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Feigning Sane

Justified
von

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Der Morgen brach an. Die Sonnenstrahlen stahlen sich in das Gerichtsgebäude und erstreckten sich über den Boden, um auf die restlichen noch schlafenden Männer, Frauen und Kinder zuzukrabbeln. Zudem heizten sie das Gebäude bereits auf, woraufhin die Rollläden und Vorhänge geschlossen wurden. Der Strom war gestern Mittag ausgefallen, ebenso wie das Wasser nicht mehr lief. Niemand, der nicht dringend auf die Toilette musste, nährte sich den verstreuten Badezimmern auf den verschiedenen Etagen noch an. Allerdings hatten sie vorgesorgt und so viel Wasser wie möglich in Flaschen und andere Behälter abgefüllt, so dass vorerst lediglich das Essbare zur Neige ging.

Raylan war gerade dabei eines der in den Minikühlschränken gefundenen und verteilten Sandwichs aus seiner Folie zu befreien, als sein Chef sich zu ihm an das Fenster gesellte. Dort hatte man durch einen Spalt im Vorhang eine gute Sicht auf Lexington, das sich unter ihnen erstreckte. Die Stadt bestand aus leeren Straßen, stehen gelassenen Autos und Fahrrädern und in der herannahenden Hitze flimmernden Schemen, die wahllos durch die Gegend zogen. In der letzten Woche war dieser Anblick zu etwas Gewohntem geworden, was Raylan nicht mehr die Nackenhaare aufstellte. Wahrscheinlich sollte ihm das zu denken geben, vermutlich war er dem Wahnsinn näher als er annahm.

„Hör zu, Raylan“, begann Art, als er ihn erreicht hatte. Der Chief Deputy stemmte die Hände in die Hüften und fixierte ihn mit einem ernsten Blick. „Ich und eine handvoll Freiwillige werden rausgehen und versuchen etwas zu essen aufzuspüren.“

Daraufhin zuckte Raylans Augenbraue instinktiv in die Höhe und er hielt beim Auspacken des Sandwichs inne. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“

„Nein?“, entwich es Art irritiert. „Wie könnte das jemals eine gute Idee sein, Raylan? Ich würde auch lieber hier auf meinem Hintern sitzen und darauf warten, dass das Essen zu mir kommt. Wird das passieren? Ich denke, diese Antwort können wir uns beide denken.“

Raylan antwortete zunächst mit einem bedachten Nicken und seine Augen wanderten zu dem Sandwich in seinen Händen herunter. Die Antwort lag tatsächlich auf der Hand. „Na ja... vielleicht sollten Tim und ich dich dann begleiten.“

„Rede keinen Schwachsinn!“, erwiderte Art sogleich, eigentlich bereits, bevor Raylan überhaupt geendet hatte. „Oder glaubst du wirklich, dass du dich so um das Babysitten dieser Bälger drücken kannst?“

Den Kopf hin- und herwiegend huschte ein schmales Lächeln über Raylans Lippen. „Du hast mich erwischt, Art. Kinder gehören eben nicht zu meiner Spezialität.“

Diesmal war es an Art Mullen zu nicken. „Dann wird es Zeit, dass du das übst. Wann ist der Geburtstermin deines Töchterchens?“

„In einem Monat?“ Raylans Schultern zuckten. Die Vorstellung, dass da bald ein kleines Baby existieren würde, welches seine Gene in sich trug, war noch immer seltsam. Fast ein wenig beängstigend. Andererseits wusste Raylan aus eigener Erfahrung, wie sehr das Elternhaus einen prägen konnte, wie sehr Arlos Vaterschaft ihn geprägt hatte. Und dass seine Beziehung zu Winona wohl niemals normal in dem Sinne von einem gemeinsamen Haus sein würde, war er sich inzwischen klargeworden. Der Marshalservice war irgendwann zu seinem Leben geworden und irgendwelche Kriminellen würden es immer auf ihn abgesehen haben. Auf seine Familie.

„Na, siehst du“, sagte Art und klopfte ihm locker auf den Oberarm. „Das hier ist eine gute Übung für dich.“ Er deutete auf die wenigen Kinder, die noch immer auf den ausgebreiteten Decken zwischen den Schreibtischen schliefen, während die Erwachsenen längst mit besorgten Blicken und Ringen unter den Augen auf den Beinen waren. „Außerdem wirst du ein Auge auf meine Frau haben. Ich denke, das bist du mir nach dem ganzen Mist, den du schon verzapft hast, schuldig.“

Raylans Blick blieb jedoch an Tim hängen, der mit seiner Army Ranger-Tasse auf sie zugeschlendert kam. Als er einen Schluck nahm, verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse.

„Wirklich, Tim?“, fragte Raylan und musterten den Jüngeren amüsiert. „Das Zeug kriegt doch keiner runter. Selbst Art hat den Kaffee aufgegeben.“

„Kalter Kaffee ist besser als gar keiner. Wenn dir das Militär etwas beibringt, dann nicht wählerisch zu sein“, erwiderte dieser und hob einen Mundwinkel zu einem Lächeln, das es bis zu seinen Augen hinauf schaffte. „Keine Sorge, das wirst du auch noch einsehen.“

„Das bezweifele ich.“

„Wie auch immer, Gentlemen“, lenkte Art ein, wandte sich dann jedoch Tim zu. „Du und Raylan werdet hier die Stellung halten, während ich weg bin.“

Tim schwieg für einen Moment, bevor er abermals einen Schluck des Kaffees zu sich nahm. „Wird gemacht, Boss.“

„Art hier möchte den Ritter in weißer Rüstung spielen“, warf Raylan ein, als er sein Sandwich gänzlich auspackte. Was sollte er auch anderes tun? Sobald sich Art etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man ihn ohnehin nicht mehr davon abbringen. Theoretisch war er zudem noch immer sein Vorgesetzter, obwohl Raylan sich nicht sicher war, ob das bei einer Zombieapokalypse noch galt. „Er möchte als Held gefeiert werden, wenn er mit einer Ladung Nahrungsmittel zu uns zurückkommt.“

Art warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Wenn du in mein Alter kommst, Raylan, dann darfst du dir dieses Privileg auch annehmen. Und wehe, hier herrscht Mord und Totschlag, wenn ich zurück bin.“ Mit diesen Worten marschierte er davon und zu dem Waffenraum, vor dem bereits einige Männer auf den Chief Deputy zu warten schienen.

Seine locker dahin gesagten Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf Raylans Zunge, als er den ersten Bissen seines Sandwichs nahm und ihn herunterschluckte. Obwohl es keiner von ihnen aussprach, klang es wie ein Abschied. Es klang endgültig.

„Meinst du, er kommt klar?“, fragte Raylan leise, als sich Tim mit seiner Kaffeetasse neben ihn ans Fenster lehnte.

Tim brummte ein „Trotz des Stresses hat er bisher keinen Herzinfarkt bekommen. Ich sage, da ist alles möglich.“
 


 

Mit langsamen Schritten stieg Raylan die Stufen hinauf, wobei er sich vorsichtig bewegte, um den Inhalt der zwei Tassen nicht zu verschütten. Die Vorräte waren schon knapp genug. Allerdings jagte der Gedanke an die braune Flüssigkeit Raylan noch immer einen eisigen Schauer über den Rücken, doch immerhin beruhigte das Koffein seine Nerven. Es machte die von Monotonie herbeigerufene Müdigkeit erträglicher. Zudem neigte sich der Tag allmählich dem Ende entgegen. Raylan konnte bereits die ersten Sterne zwischen den grauen Wolken am Firmament ausmachen, als er die Tür zum Dach passierte.

Bis auf zwei Stühle, die sie von unten geholt hatten, war es vollkommen leer und unberührt. Auf einem von ihnen saß Tim mit seinem Scharfschützengewehr, dessen Lauf er auf dem Geländer vor sich abstützte.

Ein Schuss zerriss die Stille, als Raylan auf ihn zutrat. „Die Jagdsaison ist eröffnet, huh?“, kommentierte er und ließ sich schwer auf dem noch freien Stuhl nieder. Während er eine Tasse des kalten – und entgegen Tims Aussage heute Morgen immer noch ungenießbaren – Kaffee an seinen Kollegen weiterreichte, ging sein Blick über das Geländer hinaus.

Ein weiterer herumliegender Körper hatte sich zu den anderen gesellt, die bereits erschossen auf der leeren Straße vor dem Gerichtsgebäude gelegen hatten. Unter ihnen war auch ein Mann, der von der Schrotflinte niedergemäht worden war, die neben Raylan am Stuhl lehnte. Es war Arlos Givens’ Körper.

„Man muss schließlich in Form bleiben“, entrann es Tim inzwischen. Er setzte die Tasse an seine Lippen, doch bevor er einen Schluck nehmen konnte, fixierten seine Augen eine weitere Gestalt, die sich zwischen einigen Autos bewegte. Sogleich stellte er die Tasse auf den Boden zu seinen Füßen und spähte durch das Fernglas, das auf dem Schafschützengewehr montiert war.

Der Finger, der den Abzug drückte, war genauso ruhig wie Tims Atmung. Er ließ das Töten dieser Biester professionell aussehen, obgleich Raylan ein anderes Motiv hinter diesen Taten vermutete. Es war Zorn, der unter Tims gelassener Oberfläche vor sich hinköchelte. Einer, der Raylan durchaus bekannt war. Immerhin war er nicht umsonst der wütendste Mann, den Winona je getroffen hatte.

Abermals wurde die Stille hier oben von einem Knall zerrissen wie ein Stück Papier. Schnell und unbarmherzig – das genaue Gegenteil von dem ersten, täuschenden Eindruck, den man von Tim Gutterson bekam.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Raylan in einem beiläufigen Ton, als er seinen Kaffee schlürfte und er sich in seinem Stuhl zurücklehnte.

Tim scannte die Umgebung nach seinem nächsten Opfer. „Es ist nicht mein Vater, der dort unten vor sich hinrottet“, war alles, was dieser erwiderte.

Raylans nachdenklicher Blick kehrte daraufhin unwillkürlich zu dem bereits halbverwesten Körper seines Erzeugers zurück. „Arlo wollte immer neben meiner Mutter begraben werden. Solange ich sie nicht finden kann, macht es wohl keinen Sinn mich noch mal um ihn zu kümmern. Weglaufen tut er jedenfalls nicht mehr.“ Dabei vermochte Raylan nicht zu sagen, was ihn mehr ärgerte: Dass der zombifizierte Arlo die Frechheit besaß, den gesamten Weg von ihrem Haus bis ins Stadtzentrum von Lexington zu hinken oder dass er keine Ahnung hatte, wo sich seine Mutter und seine Tante aufhielten. Wollte er sie überhaupt zu Gesicht bekommen? Würde er sie ebenfalls erschießen können? Das war etwas, was Raylan nicht beantworten konnte. Etwas, worüber er nicht nachdenken wollte.

„Du hast mich nie gefragt, warum ich meinen Vater erschießen wollte“, entrann es Tim, der scheinbar seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte.

Raylan betrachtete den dunkelblonden Deputy Marshal aus den Augenwinkeln, der noch immer wie Raylan selbst eine kugelsichere Weste trug. Er lehnte sich zurück und betrachtete den Sonnenuntergang, der so rot wie Blut war. „Ich hab’ angenommen, dass du schon mit der Sprache herausrücken wirst, wenn dir danach ist.“

Auf seine Worte folgte ein Schweigen, von dem Raylan nicht sagen konnte, wie lange es anhielt. Ob die Zeit unter diesen Umständen noch wichtig war, bezweifelte er jedoch, weshalb er stattdessen in die Ferne schaute.

Irgendwann, als Raylan längst keine Erwiderung seitens Tim mehr erwartete, erhob dieser schließlich erneut die Stimme. „Mein alter Herr hat mich damals mit meinem Freund erwischt – wenn man den Kerl, den man zum ersten Mal mit fünfzehn küsst, denn einen Freund nennen kann.“ Raylan konnte ihn mit den Schultern zucken sehen, als er bequem in seinem Stuhl saß, aber die Hände keine Sekunde von seinem Scharfschützengewehr nahm.

„Dein Vater war nicht angetan, nehme ich an“, antwortete Raylan, als Tim abermals ins Schweigen verfiel. Es wirkte beinahe so, als wollte er eigentlich nicht darüber sprechen, musste es aber vielleicht einfach loswerden. Das würde zumindest erklären, warum es Chemikalien im Boden und lebende Tote brauchte, damit Raylan erfuhr, dass Tim scheinbar auf das eigene Geschlecht stand. Wirklich überraschen tat es ihn nicht. Vielleicht lag es daran, dass er Tim noch nie mit einer Frau – eigentlich mit niemandem wirklich – romantisch involviert erlebt hatte oder einfach daran, dass Raylan das Liebesleben seiner Mitmenschen nicht weniger egal sein könnte.

Neben ihm stieß Tim ein freudloses Lachen aus. „Nicht angetan ist eine schöne Umschreibung. Wir haben uns noch nie gut verstanden, aber danach hat er mir das Leben zur Hölle gemacht.“

„Und deswegen bist du nach der Schule zu den Army Rangers gerannt.“ Es ergab absolut keinen Sinn, andererseits... was machte schon jetzt noch wirklichen Sinn? Tote Familienangehörige, die durch die Straßen wanderten? Art, der heute morgen mit einer Gruppe Freiwilliger losgezogen und seitdem nicht mehr gesehen worden war? Oder Rachel, die ebenfalls spurlos verschwunden war? An Winona und das Baby wollte Raylan erst gar nicht denken.

„Wenn der eigene Vater nicht damit umgehen kann, dann kann es wohl kaum einer. Hab ich zumindest immer gedacht“, murmelte Tim im nonchalanten Ton. Wahrscheinlich war er diese Worte in seinen Gedanken schon tausend Mal durchgegangen, was erklären würde, warum er die Gleichgültigkeit perfekt hinbekam. „Es war auch eher eine spontane Entscheidung, als dieser eine Kerl in unserer Schule einen Vortrag gehalten hat. Er war sehr überzeugend.“

Nun drehte Raylan ihm das Gesicht zu und musterte ihn für einige Sekunden. „Und das erzählst du ausgerechnet mir?“

„Du bist gerade hier, Raylan.“

Dazu konnte dieser nicht viel sagen. Es stimmte. Raylan war gerade hier, genauso wie Tim es war. Wann hatte es angefangen, dass sie sich immer öfter an demselben Ort aufhielten? Raylan vermochte sich beim besten Willen nicht daran zu erinnern. Doch egal, wohin er ging oder was er tat, Tim schien immer an seiner Seite zu sein. Er war wirklich wie ein Schatten. Ob Tim sich ihm auch anschließen würde, wenn Raylan sich entscheiden sollte, dass er Art suchen gehen würde? Wenn er eine zweite Gruppe hinaus auf die Straßen führen würde, um nach Nahrungsmitteln schauen zu gehen? Um zu sehen, ob sie irgendwie aus Lexington herauskommen konnten?

„Würdest du mit mir kommen?“

Nicht ein Muskel in Tims Gesicht zuckte und auch sonst gab keine Reaktion Aufschluss darüber, ob er den Zusammenhang seiner Worte erahnen konnte oder nicht. „Wie es mir scheint, folge ich dir seit einer Weile so gut wie überall hin.“

Raylan nickte langsam. Offensichtlich war dieser Umstand auch an Tim nicht vorbeigegangen, was bedeutete, dass Raylan es sich nicht eingebildet hatte. Stören tat er sich daran ebenfalls nicht, denn es war angenehm in dieser radikal veränderten Welt eine Konstante zu haben.

Und als die ersten Regentropfen zu fallen begannen und Tim keine Anstalten zum Aufstehen machte, sank Raylan tiefer in seinen Stuhl und zog seinen Cowboyhut entspannt über die Augen. „Du weißt aber, dass ich zu alt für dich bin, oder?“

„Natürlich“, antwortete Tim trocken und Raylan konnte spüren, wie sich seine eigenen Mundwinkel unter dem Hut ein Stückchen hoben.



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