Hangover
Langsam schlug Kari die Augen auf und fühlte sich im ersten Moment ganz gut, mal davon abgesehen, dass sie nicht wusste, wo sie war. Doch während sie versuchte, das Zimmer einer Person zuzuordnen, bemerkte sie, wie sich ein dumpfer Schmerz in ihrem Kopf ausbreitete und ein bedrückendes Gefühl ihren Magen beschlich.
Stöhnend setzte sie sich auf und alles drehte sich, sodass sie sich wieder hinlegte. Da fiel ihr auf, dass sie nicht allein im Bett lag. Sie presste sich eine Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.
„Oh mein Gott“, hauchte sie und setzte sich trotz des Schwindels wieder auf. Neben ihr lag Shinji. Aber wieso? Warum lag sie hier neben ihm in seinem Bett?
Sie schob die Decke von sich und erkannte, dass sie nackt war. Schnell bedeckte sie sich wieder und hob mit spitzen Fingern die Decke über Shinji an. Auch nackt.
Einige Sekunden blieb sie regungslos sitzen und versuchte, zu verarbeiten, was sie gerade entdeckt hatte. Sie kam sich selbst vor, als wäre sie versteinert. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie musste so schnell wie möglich raus hier.
Sie sprang aus dem Bett und musste sich für einige Sekunden auf den Boden hocken, bis das Schwindelgefühl so weit abflaute, dass sie gehen konnte. Dann streifte sie sich ihre Klamotten vom vorigen Abend über, die auf dem Boden verstreut lagen, schnappte ihre Handtasche und schlich aus dem Zimmer. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch offenbar war es noch sehr früh, denn sie begegnete glücklicherweise niemandem in der Wohnung.
Sie schlüpfte in ihre Schuhe und wollte losrennen, doch brach fast zusammen vor Schmerz. Sie hatte auf jeder Ferse je eine große Blase und beide waren schon aufgeplatzt. Kari biss die Zähne zusammen und ging aus der Wohnung, doch auf der Treppe gab sie auf und zog die Schuhe aus. Musste sie halt barfuß gehen. Dämliche Pumps.
Unten angekommen musste sie sich in einen Mülleimer übergeben. Ihr war unheimlich schlecht. Schwer atmend wartete sie einige Minuten vor dem Mülleimer, bevor sie schließlich weiterging. Auf dem Weg nach Hause überlegte sie fieberhaft, was genau eigentlich passiert war und musste feststellen, dass sie sich nicht an den Zeitpunkt erinnern konnte, als sie mit Shinji nach Hause gegangen war. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie mit Nana vor der Bühne gestanden und zu den Liedern der Teenage Wolves getanzt hatte.
Sie fasste sich an den Kopf. Hatte sie jetzt wirklich mit Shinji geschlafen? Sie war doch noch Jungfrau gewesen. Das konnte doch nicht sein. Vielleicht gab es einen anderen vernünftigen Grund dafür, dass sie beide nackt im gleichen Bett gelegen hatten, doch noch während Kari das dachte, wurde ihr klar, dass es dafür keinen vernünftigen Grund geben konnte. Höchstwahrscheinlich hatten sie sich nicht einfach nur nackt ins Bett gelegt und waren eingeschlafen.
Die Leute, die an ihr vorbeikamen, musterten sie mit hochgezogenen Augenbrauen und Kari wollte gar nicht wissen, wie sie aussah. Sie hatte sich noch nicht im Spiegel angesehen, doch sicher war schon allein die Tatsache, dass sie barfuß mit ihren Schuhen in der Hand durch die Straßen lief einen Blick wert.
Sie war noch nie so froh gewesen, endlich zu Hause zu sein. Hoffentlich schliefen ihre Eltern auch noch. So leise sie konnte schloss sie die Wohnungstür auf und trat ein.
„Kari!“ Sofort standen ihre Eltern im Flur. Kari stöhnte leise und ließ die Tür ins Schloss fallen.
„Wo warst du denn?“, rief ihre Mutter mit einer Mischung aus Ärger, Sorge und Erleichterung. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Wir dachten schon, dir ist was Schlimmes passiert.“
„Wie siehst du denn überhaupt aus?“, fragte Susumu und hob eine Augenbraue.
Langsam drehte Kari sich zu dem Flurspiegel um und erschrak vor sich selbst. Ihre Locken von gestern Abend waren platt gelegen und standen in alle Richtungen ab. Die Wimperntusche war verschmiert und befand sich nun um ihre Augen herum verteilt. Ihr Gesicht war rot gefleckt. Das rosafarbene Kleid hing schief, war mit undefinierbaren Flecken übersät und gab zu viel ihrer Brust frei. Sie sah aus wie eine cracksüchtige Prostituierte.
Sie wandte sich wieder an ihre Eltern, die sie wütend, entsetzt und besorgt ansahen.
„Ich... ich hab' bei Nana geschlafen“, log sie.
„Hast du das, ja?“, hakte ihre Mutter nach. Allmählich schien das Entsetzen zu weichen und ihrer Wut mehr Platz zu bieten. „Und bei Nana gibt es kein Telefon? Und der Akku deines Handys war natürlich leer? Und der von Nanas auch?“
„Wir haben versucht, dich anzurufen“, fügte ihr Vater mit strengem Blick hinzu. „Außerdem habe ich dir gesagt, du sollst mich anrufen, wenn du nicht weißt, wie du nach Hause kommst.“
Kari spürte ein bedrückendes Gefühl in ihrem Hals. Schnell rannte sie an ihren Eltern vorbei ins Badezimmer und übergab sich erneut. Als sie wieder aufstand, beobachteten ihre Eltern sie vom Türrahmen aus.
„Was um alles in der Welt hast du gestern gemacht?“, polterte Susumu.
„Und wo warst du heute Nacht?“, fragte Yuuko wütend.
„Ich... ich hab' wohl ein bisschen zu viel getrunken“, murmelte Kari mit belegter Stimme.
„Das ist nicht zu übersehen“, zischte Susumu.
„Ich habe bei einem Jungen aus meiner Klasse geschlafen“, gab Kari schließlich zu. Ihre Eltern holten schon Luft, um sie zusammenzustauchen, doch sie redete schnell weiter. „Er wohnt gleich neben der Schule und mir ging es nicht so gut und dann hat er mich bei sich schlafen lassen.“
„Aber warum hast du nicht Bescheid gesagt?“, fragte Yuuko schnell, bevor Susumu etwas zu der Übernachtung bei einem Jungen sagen konnte.
„Ich hab's vergessen“, nuschelte Kari mit gesenktem Blick.
„Und warum bist du nicht an dein Handy gegangen?“, bohrte Yuuko weiter.
„Ich hab's nicht gehört. Hab' bestimmt schon geschlafen.“
Susumu seufzte, schüttelte den Kopf und ging. Ihre Mutter dagegen starrte sie durchdringend an, sodass Kari sich geröntgt fühlte. Es kam ihr so vor, als würde sie schrumpfen.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich mir mal um dich Sorgen machen muss“, sagte sie nun ein wenig ruhiger.
„Tut mir Leid“, murmelte Kari. „Ehrlich.“
Yuuko nickte mit mürrischem Blick, drehte sich um und schloss die Tür, sodass Kari nun allein war. Langsam zog sie sich aus und stieg in die Dusche.
Die heiße Dusche hatte gut getan, doch Kari fühlte sich noch immer dreckig. Bei dem Gedanken, morgen in die Schule gehen zu müssen, wurde ihr ganz anders. Hatte sie sich auf der Party sehr daneben benommen?
Sie warf sich auf ihr Bett und griff nach ihrem Handy. Dreiundzwanzig Anrufe in Abwesenheit. Fünf SMS. Sie ging zuerst die Anrufe durch, die hauptsächlich von ihren Eltern kamen, doch auch Tai, Nana, Davis, Ken und eine unbekannte Nummer waren dabei. Die SMS hatten im Grunde auch alle den gleichen Inhalt.
Wo bist du? Wir machen uns Sorgen um dich. Melde dich. - Von ihrer Mutter.
Du bist jetzt nicht ernsthaft mit zu Shinji gegangen, oder? - Von Nana.
Mama und Papa haben angerufen. Ist alles okay bei dir? - Von Tai.
Wenn du Hilfe brauchst, dann rufst du mich an, ja? Ich kann Shinji für dich verprügeln. - Von Davis.
Ruf mich an, wenn du das liest. - Nochmal von Nana. Und diese war von heute Morgen. Kari hielt es für eine gute Idee, mit Nana zu reden und sie zu fragen, was genau gestern Abend passiert war. Vielleicht konnte sie ihr erklären, ob sie sich blöd verhalten hatte.
Sie suchte Nana aus ihrer Kontaktliste heraus und drückte auf die grüne Taste. Es klingelte ein paar Mal, doch dann nahm Nana ab.
„Kari?“, fragte sie aufgeregt.
„Ja, ich bin's.“
„Mein Gott.“ Nana seufzte. „Ich habe mir echt schon Sorgen um dich gemacht. Warst du wirklich bei Shinji?“
„Ja, war ich“, murmelte Kari müde.
„Wie bist du auf die Idee gekommen? Warum bist du nicht nach Hause gegangen, sondern zu ihm?“, fragte Nana und klang vorwurfsvoll.
„Ich... ich weiß es nicht, ehrlich. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist wie du und ich auf der Tanzfläche standen und zu den Liedern der Teenage Wolves getanzt haben.“
„Was? Oh Gott. Wie viel hast du denn getrunken?“
„Anscheinend zu viel. Was haben wir danach gemacht?“
„Ähm... lass mich überlegen. Wir sind kurz auf unsere Plätze gegangen und dann wolltest du zu Matt. Und dann habe ich dich nicht mehr gesehen. Irgendwann kam nur Takeru wieder rein. Sah ganz schön wütend aus. Er meinte dann zu Davis und Ken, dass du mit Shinji weggegangen bist. Das fand ich seltsam“, berichtete Nana.
Kari versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Anscheinend war sie also mit Matt und T.K. rausgegangen. Was hatte sie da nur geritten? Und vor allem, was hatte sie mit ihnen draußen gemacht, bevor sie mit Shinji weggegangen war? Sie konnte sich einfach nicht erinnern.
„Bist du noch dran?“, fragte Nana.
„Ja. Du weißt also nicht, was ich draußen gemacht habe?“
„Keine Ahnung. Wie gesagt, Takeru kam irgendwann wütend wieder rein. Vielleicht habt ihr euch gestritten?“
„Puh, ich hoffe nicht.“
„Warum fragst du nicht einfach Shinji? Der erzählt dir bestimmt auch, was du draußen gemacht hast. Anscheinend war er ja dann irgendwann dabei.“
„Das geht nicht. Ich... du darfst das jetzt niemandem sagen, okay?“
„Okay?“ Nana klang verwirrt.
„Ich glaube, ich habe mit ihm geschlafen.“
„Was?!“ Entsetzen war aus Nanas Stimme herauszuhören. „Nicht dein Ernst!“
„Doch, ich bin heute Morgen neben ihm aufgewacht und wir waren beide nackt“, erklärte Kari langsam.
Nana brauchte eine Weile, bevor sie antwortete. „Okay. Das ist... wow.“
„Ich habe keine Lust, ihn zu fragen, wenn ich ehrlich bin“, sagte Kari trocken und rieb sich die Stirn. Sie konnte immer noch nicht glauben, was sie da getan hatte.
„Tja, dann... ähm... musst du eben mal Takeru oder den heißen Matt fragen“, sagte Nana. „Wenn die mit dir draußen waren, können sie dir vielleicht erzählen, warum du mit Shinji mitgegangen bist.“
Kari kam plötzlich ein Gedanke. „Oh, ich hoffe, Matt hat es nicht Tai erzählt!“
„Dazu hatte er doch noch gar keine Zeit, oder?“, erwiderte Nana irritiert. „Bestimmt weiß es niemand außer dir und Shinji und Matt und Takeru.“
„Als ob das nicht eh schon zu viele wären. Wann bist du denn nach Hause gegangen?“
„Ich war um drei zu Hause, glaube ich. Oder halb vier. Und weißt du was? Ken hat mich nach Hause gebracht.“ Ihre Stimme war ganz weich geworden.
Kari lächelte trotz der miesen Gesamtsituation. „Ist ja toll. Lief denn was?“
„Nein, nein!“, antwortete Nana eilig. „Wir haben uns nur umarmt zum Abschied. Und er hat gesagt, dass er es schön fand, dass ich mit ihm zum Ball gegangen bin.“
Kari konnte sich Nanas verträumtes Gesicht in diesem Moment sehr gut vorstellen und freute sich für sie. „Ist doch super.“ Sie nahm sich vor, auch Ken mal zu fragen, wie er den Abend mit Nana fand.
„Ja“, seufzte Nana glücklich. „Ach und vielleicht solltest du mal bei Facebook gucken. Vielleicht gibt es irgendwelche witzigen Fotos, die dir was von gestern Abend erzählen.“
„Oh Gott nein“, antwortete Kari entsetzt. An Facebook hatte sie noch gar nicht gedacht, doch es war gut möglich, dass dort schon irgendwelche Fotos und Kommentare gelandet waren. Andererseits konnte sie dort T.K. oder Matt erreichen.
Nana kicherte. „Na gut, ich muss jetzt mal Schluss machen. Wir sehen uns morgen in der Schule. Und wehe du schwänzt.“
„Ich schwänze nicht“, grummelte Kari. „Bis morgen.“
Sie legte auf und blieb einige Minuten reglos auf ihrem Bett liegen. Gedankenverloren starrte sie an die Decke und versuchte erneut, sich an etwas zu erinnern. Schließlich setzte sie sich trotz besseren Wissens an den Computer und loggte sich in ihren Facebook-Account. Die Neugier war einfach stärker als die Vernunft.
Gleich der erste Beitrag auf ihrer Startseite war von einem Mädchen aus ihrer Klasse, das ein paar Fotos vom Frühlingsball hochgeladen hatte. Kari klickte sich durch die Bilder, konnte sich glücklicherweise aber nur ab und zu im Hintergrund entdecken. Meist sah sie zwar nicht vorteilhaft, aber auch nicht besoffen aus.
Ein paar weitere Leute hatten einzelne Fotos hochgeladen, doch auch dort fand Kari sich wenn überhaupt nur im Hintergrund. Einige hatten gepostet, wie super sie den Ball fanden und dass die Teenage Wolves in Wirklichkeit ja ach so süß waren, doch das interessierte Kari alles nicht. Ein Beitrag ließ sie dann aber doch stutzen. Er war von Shinji.
Done. ;)
Done? Was hatte das denn zu bedeuten? Und dann noch dieser blöde Smiley dahinter. Vielleicht meinte er damit ja nur, dass der Frühlingsball überstanden war, doch in ihrer Brust breitete sich ein seltsam bedrückendes Gefühl aus. Das hatte doch hoffentlich nichts mit ihr zu tun?
Ein Chatfenster war aufgeploppt. Ken hatte sie angeschrieben.
Mensch, Kari, ich wusste ja gar nicht, dass du es mit Shinji so ernst meinst ;)
Wieso?
T.K. hat gestern erzählt, dass er dich nach Hause bringt, aber er ist komischerweise nicht wiedergekommen :D
Er wollte mich nach Hause bringen?!
Hä? Ja, dachte ich zumindest
Er hat mich nicht nach Hause gebracht, sondern zu sich
Okay? Und dann bist du doch allein nach Hause gegangen?
Ich hab bei ihm geschlafen...
Es dauerte eine Weile, bis Ken antwortete.
Tja, dann lies dir noch mal meinen ersten Satz durch ;)
Das ist nicht witzig :( Ich kann mich an nichts erinnern
Wie? An gar nichts?
Naja zumindest nicht daran, dass ich mit Shinji nach Hause gegangen bin...
Achso. Also T.K. kam nur irgendwann rein und hat erzählt, dass Shinji dich nach Hause bringt. Er sah irgendwie nicht so zufrieden aus...
Das hat Nana mir auch schon erzählt
Na das ist ja seltsam. Vielleicht musst du T.K. mal fragen
Nein!!! Ich frage ihn bestimmt nicht nach den Erlebnissen, an die ich mich nicht erinnern kann, als ich betrunken war
:D Aber dann hättet ihr mal was zu reden. Und on ist er auch gerade
Kari warf einen Blick auf die Liste, die ihr zeigte, welcher ihrer Kontakte gerade online war. Und tatsächlich war T.K. auch unter ihnen, doch sie dachte nicht daran, ihn anzuschreiben. Wer wusste schon, was sie draußen mit ihm geredet hatte.
Ich mache jetzt lieber den Computer wieder aus. Mach's gut. Wir sehen uns morgen in der Schule
Ohne noch eine Antwort abzuwarten schaltete sie den Computer wieder aus. Sie konnte es jetzt schon kaum erwarten, dass der morgige Schultag endlich vorbei war.