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Und sie spielten Schicksal (K)

Clash Of Worlds
von

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Und sie spielten Schicksal

Ich öffnete den Reißverschluss der Gitarrentasche mit einer Hand und einem entschlossenen Ruck, während ich mit der anderen das Headset in mein Ohr einsetzte und mit ein paar wenigen Griffen sicherstellte, dass es sich nicht demnächst verabschieden würde.

„Bin da“, meinte ich kurz angebunden, sobald ich es angeschaltet hatte.

Keine Antwort. Allerdings war ich mir sicher, dass man mich am anderen Ende der Leitung gehört hatte. Es knackte leise.

Ich stellte die Stütze für den Gewehrlauf auf die niedrige Palisade des flachen Daches, schob sie noch etwas hin und her, bis ich der Meinung war, sie am richtigen Fleck stehen zu haben.

Als ich mein Gewehr von den Klettverschlussriemen, die eigentlich für den Gitarrenhals gedacht waren löste, vernahm ich leises Rascheln aus dem kleinen Lautsprecher in meinem Ohr.

„Wie weit bist du?“

Einer gepolsterten Extratasche, die gerade noch am Boden der Gitarrenhülle Platz gefunden hatte, entnahm ich das Zielfernrohr und fixierte es mit geübten Handgriffen auf das Gewehr.

„Fast fertig.“

Mit einem Klicken schob ich ein volles Magazin ein und lud durch.

„Ah ja, ich höre schon“, murmelte Hiroshi wohl eher zu sich selbst, als zu mir. Ich griff abermals in die Gitarrentasche und holte zwei weitere Magazine heraus. Zur Sicherheit. Man wusste nie.

Geflissentlich nicht nach unten sehend, postierte ich mich auf den Knien, ehe ich mich langsam in Bauchlage begab und etwas hin und her rutschte.

Es war wirklich bescheuert, aber jedes Mal, wenn ich für Keiji oder Hiroshi irgendwo auf einem Dach herumkroch, hatte ich Höhenangst. Jahrelang war ich ohne Sicherung durch meterhohe Ruinen und Gewölbe geklettert, war in absolute Untiefen gestiegen – nie hatte ich auch nur einen Gedanken an Angst verschwendet.

Und jetzt bekam ich auf Hochhäusern ein mulmiges Gefühl und weigerte mich strikt, nach unten zu blicken. Es sei denn, es geschah durch die Zielvorrichtung der Dragunov.

„Hab's“, brummte ich, als der Lauf der Waffe in der Stütze lag, der Kolben gegen meine Schulter drückte und meine Wange das kalte, glatte Material der Waffe berührte.

„Wenn alles nach Plan läuft, haben wir noch zehn Minuten.“

„Dann kann ich ja noch ein kurzes Nickerchen machen.“

Hiroshi schwieg.

„Komm runter, Mann, das war ein Scherz.“

„Ich weiß.“

Er klang missmutig und angespannt. Anders, als sonst. Nun legte sich auch auf meine Mundwinkel ein bitterer Zug und das leichte Schmunzeln von eben verschwand, denn ich wusste was der Auslöser für seine Stimmung war.

„Mir ist nicht wohl bei der Sache, Yuudai.“

Mir schon, dachte ich und sagte aber „ich weiß“.

„Es ist ein enormes Risiko, so.“

„Mhm.“

Hiroshi seufzte und ich merkte, wie meine Laune immer weiter in den Keller sank. Es gab nur eine Sache, wegen der mein Schwager und ich uns ins Gehege kamen.

„Die haben auch Geiseln“, fuhr Hiroshi fort und ich sah seinen Blick, seine Gestik, die ganze Haltung vor mir, während er das sagte.

„Und wir haben ein geübtes Einsatzteam.“

„Ein Einsatzteam, das dich noch nie gesehen hat.“

„Und das ist, verdammt nochmal, gut so.“

Er seufzte erneut.

„Sie arbeiten mit einem Phantom zusammen, von dem sie nichts wissen. Würdest du dein Leben gerne-“

„Hiroshi“, unterbrach ich ihn bestimmt und etwas lauter, als ich bisher mit ihm gesprochen hatte. „Wir hatten diese Debatte schon oft. Und wir haben sie bei solchen Einsätzen wirklich jedes Mal und ich kann dir, bevor wir uns weiter streiten gleich die Antwort geben, die dabei herauskommen wird: Nein!“

„Du stellst dein eigenes Wohl über das aller anderen. Wir sind zur Sicherheit der Allgemeinheit hier und ich möchte behaupten, die hat Vorrang über persönliche Interessen.“

Einen Moment lang schloss ich meine Augen und atmete tief durch. Ich wusste, dass er nicht aufgeben würde und ich wusste, dass er recht hatte. Dennoch weigerte ich mich, dem nachzugeben und ich würde mich auch noch so lange dagegen weigern, wie er mich für solche Einsätze brauchte.

„Ich habe zehn Jahre lang das Wohl der Allgemeinheit über mein eigenes gestellt“, erwiderte ich bitter. „Und diese zehn Jahre waren eine verdammt lange Zeit.“

„In diesem Business“, kam es postwendend zurück, „hat ein Ego wie deines keinen Platz.“

„Ich mache das hier nicht, weil es mir Spaß macht. Wenn du willst, packe ich sofort alles wieder ein und gehe nach Hause. Ich bin mir sicher, du würdest einen würdigen Ersatz für mich finden.“

Ich hörte ihn durchatmen.

„Schau. Wir brauchen dich. Einfach, weil du gut und verlässlich bist. Aber das wissen eben nur wir. Keiji und ich. Keiner der Anderen. Und genau das ist das Problem.“

„Schön. Dann gehe ich eben morgen mit allen Kaffee trinken.“

Yuudai!

„Was?!“

„Du weißt genau, dass es das nicht bringt. Du weißt genau, dass es darum geht, dass dich mindestens einer von ihnen gut kennt. Einer, der lange mit dir zusammengearbeitet hat und mehr über dich weiß, als dass du eine krumme Nase hast, hinkst und mein Schwager bist.“

„Lass meine Nase und mein Bein aus dem Spiel.“

Ich konnte förmlich hören, wie sein Geduldsfaden riss.

„Bitte. Könntest du dich jetzt einfach mal auf das eigentliche Thema konzentrieren?!“

„Das eigentliche Thema ist gegessen. Ich bleibe bei meiner Antwort.“

„Er ist geübt. Er hat mir oft geholfen. Er ist professionell. Wie du.“

„Ja und beim letzten Mal hätte es ihn fast das Leben gekostet.“

„Was definitiv nicht meine Schuld war.“

„Es war niemandes Schuld. Dieser Pisser war eben einfach zu schlau für uns.“

Eine lange Stille breitete sich aus.

„Hiroshi. Ihr habt nach einem Schützen gefragt. Und voilá, hier bin ich. Ihr habt einen Schützen. Von Mogura war nie die Rede.“

„Dein Trotz ist-“

„-unglaublich, ich weiß. Wann sind die zehn Minuten um?“

„Wir haben noch fünf.“

„Verdammt.“

Ich verfiel in verbittertes Schweigen.

Als ich mich zu Hause fertig gemacht hatte, war Mogura bereits im Arbeitszimmer in einem der Sessel gehockt und hatte sich in der Edda vergraben. Er hatte mich keines Blickes gewürdigt. Nicht, als ich mich verabschiedet hatte, nicht als ich ihn küssen wollte, nicht als ich dann endlich gegangen war. Und er würde mich auch keines Blickes würdigen, wenn ich wieder nach Hause kam.

Ich griff in meine Jackentasche und holte ein flaches Metalletui hervor, öffnete es mit einem Klicken und holte eine Zigarette heraus, welche ich mir zwischen die Lippen steckte, um sie mit einem Feuerzeug zu entfachen.

Das Feuerzeug war pink und billig und hielt die Flamme erst beim vierten Versuch. Ich hatte es auf dem Weg hier her bei einer Tankstelle gekauft.

Das Etui mit den Zigaretten hatte ich im Koffer meiner Dragunov gefunden, als ich sie in die Gitarrentasche verpackt hatte.

Die Kippe schmeckte ausgedörrt und meine schlechte Laune wuchs mit jedem Zug weiter an.

Warum sollte ich mich auch zusammenreißen, wenn ich den Unmut, den mein Mann bereits jetzt auf mich hegte, genau so gut noch etwas schüren konnte? Wenn er schon sauer war, dann sollte er es auch richtig sein, dass ich noch länger was davon hatte.

„Du rauchst.“

„Ach.“

„Hattest du dir das nicht abgewöhnt?“

„Offensichtlich nicht.“

Einen Augenblick lang war ich selbst überrascht von der Kälte, die in meiner Stimme mitschwang, obwohl Hiroshi besorgt geklungen hatte, hörbar um ein anderes Thema bemüht.

„Was... macht Mogura jetzt, während du weg bist?“

„Würde es dir etwas ausmachen, seinen Namen einfach nicht mehr zu erwähnen, solange wir hier sind? Danke.“

Ich schwieg einen Moment, rief mich innerlich zur Ordnung und fuhr fort, nachdem ich tief durchgeatmet hatte.

„Er liest. Lernt. Die Edda.“

„Die ganze Zeit?“

„Die ganze Zeit.“

„Und wenn du nach Hause kommst?“

„Liest er weiter.“

„Hm.“

Ja. 'Hm' traf es ganz gut. Mehr gab es dazu auch nicht zu sagen. Außer vielleicht 'Scheiße' oder 'bescheuert'. Irgendetwas in der Richtung.

Fakt war, dass es jedes Mal – wirklich jedes Mal – wenn entweder Mogura oder ich zu einem Außendiensteinsatz herangezogen wurden, derjenige von uns, der zu Hause bleiben musste, absolut frustriert herum saß und versuchte, seine Wut unter Kontrolle zu bringen. So lange, bis der Aushäusige zurückkehrte und endlich wieder anwesend war, um die unterkühlte und gespannte Stimmung zu genießen, bis wir uns stritten, oder wahlweise ignorierten und schließlich irgendwann, nach langatmigen Diskussionen wieder vertrugen.

Absolut prickelnde Aussichten und eine sehr gute Voraussetzung für eine weiterhin entspannte Ehe.

„Du solltest nicht so viel rauchen“, vernahm ich Hiroshis leise Worte, als ich einen tiefen Zug an der fast zu Ende gerauchten Zigarette nahm und den Rauch mit einem stummen Seufzen wieder aus meinen Lungen entließ.

„Ich weiß“, erwiderte ich kurz angebunden.

Ja. Ich wusste es wirklich. Und ich wusste auch, dass Mogura mich wieder so ansehen würde, wie er mich immer ansah, wenn ich rauchte. Beleidigt, sah er mich an. Enttäuscht, gekränkt. Und sauer. Alles mit absoluter Berechtigung. Er hatte immerhin allen Grund dazu.

Und trotzdem griff ich nach der nächsten Zigarette, als ich die erste am Blech der Palisade ausgedrückt und vom Dach geschnippt hatte.

Es war einfach ein gottverdammter Teufelskreis.
 

Hiroshi sah mir besorgt entgegen, als ich das leerstehende Gebäude verließ, die Gitarrentasche locker geschultert.

Ich hatte nur halb damit gerechnet, dass er auf mich wartete.

Während ich auf ihn zuging, glitt sein Blick einmal von meinem Gesicht nach unten, bis zu meinen Füßen und wieder zurück. Als ich vor ihm zum Stehen kam, wartete ich schweigend, bis er mit der Musterung fertig war. Er sah mich seit einigen Jahren so an – ebenso, wie alle anderen. Seit der Sache mit Südafrika.

Und wer konnte es ihnen schon verdenken?

Manchmal kam ich mir vor, als wäre alles erst gestern passiert. Oder vor zwei Wochen. Es gab Tage, an denen alles wieder furchtbar präsent war, an denen mir mein Bein und mein Rücken schmerzten, obwohl alles längst verheilt war.

Irgendwann, als das Schweigen sich in die Länge zog, fiel mein Blick auf Hiroshis Hand, in der er einen kleinen Stapel Zettel trug. Das Papier war zu einer Rolle zusammen gedreht, die er auf Bauchhöhe hielt.

„Du hast dich verändert“, meinte der Kleinere irgendwann.

Etwas ertappt wandte ich mich von dem Stumpen ab, der einmal sein Ringfinger gewesen war.

Er hatte Recht. Die Wahrheit dieser Tatsache, die bereits seit Jahren zwischen uns allen im Raum gestanden hatte und um die jeder gewusst hatte, traf mich genau in diesem Augenblick wie ein Schlag.

Plötzlich sah ich, dass er blass war, sah die Ringe unter seinen Augen und die Fältchen zwischen den Brauen. Er war älter geworden, so wie wir alle. Dreizehn Jahre waren eine lange Zeit. Eine Zeit, die viel mit einem machte, die einen zeichnete und die ihre Spuren hinterließ. Und jeder von uns allen hatte dies zu spüren bekommen.

„Wir alle haben uns verändert“, erwiderte ich schließlich matt und schaffte es irgendwie nicht, ihn anzusehen.

„Haben wir“, stimmte er mir zu und nickte, als müsse er sich seine Worte selbst noch einmal bestätigen.

Während ich ihn ansah, fiel mir auf, dass ich vor etwa einer halben Stunde drei Männer und eine Frau erschossen hatte. Vier Morde, die ich bereits fast wieder vergessen hatte.

Gedankenverloren zog ich die letzte Zigarette aus dem Etui und entzündete sie.

Was war aus uns allen geworden? Was hatten die Jahre mit den Skrupeln, die wir hatten, gemacht? Ich wusste es nicht.

Dann musste ich plötzlich lächeln. Es war ein bitteres Lächeln, das Hiroshi dazu brachte, mich verdutzt anzusehen.

„Was ist los?“

„Nichts“, sagte ich. „Ich habe nur eben darüber nachgedacht, dass Mogura und ich uns jedes Mal in den Haaren liegen, wer von uns beiden denn zu diesen Außeneinsätzen hier gehen darf und soll, und wer nicht. Ich meine... wir streiten uns darum, wer dieses oder jenes Mal zum Mörder werden darf. Was ist daran noch normal?“

Diese Worte ließ ich einfach so in der Luft zwischen uns hängen. Ich hatte den Gedanken noch nicht weiter geführt und war mir auch nicht sicher, ob ich es wirklich tun wollte.

„Nein“, meinte Hiroshi dann irgendwann und schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist falsch.“

Während er weitersprach, gestikulierte er mit seiner Papierrolle in meine Richtung.

„Ich bin mir sicher, es geht nicht darum, wer mit Töten dran ist. Es geht darum, dass ihr beide euch einfach nicht alleine lassen könnt. Keiner von euch will, dass der andere das tut, was … wir hier nun mal tun.“

Ich schwieg.

„Ich hab oft darüber nachgedacht“, fuhr Hiroshi fort, „dass ich vor dreizehn Jahren einfach nur Streifenpolizist war. Dass ich meine geregelten Schichten hatte, hier und da mal eine Schlägerei geschlichtet und dort mal ein paar Leute verhaftet habe. Und jetzt organisiere ich von der Regierung angeordnete Morde. Ich spiele Schicksal für irgendwelche Leute, die auf die schiefe Bahn geraten sind.“

„So wie wir“, brummte ich.

„...so wie wir“, stimmte er mir nach kurzem Überlegen zu. „Nur... naja. Eben anders. Ich habe mir oft überlegt, ob ich mit diesem Zeug nicht aufhören will. Ob ich wieder zurückstecken will. Weniger Geld verdienen, dafür einfach einen menschlichen Job, verstehst du? Hauptkommissar, oder so.“

Er zuckte mit den Schultern und seufzte leise.

„Aber ich glaube nicht, dass ich das noch kann. Genauso, wie du nicht wieder in deiner Videothek arbeiten könntest.“

Während ich ihn ansah und ihm zuhörte, ließ ich mir all seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Ich dachte an mein Bein. Ich dachte an Moguras gespaltene Oberlippe und Wange. An Hiroshis Finger. An Hirayas glatten Durchschuss und all die Narben, die wir davongetragen hatten während der vergangenen Jahre.
 

Ich wusste nicht genau, was mich geritten hatte, als ich Hiroshis Vorschlag, noch etwas essen zu gehen, zugestimmt hatte. Jedenfalls saß ich jetzt hier in einem klassischen Fastfood Restaurant auf einer Kunstleder-Sitzbank, die Gitarrentasche neben mich gelegt und starrte missmutig in meine Cola. Hiroshi mir gegenüber tat es mir gleich.

„Eigentlich will ich gerade gar nicht nach Hause“, murmelte ich irgendwann und erschrak selbst ob meiner Worte.

Auch mein Gegenüber sah mich etwas überrascht an, antwortete jedoch nicht. Ich war ihm dankbar dafür, denn wenn er mich jetzt unterbrochen hätte, hätte ich die Sache wohl einfach auf sich beruhen lassen.

„...ich hasse es, wenn er wütend auf mich ist.“

Wie von selbst sank meine Stirn in meine Hand und ich fuhr mir durch die Haare.

„Genau genommen hasse ich mich selbst, wenn er wütend auf mich ist. Weil ich ihn soweit gebracht habe. Weil er sich wegen mir Sorgen macht, wegen mir zornig wird, weil ich unser Zusammenleben mit meinen Sturheitsanfällen störe und weil...“

Ich schüttelte den Kopf.

„Aber ich will nach Hause. Immerhin wartet er auf mich. Und was mach ich? Ich sitze hier herum, rede Müll und bade in Selbstmitleid.“

Würde es ihn interessieren, wenn ich ihm schrieb, dass alles okay war und ich bald nach Hause kam? Würde er antworten? Würde er mich dann anders begrüßen?

Lustlos rührte ich mit dem Strohhalm herum.

„Das ist alles ziemlich scheiße, hm?“, erhob Hiroshi dann doch das Wort.

„Nein, eigentlich macht es mir echt Spaß.“

Er sah mich scharf an.

„Yuudai, solche Scherze haben hier nichts zu suchen.“

„Ja, selbst dann nicht, wenn sie etwas verloren haben.“

„Hör auf damit.“

„Ja, du hast recht. Wir sollten lieber noch ein paar Leute abknallen, anstatt hier dumm rum zu reden. Es ist so voll hier.“

Er stieß mir grob gegen das Schienbein. Ich reagierte nicht, sondern zog mein Handy aus der Innentasche meiner Jacke. Als ich den SMS-Bildschirm geöffnet hatte, legte ich es jedoch wieder beiseite.

„Schreib ihm.“

Mit gehobenen Augenbrauen sah ich Hiroshi an.

„Hast du denn Minako schon geschrieben?“

„Schon lange.“

Oh Gott. Gab es diese Nacht eigentlich noch etwas, was nicht beschissen lief?

Wie auch immer. Ich schrieb ihm.
 

„Alles gut. Bin bald daheim.

Essen eben noch was.

Bis später.“

»Senden«
 

Es verlangte mich danach, noch etwas wie 'ich liebe dich' oder '<3' hinzuzufügen, doch irgendetwas in mir hielt mich davon ab. Vielleicht das enorme Ego, das laut Hiroshi hier keinen Platz hatte.

Kurz überlegte ich mir, wie ich wohl reagieren würde, wenn ich in Moguras Situation wäre und er mir eine solche Nachricht schickte.

Essen eben noch was.

Einen Augenblick lang fühlte ich mich, als hätte ich nicht diese Worte gewählt, sondern stattdessen etwas wie 'Hier geht die totale party ab, man du verpasst echt den spaß deines lebens!' geschrieben.

Ohne eine Antwort zu erwarten, schob ich das Handy von mir weg und widmete mich wieder meiner Cola.

Sie war dunkelbraun und sprudelte vor sich hin. Ich ließ meinen Gedanken ein Weilchen freien Lauf, doch als ich damit begann, mein Getränk mit einem Eimer Scheiße zu vergleichen, ließ ich es lieber wieder bleiben.

„Was ist eigentlich los mit dir?“, brach Hiroshi die unangenehme Stille und als ich meinen Kopf hob, bemerkte ich, dass er mich wohl die ganze Zeit durchdringend angesehen hatte.

'Gute Frage', wollte ich sagen. Oder 'sag du's mir'. Kurz spielte ich sogar mit dem Gedanken mit 'Ich schwimme in einem Eimer Scheiße' zu antworten, doch letztendlich zuckte ich nur die Schultern.

„Es sprudelt“, sagte ich dann irgendwann.

„Wie bitte?“

Offensichtlich hatte ihn diese Antwort sehr verblüfft – ich konnte es ihm nicht verdenken.

„Im Becher“, fügte ich also noch hinzu.

„Ah.“

Wenn er mich jetzt für debil erklären würde, wäre ich ihm vermutlich nicht einmal beleidigt. Ich griff nach dem Strohhalm und rührte in der Cola herum. Ich hörte, wie die kleinen Bläschen an der Oberfläche platzten.

Und dann begann ich zu reden.

„Wie kann man es verlernen, menschlich zu sein, Hiroshi?“

Der zweifelnde Ausdruck verschwand von seinem Gesicht.

„Wie meinst du das?“, fragte er.

„Sieh uns an. Skrupellose Mörder. Du hattest vorhin recht mit dem, was du gesagt hast. Wir könnten nicht mehr in normalen Berufen arbeiten. Weil wir verlernt haben, einfach normal zu sein. Wir haben verlernt, wie normale Menschen zu denken, wir können nicht mehr wie normale Menschen fühlen. Die Zeit hat uns zu Arschlöchern gemacht.“

Sein Mund öffnete und schloss sich kurz darauf wieder. Ratlos sah er mich an. Hilflos.

Insgesamt sah er ein bisschen aus, wie ich mich fühlte.

Dann sah er sich kurz um. Es war nicht besonders voll hier und die meisten Leute, die da waren, saßen alleine über ihre Tabletts gebeugt und aßen still vor sich hin. Das hier war also nicht der richtige Ort, um derartige Gespräche zu führen.

„Gehen wir.“

Als er das gesagt hatte, erhob ich mich. Mein Tablett ließ ich gänzlich unberührt zurück und wenn ich ehrlich war, fiel mir jetzt erst auf, dass außer dem Becher auch noch eine große Packung Pommes darauf lag.
 

'...und zum Schluss würde uns noch interessieren, wie Sie darüber denken, liebe Zuhörer! Schreiben Sie uns auf Twitter ihre Meinung dazu!'

Die krankhaft gut gelaunte Stimme des Radiosprechers war mir bereits während der Fahrt hierher auf die Nerven gegangen. Gesagt hatte ich nichts, denn Hiroshi schien konzentriert zuzuhören. Vielleicht brauchte er dieses bisschen heile Welt um wieder auf andere Gedanken zu kommen.

„Um was ging es gerade?“, wollte ich wissen. Nicht, weil es mich interessierte, sondern eher um eine Konversation zu starten, während ein schrill-fröhlicher Popsong mit eingängigem Bassrhythmus die Lautsprecher erzittern ließ.

„Überwachungskameras in den Fußgängerzonen.“

Ich schwieg, denn jetzt wo ich tatsächlich eine Antwort bekommen hatte, kam mir die Möglichkeit, mit meinem Schwager zu reden, gar nicht mehr so verlockend vor. Seit wir im Auto saßen, war auch das plötzliche Verlangen über unser Leben zu reden verschwunden. Als ob ich es auf meinem Tablett vergessen hätte.

Nach knappen zwei Minuten – ich hatte zum Zeitvertreib auf meine Armbanduhr gesehen – wurde das Lied langsam ausgeblendet und von noch schrillerer Werbung übertüncht. Man pries uns abwechselnd verschiedene Krankenversicherungen, Schmerztabletten und Joghurts mit und ohne Ecken zum Knicken an und ich ärgerte mich ein bisschen darüber, nichts von meinem Essen angerührt zu haben. Auch, wenn ich nicht wirklich Hunger hatte.

Ich gähnte und streckte mich, stutzte jedoch, als ich die blinkende Leuchtreklame des Fastfood Ladens, den wir vor Kurzem verlassen hatten, aus dem Augenwinkel an uns vorbeirauschen sah.

„Hier waren wir doch eben schon.“

Hiroshi nickte.

Ich setzte mich gerade hin und konzentrierte mich erstmalig auf das, was auf der Straße um uns herum vorging.

„Siehst du den Wagen da hinten?“, wollte Hiroshi mit einem kurzen Kopfrucken in Richtung Heckscheibe wissen.

Ich warf einen Blick in den Seitenspiegel.

„Ja.“

„Der klebt an uns, seit wir vorhin losgefahren sind.“

„Sind das deine Kollegen, die mit mir einen Kaffee trinken wollen?“

„Bestimmt.“

Wir tauschten einen Blick.

Meine Brauen zogen sich zusammen.

„Die kaufen wir uns.“
 

Wie ich es letzten Endes bis nach Hause geschafft hatte, wusste ich nicht mehr. Ich wusste auch nicht mehr, wann, wie und wo ich mir diesen verdammten Hochmut zugelegt hatte, der Hiroshi und mich beinahe einiges mehr als ein paar leichte Wunden und Kratzer gekostet hätte.

Warum war mir nicht bewusst gewesen, dass wir das nicht alleine schaffen konnten? Warum hatte ich fest daran geglaubt mindestens dreimal so gut, wie alle anderen zu sein? Wir hätten einfach fahren sollen. Fahren. Nicht aussteigen.

Die Wohnungstür öffnete sich, als ich meine Hand nach ihr ausstreckte und Mogura stand vor mir.

Seine Augen waren feucht, sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen. Schlagartig wurde mir klar, woher dieses klamme, drückende Gefühl in meinem Innern gekommen war.

Wir starrten uns an. Lange.

Und mit jeder verstreichenden Sekunde kam es mir vor, als würde er weiter wachsen. Er baute sich förmlich vor mir auf und irgendwann ragte er meterweit über mich hinaus, obwohl er noch immer einen Kopf kleiner war, als ich.

Sein Blick bohrte sich in meinen und während er so von oben auf mich herab sah, wurde mir klar, dass das hier um einiges schlimmer war, als Zitate aus der Edda. Oder angeschrien zu werden.

Herrgott, hätte er mich doch nur angeschrien.

Hätte er mir doch jetzt stur lyrische Passagen aufgesagt.

Hätte er mich doch einfach ignoriert und mir die kalte Schulter gezeigt, wenn ich versuchte, ihm näher zu kommen.

Er tat nichts davon.

Dann holte er aus und ich kniff meine Augen zusammen, machte mich auf einen Kinnhaken gefasst ….- und wurde gepackt und in die Wohnung gezerrt.

Grob bugsierte er mich ins Bad, setzte mich mit einem Ruck auf den Klodeckel und griff wortlos nach dem Verbandskasten.

Verbissen wühlte er darin herum, legte sich Pflaster und Verbände heraus und kam schließlich mit einer Flasche Desinfektionsmittel auf mich zu.

Es brannte unangenehm und schmerzte, während er mich stumm versorgte, doch ich machte keinen Mucks, scheute mich sogar davor, zu blinzeln.

Ich wusste genau, dass das hier noch nicht alles war.

Seine Wut war greifbar, brachte die Luft um ihn herum zum flimmern und es war nur noch eine Frage der Zeit bis die sirrende Spannung sich entlud.

Meine Gedanken schweiften ab, während Mogura arbeitete, weshalb ich ihm nur hinterher stolperte, als er mich wieder aus dem Bad in den Flur zerrte.

Und dann starrten wir uns wieder an.

Je länger er schwieg und je länger das große Donnerwetter auf sich warten ließ, desto mehr sehnte ich herbei, dass irgendwas geschehen mochte.

Zu guter Letzte hoffte ich darauf, dass er mich endlich schlug.

Und kaum hatte ich das gedacht, prallte seine Handfläche auf meine Wange und mein Kopf flog zur Seite, während sich heiß brennender Schmerz durch mein Gesicht fraß.

Noch ehe ich mich erholen konnte, wurde ich in seine Arme gezogen – allerdings nicht sonderlich sanft. Als er dann seine Lippen auf die meinen presste, glaubte ich tatsächlich kurz, dass ich aufgrund seiner Ohrfeige in Ohnmacht gefallen war. Erst, als seine Hände ungeduldig an meinem Pullover zerrten und seine Zunge sich zugleich in meinen Mund drängte, erwachte ich aus meiner Starre und mir wurde klar, dass das hier die Realität war, nicht irgendein Fiebertraum.

Wie von selbst griff schließlich auch ich zu. Ich fasste an sein Hemd, riss daran herum und fing seine Zunge mit der meinen ein.

Langsam setzten wir uns in Bewegung, die Schritte waren zunächst zögerlich, doch alsbald stolperten und hasteten wir halb auf die Tür am Ende des Flures zu. Auf dem Boden hinterließen wir eine Spur aus achtlos fallen gelassenen Kleidern.

Er schmiss mich grob aufs Bett und kurz darauf fand ich mich unter ihm wieder, während er seine Finger in meine Haare und seine Zähne in meine Unterlippe grub.

Im Folgenden riss er an mir, kratzte und biss. Er fluchte, ich schnaufte, er keuchte, ich klammerte. Ruhelos wälzten wir uns herum, warfen uns wilde Blicke zu und konnten nicht mehr voneinander lassen.

Inmitten von zerknüllten Laken lagen wir uns schließlich in den Armen. Unser Atem ging schwer.

Wir drückten uns fest aneinander und Moguras Finger griffen kräftig in meinen Rücken.

Und er trat des Weibes Glauben mit seinen Füßen,

mit Lug und Trug zahlte er ihn ihr heim.

Und so wollte sie ihn hassen und verdammen,

strafen ihn für das Übel was er getan.

Doch stand ihr etwas im Wege,

ließ das Schwert sinken und fallen gen Boden,

zerbrechen unter der Wucht der Macht,

zerbrochen blieb es fortan.

Ich sah ihn an.

„Das steht aber nicht in der Edda.“

Zuerst erwiderte er nichts. Dann: „Halt den Mund.“



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