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DQ8: Il Santuario in Cielo

Das Heiligtum im Himmel
von

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Der Fluch des Zepters

Mit einer Miene, so dunkel wie die Nacht über ihnen, beeilte er sich, seinen Rock aufzuknöpfen und sie damit notdürftig zu bekleiden. „Wenn ich dich nicht kennen würde, hätte ich angenommen, du hättest den Verstand verloren.“

„Ich?!“, empörte sich die Albert-Erbin und ließ ihn ihr auch noch seinen Umhang umlegen. „Er!“

„Weil du ihn provoziert hast.“

„Bloß ein bisschen verführt!“, verteidigte sie sich.

Angelo gab seine hastigen Bewegungen auf, stützte die Hände neben die Flanken seiner Freundin auf das Laken und bohrte einen vorwurfsvollen Blick in sie. „Was du so leichtfertig als "Verführung" bezeichnest, hat ihn fast wahnsinnig werden lassen!“

„Wie konnte ich ahnen, dass er gleich gewalttätig werden würde, sobald es anfing, ihm zu gefallen? Er konnte mir ja kaum noch widerstehen!“

„Er versuchte nicht, dir zu widerstehen, Jessica – er versuchte, dich nicht in Stücke zu reißen!“

„Er wollte mich vergewaltigen!“

Die weißen Strähnen schirmten seine Augen, da er das Haupt senkte. „Er versteht nur das unter leiblicher Liebe. Etwas anderes hat er nie kennengelernt.“

„Dann wird er niemals glücklich werden.“

„Hast du Mitleid mit ihm?“

„Wie kommst du darauf?“

„Weil du es getan hast.“

Sie beäugte ihn, wie sie ihn früher immer beäugt hatte, wenn er mit einem anderen Mädchen geflirtet hatte. „Er wollte mich vergewaltigen“, wiederholte sie.

„Jessica. Warum hast du das getan?“

„V-e-r-g-e-w-a-l-t-i-g-e-n, Angelo! Verstehst du das?“

Was er verstand, war, dass er besser erst einmal zum Wasser werden sollte, denn Jessica war schon das Schwert. Klinge wider Klinge würde Zeit kosten, und die hatte er nicht. Schließlich musste er noch einen anderen zur Rede stellen. „Ja, ich verstehe das“, lenkte er ein. „Aber du musst zugeben, dass du es herausgefordert hast.“

„Rechtfertigt das eine Vergewaltigung?“

„Jessica, bitte.“

„Was: "Bitte"?!“

„Was verlangst du denn von mir, jetzt zu tun? Soll ich ihn anbrüllen? Soll ich ihn verprügeln? Vor die Abtei setzen? Meinst du, irgendetwas davon würde rückgängig machen, was zwischen euch beiden vorgefallen ist?! Er ist todkrank; er wird vielleicht sterben!“

„Verlangst du jetzt etwa noch mein Mitgefühl für ihn?!“ Sie sprang auf, sodass sein Gewand von ihren Schultern gerutscht wäre, hätte er es nicht noch festgehalten. Sie schlug seine Hände fort. „Fass mich nicht an!“

„Ich verlange kein Mitgefühl! Ich versuche es dir lediglich zu erklären!“

„Du willst mir also sagen, dass seine Krankheit dafür verantwortlich ist?! Dass ich nicht lache, Angelo! Eine Krankheit allein macht nicht größenwahnsinnig – sie lässt nur das wahre Wesen eines Menschen hervorbrechen! Du weißt doch selbst, was dieser machtbesessene Idiot alles angestellt hat!“

„Dafür, dass er ein "machtbesessener Idiot" ist, warst du aber überaus interessiert an ihm!“

„Bist du etwa eifersüchtig?“

„Weil meine Verlobte mit meinem Halbbruder schläft? Verdammt, JA!“

„Ich frage mich nur: Auf ihn oder auf mich?“

Die beiden standen sich gegenüber wie nach drei Stunden Kampf zweier Flüssigmetallschleime in der Monsterarena.

„Wo ist er?“, wollte Angelo dann wissen.

„Du rennst ihm schon wieder nach.“

„Wo – ist – er?“

Ihre Schultern hoben sich mit ihrem Einatmen und fielen mit ihrem Seufzer. „Er folgt dem Symbol.“

„"Dem Symbol"?“

„Das ist alles, was er sagte.“

Er glitt von seinem Platz und langte nach der Puppe aus Simpleton, als vermutete er in ihrem hohlen Inneren auf einmal eine Felsenbombe.

„Angelo!“

Unter ihrem Kleid starrte er auf das Zeichen. „Dann hat es doch eine gewichtige Bedeutung… Marcello muss es oder die Puppe kennen… Moment mal!“ Er sah auf – Jessica entgegen, doch nicht sie an. „Sagte er nicht, er…?“

Er stürzte davon. Sekunden später hörte sie die Bücher aus den Regalen auf der anderen Seite des Zimmers zu Boden fliegen. Mit überkreuzten Armen seinen roten Rock um sich drückend, stand sie auf und tapste um den Raumteiler. Ihr ehemaliger Reisegefährte beugte sich in die Regalfächer und schleuderte die staubigen Folianten hinaus. „Angelo!“

„Er sagte, er habe das Zeichen schon einmal in einem Buch gesehen! Dann muss es ja irgendwo sein!“

„Es gibt bestimmt tausend Bücher, die dein Bruder gelesen hat, überall auf der Welt!“, rief sie über die dumpfen Geräusche hinweg. „Dass es ausgerechnet eins aus seiner Sammlung ist, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich!“

Sein silbern schimmernder Schopf wirbelte herum. „Soll ich etwa alle Bibliotheken der Welt, sämtliche Bücher, jede Seite auf dieses Symbol hin untersuchen?! Wenn ich es nicht entschlüssele, dann finde ich ihn nie! Und wenn ich ihn jetzt nicht finde, dann habe ich vielleicht nie mehr die Gelegenheit…“

Jessica hielt dem klagenden Antlitz nicht stand. Da sie den Blick neigte, fiel er auf eines der Bücher, welches aufgeschlagen auf den Steinplatten gelandet war. Ein Zettel lag zwischen den Seiten.

„…mit ihm zu reden!“

Sie las ihn auf.

„Was hast du da?“, vernahm sie Angelos veränderte Stimme.

Eine gewisse Frist lang ließ sie ihn hoffnungsvoll hadern. Noch wusste sie nicht, ob es besser gewesen wäre, das Gefundene zu zerdrücken und über den Inhalt Schweigen zu bewahren, aber sie gab nach und überreichte es ihm.

„Eine Notiz von Marcello!“, staunte er. „Hier steht, dass er ein Buch ausgeliehen habe – an Meister Dominico!“

„Es wäre ein Wunder, wenn es sich gerade um das Buch handelt, nach dem du suchst.“

„Und wenn schon: Wunder geschehen manchmal!“
 

Der Morgen graute, als sie mittels Teleportation Arcadia erreichten. Der meisterliche Magier Dominico, welcher sich nach Rhapthornes Mord an seinem Diener David wesentlich gewandelt hatte, war sofort bereit, sein Bett zu verlassen, um die Gäste zu empfangen. Die Rothaarige taxierte er noch mit Argwohn. In ihrem Körper hatte der Fürst der Finsternis ihn damals bedroht. Da jedoch ihr Begleiter ihm das Symbol auf der Porzellanpuppe präsentierte, fiel ihm auf Anhieb etwas dazu ein, und er brachte ihnen aus seinem verborgenen Bücherbestand einen wuchtigen Wälzer.

Angelo Kukule stemmte ihn sich auf den Schoß und klappte ihn auf. Er brauchte nicht lange zu blättern: Das Wappen ließ sich am Anfang jedes Kapitels finden. „Was ist das für ein Buch?“

„Es enthält Erzählungen und Aufzeichnungen über jenes Land, das uns heute nur noch als die Nordwest-Insel bekannt ist“, teilte Meister Dominico ihnen mit.

„Über die Dunklen Ruinen?“

Er nickte. „Ich stamme von dort. Deswegen bat ich Marcello einst, mir dieses Buch zu borgen. Das muss bereits einige Jahre her sein.“

Auch Jessica packte das Interesse: „Ich wusste nicht, dass in den Dunklen Ruinen einmal etwas gewesen ist. …Na ja, außer Dhoulmagus natürlich.“

Die Tür sprengte auf, und mit vor der Brust verschränkten Armen und heroisch wehendem Schal stand Morrie, der Meister der Monsterarena, im Rahmen. Dominicos Besucher trauten ihren Augen nicht: Als wäre es das Gewöhnlichste, die Strecke vom östlichen Kontinent bis nach Arcadia auf dem westlichen zurückzulegen, und das wie gerade gerufen! „Wenn sie schon "Dunkle RUINEN" heißen, müssen sie freilich auch von irgendwas RUINEN sein, Bimba! Capite?“

Die Kuriosität seines Auftrittes weiterhin nicht gewahrend oder ihre Wirkung bereits dermaßen oft erlebt habend, dass sogar er müde war, sich damit zu brüsten, stelzte er in den Raum.

„Lange bevor ein auf Irrwegen wandelnder Buffone sie zu seiner Residenz der Rache gekürt hatte, wohnte ein von den übrigen Kontinenten abgeschiedenes Völkchen auf der Isola im Nordwesten!“, schilderte er ihnen. „Es verfügte über beeindruckende magische Fähigkeiten und viel alchemisches Wissen, doch seine sich von der Göttin abkehrende Arroganza bescherte ihm den Untergang! Eine grande Catastrofe zerstörte seine Heimat beinahe restlos, und nur wenige konnten entkommen!“

„Ich und Meister Morrie zählen zu diesen“, bestätigte Dominico die Worte des Ankömmlings.

„Sowie Marcellos Mutter“, vermutete Angelo.

„Marcello ist der letzte Stammhalter unseres Volkes“, legte der Magier ihm nahe, woraufhin Morries ohnehin schon rüder Blick noch eine Spur grimmiger zu werden schien. Der Monsterchampion hatte Hasenmädchen wie das Ufer des Meeres Sand, sodass Angelo aufgehört hatte, sie zu zählen, denn man vermochte sie nicht zu zählen. Durchaus war es da denkbar, dass Dominico sich täuschte! „Natürlich gehört er ihm nur zur Hälfte an“, fuhr selbiger fort, „doch unsere Gene sind äußerst potent.“

Der Zuhörer nickte. Er glaubte nicht, dass Marcello die Erkenntnis über seine Herkunft aus den Stiefeln hauen würde – er selbst hingegen fühlte sich merkwürdig betrübt. Es war, als wäre der Abgrund zwischen ihnen auf einmal sehr viel weiter und tiefer geworden. „Ich danke Euch für Eure Hilfe. Nun weiß ich, wo ich ihn treffen kann.“
 

Die Dunklen Ruinen hatten sich nicht verändert. Noch immer belebte keine Menschenseele jenen tristen Ort. Staubschwaden wanderten über einen rissigen Grund, und dürre Arme mumifizierter Bäume streckten sich vergeblich nach einem Tropfen Nässe aus wie Verdurstende auf winzigen Inseln in diesem starren Meer aus räuspern wollender Ödnis. Ohne Wissen, was sie erwarten würde, betraten unsere inzwischen weit gereisten Freunde die Ruinen. Im Inneren war es schwarz – das war neu. Es schienen keinerlei Wände mehr vorhanden zu sein, aber ebenso kein Weg. Bald darauf hatte er Jessica verloren.

„Jessica? Jessica!“

Gefühlte Stunden irrte er umher – dann tatsächliche. Manchmal war ihm, als würden die Echos ihrer Schritte zu ihm hallen.

„Jessicaaaaaa!“

Ihr Lachen…

Er warf den Kopf herum auf der Suche nach dem gleißenden Portal nach draußen, und obschon es in dieser vollendeten Finsternis noch meilenweit strahlen müsste, vermochte er es nicht ausfindig zu machen.

Ihre großen Augen in der Farbe einer glühenden Sonne…

Irgendwann resignierte er. Setzte sich auf den Grund, zog die Knie an seinen Rumpf und schlang die Arme um sie. Presste sie an sich, bis es wehtat. Wie ein Kind, das friert.

Die Vorstellung, dass Jessica seinen Halbbruder bereits entdeckt hatte und sie zur selben Zeit wieder und wieder praktizierten, was in Maella hätte geschehen sollen, war eine unerträgliche.

Er hockte völlig lautlos.

Wie sie mit scharfen Fingernägeln seinen Schwur blutig annullierte.

Wie er sie ausfüllte, bis sie nur noch atmen konnte, indem sie seinen Namen schrie.

Der Templeroffiziersring. Hatte er falsch entschieden…?

In der nächsten Sekunde trat er in einen Raum, in dessen Mitte Marcello ruhte, umgeben von Verlorenen Seelen. Er stellte sich neben Jessica. Eine ihrer Hände drückte die andere.

„Es ist“, brach sie die Stille, „als sei er mit der Finsternis in sich schon geboren worden…“

Marcello öffnete die Augen. Er sah aus, als hätte er tagelang einen aussichtslosen Kampf bestritten. „Angelo…“

„Marcello?“

„Ich sterbe hier.“

„Keine Chance.“

„Hier, wo ich hingehöre.“

„Nein, Marcello.“

Seine Lider sanken wieder. Flimmerten. „Hier… ist gut.“

Der Templerhauptmann wischte die Seelen zur Seite, bis er ihn erreicht hatte. Dort kniete er sich zu ihm nieder. Marcello atmete kaum und war kalt und grau wie der Stein, auf welchem er lag. „Sei nicht so faul. Niemand fühlt sich in solcher Finsternis wohl.“

„Wohin willst du ihn bringen?“, fragte Jessica.

Auf jeden Fall nicht zurück nach Maella. Er kannte aber einen einzigen Ort, an dem Marcello in Sicherheit wäre. „Ich lasse dich nicht sterben. Das habe ich dir doch versprochen“, flüsterte er und teleportierte sie in eine bewaldete Region Argonias.

Seine Gefährtin schaute sich lange um – mit schwindender Hoffnung, etwas anderes zu erspähen als Gras und… Gras. „Wir sollen in der Wildnis hausen, wie Monster?“, fiel ihr dann ein.

„Unsinn!“, winkte er ab. „Erkennst du diesen Ort hier etwa nicht mehr?“

„Nein! Du bringst uns in eine Gegend mit Bäumen und Hügeln und verlangst von mir, dass ich sie erkenne? Unsere halbe Erde sieht so aus, Angelo!“

„Dann komm mit.“ Er legte sich den Arm seines bewusstlosen Anverwandten um die Schultern und marschierte voraus. Jessica – bar einer Ahnung, wo sie sich befand – hatte keine Wahl denn auf ihn zu vertrauen.

Sie folgten einem Pfad. Eine Weile dauerte es, doch dann kam zwischen den raschelnden Blätterdächern eine Hütte zum Vorschein. Und damit auch Jessicas Erinnerung: „Die Klause des Sehers! Natürlich!“

Der Alte, der am westlichen Rand des argonischen Königreiches abgeschottet siedelte, hatte sie während ihrer Reise mit seinem wertvollen Wissensschatz unterstützt. Allein dank seiner hatten sie herausgefunden, wie sie den Sonnenspiegel wieder aufladen konnten. Darüber hinaus wachte er über eine mystische Quelle, deren Wasser sogar den Pferdefluch von Prinzessin Medea zu unterbrechen vermocht hatte.

„Aber willst du ihn wirklich wegen deines Bruders belästigen? Muss das echt sein?“

„Wenn nicht, so wäre ich nicht hergekommen, Jessica.“

„Falls es doch die Pest ist, setzt du den Seher großer Gefahr aus! …Was du sowieso schon tust, indem du diesen Schwerverbrecher bei ihm unterbringst.“

„Ich habe dich nicht gebeten, mich zu begleiten.“

An die Tür klopfend, bemerkte er, dass sie offen stand. Mit dem ersten Schritt über die Schwelle wandte der hoch betagte Mann ihnen sein mit dichtem, weißem Haar behängtes Haupt zu. In dem Augenblick zischte es aus einem von einem Schleim mittels Magie beheizten Kessel.

„Ahhhh“, knarrte der Seher wie ein lebendig werdender Baum. „Da seid ihr ja. Das Wasser für den Tee ist gerade fertig geworden. Bringt ihn nach oben ins Bett, dann können wir ein wenig plaudern. Ihr habt lange nichts mehr zu euch genommen.“

Überrumpelt blieb die Magierin im Eingang stehen, obwohl ihr die einem Menschen aus der Stadt unbegreiflichen Marotten des Blinden keineswegs neu waren. Als Angelo allein die morschen Holzstufen herunterkam, setzten sie sich zusammen. Die Morastmarionette goss ihnen das Wasser in die Tassen. Der Templer beobachtete, wie die Kräuter hinaufwirbelten und es sogleich dunkel verfärbten.

„Nun. Erzählt.“

„Mein Halbbruder ist krank, und wir müssen in Erfahrung…“

„Wartet. Erzählt es mir bitte von Anfang an.“

Angelo fixierte ihn fragend. Dann entspannte er sich und begann, dem Wunsch des Sehers nachzukommen: In den Tee starrend, rekapitulierte er die gesamte Geschichte. Er berichtete vom Argon-Orden und seinen neuen Aufgaben als Oberhaupt der Maella-Abtei; er schilderte ihm Marcellos Wiederkehr und die Schlacht gegen Lilius; er erzählte von der turbulenten Trauung der trodainischen Thronerbin sowie dem Gebrauch des Dunkelbaum-Blattes, welches sie zu Marcello geführt hatte. Er sprach über den Geburtstag, die Krankheit und endete mit den Dunklen Ruinen. „Dort wollte er sterben.“

Der Seher nickte. „In der Dunkelheit, wenn wir uns in unsere Decke schmiegen und die Aufgaben und Sorgen des Tages vergessen dürfen; wenn wir wissen, dass uns nun nichts mehr bevorsteht als die Augen zu schließen, dann fühlen wir uns am wohlsten.“

Ein Drako mit einem nassen Lappen zwischen den Klauen flatterte auf die obere Etage.

„Ich danke Euch für den ausführlichen Report. Auch wenn Ihr das Wichtigste ausgelassen habt.“

Der Junge zeigte sich irritiert. „Was? Scheut Euch nicht zu fragen. Ich bin bereit, Euch alles zu beantworten.“

„Das glaube ich nicht.“

Jessica blinzelte ihren Freund an, doch der maß weiterhin den Eremiten ihm gegenüber. Bis dieser sich aufrichtete. „So. Nun will ich ihn mir einmal ansehen. Ihr beide solltet in der Zwischenzeit einen kleinen Spaziergang unternehmen. Ich bin zuversichtlich, dass wir etwas mehr wissen, sobald ihr zurück seid.“

„Ich kann Euch ihn nicht einfach auflasten“, widersprach Angelo, sich ebenfalls erhebend.

Doch er schwenkte den Kopf. „Marcello und ich, wir haben uns viel zu erzählen.“
 

Ein schweigender Weg führte sie an die geheimnisvolle Quelle. Ihr Wasser schimmerte in den Farben eines Regenbogens, und kein Schatten war finster genug, um sie bedecken zu können. Am Ufer hockte sich seine Verlobte mit wippenden Zöpfen nieder, und einen Lidschlag später brach ihm ein Schwall Wasser ins Gesicht.

„Was tust du?“, verlangte er zu erfahren, indessen es von ihm troff.

„Den Fluch von dir vertreiben“, antwortete sie, noch in der Position des heraufbeschworenen Strahls, ehe sie sich ihm näherte. „Du bist so kalt.“

„Das kommt vom Wasser.“

„Das Wasser ist warm. Etwas anderes ist dafür verantwortlich.“

„Hm. Die Jahreszeit?“

„Angelo. Soll es jetzt ewig so weitergehen zwischen uns?“

„Warum ausgerechnet zwischen uns?“

„Weil etwas anderes mich nicht interessiert.“

„Wenn wir das jetzt tun, enden wir wieder im Streit.“

„Vielleicht müssen wir das, um zu einer Lösung zu gelangen.“

„Eine Lösung mit Marcello?“

„Vielleicht?“

„Muss ich dann mit ihm teilen?“

„Ich bin es, die teilen muss.“

„Ja: Deine Nächte. Auf mein Bett und seines.“

„Du weißt doch am besten, wie schwierig es ist, sich von ihm zu lösen, wenn er einen erst einmal hat!“

„Er ist mein Halbbruder. Warum hat er dich?“

„Es ist unmöglich, ihn zu ignorieren, wenn er die ganze Zeit in deiner Umgebung herumgeistert!“

„Wie würdest du es denn finden, wenn ich mit deinem Bruder eine Affäre hätte?“

Da rastete sie aus: „Lass Alistair da raus! Alistair ist ganz anders! Setze ihn nicht mit deinem missratenen Halbbruder gleich! Alistair hätte das nicht mit sich machen lassen! Marcello fraß mir ja förmlich aus der Hand!“

„Ist gut, ist gut. Ich habe es verstanden: Alistair ist ein Held. Das Problem, Jessica, und die Realität allerdings bestehen darin, dass die wenigsten Leute Helden sind. Um ihr ganz treu zu sein: Helden sind so selten wie von Dämokraten hinterlassene Goldklumpen. Nicht einmal wir, die wir Rhapthorne besiegten, sind Helden wie dein legendärer Bruder, denn wir alle haben irgendwo unsere Schattenseiten: So halte ich an einem Papstmörder fest und du schläfst mit ihm.“

„Es ist wahrscheinlich Zeitverschwendung, dir die Wahrheit beibringen zu wollen. Was du gesehen und gehört hast, reicht dir schon.“

Er nickte, und sie hätte ihn dafür schlagen können, wäre sie nicht wie festgeklebt auf ihrer Position.

„Dann ist es also vorbei?“

„Das kommt darauf an, wie viel Kraft uns für diesen Kampf übrig bleibt.“

Ein schweigender Weg brachte sie auch zurück zur Klause.

Der Tag lag bereits im Sterben. Eine Myriade von weißen Lichtern über ihnen begleitete seinen Fall in die Vergangenheit, und innen zündete der Seher eine einsame Kerze neben Marcellos Lager an. „Wie ist es euch ergangen? Habt ihr auf eurem Ausflug etwas Klarheit gewonnen?“

„Ich hoffe nicht“, gab Angelo beiläufig zur Antwort. „Und Ihr?“

„Ich weiß, was Euren Halbbruder plagt. Allerdings weiß ich nicht, ob Euch die Diagnose beruhigen oder doch eher entsetzen wird.“

„Es ist nicht die Pest?“

Jener, über den gesprochen wurde, schlief mit ermatteten Zügen. Die Decke verbarg ihn bis zur Brust, und bis dorthin war das Hemd geöffnet. Seine Kehle schimmerte. Manchmal zuckte eine Braue, und seine Mimik wirkte dann angespannter. Der rechte Arm war auf ein Tuch gebettet – die entbandagierte Wunde hatte abermals schwarz geblutet. Das Lebendigste an ihm war der Tanz des Kerzenscheins auf seinem Antlitz. Er betonte die hohlen Stellen, welche Angelo bis jetzt verdrängt hatte. Er schnaufte.

„Es ist nicht die Pest, sondern das Böse, das er noch immer beherbergt, seit der Fürst der Finsternis in ihn eingedrungen ist, und das ihn nun langsam verzehrt.“

„Rhapthorne?!“, rief Jessica aus.

„Der nicht manifestierte Rhapthorne, ja.“

„Folglich ist er bereits "krank", seitdem das in Neos passiert ist“, murmelte Angelo, ehe ihm etwas einfiel: „Könnten die ganzen Schwächeanfälle zur Zeit der Monsterkrisen hiermit in Verbindung stehen? Waren sie Anzeichen?“

„Der Fürst der Finsternis wurde stärker“, bestätigte der Seher seine Spekulation, „weil der Glaube an die Göttin schwächer wurde. Unser Planet und Marcello litten zunehmend darunter.“

„Ich kann es nicht fassen“, hauchte Jessica. „Rhapthorne… Er ist am Leben…“

„Und er missbraucht den ehemaligen Träger des verfluchten Zepters als Wirt…“

Gleichzeitig fanden die beiden jungen Menschen das Augenpaar des anderen, denselben Gedanken hegend. „Werde ich etwa auch…?“

„Das lasse ich nicht zu“, unterbrach Angelo sie frostig.

Ihr Blick klammerte sich an ihn, als wäre er ihre letzte Hoffnung.
 

*
 

Die Sonne lugte auf die Lichtung. Es schien, als würde das Gewicht ihres Lichtes die Blätter der Bäume zum Wippen bringen. Wolken wie Federn schwebten an einem azurblauen Himmel entlang, als würden schneebedeckte Inseln in einem sich auf der Feste spiegelnden Ozean schwimmen. Marcello schloss die Augen und senkte seine Nase, sodass sie die ineinander verschränkten Hände berührte. Der Schleim betrachtete ihn.

„Betet Ihr?“, schmatzte er anstandslos.

„Es überrascht mich, dass ein Monster die Haltung des Betens erkennt.“

„Ist es dafür nicht ein bisschen spät?“

„Ich habe die Göttin zu lange vernachlässigt. Es ist niemals zu spät, um sich wieder an Sie zu wenden.“

Er spürte, wie der blaue Tropfen gerne eine Augenbraue fragend erhoben hätte, würde er eine solche besitzen. „Die Leute sagen, es gebe keinen in der Gegend, der widersprüchlicher ist als ich. Es schleimt mir aber, ich muss den Titel jetzt an Euch abquetschen.“

„Behalte ihn. Titel spielen keine Rolle für mich.“

„Ich bin aber nicht widersprüchlich! Bin ich widersprüchlich?“

Der ehemalige Templer schloss sein Gebet ab und richtete sich auf. „Du bist ein Monster. Du bist einfach nur… monströs.“

Der Schleim grinste. Aber Schleime grinsen ja andauernd. „Ihr meint also, ich bin furchtschleimflößend?“

„Ich wollte auch so vieles sein. Doch letztendlich müssen wir uns damit abfinden, als was wir zur Welt gekommen sind.“

„Ihr seid wirklich seeeehr widersprüchlich.“

Die Tropfnase hüpfte von dannen. Marcello blickte auf die wie Perlmutt schillernde Oberfläche der Quelle. Er erinnerte sich, wie er schon einmal so in ein Gewässer geschaut hatte, und wo er heute Rhapthorne ermittelte, war es damals er selbst gewesen, den er wiedererkannt hatte. Ein halbes Jahr…? Er ließ den Gebetsring zwischen seinen Fingern glänzen.

Da er am Morgen aufgewacht war, hatte er angenommen, im Himmel zu sein, denn er war vermeintlich Abt Franciscos ansichtig geworden – ehe dann Angelo in sein Sichtfeld geraten war und ihm bewusst geworden, dass er jenen alten Mann, der ihnen Unterkunft gewährte, bloß mit dem dahingeschiedenen Oberhaupt der Maella-Abtei verwechselt hatte. Zweifellos war das Herz des blinden Sehers ein überaus geräumiges – bot es doch Platz für allerhand Menschen und Monster. Trotzdem wollte Marcello nicht länger als notwendig verweilen. Der Seher sollte nicht sterben – wie alle, die sich um ihn gekümmert hatten.

„"Seht, es muss ein Zeichen sein: Da, als der Hirte seine Herde gleißend weißer Wolkenpferde auf die blaue Weide bringt"…“

Marcello drehte sich um.

„…"einem jener sanften Schimmel unerreichbar hoch im Himmel eine Träne niederrinnt"“, rezitierte der bärtige Greis mit der Zipfelmütze, aus den grünen Schatten der Bäume tretend, die ersten Verse der Erzählung um das Heiligtum im Himmel. Seine Monster waren mit ihm, der Rotschopf und auch Angelo. „Es scheint Euch besser zu gehen.“

„Das Wasser dieser Quelle wirkt Wunder“, bestätigte er. „Allerdings befürchte ich, dass es mir lediglich etwas Zeit schenkt.“

„Es gibt Hoffnung“, teilte ihm sein übriger Verwandter mit. „Marcello – das Reich der Elfen, in dem der Yggdrasil-Baum, der Weltenbaum, wächst. Du kennst ihn gewiss: Seinen Lichtschatten bekommen wir jeden Morgen auf einer Insel im Norden Argonias zu sehen.“

Nach und nach ließen der Seher, dessen Monster, Jessica sie allein an der Quelle stehen.

„Wir haben dort eine Rast eingelegt, weißt du noch? Als du mich… auf deinem Rücken getragen hast.“

„Du warst schwerer als ein Goldgolem.“

„Wenn wir Raya um den Einlass in das Elfenreich bitten, dann…“

„Zeitverschwendung“, schnitt er ihm den Satz ab. „Dieser Baum existiert nirgendwo sonst. Weißt du, Angelo? Das Charakteristische an Sagen und Legenden ist, dass sie nicht wahr sind. Der reale Kern, von Poeten und Träumern mit bestrebten Illusionen umsponnen, stellt sich schließlich als enttäuschend heraus. Am liebsten bauen die Menschen eben Luftschlösser, weil diese sie keinen Tropfen Schweiß und keine Münze Gold kosten. Auch du solltest endlich auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. Dass man manchmal schlichtweg verliert, ist eine Regel der Natur, die du leider erst jetzt lernst. Sieh ein, dass ich Recht hatte damals, als ich dir prognostizierte, du würdest es noch bereuen, mich am Leben gelassen zu haben.“

Hinter seinem Rücken gewahrte er nicht Angelo, der sich schwungvoll nach vorne beugte und mit entglittener Stimme daran scheiterte, einen vollständigen Satz zu formulieren. Er gewahrte den Hauptmann der Templer zur Maella-Abtei, der parallel zu ihm stand und stoisch sagte: „Versuchen wir es.“

„Ich hege keinerlei Interesse, mich mit euch auf die Expedition eines Baumes zu begeben, den ich lediglich von Illustrationen aus einem Kinderbuch kenne, in einem Land, über das kein zurechnungsfähiger Professor jemals reflektiert hat. Ich bin nicht einer deiner Chorknaben, Angelo, so sehr du dich auch bemühst, mich in dein Waisenhaus einzusperren.“

„Egozentrisch wie eh und je, wenn du dir so sicher bist, mein Mitleid für dich habe trotz allem, was du in den vergangenen Tagen getan und auf mich gebrochen hast, nicht an Überzeugungskraft eingebüßt.“

„Wie ich dich kenne, hat sie vielmehr zugenommen. Naive Könige können nicht regieren. Sie tun es jedoch trotzdem. Und dies lässt das gesamte Königreich darben.“

„Manche wachsen erst an ihren Fehlern.“

„Und andere nicht einmal daran. Weshalb nimmst du das alles auf dich, wo dir doch klar ist, dass du niemals auch nur ein Danke erhalten wirst? Warum setzt du die Sympathien der dir Wohlgesonnenen aufs Spiel, obwohl dies mit einschließt, vielleicht auch Jessica zu verlieren?“

„Ich muss dem Ring des Templeroffiziers gerecht werden.“

„Und die Sühne des Templeroffiziers besteht deiner Ansicht nach darin, einem verfemten Vagabunden nachzustellen und seine Abtei in der Zwischenzeit sich selbst zu überlassen? Ich weiß, warum, Angelo: Weil du an mir hängst. Weil du dir ein Leben ohne mich nicht vorstellen kannst. Weil du zwar deinen, doch keinen weiteren Tod eines dir Nahestehenden erträgst.“

„Bereits auf Neos habe ich mich damit abgefunden, dich zu verlieren.“

„Damals konntest du dir einreden, ich würde irgendwie überleben. Dieses Mal funktioniert das nicht. Du musst es für möglich erachten, dass ich sterbe, und deshalb traust du dich nicht, zu gehen.“

Angelo stand dort wie eine Statue, in deren Augenhöhlen himmelblaues Wasser schwappte.

Belustigt über diesen Anblick wandte sich der Ältere wieder gen Quelle. „Früher hast du versucht, meine Aufmerksamkeit dadurch zu erhaschen, dich in allem von mir zu unterscheiden, und heute willst du es erreichen, indem du mir ähnlich wirst?“

Ertappt. Die Rüstung rutschte von seinen zu schmalen Schultern. Er presste die Zahnreihen aufeinander. Und dann beugte er sich schwungvoll nach vorne und rief mit entglittener Stimme: „Du sagst, du würdest mich kennen! Aber du kennst mich überhaupt nicht!“

„Das meinst du bloß, weil du dich selbst nicht kennst. Weil du das, was du bist, nicht akzeptieren willst. In deinen Träumen bist du das Pokerface und der Weiberheld – in der Realität hingegen bleibst du der kleine Junge, der mit seinem Säckchen an Habe in die Abtei geschlichen kam.“

„Wenn du meine Träume zu durchschauen glaubst, Marcello, dann begreife ich nicht, wieso du sämtliche Chancen eines Neuanfangs mit Füßen trittst!“

„Deine Träume sind Käfige für alle, die nicht du sind. Du kannst nicht loslassen.“

„Es ist ein Unterschied, nicht aufzugeben oder nicht loszulassen! Ich kämpfe! Ich kämpfe, bis alle meine Strategien und Fertigkeiten erschöpft sind! Auch um meinen Halbbruder! Besonders um meinen Halbbruder. Marcello… Sieh mich an. Dann siehst du, dass der Junge von damals erwachsen geworden ist.“

Eine tröstende Brise aus dem Osten und der Vergangenheit, die das flüchtig erwiderte Lächeln zweier Kinder mit sich brachte.

„Und… wenn du wirklich nicht mehr in die Abtei möchtest, dann…“

Marcello hörte ihn ausatmen. Es war ein dauerndes Ausatmen – das Ausatmen eines Loslassens.

„Wenn du willst, lasse ich alles zurück“, verkündete er seinen Entschluss. „Die Abtei, die Kinder… Jessica. Ich lasse meinen Namen, meine Identität, diesen Ring hinter mir und begleite dich. Ans Ende der Welt. Durch die Hölle, wenn es sein muss. Im Kreis. Egal. Ganz egal. Wohin du auch gehst… lass mich mit dir kommen.“

Stille, welche ihm Gelegenheit gab, über sein Bekenntnis nachzudenken und es zurückzuziehen, doch er nutzte sie nicht. Die Brise hatte sich gelegt. Das Publikum aus Grünzeug verharrte ernst. Angelo geduldete sich. Er fühlte sich jedweder Kräfte beraubt.

„Alles zu seiner Zeit“, lauteten die Worte, mit denen Marcello nichts versprach und nichts vernichtete.
 

Auf einmal hatte Angelo es für unabdingbar gehalten, für die anstehende Reise zu trainieren. Nachdem der Seher sich dann auch noch aufgemacht hatte, um Kräuter und Wurzeln zu sammeln, wozu er der unbedingten Unterstützung seines Schleims und des Drakos bedurfte, war Jessica in der engen Holzhütte allein mit ihm. Die Morastmarionette in der Ecke zählte nicht, denn die zuckte nur dumm, blähte verstohlen und sprach eine Handvoll sich wiederholender Sätze: „Ich sein doof, so ich nix wissen, was du sagen. Tun Leid. Ich tun stinken nun.“

Energisch schrubbte Jessica Albert das Geschirr ab. Die anhaltende Verärgerung bereitete ihr schon Magenschmerzen, wogegen nicht einmal das halbe Dutzend vertilgter Heilkräuter wirkte, obzwar es bis auf das Reiben der Tontöpfe sowie das gelegentliche Knistern von Papier eigentlich ruhig war. Er verbrachte viel Zeit damit, im Bett die Bücher des Sehers zu studieren. Aber dann und wann mussten sie doch aneinander vorbei, wenn er die gelesenen zurück in das Hinterzimmer brachte und neue daraus hervorholte. Sie überbrückte diese unangenehmen Sekunden, indem sie ihm ihren Rücken demonstrierte, und bisher hatte das recht gut geklappt.

Doch dann blieb er mitten in ihrer Begegnungszone stehen. „Was habt Ihr, Miss Albert?“

„Viel zu tun!“, entgegnete sie barsch. Blöde Frage! Der Typ tat, als wäre in Maella überhaupt nichts vorgefallen! An ihrer Hüfte spürte sie den Druck des Koboldmessers. Es wäre ein Leichtes, es jetzt zu zücken und ihm in seinen hohlen Brustkorb zu stoßen. Ihre Hand ertastete die elegante Form des Geschmeides. Was würde mit Rhapthorne geschehen, wenn er starb? Würde er dann ausbrechen können?

„Warum toleriert Ihr mich? Ich weiß, dass Ihr mich hasst.“

Seine Stimme reizte sie. Sie rief ihr die Nacht am Fluss in Erinnerung. „Ich hasse Euch und habe so meine Zweifel, ob Ihr es verdient, am Leben zu bleiben; dennoch verfüge selbst ich über so viel Anstand, einem Menschen, der es offensichtlich nötig hat, zu helfen.“

Seine hageren Hände, die ihren Körper erkundeten… Er gab einen Ton von sich, den sie nicht eindeutig als respektvoll oder abwertend einordnen konnte. „So so. Ich dachte, Ihr wäret schon soweit, mir meine Menschlichkeit abzusprechen.“

Es half nichts, sich in die Aversion retten zu wollen. Ihr war heiß unter dem Haar. „Ich tue es für Angelo. Glaubt mir, dass ich mich Eurer ansonsten längst angenommen hätte.“

„Andere Frauen würden das seinetwegen nicht mit sich machen lassen.“ Im Takt ihrer Herzschläge…

Was wollte er? Warum ging er nicht? „Ich habe Rhapthorne besiegt. Da werde ich mit Euch auch noch fertig.“

…träfe er sie wieder, wieder, wieder. „Und was ist…“

Auffahrend spürte sie plötzlich seinen realen Leib an ihrem Rücken. Gleich den Ranken eines Sehigels schoben sich seine Arme unter ihren Achseln hindurch auf ihren Bauch – genau dort, wo es wehtat.

„…hiermit?“

Die Einbildung, er würde auf der Stelle das fehlende Finale nachholen, entzündete den Seim in ihrem Becken. Jessica war keine Frau für halbe Sachen. Sie war unvollständig. Leer. Und allein die Konstitution dieser Kanaille würde die Brände über- und unterhalb ihrer Hände beruhigen können. „Bastard…“

Sie lastete ihr Gewicht auf jenen frustrierend nüchternen Gegenstand ihrer Sehnsucht.

„Na los… Macht schon… Tut es endlich…“

Dessen Besitzer hielt sie fest. „Es wird nicht das Gewünschte erzielen, Miss Albert. Angelo hängt an mir auf eine andere Weise als er Euch liebt.“

Jessica lehnte an ihm, gar tödlich verletzt. Ihr war, als wäre sie nicht mehr sichtbar, als würde sie transparent werden und die Leere in ihr sich über sie stülpen und sie verschwinden. Der Name der Farbe ist nicht ausreichend, um die Schwärze um sie her zu beschreiben. Übelkeit überwältige sie. War das Rhapthorne…?

Durch einen Schleier nahm sie Angelo wahr, der an ihre Seite stürzte. Erstmals waren wieder Emotionen in seinem Antlitz zu erkennen. Wie schön…

„Jessica! Jessica!“, vernahm sie ihn rufen. „Oh Göttin – lass es nicht die Symptome des Zepterfluchs sein! Lass es nicht die Symptome des Zepterfluchs sein!“

Marcello ließ sie in die Arme des Templers schleifen. „Nun willst du vermutlich sofort in das Dreieckstal aufbrechen.“
 

Der gescheiterte Oberste Hohepriester sollte sein Urteil über Sagen und Legenden noch einmal überdenken: Raya war umgehend bereit, den beiden Freunden ihre Okarina zu überlassen. Sie lehrte dem jungen Prior der Maella-Abtei jene kurze Melodie, welche sie in das Reich der Elfen befördern würde, und da er sie vor dem Steinkreis auf der argonischen Insel spielte, fanden sie sich im Handumdrehen unter der weit reichenden Krone eines alle Vorstellungen sprengenden Baumes wieder. Blätter in der Anzahl von Sternen hingen über ihnen auf der Höhe von Wolken; die von ihnen dicht besiedelten Äste erstreckten sich bis zum Horizont, sodass der Himmel hier kaum zu sichten war. Raya ziemlich ähnliche Gestalten hüpften den Besuchern entgegen, kicherten wie die Mädchen, die einen Blick auf die Templer beim Training erhaschten.

„Sind das alles Frauen?“, wunderte Angelo sich.

Jessica verschränkte die Arme. „Willkommen in deinem persönlichen Paradies, Angelo.“

„Ich meine das ernst!“

„Das sind nicht alles Frauen“, klärte Marcello sie auf, der gerade einen Schritt zur Seite setzte, um den allzu neugierigen Fingern einer quietschenden Elfe zu entgehen. „Die männlichen Vertreter sind nur sehr… wenig männlich.“

„Sieh dir den Baum an, Angelo!“

Er folgte der gezeigten Richtung und verstand: Der Stamm des Weltenbaumes, dessen Durchmesser wahrscheinlich der Länge beider Maella-Inseln entsprach, war morsch und fast schwarz. Von ihrer endlos alten Last erschöpft, beugten sich die Äste trauernd, und von den Zweigen brachen knisternd graue, hoffnungslose Blätter.

Im Strom der Elfen steuerten sie auf ihn zu. „Der Weltenbaum hat groß gelitten unter’m Schwunde eures Glaubens“, teilte ihnen eines der Wesen mit. „Er verwelkt.“

„Was können wir tun?“, fragte Jessica.

„Nichts“, antwortete es, und Angelo begriff nicht, weshalb es dabei lächelte. „Einzig warten können wir, bis es dann zu Ende ist.“

Augenblicklich drehte Marcello sich um und wollte gegen den Schwarm marschieren. „Ausgezeichnet. Gehen wir. Ich habe keine Zeit, irgendjemandem oder irgendetwas beim Sterben zuzusehen.“

„Lasst nicht eure Hoffnung fahren!“, ermutigte die Elfe sie. „Des alten Weltenbaumes Sterben ist nicht schlimm! Denn weil die Menschen wieder glauben, kann ein neuer Spross nun keimen! Und in nur zehntausend Jahren wird er wie der alte sein!“

„Solange kann Marcello aber leider nicht warten“, murmelte dessen Halbbruder.

Die Elfen waren ratlos.

Sie erreichten jene Stelle, an der der Stamm aus dem Boden gewachsen war. Zwischen Wurzeln, mächtig wie Megalodons, berührte Marcello die Rinde. Ganz sacht legte er seine knochenweiße Hand auf, als wollte er den gequälten Baum trösten. Dennoch bröckelten einige kohleartige Partikel ab. „Du hast alles versucht“, sagte er abschließend, und der Angesprochene wandte sich wie von einem Degenhieb getroffen ab.

Die Bewohner dieses Reiches drückten ihr geteiltes Leid in einem synchronen Seufzen aus.

„Na fein“, stieß Angelo dann aus. „Fein!“, wiederholte er. „Dann sei es so! Da kann man wohl nichts machen! Tja! Pech! Was soll’s?“

Marcello betrachtete ihn.

„Es ist in Ordnung! Wir können zwar zaubern, aber keine Wunder vollbringen. Tja. Wie auch immer. Kommt, gehen wir.“ Und er ging tatsächlich. Nach vier Schritten jedoch hatte Jessica zu ihm aufgeschlossen und langte nach seiner Schulter, riss ihn zu sich herum.

„Du Falschspieler! Du Lügner! Du Volltrottel!“

Durch die Reihen der Rayas zog ein Raunen.

„Jessica, was…?!“

„Weißt du, was ich hasse?“ Ihre roten Iriden funkelten ihn an. „Man sucht Stunden nach einem einzigen Metall-Königsschleim – dann kommt er und grinst dich fett an! Du wirst ihn jede Sekunde attackieren und betest zur Göttin, dass du triffst und ihm wenigstens eine Schramme verpasst – da dreht er sich um, und du siehst gerade noch so seinen riesigen Metallhintern in der Ferne verschwinden! Hast du Yangus’ Worte vergessen?! Hältst du uns immer noch für so einfältig, deine ewige Farce nicht zu durchschauen?! Warum tust du das?! Wieso spielst du den lässigen, unantastbaren Dandy, während dein Bruder direkt neben dir stirbt?! Wir haben dir doch versprochen, dass es in Ordnung ist! Yangus hat es versprochen! Ich verspreche es! Und unsere Freunde aus Trodain haben es dir sowieso schon immer gewünscht! Es ist nichts Falsches daran, seinen Bruder hilflos zu lieben! Egal, was passiert ist! Egal, ob du Hauptmann der Templer bist und er der Mörder des Obersten Hohepriesters! Egal, was die sich komplett an dich verloren habende Jessica Albert davon hält! Über zehn Jahre lang hast du die Stärke bewiesen, ihn trotz allem niemals aufzugeben, und jetzt, wo dich nur noch Schritte von ihm trennen, kapituliert Angelo plötzlich vor der Rolle des sich für alles verantwortlich sehenden Hauptmanns der Maella-Abtei?! Angelo – noch hast du die Wahl! Weine lieber jetzt als später für den Rest deines Lebens, weil du bereust, dich abgekehrt zu haben! Denk doch bloß an Alistair! Ein letztes Miteinander war mir nicht mehr gegeben. Ich musste ihn gehen lassen – unvermutet, unvorhergesehen! Aber du hast die Chance! Angelo! Für mich und alle verwitweten Geschwister auf der Welt: Kehr dich nicht ab! Verstell dich nicht länger! Zeige uns den Angelo, den bisher nur Marcello kennt! Ich weiß doch, dass es das ist, was du willst. Und… Es wird hart für mich, aber wenn du es brauchst, Angelo, wenn du es brauchst, dann… bin ich bereit, hinter ihn zu treten, dich mit ihm gehen zu lassen – ans Ende der Welt. Oder durch die Hölle, wenn es sein muss.“

„Du hast zugehört?!“

Sie lächelte wie zum Abschied. „Ich liebe dich zu sehr, Angelo. Ich will, dass du glücklich bist. Dann bin auch ich glücklich. Lebe und liebe keine Lüge. Gesteh dir ein, wer dir schon immer am wichtigsten war und es weiter sein wird. Geh mit ihm. Die Aufgabe der Liebe ist nicht, festzuhalten. Die Aufgabe der Liebe ist es, da zu sein. Um dich aufzufangen. Ich kann auf dich warten, Angelo. Marcello kann es nicht.“

In dem Moment tat sich etwas: Ein glitzernd klingendes Leuchten lockte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf eine Stelle weit oben im Dach des scheidenden Weltenbaumes. Es versiegte, und wo es gewesen war, knisterte, knirschte es trocken, ehe die Borke aufbrach und unter dem Staunen des Elfenchores ein Tropfen Harz hervorquoll.

„Berührt ist unser Weltenbaum“, murmelte eine Elfe, „dass ihm ein Tränchen gar entfleucht.“

Jessica fing den Nektar, welcher aussah wie ein goldener Schleim, auf. Der Heiligen Jungfrau Maria gleich, die dem Wort der Mutter nach die Gebote der Göttin an die Menschen weitergegeben hat, schritt sie auf Angelos Halbbruder zu. Doch der war nicht gewillt, die Gabe entgegenzunehmen: „Trinkt Ihr ihn. Ihr habt es verdient.“

„Und Ihr es nötiger.“

„Jessica. Inzwischen tragt Ihr auch die Verantwortung für jemand anderen.“

Ihr Antlitz rüstete sich mit Verärgerung. „Für Angelo? Nicht so schnell! Für den sind wir gefälligst beide gleich doll verantwortlich!“

„Ihr habt doch Schmerzen? Zwar lasst Ihr Euch nichts anmerken, doch sie sind intensiver geworden.“

„Woher…?“ Die Frage blieb fragmentarisch.

Marcello bettete eine Hand auf seinen rechten Unterarm. „Dass ihr Rhapthorne damals nicht vernichtend schlagen konntet, ist allein meinem unwissenden Eifer zuzuschreiben. Dass der Fürst der Finsternis in mir fortbesteht, ist meine persönliche Schuld. Ich schnitt mir ins eigene Fleisch… eine mit seinen Zellen kontaminierte Klinge. Ihr habt folglich nichts vor ihm zu befürchten – dessen bin ich mir ziemlich gewiss. Doch Rhapthorne ist nicht die einzige Plage, die einen menschlichen Organismus befallen kann, auch wenn Angelo in den vergangenen Tagen blind für andere Übel geworden ist.“

„Ich kann das nicht machen.“

„Und ich kann mein verbrauchtes Leben nicht einem unbegonnenen vorziehen.“

„W-was?“

„Eure Ansprache war in ihrem Aufbau eine Katastrophe, doch soweit meine Zustimmung erweckend. Nur in einem habt Ihr Euch geirrt: Ich werde niemals in der Lage sein, ihn glücklich zu machen.“

Er ließ keine weitere Widerrede zu. Erst nach Aufnahme des gesamten Nektars löste sich der Strick um Jessicas Leib endlich, und sie atmete erschrocken durch.

Angelo stand da mit einem verheulten Gesicht wie ein kleiner Junge. Er wusste, was nun kommen würde: Marcello würde sterben.
 

Die Nacht lehnte sich über die Verlorenen Haine, als sie zurückkehrten. Wind fuhr durch die Blätterschöpfe. Der Mond betrachtete das Treiben auf der Erde. Marcello saß neben Raya auf der Weide vor dem Schrein des Weisen Kupas. Er musterte sie, die gen Himmelszelt blickte, als träumte sie davon, auf den Sternen zu tanzen.

Dann musste er husten. Er hörte nicht auf, obzwar es keinerlei Verbesserung bewirkte. Die Erlösung fand Minuten später willkürlich statt, und als er daraufhin seine Hand vom Mund entfernte, registrierte er, dass sie blutverschmiert war. „Die Elfen teilen die Religion der Menschen nicht“, begann er, um seinen Anfall nicht die einzige Störung darstellen zu lassen. „Weswegen nährt jedoch deren Glaube ihren Baum?“

Rayas Augenmerk blieb an der glaukblau bewölkten Kuppel haften. „Es ist nicht wichtig, was man glaubt. Wichtig ist, dass man es tut. Zu glauben schenkt Hoffnung. Zu hoffen schenkt Kraft. Wir sollten weniger auf das achten, was uns trennt, als vielmehr auf das, was uns eint. Ganz gleich, wer an was glaubt: Warum wir glauben, warum wir hoffen – der Grund ist in jeder Religion, bei jedem Geschöpf derselbe. Manchmal ist es besser, nicht zu hinterfragen, was uns zweifeln lässt, sondern auf das zu vertrauen, was uns Kraft gibt.“

„Man sollte sich nicht allein auf die Religion verlassen“, gab er zu bedenken. Andererseits jedoch auch nicht nur auf sich selbst, lenkte er dann ein. Die Göttin existiert – in den Gläubigen. Sie ist deren Überzeugung, deren Taten. Sie ist der Antrieb. Marcello begriff, dass seine Diskussionen mit Maria überflüssig waren, doch irgendwie nicht sinnlos. Und er fragte sich, ob sie ihn gerade sehen konnte.

Er bekam nicht mit, dass, nachdem er sich schlafen gelegt hatte, sein übriges Familienmitglied ins selbe Zimmer huschte, sich umschaute, die Schuhe abstreifte und zu ihm ins Bett schlüpfte, wo es sich ganz dicht an ihn schob und ihn mit sämtlichen Extremitäten umklammerte. Nun wusste Angelo, wie es ist, kalt zu sein. Er wollte niemals so werden, allerdings hatte er Angst, dass der Gedanke, seinen großen Halbbruder zu verlieren, ihn sonst zerstören würde. Er konnte nicht loslassen.



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