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Misfits: Herzkönig

{boyxboy}
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Huhu! Ich hatte in ff.de und myff eine Umfrage gemacht, was für ein Spezialkapitel die Leute gerne lesen würden und dieses Kapitel hat haushoch gewonnen: Angesiedelt in den Osterferien, einen Tag nach Gaaras gescheitertem Versuch Lukas einen zu blasen – Ein Tag im Leben von Kaito oder auch „Wie mein bester, bis zum Erbrechen verliebter, Freund mir die Nerven raubte“
Beim Schreiben entwickelte sich Ganze mehr in 'ein Tag im Leben von Kaito' und am Ende geht es nur noch um ihn und nicht mehr darum, was Gaara nun eigentlich für Lukas empfindet. Ich hoffe, ihr werdet trotzdem Spaß an dem Kapitel haben, obwohl es zum Ende hin nicht sonderlich fröhlich ist :) Komplett anzeigen

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Spezialkapitel - Kaitos Sicht

Silencio stand in weißen, kleinen Buchstaben in der rechten, oberen Ecke der Kaffeemaschine, aber sie war alles andere als leise. Ich war schon kurz davor den Stecker zu ziehen, weil die ratternden Geräusche meine Kopfschmerzen auf Hochtouren brachten. Grummelnd rieb ich mir die Schläfen und sagte mir heute Abend sollte ich mal weniger oder direkt gar nichts trinken. Nachdem Gaara mit Lukas verschwunden war, drängte Marc alle zu einem dämlichen Trinkspiel, das weniger aus Spielen und mehr aus Trinken bestanden hatte. Gestern hatte ich noch nicht das Gefühl gehabt komplett betrunken gewesen zu sein, doch der Kater heute behauptete das Gegenteil. Als Silencio endlich Ruhe gab, nahm ich mir meinen Kaffee und trank ihn schwarz. Gaara schlief noch. Ich war immer vor ihm wach und schlief nie länger als höchstens sechs Stunden.
 

Um mir die Zeit zu vertreiben, schaltete ich den Fernseher an, nahm mir Block und Bleistift und begann zu zeichnen. Anfangs nichts Bestimmtes, nur Entwürfe für Graffiti-Kunst, etwas, was ich schon immer mal ausprobieren wollte, bisher jedoch noch nie zustande gekommen war. Was schon verwunderlich war, wenn man bedachte, wie viel Mist Gaara und ich in unserer frühen Jugend verbockt hatten. Als mein Kaffee fast leer war, begann ich jedoch das Portrait einer unbestimmten Person. Eines Mädchens mit rot unterlaufenen Augen und eingefallenen Wangen. Ihre Haare, dünn und zerzaust, ihr Lippen rissig. Ich schattierte die Zeichnung und wurde besonders im Bereich der Augen detailreich, denn die zeichnete ich stets am liebsten. Ich mochte es die kleinen, weißen Punkte in die Iriden zu malen und wie ich mit wenigen Strichen eine Wirkung von Leben hervorrufen konnte. Bei diesem Mädchen achtete ich jedoch darauf, dass ihre Augen leblos wirkten. Als das Portrait fertig war, kritzelte ich in dicken, schwarzen Buchstaben darunter 'DROGENHURE'.
 

Einen Moment lang schaute ich das Bild nur an, dann erinnerte es mich an meine Mutter und ich wurde sauer. Ich riss das Blatt aus dem Block, knüllte es zusammen und warf es schwungvoll hinter die Küchentheke. Gerade rechtzeitig als sich im Flur etwas regte und Gaara verschlafen auftauchte. Seine grün-braunen Augen waren zu Schlitzen zusammen gekniffen, seine braunen Haare zerzaust und er trug eines meiner Shirts, die ich bei ihm mit vielen anderen Klamotten bunkerte, da sein Haus mein zweites Zuhause war. Mir gehörte sogar ein Teil seines Kleiderschrankes.

„Ja, mach doch einfach noch mehr Müll“, grummelte Gaara, ging in die Küche und hob das Blatt auf. Mir fiel an der Art wie er sprach und sich bewegte auf, dass er schlecht gelaunt war. Gestern, nachdem Lukas und Simon gegangen waren, hatte Gaara recht enttäuscht gewirkt, jedoch nicht darüber reden wollen. Wenn es um seine Gefühle ging, konnte ich genauso gut mit Silencio reden und würde nicht weniger erfahren.
 

Gaara entfaltete und inspizierte meine Zeichnung.

„Sie sieht gut aus“, sagte er.

„Sie soll nicht gut aussehen.“

„Ich meine die Zeichnung, nicht das Mädchen. Du willst das nicht behalten?“

„Erinnert mich an meine Mutter.“

Damit war alles gesagt. Widerwillig warf Gaara das Blatt weg. Schon früher hatte ich meine Zeichnung direkt nach ihrer Fertigstellung wegwerfen wollen und Gaara hatte sie behalten. Mittlerweile wusste er auch nicht mehr wohin damit und doch fiel es ihm jedes Mal schwer sie nicht aufzubewahren. Dabei waren sie nicht einmal soo gut, es gefiel mir einfach nur zu zeichnen. Der Prozess war mir nicht wichtig, nicht das Ergebnis.
 

„Soll ich uns mal etwas zum Essen machen?“, fragte ich und erhob mich von der Couch. Zur Antwort murmelte Gaara etwas unverständliches. „War das ein Ja oder ein Nein?“

„Mir egal“, zuckte er mit den Schultern und ließ den Blick über das Chaos schweifen, dass seine Gäste ihm letzte Nacht hinterlassen hatten. Aus einer Schachtel, die auf der Küchentheke lag, nahm er sich eine Zigarette, zündete sie sich an und setzte sich auf die Couch, während ich in die Küche ging, um uns ein wenig Rührei zu machen.
 

„Was machen wir heute Abend?“, fragte ich. Zur Antwort murmelte Gaara etwas unverständliches. „Bleiben wir bei dir oder gehen wir zu jemand anderem?“

Gaara zuckte die Schultern.

„Egal, was wir machen, wir sollten gleich erst mal aufräumen“, stellte ich fest, auch wenn ich absolut keine Lust darauf hatte. Diesmal reagierte Gaara gar nicht. Am liebsten würde ich sein Desinteresse einfach ignorieren, denn wenn ich nur ein Wort in diese Richtung verlieren würde, würde es in den nächsten paar Tagen wieder nur um dieses eine Thema gehen, dass uns nun schon seit Monaten begleitete: Lukas Pannek.
 

Ich mochte ihn. Er war eine angenehme Gesellschaft, ruhig, intelligent, vorsichtig, nicht einmal unter Drogen- oder Alkoholeinfluss drehte er auf, sorgte für Chaos oder wurde laut. Auf seine Weise hatte er Humor, auch wenn es meist ein recht intelligenter Humor war, machte nicht häufig Scherze, lachte aber gerne. Genauso gerne schien er seine Laune zu wechseln und seit er in der Schule einen Nervenzusammenbruch hatte, bereitete er mir auch Sorgen. Ich hatte versucht so viel Verständnis wie möglich für den Tod seines Vaters aufzubringen, doch konnte ich mich mit diesem Problem kaum identifizieren. Ich hatte nie einen Vater und, wenn meine Mutter sterben würde, wusste ich nicht einmal, ob ich lange trauern würde. Natürlich wäre ich traurig, schließlich war sie meine Mutter, aber dann wiederum... wenn ich an die Misshandlungen in meiner Kindheit dachte...
 

Zurück zu Lukas. Wie gesagt, mochte ich ihn, nur eine Sache störte mich gewaltig: Wie verdammt lange er brauchte, um sich einzugestehen, dass er schwul war. Jeder Vollidiot konnte sehen, dass er Gaara nicht nur ein wenig mochte und jeder noch dümmere Vollidiot konnte sehen, dass Gaara Hals über Kopf in ihn verliebt war. Trotzdem schienen die Beiden Ewigkeiten zu brauchen, um zueinander zu finden. Ich hatte schon gehofft mit gestern hätte sich die Sache endlich geklärt, doch scheinbar war etwas schief gelaufen und die Frage, was, schwebte in der Luft. Auch wenn Gaara wie ein nasser Sack auf der Couch hing und kaum Laute von sich gab, wusste ich, sobald ich Lukas ansprechen würde, kämen die Worte wie ein Wasserfall aus seinem Mund. Und darauf hatte ich kein Bock. Ich wollte mir nicht mehr jeden Tag dieses Gejammer anhören!
 

Als das Rührei fertig war und ich es auf den Couchtisch stellte, hörten wir, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Da Gaaras Eltern wieder sonst wo im Ausland unterwegs waren, konnte es sich bei dem Besucher nur um eine Person handeln: Marc. Gaara hatte ihm und mir einen Haustürschlüssel machen lassen, da wir seine häufigsten Besucher waren und halb bei ihm lebten. Schwungvoll trat der junge Mann ein, zog seine Schuhe aus und warf sich auf die andere Seite neben Gaara auf die Couch, der missgelaunt Rührei mampfte.
 

„Hi“, grüßte Marc, ich grüßte zurück, Gaara grummelte.

„Ehm...“ Marc schaute sich ein wenig um. Wie immer trug er eine Wollmütze über seinem braunen Haarschopf, ein dichter Bart zierte seinen schlanken Kiefer und seine Arme waren bis zu den Ellenbogen tätowiert. Etwas, worauf ich neidisch war. Wenn es nicht so viel kosten würde, würde ich mir auch ein Tattoo stechen lassen. „Ich scheine noch zu früh gekommen zu sein. Hier ist ja noch voll das Chaos.“

„Kannst uns ja gleich beim Aufräumen helfen“, schlug ich vor.

„Am Arsch.“ Marc griff nach der nächstbesten Colaflasche, in der noch ein wenig etwas drin war und trank davon. „Was geht eigentlich heute Abend? Ich hab gehört, The Eternal Story soll im Zenit auftreten. Ich glaube Fynn wollte hin, Samantha, Connor, Flo, Jan, Fabian... Larissa glaube ich auch... und Blondie überlegt es sich, obwohl die eh nicht mitkommen wird. Ist einfach so gar nicht ihre Musik. Was sagt ihr?“

„Wäre geil mal wieder was mit der alten Clique zu machen, aber es ist auch nicht meine Musik“, antwortete ich. „Außerdem fehlt Noah.“

„Soweit ich weiß, macht er was mit Hannah, Simon und Lukas.“
 

Und das war er. Genau da war er. Der dramatische Fehler, den niemand hätte tun sollen, den Marc gerade getan hatte und das Ende meiner Nerven bedeutete. Er hatte den Namen Lukas erwähnt.

„Ich komme nicht mit!“, entfuhr es Gaara laut, stellte den Teller mit dem Rührei hart auf der Tischplatte ab und verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er sich gegen die Couchlehne fallen ließ. Marc und ich wechselten stumme Blicke. Ich gab ihm schweigend zu verstehen, dass ich ihn für die Erwähnung des Namens, der nicht genannt werden durfte, hasste und er gab mir zu verstehen, dass er sich jeden Augenblick wieder verpissen würde, um dieses Leid nicht ertragen zu müssen.
 

„Ich hab alles verkackt! Ich hätte ihn gestern beinahe gehabt. Beinahe hätte ich ihm einen geblasen und dann ist es nur noch ein kurzer Schritt zum Sex und ein etwas größerer Schritt zu einer Beziehung, oder? Oder? Aber ich versaue alles, weil ich dachte, ich müsste mich darüber lustig machen, dass er noch Jungfrau ist. Bin ich denn geistesbehindert?! Es ist nicht einmal auch nur annähernd etwas schlimm oder lustig daran mit 17 Jahren noch Jungfrau zu sein. Darüber sollte er froh sein! Dass er wartet und nicht mit dem erstbesten Kerl ins Bett hüpft, der ihm erzählt der Sex geht auch ohne Vorbereitung, das würde überhaupt nicht weh tun – Hör auf zu lachen, Marc!“

„Tut mir Leid.“ Marc versuchte sein breites Grinsen zu unterdrücken. „Ich finde die Geschichte immer noch witzig.“

„Daran war überhaupt nichts witzig. Hast du ne Ahnung, wie höllisch weh das tut?!“

„Alter, du warst 15. Sogar ich wusste mit 15, dass Schwulensex nicht ohne Vorbereitung geht und ich bin nicht einmal schwul.“

„Ist doch auch egal, oder?“, fragte Gaara aufgebracht und ließ den Kopf verzweifelt hängen. „Ich habe alles kaputt gemacht...“
 

„Was hat er denn gesagt bevor er gegangen ist?“, fragte ich und versuchte zu verbergen wie genervt ich war.

„Dass er Zeit braucht“, murmelte Gaara.

„Er braucht wirklich lange Zeit“, stellte Marc fest. „Aber was soll's, das wird schon noch. Bringt auch nichts darüber zu reden, oder? Wollt ihr dann heute Abend mit auf das Konzert oder lieber nicht?“

„Ne, danke“, sagte Gaara, stand auf und ging in Richtung seines Zimmers. „Ich werde mich jetzt in mein Bett legen und in Selbstmitleid versinken.“
 

Und damit war er verschwunden. Einen Moment lang wechselten Marc und ich einen Blick und er verstand, was ich von ihm wollte, bevor ich es aussprechen konnte.

„Vergiss es, ich helfe nicht aufräumen!“ Marc legte die Füße auf dem Couchtisch hoch, machte den Fernseher lauter und ignorierte mein Fluchen. Somit räumte ich alleine auf. Irgendwann bekam Marc scheinbar doch so etwas wie ein Gewissen, spülte die Shisha und staubsaugte sogar das Wohnzimmer. Als wir fertig waren, bat er mich jedoch darum Gaara nichts davon zu erzählen.
 

„Sonst denkt der noch, ich würde das öfter machen... können wir nach dem Konzert hier vorbeischauen?“

„Gaara sieht nicht aus, als wäre er in der Stimmung dazu, aber kommt einfach.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ablenkung ist immer das Richtige. Vielleicht kann ich Noah dazu überreden, dass sie auch vorbei kommen, dann kann Gaara es noch mal mit Lukas versuchen.“

„Wenn die es in nächster Zeit nicht auf die Reihe bekommen, zwinge ich Lukas dazu mit Gaara zusammen zu kommen. Und, wenn es dann nicht klappt, wandere ich aus. Gaara wird immer unerträglicher.“
 

Wir verabschiedeten uns und ich ging nach Gaara schauen. Es war unmöglich ihn dazu zu motivieren, irgendetwas zu machen, nicht einmal zocken wollte er. Selbst als ich ihm drohte seinen Spielstand in Black Ops II zu löschen, bewegte er sich keinen Zentimeter. Ich versuchte ihn dazu zu bringen mal wieder etwas auf seiner Gitarre zu spielen und zu singen. Er tat dies meistens alleine oder nur in Gegenwart von mir und Marc. Selten, wenn Samantha und Noah dabei waren und niemals in Anwesenheit von anderen Leuten. So selbstbewusst Gaara auch war, er schien keine Ahnung zu haben wie talentiert er war. Schließlich gab ich es komplett auf und sagte ihm, dass ich Heim fahren werde.
 

„Ich besorge uns noch ein wenig Marihuana, dann können wir den Abend gechillt angehen, okay?“

„Hm.“ Wow. Das war wohl mehr Reaktion als ich erwarten konnte. Schnell zog ich mir Schuhe und eine graue Kapuzenjacke an, darüber eine Jeansweste, auf deren Rückseite ein weißer Stoff genäht war. Darauf stand in schwarzen Buchstaben Life sucks and then you die. Geschwind ging ich zur Straßenbahn, rauchte dabei eine Zigarette und überlegte grummelnd wie ich Gaara endlich aus seinem Liebeskummer heraus bekommen könnte. Er hatte sich noch nie verliebt. Eigentlich hatte er auch immer behauptet Liebe sei etwas für Kinder und, dass es sie nicht wirklich geben würde. Eine Aussage, die bei ihm nicht seltsam war, wenn man bedachte, welche Art von „Liebe“ seine Eltern auslebten. Manchmal glaubte ich, die einzige Nacht, in der die Beiden gevögelt hatten, war die, in der sie Gaara gezeugt haben. Selbst während der Schwangerschaft war Gaaras Mutter ständig am Arbeiten und auf Reisen. Gerade mal die letzten beiden Monate hatte sie Zuhause und in einigermaßen Ruhe verbracht. Bereits wenige Wochen nach der Geburt begann sie wieder zu Arbeiten, nahm den Mutterschaftsurlaub nicht einmal wahr. Ihr war die Karriere immer wichtiger gewesen als Gaara. Eigentlich war ich froh, dass er sich in Lukas verliebt hatte. Das änderte Gaaras Einstellung, was Liebe und Beziehungen angeht, gewaltig, doch die Situation momentan war unerträglich.
 

Als ich bei meiner Station ausstieg, zog ich mir die Kapuze über den Kopf, fuhr dabei vorsichtig mit den Fingern über meine Narbe. Meistens, wenn ich hier in dieser Wohngegend war, fühlte ich mich unwohl, doch manchmal glaubte ich, es sei genau der Ort an den ich gehörte. Ich hatte Angst davor so zu enden wie meine Mutter, fühlte mich jedoch manchmal wie Zuhause, wenn ich durch die heruntergekommenen Straßen ging. Das Ehepaar, das bei uns direkt um die Ecke wohnte, stritt mal wieder so laut, dass man sie auf der Straße hören konnte. Ein Junge, nicht älter als zehn Jahre, lief an mir vorbei und sein linkes Auge wurde von einem großen, blauen Fleck geziert. Ein paar 14 – 15 – Jährige standen in einem engen Kreis am Straßenrand und tuschelten wild, dabei reichten sie sich gegenseitig etwas herum und es handelte sich dabei mit Sicherheit um Drogen.
 

Ich ging zu unserem Haus, schloss die Tür auf und betrachtete die bekritzelten und beschmierten Wände, während ich die Treppen hochging. Einige dieser Zeichnungen und Sprüche hatte ich selbst dort hingeschrieben. Mit neun Jahren hatte ich direkt neben unsere Tür mit einem Edding die Worte „Annabell Petrov ist eine Schlampe“ geschrieben und behauptet, dass ich das nicht gewesen wäre. Natürlich hatte meine Mutter meine Schrift erkannt und mir dafür ein paar kräftige Schläge verpasst. Da der Edding nicht mehr abging, musste ich an der Stelle mit einem Messer die Tapete abschaben. Als ich fertig war, hatte ich meiner Mutter gesagt, dass sie wirklich eine Schlampe war.
 

Ich schloss unsere Tür auf und trat in die stickige Wohnung. Mal wieder hatte meine Mutter es nicht für nötig gehalten, die Fenster zu öffnen. Der Zigarettenrauch stand in der Luft und aus der Küche drang ein Geruch von Essen, das zu lange herum stand. Heute würde ich aber nicht aufräumen. Lieber blieb ich solange bei Gaara bis sie es selbst machte, auch wenn es dann wieder hieß, ich würde nichts für sie tun. Ich hoffte, dass sie nicht da war, ich einfach mein Geld holen und zu meinem Ticker gehen könnte, wurde jedoch enttäuscht. Mum war im Wohnzimmer, hatte eine Zigarette in der Hand und trug Kleidung, die sie meiner Meinung nach nicht tragen sollte. Einen kurzen Rock, ein enges Top und eine Kunstfelljacke im Leopardenmuster. Wie immer waren ihre Haare zerzaust, ihr Gesicht blass und ihre Wangen eingefallen. Sie sah aus als hätte sie mehrere Tage nicht geschlafen. Auf dem Couchtisch lag eines meiner Bilder: Das Portrait von Aljona.
 

„Das gehört mir!“, entfuhr es mir auf meiner Muttersprache und ich riss das Bild vom Tisch herunter. „Wieso gehst du ständig an meine Sachen?“

„Ich wollte einer Freundin deine Bilder zeigen“, antwortete Mum lahm, und ebenfalls auf russisch. Wir unterhielten uns immer in unserer Muttersprache. Ihre Augen waren nicht größer als Schlitze und ihre Lippen rissig. Sicherlich hatte sie sich wieder irgendetwas eingeworfen. In letzter Zeit hatte ich Sorge sie würde nun auch noch Crystal Meth nehmen. Zumindest wirkte ihr Äußeres so. „Wieso zeichnest du nicht mal mich?“

'Habe ich heute morgen', hätte ich beinahe gesagt und dachte dabei an das Bild der Drogenhure. Stattdessen presste ich jedoch die Lippen aufeinander, antwortete dann: „Weil ich dich nicht zeichnen will, ganz einfach.“

„Und warum nicht? Kannst du nicht wenigstens das für mich machen?“

„Das sagst du so, als wäre ich dir irgendetwas schuldig“, stellte ich fest.

„Das bist du mir auch, ich bin deine Mutter.“

„Du bist eine beschissene Mutter.“
 

Darauf folgte ausnahmsweise mal keine Widerrede, was meine Vermutung, dass sie etwas genommen hatte, bestätigte. Ich brachte mein Bild wieder zurück in mein Zimmer, holte das Geld, das ich versteckte, da Mum es mir ansonsten klaute und wollte schnell wieder gehen.

„Kannst du mir ein Glas Wasser bringen?“, fragte Mum, gerade als ich an der Wohnungstür ankam. Widerwillig ging ich zurück in die Küche und rümpfte beim Anblick der versauten Küchentheke die Nase. In einem der ungewaschenen Töpfe bildete sich sogar schon Schimmel. Es war unmöglich ein Glas zu finden, das noch nicht benutzt wurde, deswegen spülte ich schnell eins und schüttete ihr etwas Wasser ein. Scheinbar aus der letzten Plastikflasche. Wenn ich nicht einkaufen ging, machte das hier niemand. Momentan hatte sie wieder den totalen Abrutscher.
 

„Kannst du auch einen Aschenbecher mitholen?“, fragte sie aus dem Wohnzimmer. Ich blickte mich um und konnte nur einen Aschenbecher finden, der bis zum Rand voll war. In unserer Küchentheke war eine Tür eingelassen, hinter der sich unser Mülleimer befand, doch als ich diese Tür öffnete, stutzte ich. Darin stand ein neuer Mülleimer – Nein – einer alter Mülleimer. Einen, den ich bereits vor Jahren weggeworfen hatte, weil ich ihn hasste. In mir keimte Wut auf und etwas, das sich anfühlte wie damals, als ich noch ein Kleinkind war und Angst vor meiner Mutter hatte. Schnell schüttete ich den Aschenbecher im Mülleimer aus, schloss die Tür und brachte Becher und Glas meiner Mutter.
 

„Was ist mit dem anderen Mülleimer passiert?“, fragte ich dumpf.

„Kaputt gegangen... ich habe einen neuen gekauft... ich glaube den hatten wir schon einmal“, zuckte Mum die Schulter und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Bleibst du heute Nacht hier?“

„Nein.“

„Gut, ich werde nämlich Besuch haben.“

„Du ziehst dich an wie eine Hure. Kommt jemand, der dich für Geld vögelt?“
 

Mit einem Mal war meine Mum auf den Beinen, schneller, als ich es erwartet hätte. Ehe ich reagieren konnte, hatte sie mir mit der flachen Hand eine Backpfeife verpasst. Scharf zischte ein Brennen durch die getroffene Stelle und einen Augenblick lang fühlte ich mich wieder wie das ängstliche Kleinkind. Für einen Moment war sie nicht einen halben Kopf kleiner als ich, sondern wieder doppelt so groß und mehr als doppelt so stark. Dann kehrte ich in das Hier und Jetzt zurück und spürte, wie es in meinen Fingern zuckte, den Schlag zurück zu geben. Das tat es immer, doch natürlich ging ich diesem Verlangen nicht nach. Im Gegenteil, ich schämte mich jedes Mal dafür. Schließlich war sie Mutter. Wie krank musste man sein, seine eigene Mutter schlagen zu wollen?
 

„So redest du nicht mit mir!“, keuchte Mum und schwankte dabei bedrohlich. „Ich bin deine Mutter! So redest du nicht mit mir! Ich bekomme Besuch von einer Freundin, wir werden hier feiern.“

„Bringt sie Crystal Meth oder Heroin mit?“, fragte ich. Zuerst dachte ich, sie würde wieder zuschlagen, dann jedoch zischte sie: „Scher dich weg. Verpiss dich sofort aus meiner Wohnung.“

Und als ich nicht sofort reagierte, packte sie den Aschenbecher. Eilig flüchtete ich zur Tür, Mum warf den Aschenbecher trotzdem und er zerschellte über meinem Kopf am Türrahmen. Sie schrie mir hinterher, dass ich ein Arschloch wäre, dann war ich aus der Wohnung verschwunden und knallte die Tür hinter mir zu.
 

Wild auf russisch fluchend verließ ich das Haus, zog erneut die Kapuze über meinen Kopf und ging die Straße runter. Diese blöde Hure erinnerte sich nicht einmal daran, was damals mit dem Mülleimer gewesen war. Manchmal glaubte ich, sie sah unsere gemeinsame Vergangenheit anders als ich. Vermutlich stimmte dies auch. Vermutlich hatten Eltern eine andere Einbildung von ihrer Erziehung und dem, was ihren Kindern wirklich in Erinnerung geblieben ist. Für sie war diese Zeit nicht anders als ihr Leben davor oder danach, wahrscheinlich nur anstrengender, da sie ein kleines Kind groß ziehen musste. Doch für ein jeden Menschen war die Kindheit die Zeit, die wirklich prägend war und, wenn Eltern dies nicht erkannten, konnten sie ihre Kinder leicht falsch erziehen. Meine Mutter hatte es nicht erkannt. Sie war drogenabhängig und hat herum gehurt, ihr erstes Kind abgegeben und ihr Zweites – leider Gottes – behalten, im Glauben das Richtige zu tun. Doch mit dem Feiern und den Drogen und den Männern hatte sie nie aufgehört. Ich war einfach nur das nervige Anhängsel. Ihr Leben war ein ständiges Ab. An Tagen, die besonders schlimm waren – was häufig vorkam – ließ sie ihre Wut und Frustration gerne an mir aus.
 

Ich konnte nicht älter als vier Jahre gewesen sein als sie mich eines Abends vollkommen wütend gepackt und in diesen Mülleimer gesetzt hatte. 'Das ist es was du verdienst! Dort gehörst du hin! Und du wirst nicht rausgehen bis ich etwas anderes sage!' Am nächsten Morgen hatte ich aus Angst immer noch im Mülleimer gesessen. Beinahe noch schlimmer war es als ich sechs Jahre alt gewesen war und Mum diesen behinderten Macker hatte, der halb bei uns eingezogen war. Er pflegte es mich zu schlagen oder mich dazu zu zwingen seine Drogen an seine Käufer zu bringen. Eines Tages hatte er mich Grün und Blau geprügelt, ich versteckte mich in der Badewanne, weil ich wusste, wohin. Als meine Mutter endlich nach Hause kam, streckte ich die Arme nach ihr aus, heulte und wollte bloß von ihr im Arm gehalten und getröstet werden. Ich wollte, dass mich endlich sieht. Dass sie erkennt, dass sie ein Kind hat, um das sie sich kümmern muss, doch sie war auf Droge. Damals wusste ich das noch nicht, doch heute kann ich mir ganz sicher sein. Sie redete etwas davon, wie kompliziert alles sei und warf ihren Zigarettenstummel zu mir in die Badewanne. Und das war es, was ich ihr wert war, ein abgebrannter Zigarettenstummel.
 

Missgelaunt kam ich bei meinem Ticker an. Es gab in der Nähe eine heruntergekommene Bar in einem alten Keller, die nicht sonderlich gut lief und fragwürdige Getränke hatte. Angeblich schüttete der Barkeeper K.O.- Tropfen in die Getränke der Mädchen. Mein Ticker ging hier ein und aus und selbstverständlich fand ich ihn flirtend an der Bar. Im Keller war es dunkel, nur ein grünliches Licht schimmerte hinter der Theke, beleuchtete die schmutzigen Flaschen und Gläser. Es waren nur eine handvoll Gäste da und der Rauch stand stickig im Raum. Ich lehnte mich an die Bar und zückte mein Geld.
 

„Reicht für vier Gramm“, sagte ich ihm. „Aber Gutes, nicht die Scheiße vom letzten Mal.“

Ich sollte mir einen neuen Ticker zulegen, das sagte mir Gaara schon seit Ewigkeiten, doch momentan war es schwierig irgendwo Gras auszutreiben. Alle Ticker, die neben dem Drogen verkaufen ein stabiles Leben führten, mit Job, Freundin und einer Zukunft, konnten momentan nichts bieten. Da musste man sich schon tiefer auf die schiefe Bahn trauen, um an Zeug heran zu kommen. Domme war einer dieser wenigen Kontakte, die noch einigermaßen vertrauenswürdig waren. Leider hatte er ein Fabel für Crystal entwickelt und überlegte sich nur noch mit dieser Droge zu handeln. Zum Glück gab es sie dafür jedoch viel zu selten.
 

„Was denn vier Gramm?“, fragte Domme und rückte sich die schwarze Stoffmütze zurecht. Er sah älter aus als es war, sein Gesicht wirkte auf eine gewisse Weise faltig, besonders in diesem grünlichen Licht. Sein Mund war breit und er setzte nicht allzu viel auf Hygiene. Das Mädchen, das auf der anderen Seite neben ihm saß, sah noch relativ normal aus...

„Marihuana“, antwortete ich. „Mach schnell, ich habe kein Bock lange hier bleiben zu müssen.“

Domme begann in seiner Jackentasche zu kramen und zog eine kleine Plastiktüte mit weißem Pulver hervor – Koks. Mein Körper wurde von einem mulmigen Gefühl durchfahren, mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich starrte die Tüte an, während Domme in seinen Taschen nach dem Gras suchte, spürte die Sehnsucht danach mir das Pulver durch die Nase zu ziehen, zu spüren wie die Glückshormone durch meinen Körper pumpen. Zu merken, wie all die Erinnerungen und die Gefühle, verbunden mit meiner Kindheit und meiner „Familie“ belanglos wurden und sich nichts schöneres als das Leben vorstellen zu können. Ich wollte unbedingt – nein, ich brauchte es wieder.
 

„Hier, Digga.“ Domme legte mir ein Tütchen Marihuana auf den Tresen. Ich riss mich vom Anblick des Kokses los, ehe Domme es wieder verstauen konnte. „Sind drei Gramm und auch nicht so gutes Zeug, besser als vom letzten Mal. Aber, hey, eventuell kann ich nächste Woche ein bisschen Amnesia besorgen. Ein Kumpel von mir macht sich ab nach Amsterdam und wird nächsten Donnerstag wieder zurück sein, er hat vor was mit zu schmuggeln. Wenn der Preis gut ist, bekommt ihr was ab.“

„Amnesia haut rein“, war alles, was ich dazu sagen konnte. Ich legte ihm Geld auf den Tisch und packte das Marihuana in meine Hosentasche. Unwillkürlich zählte ich die verbliebenen Scheine nach. Vielleicht reichte es für ein Gramm Koks, allerhöchstens, wenn Domme ein Auge zudrückte.
 

Nein, nein. Ich durfte nicht. Es hatte doch alles geklappt. Wieso wurde das Verlangen in letzter Zeit wieder stärker? Es wäre beinahe fort gewesen! Samantha würde mir eine Standpauke halten, die ich noch in zehn Jahren in Erinnerung hätte und Gaara würde mich mit diesem enttäuschten, klagenden Blick anschauen, der schlimmer war als alles, was er sagen konnte. Außerdem erinnerte ich mich daran, was meine Mutter einmal gesagt hatte, als sie mich mit Koks erwischte: „Du bist eben doch mein Sohn. Genau wie ich.“

Ich wollte keinesfalls genau wie sie sein, wollte meinen Körper nicht zerstören, ständig krank werden, Dinge vergessen, meine Karriere schleifen lassen, wollte nicht gleichgültig werden und Menschen, die ich lieben sollte, wie Dreck behandeln, während ich mich an Leute klammerte, die ich meiden sollte.
 

„Willst du noch was?“, fragte Domme. „Hab bisschen Crystal.“

„Vergiss es!“ Wenigstens darin war ich mir sicher. Crystal würde ich niemals probieren. „Ich bin fertig. Bis dann.“

Und damit verschwand ich und machte mich auf den Weg zu Gaara. Jetzt war mir ebenfalls danach im Selbstmitleid zu versinken...



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  tenshi_90
2014-01-12T19:31:48+00:00 12.01.2014 20:31
Kaito hat es aber wirklich nich einfach... Er tut mir schon iwie leid .. ich hoffe, er bekommt iwie die Kurve...

Mich würde mal interessieren, wie er Gaara und Lukas verkuppeln würde ^^ die beiden tun sich ganz schö schwer

Antwort von:  Hushpuppy
13.01.2014 22:46
Danke für den Review. :)
Ja, so schwer, dass es mich selbst schon nervt. Ich würde als Freund von den Beiden glaube ich durchdrehen :'D
Von:  Onlyknow3
2014-01-12T19:00:46+00:00 12.01.2014 20:00
Das Kapitel ist super, es war Aufschlußreich, wie Kaito seinen Alltag bewältigt.Mach weiter so, freu mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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