Meer zu verlieren. 

 Sie nie wieder zu sehen. 

 Es pochte in mir, ganz tief in mir spürte ich, wie die Angst seine Wurzeln weiter ausbreitete, mich jeden Tag eine neue, simple Sorge erfasste, die mich auffraß. 

 "Habe keine Angst. Ich bin hier, bei dir. Ich werde immer da sein." 

 Ich spürte das sanfte Lächeln in den Worten, die sie mir schickte, die sie mir schickte, um mir neuen Mut zu machen. Es war fast beängstigend wie gut sie mich in der Hand hatte, doch es machte mir nichts aus, schließlich war es sie. Ich konnte einfach nicht anders, sie war der einzige Lebensinhalt, den ich noch hatte? 

 Hatte ich jemals einen anderen gehabt? 

 Meine Gedanken kreisten und kreisten um eine seltsame Leere. 

 Lange umkreisten sie diese Leere nicht, denn ich wurde von Lien schlagartig wieder in die Realität zurückgeholt. 

 "Komm, lass uns gehen." Es war nur ein Satz, ein normaler Satz, den er häufig gesagt hatte, doch es kam mir melancholischer vor, trauriger. 

 Wie ein Ende. 

 Nein, das durfte ich nicht denken. 

 Ich versuchte mich an einem Lächeln und nahm die Hand, die er mir reichte. "Lass uns gehen." 

 "Wirklich? Du wirkst nicht gerade glücklich", meinte er und zog mich auf die Beine. Ruckartig stand ich auf meinen Beinen, die sich zu weich anfühlten, als dass sie mein Gewicht tragen könnten. Ich schwankte nach rechts und links, doch er fing mich rechtzeitig auf und stützte mich. Ich sah zu ihm hoch, er sah besorgt zu mir herunter. 

 "Geht es wieder?", fragte er, mich langsam wieder loslassend. 

 "Ja, danke." Ich versuchte einige tapsige Schritte, dann setzten wir uns in Bewegung. 

 Hinter unseren Rücken ging die Sonne gerade unter, wärmte uns mit den letzten Strahlen bis die Kälte der Nacht uns alle umschlang. 

 

"Was war heute mit dir los?" Es war die erste Frage, die er mir stellte, nachdem die Tür mit einem leisem Klicken ins Schloss gefallen ist. 

 Verwirrt antwortete ich: "Was soll mit mir los sein?", doch ich tief in mir hatte ich es doch gewusst. 

 "Ich weiß es auch nicht, aber du bist irgendwie so... Anders?" Er ließ sich mit einem lautem Seufzer auf das Bett plumpsen und sah mich mit seinem durchdringendem Blick an. 

 "Es ist Nichts, wirklich." Ich tat es ihm nach, setzte mich auf mein Bett, blickte jedoch in die Leere, an die Wand, solange es nicht sein aufrichtiges Gesicht war, war mir im Moment alles recht. 

 "Wirklich? Ist auch wirklich alles in Ordnung?" 

 Ich nickte still. 

 "Dann erzähl mir alles von deinen Ferien, als Beweis, dass alles in Ordnung ist." Sein Blick wurde bohrender, forschender. Ich musste auf meinen Gesichtsausdruck achten, jedes noch so kleine Detail wurde er merken. 

 "Was hat denn das mit meinem jetzigem Zustand zu tun?", fragte ich verklemmt lächelnd. 

 "Es ist also doch etwas geschehen", murmelte er leise vor sich hin, sodass ich ihn kaum verstehen konnte. Schlagartig stand er auf und packte mich fest an meinen Schultern. Er zwang mich dazu in seine Augen zu sehen. "Wenn etwas nicht in Ordnung ist, sag es mir doch. Bitte." Sein Blick schwankte, wurde weinerlich, traurig, verletzt. 

 Mir wurde klar, wir schrecklich ich mich benahm. 

 Ehe er oder ich vor all unserer Schwäche zusammenbrechen konnten, erzählte ich ihm alles, was ich erlebt hatte. Ich erzählte ihm alles von ihr. In meinem Unterbewusstsein spürte ich leise ihre Zuversicht, ihr Lied, voller Freude gesungen, ihren Namen. 

 Wave 

 

Als ich aufwachte war es schon schätzungsweise Mittag, die Sonne stand hoch. Verschlafen rieb ich mir die Augen, riskierte keinen Blick auf die Uhr, die uns sagen würde, dass wir den heutigen Unterricht verpasst hatten. Dunkel erinnerte ich mich an den gestrigen Abend zurück, doch mit dem Fortschreiten der Sonne kamen auch mehr Erinnerungen zurück. 

 Erinnerungen daran, wie ich Lien alles gestanden, erzählt hatte, doch meine dunkle Vorahnung wegließ. Erinnerungen daran, wie sie bei mir war. Ihre unglaubliche Wärme, die mich eingelullt hatte, die bei mir war, während ich schlief. Mir war so, als wäre mir kalt, obwohl das Thermometer warme 20 Grad Celsius anzeigte. Als würde sie Wärme nur von innen kommen und die Kälte mich mit ihren Armen umschlingen würde. 

 Was war das bloß für ein Gefühl? 

 Grummeln riss mich aus meinen Gedanken, es kam von Liens Bett. Tatsächlich erhob sich gerade die Decke und machte einen Buckel, bevor sie herunterrutschte und Lien, der sich genüsslich streckte, enthüllte. Ich musste bei diesem Anblick unwillkürlich kichern. Das hatte er scheinbar gehört, denn er drehte seinen Kopf in meine Richtung. 

 "Na, aaaauch schooon waaaach?", gähnte er mehr vor sich hin, als dass er mit mir sprach. 

 "Siehst du doch, oder?" Ich lächelte. Ich fühlte mich unendlich leichter nachdem ich mich mit ihm ausgesprochen hatte, doch war da immer noch etwas, was ich ihm nicht sagen konnte, worüber ich mir auch noch nicht ganz sicher war. 

 "Wir haben den Unterricht verschlafen, kann das sein?" Er tigerte aus dem Bett und schnappte sich seine Klamotten. 

 "Ich wundere mich auch ein wenig, ich dachte immer, bei Verschlafen würden wir geweckt werden, aber es scheint so, als ob dem nicht so wäre. Ich glaube auch, dass das noch nie passiert ist." 

 "Ja, die Vermutung liegt nahe, nicht wahr?" 

 Es war wirklich komisch, dass die Akademie Schüler verschlafen ließ. 

 "Meinst du wir müssen nachher in ein Disziplinarverfahren oder so?" 

 "Gibt es das?" Es starrte mich mit einem ungläubigem Blick an. 

 Ich zuckte mit den Schultern, etwas überrascht über seine Reaktion. 

 "Naja, was sollen wir jetzt machen?" 

 "Lass uns spazieren gehen", schlug er vor. Fertig angezogen wartete er an der Tür auf mich. 

 "Warte doch auf mich!" Hastig zog ich mich um, eilte ihm nach. 

 "Mach ich doch!" 

 Die ganze Zeit ließ mich dieses Gefühl nicht los, welches ich trotz dieser fröhliche Stimmung hatte. 

 Ein Herz, das sich zu schwer anfühlte. 

 Diese Traurigkeit, die ich nicht abschütteln konnte. 

 Ein Finger schnippte mir hart und schmerzhaft gegen die Stirn. 

 "Aua!", rief ich und rieb mir die schmerzende Stelle. Der Übeltäter war schnell gefunden, Lien stand grinsend vor mir. 

 "Du sollst nicht immer so traurig aus der Wäsche gucke und vor allem auf den Weg achten!", mahnte er mich und hatte schon die Finger in der Position, mir noch einmal einen Stirnschnippser zu geben. 

 "Ist ja gut, ist ja gut!" Ich entfaltete eilig seine Hände. Immer noch frech vor sich hin grinsend ging Lien weiter, ich beeilte mich, ihm zu folgen. Das dunkle Gefühl, er könnte bald nicht mehr da sein, beschlich mich, noch ein Gefühl, dass langsam meine Seele auffraß. 

 "Da, schon wieder", sagte Lien traurig und tippte mir sanft auf die Stirn. "Dich bedrückt doch irgendetwas, oder?" Sein trauriges Lächeln war ein Stich in mein Herz. 

 Ich sollte ihm davon erzählen, aber ich kann es nicht. 

 Ich kann es einfach nicht. 

 Ich muss es tun, sonst frisst es nicht nur mich, sondern auch ihn auf. 

 Aber ich kann es nicht. 

 Ich muss aber. 

 Während meines inneren Kampfes merkte ich nicht, wie er tapfer an meiner Seite blieb. 

 

 Wieder war ich in diesem weißen Raum, doch ich war eben doch noch bei Lien gewesen? 

 Habe ich ihn zurückgelassen? Ich muss schnell zurück, sonst geht er vielleicht noch kaputt... 

 Oder gehe ich vorher zugrunde? 

 "Endlich bist du wieder da!" Zarte, kleine Hände ergriffen meine, führten mich durch einen fröhlichen Tanz. Nach links, nach rechts, vorn und zurück. Mir kam alles so schrecklich vertraut vor, aber ich erinnerte mich nicht mehr daran, wieso es so war. 

 Der Tanz, den sie mit mir tanzte, war einfach und ihre Stimme klang glücklich. 

 Ein mulmiges Gefühl breitete sich in der Unruhe meines Herzens aus. 

 Sie stoppte ihren Tanz und sah mich wissend an. "Es fehlt noch etwas, nicht wahr?" Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, sie hielt inne. Unfähig ich zu bewegen sackte ich wie ein nasser Sack in mich zusammen, brach zusammen, doch es war kein harter Boden, auf den ich stürzte, nein es war weich, warm. 

 "Du bist noch nicht bereit, du hast es noch nicht gefunden." 

 Ich blickte zu ihr hoch. "Was meinst du damit?" 

 Sie lächelte nur sanft und legte mir eine Hand auf meine rechte Schulter, sagte: "Du bemühst dich darum, an der Oberfläche zu bleiben, und das ist auch gut so, denn es wartet jemand auf dich. Sieh nach oben, dann wirst du es finden." 

 Angst ergriff mich, doch wurde sie sofort von ihrer Welle der Zuversicht fortgespült. 

 "Geh, wir sehen uns wieder. Bestimmt." 

 Ihr Lächeln voller Wärme, Trauer und Sanftmut, als ich ging. 

 

"Shuichi! Bist du wach? Hallo?" Lien fuchtelte wie wild vor meinem Gesicht rum. 

 "Jaja, mir geht es gut und ich bin wach", brummelte ich vor mich hin, ich fühlte mich auf einmal so erschöpft. Da wurde mir bewusst, dass ich auf dem Boden lag und Lien neben mir kniete. Ich ließ meinen Blick schweifen und sah sogleich in den strahlend blauen Himmel, so strahlend, dass ich meinen Blick abwand. 

 "Du bist in letzter Zeit wirklich komisch, weißt du das?" 

 Ich nickte nur abwesend, legte meinen Kopf zur Seite und betrachtete das Gras. Feine, kleine Striche, die sich nach oben strecken. Mich fasste auf einmal der Drang, aufzustehen, fortzugehen, nicht mehr auf kleinen Halmen zu liegen, die sich nach oben sehnen. 

 Und was war mit mir? 

 Ich... wollte etwas., doch was dieses Etwas am Ende ist, wusste ich nicht. 

 "Du bist immer öfter in Gedanken versunken, ich frage mich ob das mit ihr zu tun hat." In der Öffentlichkeit vermieden wir es, ihre Namen zu sagen. Es war etwas Kostbares, ich brachte es an einem Ort, wo jeder es hören konnte, einfach nicht über die Lippen. Namen waren generell vielleicht nichts Wertvolles, doch sind sie es doch. Ihren Namen bewahrte ich in mir auf wie einen Schatz. 

 "Ich weiß es nicht." Ich ging einen Schritt. Blieb stehen, setzte einen weiteren nach vorne, einen nach hinten. Zögerlich schwankte ich vor und zurück, bis Lien es zuviel wurde. 

 "Meine Güte, wenn du dich nicht für einen Richtung entscheiden kannst, lauf nach vorn!", rief er mehr genervt als weise aus und schob mich nach vorne. Stolpernd folgte ich der Richtung, die er mir vorgegeben hatte. Und plötzlich fragte ich mich, ob ich, wenn er nicht mehr wäre, einfach fallen würde, durch die Gegend torkeln würde. 

 Verloren sein würde. 

 

 "Du bist wirklich verdammt komisch heute", sagte mir Lien schon zum zehntem Mal heute. Genau dies war auch die exakte Anzahl meiner Klammerversuche an ihn, allein die Vorstellung, ihn nicht mehr zu sehen war unerträglich. 

 Ich war echt egoistisch. 

 "Komm, lass mich los." Seine Stimme war sanft, doch war es wie ein Stich in mein Herz. Vorsichtig nahm er meine Hände von seinen Armen, die sich jedoch sofort wieder an seine klammerten. Krampfhaft. 

 "Was ist mit dir los?" Mit einem leichtem Ruck hatte er seine Arme befreit, packte mich an den Schultern und zwang mich, seinem direkten Blick nicht auszuweichen. "Also?" 

 "Ich...", fing ich an, doch sofort fraß mich dieses Gefühl wieder auf, nahm mir die Worte aus dem Mund. Er sah mich weiter an, sein aufrichtig direkter Blick brachte mich dazu, weiterreden zu wollen. "Ich habe Angst." Die Worte waren raus, doch ahnte ich seine nächste Frage schon. 

 "Wovor?" Sein Griff lockerte sich, sein Blick blieb standhaft. 

 "Davor, dass..." Erneut stockte ich, mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich musste es ihm sagen, egal ob ich konnte oder nicht. Ich durfte mir nicht erlauben, nur wegen meiner Schwäche ihn verletzt zu haben. "Dass du... nicht mehr da bist." Während ich sprach, rollte eine Träne meine Wange herunter, sogleich fanden auch andere Tränen ihren Weg aus meinen Augen. Reflexartig wischte ich sie weg, versuchte sie zu verbergen, wusste aber schon längst, dass er sie gesehen hatte. 

 Starke, warme Arme schlangen sich um mich, ein kleines Häufchen Elend. Ich weinte und weinte, fast schien es kein Ende zu nehmen. Ich spürte auch ein leichtes Zittern von Lien, er versteckte es aber sehr gut und ich konnte es nur erahnen. 

 "Weißt du, es geht mir genauso", sagte er nach einer Weile des Schweigens fast flüsternd. "Ich habe Angst, dass du plötzlich in den Tiefen des Meeres verschwindest." 

 Ich hörte auf zu weinen und befreite mich leicht aus seinem Griff, um ihn in die Augen sehen zu können. Er schaute traurig lächelnd zu mir hinunter. "Wir sind uns wohl ähnlich, was?" Ein trockenes, kurzes Lachen erklang. "Gehen wir rein, da können wir besser reden." Er wischte mir meine letzten Tränen ab und versteckte mich mehr oder weniger vor den Blicken der anderen. 

 Schweigen herrschte, als wir zum Wohnhaus gingen und auch, als wir die vielen, vielen Treppen hinaufstiegen. Das Wiederhallen unserer Schritte war das einzige Geräusch, welches in diesen Momenten im Flur existierte. 

 Leise schloss sich die Tür unseres Zimmers nachdem wir es betraten hatten. Lien ließ mich langsam los und setzte sich auf sein Bett. Ich tat es ihm nach, ging zögerlich in dieser bedrückten Atmosphäre auf mein Bett zu, setzte sich so leise es ging. 

 Es herrschte erneut Schweigen, dass durch nichts unterbrochen wurde. Selbst das sonst immer unüberhörbare Rauschen des Meeres war still geworden. Niemand von uns beiden wollte das erste Wort ergreifen, doch irgendjemand musste es tun. Oder schwiegen wir bis an das Ende? 

 "Ich..." 

 "Ich..." 

 Wir stoppten beide, merkten gleichzeitig, dass wir zur selben Zeit gesprochen hatten, schwiegen und kicherten dann. Dieses leise, eher zurückhaltende Kichern wurde langsam aber stetig zu einem lautem Lachanfall, bei dem wir vergaßen, worüber wir uns totgeschwiegen hatten oder worüber wir lachten. 

 "Okay, okay", japste Lien schlussendlich und sein Gesicht wurde ernster. Ich wurde ebenfalls wieder still und er sprach weiter, fasste die Ereignisse der letzten Wochen und Tage zusammen: "Du hast deine Muschel in der Realität gesehen, du hast es mir verschwiegen, du hast Zweifel bekommen. Du hast es mir erzählt, du hattest Angst, dass ich nicht mehr da wäre, du hast es verschwiegen. Ich hatte Angst, dass du verschwindest, ich habe es ebenfalls verschwiegen. Wir wissen beide die Namen unserer Muscheln, wir zweifeln an dem System. War das alles?" 

 Ich hatte ihm aufmerksam zugehört, bei manchen Punkten zog sich mein Herz in der Brust zusammen, ich nickte. 

 "Vielleicht sollten wir etwas beschließen, damit wir einen Punkt weg haben." 

 Meine Worte, über die ich nicht lange nachgedacht hatte, erschienen mir wie ein Witz, wie eine unreale Wirklichkeit. Ich hatte aber auch nicht den Mut, sie zurückzunehmen, denn ich wollte an sie glauben. Ihnen vertrauen. 

 "Vielleicht sollten wir genau das tun." Lien lehnte sich zurück, legte sich auf sein Bett und sah mich mit seinem direkten Blick an. Ich sah nicht weg, hoffte, dass mein Blick genauso direkt und ehrlich wie seiner war. 



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