Zum Inhalt der Seite

Replika - Preis der Wahrheit

Feder & Stift - Rundumwichteln für AgentAya
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Weil wir darum wussten, dass die Personen in unserer Umgebung von einem Tag auf den anderen verschwinden konnten, wagten viele von uns nicht, engere Bindungen einzugehen. Wir boten einander eine Familie, doch die meisten von uns blieben für sich selbst, um sich vor dem Schmerz einen Verlustes zu schützen. Das mochte grausam sein, doch nur deshalb, weil die feindliche Welt ebenfalls grausam war und nach Jahrhunderten der Ausbeutung zerstört und nicht mehr dazu gedacht, in ihr zu leben.

Die aber, die es wagten diese Grenze zu übertreten, manche, weil sie es wollten, die meisten, weil es einfach passierte, für die bewiesen diese Beziehungen eine schwer zu beschreibende Intimität. Ganz gleich, ob es sich um Freundschaften handelte oder Liebesbeziehungen. Das Wissen, dass jeder gemeinsame Augenblick der letzte sein mochte, und dass mit einer nicht unbedingt geringen Wahrscheinlichkeit, machte jede Sekunde kostbar. Es bedeutete nicht, dass wir nicht stritten oder andere dumme Dinge taten. Selbst wenn wir keine Menschen waren, zumindest in den Augen derer, die sich selbst für Menschen hielten, so verhielten wir uns doch wie selbige. Aber selbst mit jemanden zu streiten, den man liebte, war eine wertvolle Erfahrung.

Die Person, die ich liebte, hieß Liv und ihr Name entsprach ihrem Naturell. Sie war lebendig und voller Energie. Im Gegensatz zu mir, der ich mich normalerweise im Hintergrund hielt, und zufrieden war mit dem ruhigen Ablauf meines Lebens. Meine Neugier erstreckte sich nur auf die fantastische Welt der Geschichten und ich nahm die Gefahren unserer Welt so ernst, dass vieles mich in die Furcht stürzte, es könne ein irreparabler Schaden entstehen.

Liv wusste nicht, was Angst bedeutete. Wir waren zusammen aufgewachsen und sie war nicht ganz ein Jahr jünger als ich. Irgendwann hatte sie beschlossen, dass wir Freunde sein würden, so wie sie oft aus einer Laune heraus Dinge beschloss und vielleicht war sie auf ihre Weise die erste von uns, die rebellierte.

Liv stellte die Dinge nicht in Frage. Sie hatte ebenso wenig Grund, an den vermeintlichen Tatsachen zu zweifeln, wie ich oder irgendjemand anderes, doch das hervorstechendste Merkmal ihres Charakters war die Liebe zum Leben - und nicht nur zum Überleben. Es war dieses Mädchen, das mich den Unterschied lehrte. Und das Wissen um diesen Unterschied war es, das sie Dinge tun ließ, die andere nicht taten. Dinge, die nicht wirklich verboten waren, aber die in unserem Tagesablauf auch nicht vorkamen.

Niemand sonst hatte das Bedürfnis, mehr Zeit draußen zu verbringen, als durch den Sport nötig war, obwohl auch das Gelände durch hohe Wälle aus Blei und Schwermetallen abgeschirmt war. Ein Schutz gegen Strahlung und vielleicht auch eine Barriere, die unsere Welt von der Welt jenseits der Mauern trennte. Liv trieb es in jedem freien Augenblick hinaus, fort aus dem Vertrauten und hinein in etwas, das für uns wie ein Abenteuer war, so wenig Bemerkenswertes das Gelände auch bieten mochte. Die Rebellionen waren winzig und nicht bemerkenswert. Bemerkenswert war nur, dass es sie gab. Sie war die Einzige, die ich kannte, die nicht einfach nur das tat, was von ihr erwartet wurde, sondern mehr suchte ohne zu wissen, was „mehr“ eigentlich war.

Und sie muss mich angesteckt haben, denn die Suche nach dem „mehr“ mag der Grund dafür sein, die Wahrheit ins Licht zu zerren, ungeachtet aller Konsequenzen.

Während wir älter wurden, wandelte sich Freundschaft zu Liebe und wir lernten neue Seiten aneinander kennen. Teilten neue Erlebnisse.

Wenn ich an Liv dachte, dann sah ich zuerst ihre Augen vor mir. Die gentechnische Korrektur eines Stoffwechseldefektes, ich glaube es handelte sich um ein Leberproblem, war einer der möglichen Eingriffe in das Genmaterial, doch er zog als Folge eine medizinisch nicht relevante und daher zugelassene Normvariante in der Pigmentierung der Iris nach sich. Ich wusste, dass man das Phänomen als Iris-Hetrochromie bezeichnete.

Es bedeutete, dass ihre Augen zwei verschiedene Farben hatten und das schien das offensichtliche Merkmal zu sein, das sie irgendwie von den anderen unterschied. Es mochte öfter Menschen und damit auch Klone mit diesem Merkmal geben, doch die meisten von ihnen fallen nicht auf, weil die Farbverteilung unauffällig bleibt. Bei Liv war es anders.

Ihr linkes Auge war von einem hellen Grün und so stellte ich mir die Augen einer Katze vor. Ich hatte nie eine gesehen, aber einmal eine Zeichnung und in meinen Büchern wurden sie manchmal beschrieben. Tatsächlich hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie ein lebendes Tier gesehen. Auch ihnen bot die Erde keinen sicheren Raum mehr, vor allem nicht in der Nähe der Siedlungen. Livs rechtes Auge war blaugrau. Ich war es von klein auf gewohnt, diese Augen zu sehen und bald auch in diese Augen zu sehen, aber ich weiß, dass sie andere irritierten. Sie waren auffällig und das waren die meisten von uns nicht.

Unsere Körper wurden entsprechend des Gesundheitsplanes trainiert und geformt. Es gab verschiedene Körpergrößen, aber bezüglich des Trainings- oder Ernährungszustandes unterschieden wir uns kaum. Die Haar- und Augenfarben variierten, doch handelte es sich bei ersterem vor allem um Brauntöne, bei letzterem um Abstufungen von Braun, Grau, Blau und Grün. Menschen mit helleren oder roten Haaren waren durch ihre Hautbeschaffenheit und die verringerte Pigmentierung im Selektionsnachteil. Deshalb waren diese Farben selten und das Aussehen der Menschen war durch den geringen Genpool vereinheitlicht. Identifizierbare Einschläge ehemaliger ethnischer Gruppen waren selten zu beobachten, zumindest zu meiner Zeit. Es hatte sich längst alles mit einander vermischt.

Als Liv fortging, hörte ich auf, glücklich zu sein. Sie war eine derjenigen, die angeblich erkrankt waren und so schrieb ich ihr lange Briefe und bettelte um jede Information, die ihren Zustand betreffen mochte, den Ort, an dem sie sich befand, das, was dort mit ihr geschah. Etwa einen Monat lang, dann sagten sie mir, dass sie es nicht geschafft hatte.

Ich akzeptierte diese Tatsache, weil ich wusste, dass ich keine Wahl hatte - doch von diesem Augenblick an hatte sich etwas in mir verändert. Obgleich der immer gleiche Ablauf es mir leicht machte, zum Alltag überzugehen und das, was nicht mehr war, hinter mir zu lassen oder zu verdrängen, konnte ich es nicht. Ich hörte nicht auf, das Loch zu spüren, das verblieben war, das draußen kleiner wirkte, manchmal größer. Und ich begann mich zu fragen, was der Sinn dieses Lebens war.

Nicht, weil ich Verdacht geschöpft hätte, oder etwas hatte ändern wollen. Unsere Art zu leben schien mir die einzig Mögliche zu sein, doch ich fragte mich, was es unter diesen Umständen überhaupt wert war zu leben. Es bedeutete, den Fortbestand der Menschheit, wenngleich aus anderen Gründen, als ich ahnte - doch wozu war dieser Fortbestand gut? Warum spielte es eine Rolle, ob es Menschen gab oder nicht? Der natürliche Überlebensinstinkt trieb sie, die Biologie, von der sie sich doch eigentlich so weit entfernt hatten, doch abgesehen davon?

Ich weiß nicht, was geschehen wäre, oder zu welchem Schluss ich gekommen wäre, hätte ich länger darüber nachdenken können, doch etwa vier Monate, nachdem Liv gegangen war, war ich es, den sie riefen.

Sie fanden mich in der Bücherei, wo ich mich vergraben hatte, und sie brachten mich in die medizinische Abteilung, weil eines der Testergebnisse aus der letzten Untersuchungsreihe besorgniserregend gewesen sei.

Ich hatte Angst, aber wahrscheinlich weniger, als ich hätte haben sollen. Ich vertraute darauf, dass sie mir helfen würden, wenn sie es konnten und ich fragte mich, ob es das gleiche war, was Liv getötet hatte. Der Gedanke schien mir merkwürdig tröstlich wenn ich schon sterben sollte, aber vielleicht würde ich das nicht.

Ich achtete nicht auf die Nadeln. Und als ich müde wurde, wunderte ich mich nur ein wenig. Ich schlief ein und wusste nicht, dass ich nie wieder hätte erwachen sollen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Chimi-mimi
2013-03-18T16:26:37+00:00 18.03.2013 17:26
Okay, ich finde das mit dieser Auslese (wie beispielsweise bei den Rothaarigen auch schlimm), die Vorstellung, dass man sich sein Kind erschaffen kann, finde ich sehr beängstigend und noch deutlich näher als die Klone.

Als Liv fort ging hörte ich auf, glücklich zu sein. - Den Satz finde ich sehr schön, denn er zeigt, dass auch für Klone eine Seele existiert und Gesellschaft wichtig ist, nicht so, wie die Menschen, die die Klone erschaffen, immer denken.


Zurück