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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Vesper

Die Sonne erklomm den Horizont und flanierte wie ein einsamer Ballon über das aufklarende Himmelszelt. Nichts entging ihr auf ihrer Zirkulation, und sie wurde vielem ansichtig, ehe sie sich am Ende des Tages wieder in ihr glühendes Bett legte, um sich vermeintlich unter der Welt hinweg dorthin wiegen zu lassen, wo ihre Reise erneut beginnen würde. Sie sah, wie etwas ihr von der Insel Neos entgegenwuchs und wie die Menschen wieder beteten. Sie sah, wie Monster sich entsannen und in verborgene Haine heimkehrten. Sie sah jemanden aus den Wolken fallen, dessen Ziel Trodain war. Und einen alabasterweißen Schopf in Alexandria ein- und ausgehen, ihn zuweilen an den Ruinen einer herbstlichen Kapelle Grabsteine pflegen. Sie sah, wie eine Prinzessin ihren Prinzen heiratete und wie aus einer Elster eine Taube wurde. Und sie hörte, wie der Gesang eines Knabenchores makellos und sicher von einem Cembalo akkompagniert wurde.

Celino beendete sein Spiel und lugte zum Oberhaupt der Abtei hinauf.

„Klingt ganz so, als hättest du deine Bestimmung endlich gefunden – das war grandios!“

Der Junge errötete. „Danke, Hauptmann Angelo! Aber verratet mir eins, bitte: Wo ist der Herr hin, der damals auf dem Cembalo gespielt hat? Warum ist er nicht mehr wiedergekommen?“

Er hielt den Atem an. Celino musste ihm seine Gedanken ansehen können, denn sein Mondgesicht öffnete sich in Verwunderung.

„Hauptmann Angelo?“

„Er ist… wieder tot!“, brachte er schließlich hervor wie einen im Hals quersteckenden Flinkheitssamen und beeilte sich, den Kleinen nicht länger anzuschauen.

Wie vermochte jemand außer ihm selbst zu wissen, weswegen Marcello nicht zurückgekommen war? Lag nicht seine Lebensaufgabe hier in Maella? Alles roch und fühlte sich noch nach ihm an, so als würde sich das Zimmer weigern, seine Präsenz weichen zu lassen.

Angelo hielt inne. Schlagartig realisierte er, dass sein Halbbruder am Leben war. Marcello – war am – Leben! Und er hatte ihn ziehen lassen! Bar einer Aussprache! Die Chance hatte existiert – für einen Augenblick hatte er sie festgehalten, hatte die Faust um sie geschlossen, aber rücksichtsvoll, weil er befürchtet hatte, sie zu zerbrechen, und so war sie durch die Spalten zwischen seinen Fingern entronnen.

Weshalb? Weshalb war er zu stolz gewesen?

Musste Marcello für immer gehasst sein? Musste Marcello für immer hassen? Hätte alles anders verlaufen können, irgendwie? Wohin mochte ihn sein Weg geführt haben? Wieso erkannte niemand den Obersten Hohepriester und setzte die Kirche darüber in Kunde? Wieso teilte ihm niemand mit, was mit Marcello geschehen war?

Sollte er dieses Mal wirklich tot sein?

Irgendetwas stimmte nicht.

„Es ist noch nicht vorbei“, versetzte er später Jessica in Furcht. „Das spüre ich.“

„Angelo…“ Behutsam stellte sie ihr Glas ab. „Ich habe diesen düsteren Ausdruck lange nicht mehr an dir gesehen.“

„Entschuldige. Ich würde es nicht sagen, wenn ich mir nicht absolut sicher wäre.“

„Und was willst du nun tun?“

Er visierte sie. „Erinnerst du dich, was wir damals getan haben, wann immer wir nicht weiter wussten?“

Jenes Antlitz, welches er in der Zwischenzeit so sehr zu admirieren gelernt hatte, dass er es sogar lieber betrachtete denn sein eigenes im Spiegel, weitete sich vor Bestürzung. „Oh nein…! Etwa sämtliche Städte und Dörfer noch einmal abklappern?“

Der Templer musste lachen – „Unsinn!“ – und wirkte anschließend merklich lockerer. „Meine Rede ist vom Dunkelbaum-Blatt! Weißt du nicht mehr? Es ist in der Lage, uns den Aufenthaltsort des Bösen anzuzeigen!“

Falls es denn etwas Böses gibt. Bitte, Angelo: Male den Fürsten der Finsternis nicht an die Wand. Und selbst wenn: Warum müssen andauernd wir diejenigen sein, die sich darum kümmern? Warum können wir nicht einfach mal zu denen zählen, die in ihren Häusern hocken und darauf warten, gerettet zu werden?“

„Das sind ja ganz fremde Töne aus deinem süßen Mund, Jess! Du kannst gerne hier ausharren und die Rückkehr deines Ritters abpassen, aber dieser Ritter ist nun einmal ein Templer, und als solcher darf ich nicht bloß zusehen, wie das Schicksal macht, wozu es gerade Laune hat.“

Jessica schoss von ihrem mühsam balancierenden Stuhl. „Kommt nicht in Frage! Wenn du springst, springe ich mit dir!“

„Das wird dann niemandem mehr helfen. Ehe ich überhaupt zur Kenntnis genommen habe, dass du bei mir bist, werde ich schon unten aufgeschlagen sein. Der Tod vereint uns wieder, allerdings auf eine äußerst unappetitliche Weise.“

„Du vergisst, eine begabte Magierin an deiner Seite zu haben, vielleicht eine der besten weit und breit! Ich lasse nicht zu, dass du stirbst – erst recht nicht, bevor du mir dein Erbe vermacht hast!“

„Mein Erbe?“ Angelo rief sich seine wenigen Besitztümer ins Gedächtnis und fragte sich, ob Jessica an irgendeinem davon Interesse haben könnte. Die Abtei? Sollte sie etwa den Entschluss fassen, in das Templer- und Waisenhaus zu ziehen? „Oh Göttin, nicht doch! Jessica! Das wäre doch bloß eine unnötige Strapaze für unsere Beziehung; darauf kann ich wirkli…!“

Sie knallte ihm ihre Handfläche ins Gesicht.

„W-was…?“

Und war puterrot. „Du Hornoger!“

„Hä?!“

„Vergiss es! Lass uns endlich Yangus und der Roten Elster einen Besuch abstatten! Wenn jemand unser Dunkelbaum-Blatt hat, dann sie!“
 

Das Problem an ihrem früheren Reisekameraden Yangus war geworden, dass er nicht ausfindig zu machen war, sofern er nicht gefunden werden wollte. Nichtsdestotrotz gab Angelo die Suche nicht auf. Je mehr Zeit sie beanspruchte, desto tiefer versteigerte er sich in sie, eine Niederlage nicht akzeptieren könnend – er war nun einmal ein Spieler und hatte seinen Stolz. Und seine Vehemenz wurde belohnt: Ausgerechnet am Tor zu Pickham – jenem Ort, in welchem sie sich in den vergangenen Tagen bereits viermal umgesehen hatten – fingen Jessica und er das einstige Diebes-, jetzt Händlerpärchen ab.

Der korpulente Kumpeltyp von einem Banditen zeigte sich kein bisschen erstaunt, als wäre es für ihn das Alltäglichste, von alten Freunden gefunden zu werden. Seinen Besuchern hingegen klappten die Kinnladen hinunter, da sie die Rote Elster gewahrten. Nach wie vor zeichnete eine schroffe Schärfe ihren Blick aus, und sie pflegte weiterhin verwegene Wäsche zu tragen – in ihren Armen jedoch: Ein Säugling. „Was glotzt ihr so?“

Jessica zog entzückt die Luft ein. Sie versäumte es sogar, Yangus zu begrüßen, und tapste an ihm vorbei auf das Kind und dessen zusammenzuckende Mutter zu.

Angelo stupste ihn mit dem Ellenbogen an. „Meinen Respekt, Yangus! Der erste Nachfahre von Ramias Rittern! Ihr seid uns allen zuvorgekommen, aber mit einem feurigen Feger wie Eurer Piratenbraut da überrascht mich das nicht…“

Zu seinem Glück schien Jessica das nicht gehört zu haben, ansonsten hätte er sich wohl schon einmal einen Platz zum Sterben aussuchen können. Der Vater grinste; unter seinen Stoppeln glühte die Verlegenheit. „Hehe! Ich krieg’s immer noch nich’ zusammen, dass das hier mein Leben is’ – also mein echtes! Ich mein’: Erst die Elster – und dann auch noch so’n putziges Söhnchen! Bin ja immer schon ziemlich optimiesisch gewesen, wie Ihr wisst, aber das hat sogar meine Vorstellen übertroffen! Hab’ ihn übrigens nach dem Chef getauft; schließlich hat der ja mein altes Leben umgekrempelt. Is’ das Mindeste, womit ich ihm danken kann. Aber darum seid Ihr nich’ hier, stimmt’s? Ihr macht ’n richtig finsteres Gesicht, Angelo; so als wär’ mal wieder was passiert.“

„Bis jetzt ist alles friedlich, allerdings befürchte ich, dass dieser Zustand sich bald ändern wird. Um dem vorzubeugen oder um mir selbst zu versichern, dass ich mir das bloß einbilde, benötige ich unbedingt das Dunkelbaum-Blatt. Könnte es sein, dass es sich noch in Eurem Besitz befindet?“

„Hm.“ Yangus kratzte sich am massigen Kinn. „Muss ich mal im Wagen gucken. Jedenfalls glaub’ ich nich’, dass ich es verscherbelt hab’. Nee, das würd’ ich wissen.“

Er folgte ihm um die Pferdekarre, wo die obere Hälfte des Händlers von der Plane verschluckt wurde und dort ohrenscheinlich allerhand Krimskrams durchwühlte.

„Laufen die Geschäfte denn?“, erkundigte sich der Templerhauptmann beiläufig.

„Wie Stiefelhopser, wenn sie mich und meinen Flegel sehen! Könnt’ kaum besser sein! Na ja, außer der Chef wär’ hier. Der kommt bestimmt von morgens bis abends nich’ mal zum In-die-Luft-Starren, jetz’ so mit der Pferdeprinzessin und unter dem alten Trode. Ahh!“ Der runde Rumpf drückte sich aus dem Wagen wie ein Apfel aus einem Pferd und präsentierte ein großes, verdorrtes Blatt in seiner Faust. „Hier is’ es!“

„Göttin sei Dank!“

„Freut mich, dass ich behelfend sein konnte. Aber wofür braucht Ihr das Ding denn nun eigentlich genau?“

Die Antwort ließ auf sich warten. Der Templer überlegte, ob es klug war, jetzt ehrlich zu sein. Andererseits… Weshalb verschweigen oder lügen, wenn sie die Wahrheit früher oder später ohnehin erfahren würden? „Es geht um Marcello.“

Sofort war er sich aller Aufmerksamkeit sicher. Seiner Freundin stieß es bitter auf, das spürte er. Sie machte auch keinen Hehl daraus und ließ es ihren Zügen unverkennbar entnehmen. Das Baby fing an zu plärren. Rasch wiegte die Elster es und sprach ihm zu.

Dieser Marcello?“

„Mein Halbbruder Marcello.“ Auch Yangus gehörte zu den vielen Leuten, die seinen Anverwandten nicht leiden konnten. Er hasste ihn, nachdem Marcello seinen Chef in das Verlies auf der Insel der Läuterung gesperrt hatte. Verständlich.

„Warum?“

Er hielt dem Blick aus wachsamen Augen stand. „Sollte die dunkle Aura, die ich spüre, wirklich von ihm ausgehen, kann ich rechtzeitig handeln und ihn… zur Strecke bringen.“

„Darum?“

„Natürlich darum! Warum auch sonst? Er hat es nicht anders verdient!“

Yangus zuckte die breiten Schultern. „Weiß ich nich’. Wenn’s so is’, wird die Göttin ihn richten. Ich glaub’ aber nich’, dass das Eure Aufgabe is’.“

„Ich habe ihn walten lassen, obwohl mir hätte klar sein müssen, was er anstellen würde. Ich habe es hingenommen, als er sich selbst zum Abt der Maella-Abtei erklärt hat. Und sogar, als ich ihn in der Begleitung dieses obskuren Hohepriesters Rolo gesehen habe, bin ich nicht eingeschritten! Ich kannte sein listiges Wesen, seine überbordenden Ambitionen – und trotzdem ist mir alles egal gewesen! Allein deshalb ist es ihm gelungen, uns einzukerkern und seinen Plan weiter zu verfolgen.“

„Den Obersten Hohepriester zu ermorden“, präzisierte Jessica ihn.

„Wollt Ihr damit sagen“, hakte die Elster nach, ihr Kind schaukelnd, „dass die Wiedererweckung des Fürsten der Finsternis irgendwie auf Euer Bankkonto fällt? Und jetzt wollt Ihr es gutmachen, indem Ihr Euren Bruder zur Rechenschaft zieht?“

„Wenn es nötig sein wird: Ja.“

„So’n dummes Geschwätz!“, donnerte Yangus unvermittelt. „Niemand von uns is’ schuld daran! Macht jetz’ bloß keinen auf Merktürer und redet Euch nich’ so’n Kram ein!“

„Könnt Ihr Euch da wirklich sicher sein, Yangus? Sind wir denn wirklich unschuldig? Habt Ihr nie darüber nachgedacht, wie die Geschichte verlaufen wäre, hätten wir die Initiation des Obersten Hohepriesters Marcello niemals gestört? Ist es nicht denkbar, dass Marcello Rhapthorne doch hätte beherrschen können?“

Der Ex-Bandit stutzte.

„Offenbar ist Euch der Gedanke neu… Aber vielleicht versetzt er Euch nun in die Lage, nachzuvollziehen, weshalb ich nichts scheuen werde, um meinen Fehler von damals auszugleichen. Wenn nicht, so sind unsere Naturen wahrscheinlich zu verschieden…“

„Wir haben das Richtige getan!“, brüllte Yangus mit erhobenen Fäusten, worauf sein Sohn abermals zu wimmern begann. „Wir haben nix Falsches gemacht! Euer Bruder hat doch schon unter Rhapthornes Einfluss gestanden, als die Sache mit dem Hohesten Obenpriester passiert is’! Sogar bestimmt schon, als er das Zepter zum ersten Mal berührt hat! Glaubt Ihr echt, ’n gewöhnlicher Mensch wie er könnte Rhapthorne beherrschen?! Als wir dazwischengegangen sind, haben wir nur eins getan: Die Welt gerettet!“

„Euer beneidenswerter Optimismus mag die nicht so frohe Realität verdrängen – mich erlöst er nicht von meiner Bürde. Wenn das Dunkelbaum-Blatt mich zu Marcello führt, werde ich ihn töten.“

Yangus’ Faust versenkte sich in sein Gesicht, sodass er nach hinten stürzte.

„Angelo!“, rief Jessica.

Der Templer, sich aufraffend, knurrte. Seine Nase blutete.

„Immer "töten", "töten"!“ Noch in der finalen Phase des Schlages türmte sich Yangus über ihm. „Als ob nich’ schon genug gestorben wären! Was ändert’s denn, wenn er dazuzählt? Könnt Ihr dann morgen fröhlicher aufwachen?“

„Ich tue es bestimmt nicht, weil ich ein Vergnügen daran habe!“, spie Angelo zurück. „Es ist meine Pflicht!“

„Als was? Als Tempelritter oder als Bruder?“

Er stemmte sich vom Boden und ging auf den ehemaligen Weggefährten los. Yangus stoppte seinen Schlag, versetzte ihm seinerseits einen; er taumelte, fing sich und stürzte erneut mit einem Schrei auf ihn. Jessicas Rufe drangen nicht durch die zähe Membran der Adrenalinblase.

„Ihr habt keine Ahnung, wie es ist! Diese Gradwanderung zwischen Templer und Bruder! Es ist eine Qual!“

„Warum macht Ihr’s dann?“ Der stämmige Händler packte den schlanken Hauptmann an dessen Flanken und warf ihn von sich. Er rollte über die staubige Erde, fand auf die Füße und funkelte sein Gegenüber an.

„Weil ich…! Weil ich… Ich habe keine Wahl.“

„Das stimmt nich’! Niemand hat überhaupt keine Wahl! Seht mich an: Ich hab’ das früher auch immer gedacht, dass ich keine Wahl hab’ und so! Dass es meine Destinination is’, auf mich selber gestellt zu bleiben! Als Halunke, der ich war, hab’ ich mich nie besonders genug angefühlt, um mit irgendeinem außerhalb Pickhams zu verqueren… überkehren… Na, Ihr wisst schon. Und dann kam der Chef. Und Trode. Und die Pferdeprinzessin. Und Jessica. Und Ihr. Und da hab’ ich kapiert, dass ich noch was drehen kann. Ich war kein Bandit mehr. Ich war ’n richtig ordentlicher Kerl, nur ohne so pikfeine Klamotten. Versteht Ihr? Mein Geschicksal wollte mich woanders sehen, aber ich hab’ einfach nich’ zu ihm hingeguckt. Und Ihr müsst das auch nich’ tun. Ihr müsst keinen auf Templer machen. Ihr seid viel mehr als das – diese Uniform und Euer Schwert.“

Angelo erhob sich mit einem Haupt, das anscheinend sämtliche Onera der Welt zu lasten hatte.

„Wenn Ihr Euch immer nur für das entscheidet, was Ihr für richtig haltet, weil Ihr glaubt, dass andere das, was Ihr tut, für richtig halten oder irgendwann einsehen werden, dass das zum richtig Halten war – ähh – dann endet Ihr wie Euer Bruder. Der is’ tief im Grunde seines Herzens eigentlich genauso unschuldig wie’n Khalamari-Knirps. Und die Khalamari-Knirpse haben uns ja auch angegriffen.“

„Was wisst Ihr denn schon? Ihr kennt ihn nicht.“

„Aber ich kenn’ Euch. Und ich bild’ mir ein: Das sogar ziemlich gut. Gut genug, um Euch vorzuwerfen, dass Ihr uns hier ’ne Szene macht. Nee. Das is’ nich’ der echte Angelo, den wir hier vor uns haben.“

„Wie meint Ihr das?“

„Ihr wollt ihn doch gar nich’ umbringen. Der Einzige, den Ihr abmurksen wollt, is’ der kleine Schleim in Euerm Kopf, der Euch all die ganzen Zweifel und Zwänge und Zwiespälte einbläht. Dieser Schleim wird nich’ Ruhe geben, wenn Ihr Euern Bruder tötet. Das klingt jetz’ vielleicht komisch, aber ich hab’ rausgefunden, dass der Schleim einen gar nich’ ärgern will.“

„Sondern…?“, seufzte Angelo müde.

Yangus steckte sich den kleinen Finger ins Ohr und drehte ihn dort gleich einem Schlüssel, als wäre dies die Stelle, wo sein "kleiner Schleim" gesessen hatte. „Dass Ihr aufhört, ’ne Maske zu tragen. Ihr verbergt Euch hinter komplizenten Worten und ’ner schnieken Visage – aber werdet Euch endlich mal klar über Euch selber! Hört auf, Eure Gefühle in ’ne Truhe zu schließen, die nich’ mal der Universalschlüssel knackt! Erlaubt uns endlich, den echten Angelo kennenzulernen – seid Euern Freunden gegenüber so fair und hört auf, Euch vor uns zu verstellen! Niemand, Angelo, niemand hat das Recht, Euch zu hassen, weil Euch Euer Bruder wichtig is’!“

Der junge Templer stieß die Zähne aufeinander und ballte die Hände, als erführe er einen intensiven körperlichen Schmerz. Er wollte nicht bis an sein Lebensende auf Marcello angewiesen sein; er wollte ihm nicht bis zum letzten Atemzug hinterherlaufen, und er hasste es, dass Yangus sich herausnahm, dermaßen unverhohlen über seine Gefühle Bescheid zu wissen. Er hasste es, dass Yangus Recht hatte.

„Hier.“ Der Händler hatte das Dunkelbaum-Blatt aufgehoben. „Benutzt es.“

Schniefend und sich den halb getrockneten Blutbart unter der Nase fortwischend, nahm er es entgegen.

„Yangus“, erklang die Stimme der Roten Elster. „Wir müssen auch noch ’ne Karte haben. Gib sie ihnen.“

„Aye, mein Goldkehlchen!“

Jessica holte Angelo vollständig in das Hier und Jetzt zurück. Sie umrahmte sein Antlitz mit ihren Fingern, strich durch seine Strähnen wie eine Mutter, die Angst um ihr Kind gehabt hat. „Du musst das nicht tun, wenn es dir so schwer fällt. Wenn du willst, kehren wir einfach nach Alexandria zurück.“

Er schüttelte das Haupt. „Es ist schon in Ordnung.“

Yangus brachte ihnen eine Landkarte. Sie falteten sie auf dem Boden aus, strichen sie glatt und legten das Dunkelbaum-Blatt darauf. Wie von Geisterhand betastet, knisterte die trockene Spreite, arbeitete sich in eine Richtung, bis ihre Spitze den östlichen Kontinent, eine Stelle unweit Fareburys berührte.

„Es hat wirklich etwas ausgemacht“, murmelte Jessica mit einer Art von grimmigem Entsetzen in ihrem Blick.

„Im Wald, hm? Wenn das, was das Blättchen gefunden hat, nich’ gerade so wuchtig is’ wie Rhapthorne, müsst ihr euch wohl darauf einstellen, den Nabel im Heulhaufen zu finden.“

„Vielleicht nicht“, entgegnete Angelo, ohne von der geplätteten Welt unter ihren Köpfen aufzusehen. „Ich glaube, das Blatt weist auf einen speziellen Ort hin. Irgendwo in der Nähe von Farebury liegt das Hochplateau, auf dem sich die Tafel eines der sieben Weisen befindet, erinnert ihr euch? Und ich vermute – nein – ich bin mir sicher, dass dies der Punkt ist, den wir suchen!“

„Die Tafel des Weisen…“ Yangus rief sich die besagte Gegend zurück ins Gedächtnis. „Da kommt man nich’ so einfach hoch. Wenn das wirklich Euer Bruder is’, dann muss er ordentlich was auf dem Kasten haben.“

„Wenn es wirklich Marcello ist“ – Jessicas Stimme war schneidend – „sollten wir uns besser in Acht nehmen. Immerhin zeigt das Dunkelbaum-Blatt auf ihn!“

Die Rote Elster wandte sich an den Templeroffizier. „Es ist Euer Ding, das herauszufinden.“

Er nickte.

„Hast du dir denn auch schon Gedanken gemacht, wie wir da hinaufgelangen?“ Obzwar Jessica offenkundig alles andere als begeistert davon war, jemanden, der mitunter Marcello sein konnte, zu besuchen, schien sie doch bereits beschlossen zu haben, ihn unbedingt zu begleiten. „Ohne Teleportation-Zauber oder Göttervogel-Stein ist es nahezu unmöglich – außerdem werde ich nicht schon wieder klettern!“

Ein leichtes Lächeln legte sich auf Angelos lädierte Lippen. „Wir brauchen nicht zu klettern.“

Seine Freundin stemmte eine Hand an die Hüfte. „Ach nein?“

Er rollte die Karte mit dem Dunkelbaum-Blatt darin zusammen. „Ihr hattet doch nicht etwa vor, dieses wertvolle Utensil an irgendjemanden zu verkaufen, oder etwa doch?“

„Hab’s auf jeden Fall mal versucht“, antwortete der Händler schulterzuckend. „Gab aber keinen Interessenten. Will wohl heutzutage niemand mehr wissen, ob was Böses in der Welt lauert. Kann ich irgendwie auch verstehen.“

„Ob in dieser Angelegenheit Ignoranz wirklich der Gewissheit vorzuziehen ist?“

„Angelo? Du vergisst, mir zu antworten!“

Der Mann mit dem alabasterweißen Haar hörte nicht auf zu lächeln. Im Vorbeigehen schlang er einen Arm um die Taille seiner Gefährtin, entwurzelte ihr Gleichgewicht und hob sich mit der Schreienden gen Himmel.



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