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Der Schneeprinz

von

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Eine Hochzeit und ein unschönes Missverständnis


 

9

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Eine Hochzeit und ein unschönes Missverständnis
 

Ich erwache auf dem Rücken liegend auf meiner Couch. Ich fühle mich, als hätte ich die Nacht durchgesoffen. Also quäle ich mich in eine aufrechte Position und bemerke, dass meine Klamotten ganz ekelig an meinem Körper kleben. Iiihhh.

Mein schwankender Weg führt mich zum Wasserhahn in der Küche, wo ich mir ein Glas einfülle und in einem Zug leer trinke, um meinen Flüssigkeitshaushalt so schnell wie möglich wieder in Ordnung zu bringen. Ich fühle mich nicht besonders. Die Reste eines bereits vergessenen Traums geistern noch irgendwo zwischen meinen Synapsen herum.

Dann fallen mir die Ereignisse des gestrigen Abends wie Schuppen von den Augenbrauen.

Himmelherrgottverdammtescheiße.

So schnell mich meine Füße tragen, haste ich zum Fernseher und schlage die Hände vor dem Mund zusammen, als sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten.

Breaking News. Auf fast allen Sendern.

Ich bleibe auf irgendeinem x-beliebigen hängen und folge gebannt den Geschehnissen, die über den Bildschirm flimmern.

New York, erkenne ich. Der Stark Tower. Einsatzkräfte überall. Qualmende Ruinen, eingestürzte Gebäude. Hysterische Menschen. Und mittendrin die Avengers, die, laut der durchlaufenden Untertitel, gerade noch eine Katastrophe verhindert haben.

Ich ziehe meine Beine ganz dicht an meinen Körper und greife nach einem Kissen, hinter dem ich mein Gesicht verstecken kann, als man am Frühlingshimmel über dem Big Appel eine grüne Rauchwolke aufblitzen sieht.

»Oh neeeeeeein«, jammere ich in das Kissen und überlege, wo ich mich ab heute am besten vor Loki verstecken kann.

Denn eins ist ja mal klar. Nach Rückerhalt seiner Erinnerung, werden wohl folgende Dinge auf seiner to-do-Liste stehen:

1. Auslöschung der Avengers,

2. Der erneute Versuch die Weltherrschaft an sich zu reißen,

3. Töten,

4. Versklavung aller noch lebenden Individuen,

5. Töten,

6. Töten,

7. Sich rächen,

8. Sich an Riley rächen (ganz wichtig!!! Mit drei Ausrufezeichen!!!),

9. Weiter töten,

und

10. Schokoküsse essen.

Klingt doch nach einem super Plan. Und über die Umsetzung bin ich jetzt schon tierisch gespannt.

Ich kann es nicht fassen, dass der gleiche Typ, der noch vor kurzem mit mir Eisangeln war und in einer rüschenbesetzten Schürze durch meine Küche wuselte, jetzt so derart in alte Verhaltensmuster zurückfällt. Ich hatte ein Monster in meiner Bude versteckt! Mit der Zeit hatte ich dies auch noch total verdrängt. Oh, diese Qual.

Ich mache den Ton des Fernsehers leiser, als das Telefon klingelt. Nur nebenbei bekomme ich mit, dass Captain America soeben ein Interview über den Stand der Dinge gibt. Während seinen Ausführungen wird ein Foto eingeblendet, welches zeigt, wie Loki, in der Luft schwebend, grüne Lichtblitze durch die Luft wirft. Oi.

Ich hyperventiliere, schaffe es in einer Kraftanstrengung, auch ohne Papiertüte wieder richtig atmen zu können und nehme den Hörer des Festnetztelefons ab.

»Ja?«, hauche ich in die Muschel und konzentriere mich. Einatmen. Ausatmen. Einatmen.

»Harleen?« Aus- nein Ein- äh... Was? »Hier ist deine Mutter.«

Als ob ich sie nicht an ihrer Stimme erkenne. Meine Mutter ist auch die einzige Person auf diesem Planeten, vermutlich in der gesamten Galaxie, die mich bei meinem zweiten Vornamen nennt. Warum, weiß sie vermutlich selber nicht so genau.

»Mom«, begrüße ich sie lahm. »Was gibt’s?«

»Braucht eine Mutter immer einen Grund, um ihre Tochter sprechen zu wollen?« Ich rolle genervt mit den Augen und angele mir einen Schokokuss vom Beistelltisch. Jetzt geht das wieder los. »Du meldest dich viel zu selten bei mir.« Dafür habe ich auch meine Gründe. »Und besuchen kommst du mich auch nicht. Dein neuer Strickpullover den ich dir gemacht habe, liegt immer noch hier.« Das ist der erste Grund. Der zweite ist, dass Mom in L.A. wohnt. Los Angeles! Da komme ich nicht einmal eben so hin.

»Tut mir leid«, versuche ich mich herauszureden. »Ich hatte viel zu tun.« Einen Gott verstecken. Um mein Leben bangen. Nur zwei, wie ich finde, äußerst respektable Gründe, um nicht bei seiner Mutter zum Kaffeekranz vorbeischauen zu können.

»Hast du schon Nachrichten gesehen?«, plappert meine Mutter weiter und wechselt somit flugs das Thema. »Schreckliche Sache, was da wieder passiert ist. Sei froh, dass du in der Einöde wohnst. Bei dir wird kein verrückter Gott auftauchen und Amok laufen. Dass so was in der heutigen Zeit überhaupt möglich ist. Ich dachte, wir sind zivilisiert genug um-«

Ich schalte auf Durchgang, werfe ab und an ein desinteressiertes »Aha« oder ein »Ja, ganz wie du sagst« ein, folge aber weiterhin den Berichten der Nachrichtensprecher im Fernseher.

»Deine Cousine heiratet nächsten Monat«, höre ich plötzlich aus ihren Ausführungen über gesunde Ernährung und der Nachfrage über mein Sexleben heraus. Oh nein. Eine Familienfeier. Einladungskarten auf denen immer der nette Zusatz »plus eins« steht, wenn man als ledig gilt. Oder wie es meine Familie nennt, als hoffnungsloser Fall. »Wir sind alle eingeladen. Und rate mal, wo die Feier stattfindet.«

Timbuktu? Bitte, lass sie in Timbuktu heiraten! Denn da würde ich NIE hinkommen. Ich bekomme schon wieder diese Stresspusteln und fächere mir mit der linken Hand Luft zu, in der Hoffnung, dass dies irgendetwas bringt.

»Europa?«, rate ich, einfach um irgendetwas zu sagen.

»In Valdez! Ist das nicht toll?!«

Häh?

»Wieso ausgerechnet hier?«, frage ich und hoffe, dass es sich hierbei nur um ein riesiges Missverständnis handelt.

»Da muss es so einen ganz angesagten neuen Club im Hafen geben. Davon habe ich sogar schon gehört. Wieso hast du mir das noch nicht erzählt? Die Touristen müssen in Strömen in der Stadt unterwegs sein. Wirst du eigentlich eine Begleitung mitbringen? Vielleicht könnte ich für dich etwas arrangieren.«

Nicht, wenn ich es zu verhindern weiß.

»Nein, nein, ich habe eine Begleitung«, schwindele ich meine Mutter an und sehe mich im Netz schon nach einem Wedding Date suchen. Wie in dem einen Film.

»Oh, wie schön«, freut sich meine Mutter und ich sehe förmlich wie ihre Eins-Fünfzig über den Perserteppich in ihrem Wohnzimmer hüpfen. »Wer ist er?«

»Mein Nachbar«, schiebe ich Nick vors Loch und überlege, dass ich ja immer noch spontan das Land verlassen kann, wenn der Hochzeitstermin näher rückt.

»Kind, ich muss auflegen. Dorothea kommt gleich vorbei und holt mich zum Bingo ab. Wir reden wegen der Hochzeit noch einmal. Schließlich muss mich ja auch irgendjemand vom Flughafen in Anchorage abholen.«

Wir legen auf und ich gehe wieder dazu über, nägelkauend den Nachrichten zu folgen. Außer dem Angriff auf den Stark Tower scheint sich nichts an der Lokifront getan zu haben. Schlimm genug. Und irgendwie fühle ich mich deswegen nun auch noch schuldig. Oh je.

Dann ertönt auf dem Flur ein gedämpfter Schrei, meine Wohnungstür fliegt auf und Nick kommt mit einer Schulterrolle durch den Eingangsbereich gerollt, dicht gefolgt von Bob, der das ganze für ein Spiel hält und freudig durch die Gegend springt. Nick kommt auf den Knien zum Stehen, hebt die Hände und bedroht mich und meine Wohnungseinrichtung mit einer kleinen Dose Pfefferspray. Als er bemerkt, dass keine unmittelbare Gefahr droht, erhebt er sich und kommt auf die Beine.

»Okay«, beginnt er und streicht sich Falten aus der Kleidung. »Was ist hier passiert?«

Ich verberge mein Gesicht erneut in dem Kissen, welches noch auf meinen Knien liegt.

»Was denkst du denn?«, schreie ich in den Stoff, sodass Nick mich auch versteht.

Ich spüre, dass mir Bob um die Beine huscht und seine Rute rhythmisch wedelnd gegen mich schlägt.

»Dass du es verbockt hast«, nimmt Nick an und lässt sich neben mich plumpsen. Genau an die Stelle, wo Loki sonst immer sitzt... also... saß. Ich versuche diese Tatsache zu verdrängen.

»Ich habe überhaupt nicht-«, will ich los keifen, hebe den Kopf und hallte inne, als ich Nicks ermahnenden Blick sehe. »Na gut, vielleicht ein bisschen. Ich kam nicht mehr dazu ihm die Wahrheit zu sagen. Er hat sich von ganz allein erinnert und dann ist er einfach abgedampft. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Oha«, erfasst Nick sofort die Situation und drückt mir das Pfefferspray in die Hand. »Dann schenke ich dir das hier lieber. Mit einem Geständnis hättest du es vielleicht noch reißen können. Das nenne ich mal echt blödes Timing.«

»Hast du auch einen Taser?«, frage ich spaßeshalber.

»Den brauche ich für mich selber«, guckt er mich entsetzt an und wir klammern uns aneinander, als jetzt Archivaufnahmen vom letzten Alienangriff über den Bildschirm hopsen.
 

~
 

Die Hochzeitsfeier meiner hochschwangeren Cousine war gelinde ausgedrückt meine persönliche kleine Katastrophe.

Nick hatte sich an den Trauzeugen ran gemacht, meine Mutter wollte mich mit Großcousin Louis verkuppeln und jeder Dritte hatte mich gefragt, wann denn endlich damit zu rechnen ist, dass mir auch mal jemand einen Braten in die Röhre schiebt. Verwandtschaft... man muss sie einfach lieben.

Ich hatte mich brav an meinen besten Freund Alkohol gehalten und versucht alles still leidend über mich ergehen zu lassen.

Irgendwann kurz vor Mitternacht konnte ich mich dann endlich verdrücken. Nick hatte ich zuletzt in Gesellschaft des Barkeepers gesehen. Der würde sich sicherlich noch prächtig amüsieren.

»Endlich«, seufze ich, als ich in meiner Wohnung ankomme und die hohen Schuhe von meinen schmerzenden Füßen streife. Hoffentlich komme ich nie wieder in die Verlegenheit eines solchen Abends.

Ich hänge meine kleine Umhängetasche an die Garderobe und taumele müde zur Couch, wo Bob es sich bequem gemacht hat. Seine Rute wackelt kurz, als ich über seinen Kopf streife, aber er ist zu schläfrig um mich richtig zu begrüßen.

Jetzt nur noch schnell duschen und dann ab in die weichen Federn.

Die feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich plötzlich auf. Ein Knistern liegt in der Luft und mein Blick streift umher, während ich versuche zu begreifen, was gerade passiert.

Ich höre ein leises »Phlump« und mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um dann doppelt so schnell weiter zu rasen. Ich wusste, dass das irgendwann passieren würde. Das jüngste Gericht. Dann ist irgendwann wohl heute. Ach herjeee~

Ich spüre die Anwesenheit einer weiteren Person, versuche mir nichts anmerken zu lassen und überlege, wie ich meine Einrichtung als Waffe benutzen kann. Mist, der Pfefferspray ist in meiner Handtasche. Der Beistelltisch vielleicht? Zu klobig. Hm...

Gut, sage ich mir. Erst einmal sollte ich mich dem Grauen stellen.

Ich vollführe eine halbe Drehung auf meinen Zehenspitzen und erschrecke halb zu Tode, als Loki keinen halben Meter vor mir steht.

»Hallo«, wagt er zu sagen.

Ein Aufschrei entwischt mir, ich stolpere nach hinten, klettere auf mein Sofa, falle in einem ungrazilen Purzelbaum über die Lehne und lande auf meinem Hintern.

Ich hyperventiliere schon wieder und meine Finger krallen sich in die Lehne der Couch, sodass ich mich daran in die Höhe ziehen kann. Vorsichtig spähen meine Augen über die Lehne. Oh nein, er steht immer noch da. Kurze Zeit habe ich gehofft, dass ich einfach nur zu viel getrunken hatte.

Ich lasse die Lehne los, richte mich zu voller Größe auf und starre ihn an. Ja, er ist es. Seine Haare sind länger, kaum merklich, aber mir fällt es gleich auf. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen steht er da, trägt ein helles Shirt, ein lässiges Hemd und – Ich stöhne innerlich auf – eine zerrissene Jeans. Ich habe vergessen zu blinzeln. Meine Augen tränen also vor sich hin.

»Du siehst hübsch aus«, höre ich seine vertraute Stimme und sehe an mir herunter.

Ach, der Fummel, denke ich und ärgere mich, dass ich den Ernst der Lage schon wieder verdrängt habe.

»Also gut«, kann ich mich endlich zwingen, etwas zu sagen. Ich lasse seine ruhige Erscheinung keine Sekunde aus den Augen und greife nach einem Kissen auf dem Sofa und einem Stift auf dem Tisch. Beides halte ich vor meinen Körper und bringe so viel Sicherheitsabstand wie irgend möglich zwischen uns. Loki wirkt irgendwie amüsiert. Er beobachtet meine Bemühungen mit einem leisen Grinsen. »Ich warne dich. Ich werde es dir nicht leicht machen. Ich habe eine Waffe« Ich wedele mit dem Kissen durch die Luft. »und ich habe einen Panikknopf. Wenn ich den drücke, dann ist binnen kurzer Zeit die Kavallerie da und macht hier mächtig Ramba Zamba.«

Gut geblufft ist halb gewonnen, sage ich immer wieder. Also tue ich so, als würde ich den Mechanismus des Stiftes mit dem Daumen drücken.

Loki scheint nur mäßig beeindruckt, denn er verlagert sein Gewicht von einem Bein auf das andere und zieht eine Augenbraue steil nach oben. Habe ich eigentlich schon einmal erwähnt, dass ich tierisch darauf stehe? Oh man.

»Das ist ein Kugelschreiber«, stellt er trocken fest und ich fühle mich durchschaut.

Ich schmettere den nun nutzlosen Kuli in irgendeine Ecke und beschließe, meinen letzten Trumpf auszuspielen.

»Bob!«, rufe ich und dieser schreckt erschrocken aus seinem Tiefschlaf in die Höhe. Ich deute mit dem ausgestreckten Arm auf Lokis Gestalt. »Fass!«

Bob springt auf, stürzt sich bellend auf Loki und versucht den Gott in einem verheerenden Angriff zu Tode zu... äh... schlecken?

»Bob!«, echauffiere ich mich bei dem Anblick des sich freuenden Hundes. »Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen. Fass!«

Loki tätschelt Bob lachend den großen Kopf, Bob setzt sich demonstrativ neben ihn und sieht mich an, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun. Tz, Männerfreundschaften.

»Denkst du, ich wüsste nicht, weshalb du hier bist? Ich habe dich gegoogelt.« Loki besitzt die Frechheit zu lachen und verschränkt nun seine Hände vor der Brust. Ich zucke zusammen. Kurz denke ich, dass er seine grünen Blitze nach mir werfen will. »Du willst mich ausschalten. Du bist der Gott des Unfugs und der Lügen. Du-«

»Das ist nicht ganz richtig«, hebt Loki kurz korrigierend einen Finger und unterbricht mich damit in meiner Panikattacke. Und das, wo ich gerade so richtig schön in Fahrt kommen wollte. »Der richtige Titel ist Gott der Illusionen. Dazu gehören Tricks, Intrigen, Trugbilder, allerlei Unfug und Magie.«

Also das absolute Chaos. Ich fasse es nicht, dass wir uns soeben über seine Berufsbezeichnung streiten.

»Du bist der Teufel«, sage ich kopfschüttelnd und muss an die Berichte über die Ereignisse in New York denken.

Loki lockert die Verschränkung seiner Arme und schiebt seine Hände lässig in die Hosentaschen seiner Jeans. Mit leicht zusammengekniffenen Augen sieht er mich fast traurig an.

»Denkst du wirklich, ich könnte dir etwas antun?«

Ich lasse das Kissen, welches ich immer noch schützend vor mich halte, langsam sinken und versuche in seinen Augen die Wahrheit zu erkennen.

Gott der Illusionen, spukt es mir dabei im Kopf herum.

Loki tut einen Schritt auf mich zu, ich erschrecke und wie von selbst fliegt das Kissen durch die Luft und landet unschön mitten in Lokis perplexem Gesicht. Ich verziehe selbiges, als er in der Bewegung inne hält, tief durchatmet und kurz die Augen schließt.

»Hast du gerade mit einem Kissen nach mir geworfen?«, höre ich ihn gepresst fragen.

»Nein?«, höre ich meine lahme Lüge und bin überrascht, dass Loki zurück tritt um nach einem Schokokuss zu greifen.

»Nicht sehr effektiv«, teilt er mir naschend mit, während Bob sich beruhigt zurück auf die Couch quält.

»Es war ein ganz besonders... hartes Kissen«, rechtfertige ich mich. Ich finde die Idee grundsätzlich ganz gut. Wenn ich nur fest genug geworfen hätte, dann wäre es vielleicht geplatzt, Federn hätten Lokis Sicht versperrt und ich hätte aus dem Fenster springen können. Bei meinem Glück, hätte ich mir vermutlich dabei die Pulsadern aufgeschnitten und wäre unten auf dem Bürgersteig elendig verblutet. Hach ja... Chance vertan.

Loki tut einen weiteren Schritt auf mich zu und ich weiche einen weiteren zurück. Dann wirft er resignierend die Hände in den Himmel und ist mit einem weiteren »Phlump« verschwunden.

Kurz frage ich mich, ob ich es tatsächlich überstanden habe, dann spüre ich, dass sein Körper sich gegen meinen Rücken drückt und dass seine Hände sich um meine Oberarme schließen. Ich werde herumgewirbelt, vergesse vor lauter Schock zu schreien und kneife nur noch ängstlich die Augen zusammen.

»Okay«, ergebe ich mich meinem Schicksal. »Tu was du tun musst, aber tu es schnell!«

Im Stillen zähle ich die Sekunden die mir noch verbleiben. Als ich bei Zehn angelangt bin, wundere ich mich, dass ich immer noch lebe. Also reiße ich die Augen auf und sehe in Lokis Gesicht, welches mich abwartend mustert.

»Bist du jetzt fertig?«, fragt er und hält mich immer noch fest an beiden Oberarmen. »Du hast doch nicht wirklich Angst vor mir? Du hast die ganze Zeit über gewusst, wer ich bin.«

Ich merke, dass sich Tränen in meine Augen schleichen.

»Was willst du?«, flüstere ich kaum hörbar und ohne auf seine Frage zu antworten.

Lokis Griff lockert sich und seine Hände streichen an meinen Armen langsam nach unten, bis er meine Hände hält und diese kurz drückt. Dann wendet er sich ab und geht in die Küche, um einen Kaffee zu kochen.

Klar, trinken wir Kaffee. Mein Herz rast noch nicht genug.

Meine Hände zittern, wie ich bemerke. Unschlüssig stehe ich ein paar Momente bewegungslos im Raum, dann beschließe ich mich zusammenzureißen und setze mich an den Küchentisch, beobachte Mrs. Fish dabei, wie sie träge ihre Runden schwimmt.

Loki steht mit dem Rücken zu mir gewandt, setzt routiniert Kaffee an und dreht sich dann mit einem leisen Seufzen in meine Richtung.

»Ist der Gedanke, dass ich dich einfach wiedersehen wollte so abwegig?«, fragt er und lehnt sich gegen die Spüle.

Ich merke, wie Trotz in mir nach oben steigt und lehne mich dramatisch gegen die weiße Stuhllehne.

»Nachdem deine Welteroberungsversuche erneut schiefgegangen sind?«, höre ich mich mutig fragen und Loki schnalzt mit der Zunge, als er sich von der Arbeitsplatte abstößt und sich neben mich setzt.

Ich schaffe es, nicht zusammenzuzucken oder zurückzuweichen. Yay!

»Dabei handelt es sich um ein ganz unschönes Missverständnis«, erklärt er und versucht meinen Blick aufzufangen.

Na klar, jeder Bösewicht fühlt sich missverstanden.

»Also schön«, lenke ich ein und kann mich gerade ziemlich gut mit dem Gedanken anfreunden, dass ich heute doch noch nicht das Zeitliche segne. Jetzt will ich die Geschichte von Anfang an erklärt bekommen. »Warum bist du damals einfach so abgehauen?«

Loki scheint erleichtert, dass ich jetzt bereit bin, ihn anzuhören.

»Weil ich mich erinnern konnte. An alles.« Ich nicke leicht um zu signalisieren, dass er fortfahren soll. »Ich befand mich gerade auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung. Der Gerichtsverhandlung, in der über meine jüngsten Verbrechen hier auf Midgard geurteilt werden sollte. Gerade gehe ich also noch, bewacht von asischen Streitkräften, den langen goldenen Gang zum Gericht entlang, und keine Sekunde später bist du meine nächste Erinnerung. Ich weiß bis heute nicht, wie das möglich ist.«

Ich schon, aber ich halte mit meinem Wissen schön hinter dem Berg.

Midgard, asisch, goldene Gänge. Ich habe keine Ahnung, ob mein Gehirn diesen Input heute noch verarbeiten kann. Moment.

»Echt jetzt, goldene Gänge?«

Loki lächelt humorlos und steht auf um uns Kaffee einzuschenken.

»Sei mal ehrlich«, sagt er zu mir und stellt meine Lieblingstasse vor mir ab. »Welchen Eindruck macht es auf dich, wenn ein Häftling kurz vor seiner Verhandlung einfach verschwindet?«

Da brauche ich nicht lange überlegen.

»Keinen guten«, sage ich, nippe an dem heißen Getränk und verbrenne mir just die Zunge. »Ich würde denken, dass er geflohen ist. Oh Mist.«

Loki nickt bestätigend und sieht mir dabei fest in die Augen.

»Als ich mich wieder erinnerte, wer ich bin, waren seit der Verhandlung Monate vergangen. Ich wollte keine Zeit mehr verlieren und bin so schnell wie möglich nach New York gereist, um meine Situation zu erklären.«

Loki lehnt sich zurück, schlägt die Beine übereinander und sieht, in Erinnerung schwelgend, an die Küchendecke.

»Und weiter?«, frage ich ungeduldig und seine grünen Augen streifen mich kurz.

»Sagen wir, es war etwas unklug von mir, mich direkt im Stark Tower zu materialisieren.« Oh. »Der Blechmann hat mich sofort angegriffen und der große Grüne...« Loki unterbricht sich selbst und ein Schaudern durchläuft seinen Körper, bei der Erinnerung an den Hulk. Ich denke an die Fernsehbilder und er geht darauf ein, als lese er meine Gedanken. »Du musst mir glauben, dass ich mich nur verteidigt habe. Ich wollte keinen Ärger. Diesmal nicht.«

»Und damals?«, frage ich leise und sehe dabei in die Abgründe seiner grünen Augen. »Als du mit diesem Zepter wild um dich geballert hast?« Immerhin wurde er nicht umsonst zu einer Verhandlung geladen.

Er wendet leidend den Blick ab.

»Telepathie«, sagt er schlicht und es fällt ihm sichtlich schwer darüber zu sprechen, also weiß ich es echt zu schätzen, dass er es trotzdem tut. »Der Wunsch die Welt zu unterwerfen entsprang nicht meinen eigenen Gedanken, sondern wurde mir eingepflanzt. Von Thanos.«

»Von wem?«, frage ich verdutzt und merke, wie sehr ich an seinen Lippen hänge und versuche, alles zu begreifen.

»Dem König der Chitauri«, klärt Loki mich auf und schenkt Kaffee nach, nachdem ich meine Tasse in einem Zug leere.

»Das bedeutet, dass du unschuldig bist«, erfasst mein Gehirn die Situation sofort und ein Chor beginnt in meinem Kopf zu singen. Unschuldig, unschuldig, unschuldig!! Jetzt kann ich es ja auch zugeben, dass ich es eigentlich immer gewusst habe. Loki ist in Wahrheit gar nicht der böselige Badass-Schurke, sondern nur... äh... ja, was eigentlich?

»Du glaubst mir?«, fragt er vorsichtig und ich nicke hastig, als er mich in meinen Gedanken unterbricht.

»Was hast du den letzten Monat über gemacht?«, will ich neugierig wissen.

»Eine Weltreise«, sagt Loki und grinst mich an, als er mein verdattertes Gesicht sieht. »Ich war in Asien, Afrika und in Neuseeland.«

»Sag nicht, dass du die Drehplätze von 'Der Herr der Ringe' besucht hast«, sage ich lachend und sein Grinsen wird noch breiter.

»Wusstest du, dass es in einem Naturschutzgebiet in Australien einen See gibt, der pinkfarbenes Wasser hat? Pinkes Wasser!«

Ist nicht wahr. Ich habe eine Schwäche für pinke, glitzernde und total unnütze Sachen. Herrlich.

»Das würde ich gern einmal sehen«, gestehe ich und bekommen ganz glasige Augen.

»Nichts leichter als das«, sagt mein Gegenüber und hält seine offene Hand über den Tisch.

»Später«, sage ich eilig, als ich begreife, dass er mich binnen eines Augenschlags dahin bringen kann.

»Ich war außerdem auch in Vegas«, berichtet er weiter und schaut mich vielsagend an.

»Hast du gemogelt?«, versuche ich ihn zu durchschauen.

»Nur ein bisschen«, gesteht er lachend und zeigt mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand, wie viel »ein bisschen« ist. »Ich habe mir erlaubt, dir einen gewissen Betrag zu überweisen. Ein neues Flugzeug sollte jetzt kein Problem mehr sein.« Mir klappt der Mund auf. Waaas? »Oh, und das hier habe ich aus Indien für dich mitgebracht.«

Er fischt ein Armband aus seiner Hosentasche und wartet mit einem Lächeln ab, bis ich mein Handgelenk in seine Richtung strecke.

»Nein, warte«, beginne ich und hebe abwehrend die Hände. »Das kann ich nicht annehmen. Du kannst mir nicht einfach-«

»Riley«, unterbricht er mich mit leiser Stimme und doch höre ich sofort auf und ergebe mich meinem Schicksal. Einfach nicht widersprechen, ist vielleicht keine ganz so blöde Idee. Nicht, dass er doch noch das Zepter raus holt.

Fünf Sekunden später baumelt ein feingliedriges Armband mit einem kleinen Anhänger in Form eines »R« an meinem linken Handgelenk.

»Danke«, sage ich nur und mir fällt schlagartig etwas ein.

Ich drücke mich hinter dem Tisch hervor, haue mich neben Bob auf das Sofa und greife nach dem Telefon. Dann lasse ich mich von der Auskunft mit dem Stark Tower verbinden.

»Was hast du vor?«, fragt Loki interessiert und legt seine Stirn in Falten.

»Ich rufe die Avengers an«, kläre ich auf, als wäre es das Einfachste auf der Welt, die Rächer so einfach per Telefon zu erreichen. »Oh, ein Freizeichen.«

»Was soll das bringen?«, fragt Loki weiter, erhebt sich und begibt sich auf den Weg durch den Raum.

»Wir müssen die Situation aufklären. Die Welt muss erfahren, dass du nichts dafür konntest. Du warst nur ein Opfer. Dass du dich geändert hast. Du hast dich doch geändert, oder?«

»Natürlich«, versichert Loki, als er neben mir Platz nimmt und ich mich gleich wieder in alte Zeiten zurückversetzt fühle.

»Warteschleife«, sage ich, als das Freizeichen einer leisen Musik weicht. »Aber ich bleibe hartnäckig.«

Stunden später lümmeln wir zu dritt auf der Couch, mein Bein baumelt über der Armlehne und mein Ohr wird immer noch von der Warteschleifenmusik malträtiert, als der Fernseher zur Abwechslung einmal einen Sci-Fi-Film spielt.

»Und warum bist du jetzt wieder hier?«, frage ich und übertöne mit meiner Stimme die Warteschleifenmusik.

»Mir war langweilig«, gesteht er ohne mit der Wimper zu zucken und mein Kopf dreht sich in seine Richtung. »Und schließlich bist du ja so etwas wie ein Hobby von mir, was ich nicht aufgeben möchte.«

Meine Faust knallt gegen seinen Oberarm und er lacht, ohne den Blick vom Fernsehgeschehen zu wenden.

»Suchen die anderen Götter dich denn gar nicht?«, will ich wissen und schiele ihn von der Seite her an. »Du bist doch nicht etwa auf der Flucht, oder so?«

Loki presst kurz die Lippen aufeinander, bevor er antwortet.

»Es gibt da einen Wächter, Heimdall. Er ist allsehend. Aus irgendeinem Grund wollen sie mich wohl nicht holen kommen.«

Merkwürdig. Vielleicht haben sie heimlich schon beschlossen, dass Loki ein freier Mann ist. Man kann ja wohl noch träumen.

»Vielleicht findet dieser Heimdall ja, dass du in guter Gesellschaft bist.«

Ich höre sein leises Lachen als Antwort.

»Ja, vielleicht.«

»Du, Loki?«, frage ich und nenne ihn das erste mal bei seinem richtigen Namen. Ein historischer Moment.

»Hm?«

»Ich bin froh, dass du wieder da bist.« Nun dreht sich sein Kopf doch in meine Richtung und er nickt leise lächelnd. »Und ich würde dich jetzt gern umarmen, wenn ich darf.«

Ohne Vorwarnung umarmt er mich und drückt mich fest an sich, während die Musik aus dem Hörer leise weiter dudelt.
 

~ Ende des 9. Kapitels ~



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