Ich häng' hier dann mal so rum
„Oh mein Gott, da ist er schon wieder!“
„Wer?“
„Na er!“
„Oh.“ Ultrigaria setzte sich in Bewegung und schwenkte lautlos an dem Ast, an dem es gerade hing, vor und zurück, um durch die Blätter einen Blick in Richtung Waldrand erhaschen zu können. „So ein Volltrottel.“
„Nervensäge“, pflichtete Sarzenia seiner Vorentwicklung bei. „Da verlässt man extra die gemütliche Höhle mit den heißen Quellen und hat trotzdem nicht seine Ruhe, unerhört!“ Vor lauter aufgebrachtem Gerede begann das Pflanzenpokémon zu sabbern.
„Toto, alleine der Name.“
„Nein, nicht Toto.“
„Doch, sicher. Toto, der Fotograf.“
Sarzenia kniff einmal kurz die Augen zusammen. „Todd. Ich glaube, der alte Knacker hat ihn Todd genannt.“
„Ist doch auch egal. Psst! Er kommt hier her.“ Augenblicklich erstarrte Ultrigaria an seinem Ast und verhielt sich mucksmäuschenstill, während Todd, der in Professor Eichs Auftrag Fotos von der Insel machte, durch das Dickicht schlenderte, über Baumwurzeln kletterte und sich wieder entfernte. „Nicht mal in Ruhe rumhängen kann man hier“, flüsterte Ultrigaria nach einer Weile und schüttelte sich, wodurch sich sein ganzer Körper wieder in Bewegung setzte.
„Nervensäge, habe ich doch gesagt“, sagte Sarzenia, rülpste und winkte Ultrigaria zu sich herunter. „Wir sollten ihm eine Lektion erteilten, sonst haben wir hier in ein paar Tagen gar keine Privatsphäre mehr.“
„Ha, genau!“ Mit einem dumpfen Plumps-Geräusch landete das kleinere Pflanzenpokémon neben seiner Weiterentwicklung und streckte sich. „Wir könnten seinen Rucksack vollsabbern.“
„Oder seine Beine anknabbern.“
„Pah, an denen ist doch gar nichts dran. Schau dir Toto doch nur an. Bleiche Hautfarbe, braune Locken und dazu Fotograf – ein Künstler! – er muss schwul sein.“
Sarzenia prustete los, wobei einzelne Speicheltropfen im hohen Bogen an den nächsten Baum flogen. „Und was hat das mit seinem Geschmack zu tun?“
„Künstler schmecken nicht“, konstatierte Ultrigaria, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, während es sich nachdenklich mit dem rechten Blatt oben am Kopf kratzte.
„Dann lass uns ihn wenigstens vollsabbern. So schön einmal von oben bis unten und die Kamera gleich mit.“
„Ja, die Idee gefällt mir!“
Beide Pokémon saßen schweigend nebeneinander auf dem weichen Boden und nickten vielsagend, bis Sarzenia wieder die Stimme erhob. „Aber wie gehen wir vor?“
„Keine Ahnung, du bist die Weiterentwicklung, du hast das größere Gehirn von uns.“
„Aber ich habe Hunger, da kann ich nicht denken“, murrte Sarzenia beleidigt, schloss die Augen und brummte vor sich hin. Nach einer Weile öffnete es wieder die Augen und wirkte aufgeregt. „Ich habe nachgedacht.“
„Na großartig.“
„Und ich denke, ich könnte ihn einfach mit Feuersturm vertreiben. Feuer unter dem Hintern und so.“
„Aber du kannst gar keine Feuersturm-Attacke, du inkompetente Insektivore!“
„War das eine Beleidigung?“
Ultrigarias Antwort kam so undeutlich, dass sie nicht zu verstehen war. „Lassen wir das Thema. Ich habe eine bessere Idee: Wir warten, bis Toto wiederkommt, dann greifen wir ihn aus dem Hinterhalt an. Ich schnappe mir seine Beine mit Rankenhieb und du verpasst ihm eine Ladung Rasierblätter. Das wird ihm eine Lehre sein!“
„Gut, dann machen wir es auf deine Weise. Feuersturm wäre aber effektiver.“
„Feuersturm wäre aber effektiver“, äffte Ultrigaria das andere Pflanzenpokémon nach, ließ seine Ranke oben an den Ast gleiten, sodass es sich hochziehen konnte und wieder an seinem Ast auf Position hing.
Es dauerte auch gar nicht lange, bis wieder das altbekannte Rascheln zu hören war, mit dem Todd sich ankündigte, dazu das eifrige Klicken seines Fotoapparats. Sobald er Sarzenia entdeckt hatte, kam er an das Pokémon herangeschlichen, doch wenige Meter vor dem Ziel ließ sich Ultrigaria auf ihn fallen.
„Attacke!“ Das Pokémon umwickelte Todds Beine mit Rankenhieb, sodass der Fotograf mit einem Aufschrei nach vorne kippte und direkt in Sarzenias weit geöffnetem Schlund landete. „Was machst du da, spuck ihn aus!“
„Abfer er ift fo lecker“, gab Sarzenia schuldbewusst von sich und kaute ein wenig auf dem schreienden und zappelnden Menschen herum. „Fmeckt gar nicht fo übfel.“
„Du … du … gib mir auch was ab!“ Ultrigaria sprang hinterher und verbiss sich in den heraushängenden Beinen.
„Nein, daf ift meiner!“
„Laff lof!“
Energisch zog Sarzenia an dem einen Ende und Ultrigaria an dem anderen, bis beide Pokémon an dem vollgesabberten Todd abrutschten, nach hinten kippten und Todd sich keuchend und mit einem spitzen Schrei aufrichten konnte. Er griff gerade noch nach seiner Kamera, kreischte erneut und stürmte auf wackeligen Beinen davon.
Als Sarzenia sich aufrichtete, spuckte es Erde aus. „Das hast du jetzt davon, der Snack ist weg!“ Der Vorwurf in der Stimme war nur schwer zu überhören.
„Ja, ja, sei still“, erwiderte Ultrigaria schnaubend, schüttelte sich und schaute Todd hinterher. „So schnell kommt Toto bestimmt nicht zurück.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Sarzenia.
„Tja.“ Ultrigaria hievte sich erneut hoch an den Ast und begann wie schon zuvor langsam vor und zurück zu schaukeln. „Ich glaube, ich häng‘ hier dann mal so rum. Hier passiert ja nichts Interessantes.“
„Stimmt. Immer diese Langeweile.“
„Eintönigkeit.“
„Toll.“
„Was ist?“
Sarzenia schloss die Augen. „Ich habe Hunger. Vielleicht kommt Todd ja doch noch einmal zurück.“
