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Wenn ich einen Bruder hätte

von

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POV I

„Wenn ich einen Bruder hätte?“, wiederholt er deine Frage und schaut aus großen Augen zu dir auf. Du hast ihn an seinem Lieblingsplatz gefunden; dort am See auf einer der Holzbänke in den Schatten eines Baumes, wo er sich mit seiner traditionellen Gitarre niedergelassen hatte, um seelenruhig darauf zu spielen. Eigentlich hattest du ihn nicht dabei stören wollen, doch während du so dastandest und ihm gelauscht hattest, war er auf dich aufmerksam geworden und hatte dich sofort zu sich gewunken. Daraufhin hattest du dich zu ihm gesetzt und ihm schließlich, da es nun ohnehin zu spät gewesen war, jene Frage gestellt, die dich seit geraumer Zeit gequält und wegen der du ihn extra aufgesucht hattest.

Du nickst, ohne etwas zu sagen. Neugierig schaust du ihm in sein Gesicht und beobachtest aufmerksam jede noch so kleine Regung an ihm.

Er überlegt für einen Moment und schaut dabei in die Baumkrone über euch auf. Als er wieder zu dir sieht, lächelt er schief und wirkt schüchtern.

„Naja, an sich habe ich ja gleich mehrere Brüder und Schwestern. Wir sind vielleicht nicht blutsverwandt, ich weiß, aber für mich macht das keinen Unterschied. Sie sind meine Geschwister und ich bin ihr großer Bruder.“ Er lacht verlegen und ergänzt: „Ihr berühmter großer Bruder.“

Auch du lächelst, obwohl du dir lieber die Hand gegen die Stirn schlagen und laut aufstöhnen würdest. Dir war von vornherein klar gewesen, dass es schwierig werden würde, ihn auf dem rechten Fuß zu erwischen. Darauf hattest du dich tagelang eingestellt und dir geschworen, dich von seinem Lächeln nicht kleinkriegen zu lassen und am Ball zu bleiben – koste es, was es wolle.

„Ja“, lenkst du ein, „ich weiß. Aber darauf will ich eigentlich nicht hinaus. Ich meine, wenn du einen richtigen Bruder hättest.“

Sein Lächeln schwindet und er sieht dich an, als hättest du eine fremde Sprache gesprochen. Du atmest innerlich tief durch und beschwörst dich, Ruhe zu bewahren, bis er dir die Antwort gegeben hat, die du von ihm hören willst.

Er sieht von dir weg und auf seine Gitarre, die ruhig auf seinem Schoß liegt. Seine Finger zupfen nervös an den Saiten herum, ohne den leisesten Ton zu erzeugen. Jetzt endlich scheint er deine Frage ernsthaft zu überdenken.

„Wenn ich einen Bruder hätte“, spricht er leise vor sich hin, seinen Blick weiter auf sein Instrument gerichtet. Es vergeht einige Zeit, bis sich ein verträumtes Lächeln auf seine Gesichtszüge legt. „Wenn ich einen Bruder hätte, also einen richtigen… ich denke, das wäre toll. Ich mag Kinder. Also ich meine, ich weiß jetzt nicht, wie alt mein Bruder dann wäre. Vielleicht wäre er sogar älter als ich. Aber ich denke, wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich mir einen kleinen Bruder wünschen.“ Daraufhin muss er selbst lachen. „Ich weiß nicht, ich kann einfach nicht anders, schätze ich. Was meinst du? Was würde besser zu mir passen?“

Erwartungsvoll sieht er dich an, seine rubinroten Augen strahlen regelrecht. Was er nicht weiß, ist, dass es einen bestimmten Grund hat, wieso du ihm ausgerechnet diese Frage gestellt hattest.

Wissend nickst du, lächelst und bestätigst schließlich seine Worte: „Ja, einen kleinen Bruder fände ich auch sehr passend für dich.“

Sein Gesicht hellt sich daraufhin auf und sein Lächeln wandelt sich in ein breites, schelmisches Grinsen. Ausgiebig streckt er sich, rekelt sich in den durchschimmernden warmen Sonnenstrahlen an diesem schönen Nachmittag, bevor er die Arme im Nacken verschränkt und sich gegen die Banklehne zurücklehnt. „Ich frage mich, wie er wohl wäre. Vielleicht ein wenig wie ich? Was meinst du? Bestimmt würde er die Musik auch lieben.“

Ohne dass du es verhindern kannst, lachst du auf. Die Bilder, die sich bei seinen Worten in deinem Kopf festsetzen, sind einfach zu herrlich.

„Naja“, wagst du einen Versuch, ohne ihm zu viel verraten zu wollen, „ich denke da eher an jemanden, der sehr von sich überzeugt ist, aber trotzdem ein genauso gutmütiges Herz hat wie du. Er wäre in bestimmten Dingen ein sturer Kindskopf, den man erst von etwas überzeugen muss, bevor er beigibt.

Aber was die Musik anbelangt“, wieder musst du lachen, unterdrückst es jedoch zu einem amüsierten Kichern, „die würde er bestimmt lieben. Vergöttern, im wortwörtlichen Sinne.“

Du bemerkst, wie er dich daraufhin verwundert ansieht. Oh, verdammt, hast du etwa zu viele Hinweise gegeben?

Schnell winkst du ab und bemühst dich an einem überzeugenden Lächeln. „Aber im Großen und Ganzen wäre er wohl wie du. Ein wenig vorlauter zwar und dadurch etwas ungeschickt im Umgang mit anderen, schätze ich, aber ihr hättet dasselbe gütevolle Herz.“

Zum Glück ist Otoya niemand, der schnell Verdacht schöpft. Deine Worte haben ihn erfolgreich abgelenkt und nun lächelt er wieder verträumt zu dem blauen, wolkenfreien Himmel hinauf.

„Das wäre toll“, sagt er leise und du hast Mühe, nichts darauf zu erwidern. „Er wäre bestimmt ein toller kleiner Bruder. Wir würden uns bestimmt gut verstehen.“

Mit einem Lächeln, das du zwischen Trauer und Schelm nicht genau definieren kannst, sieht er zu dir. Seine anschließenden Worte fordern dir alle Selbstbeherrschung ab, die du aufbringen kannst, um das kleine Geheimnis nicht zu lüften:

„Schade irgendwie, dass es nicht an dem ist, nicht wahr?“



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