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Jahrtausendhexer

Krieg um das Eroberte Meer
von

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Versuchsobjekt Jahrtausendhexer

„Du bist ein Fehler, Ain!“, schrie der Weiße Ain Pantokratos an und verpasste ihm eine Ohrfeige, die den schlanken jungen Mann zu Boden warf.

„Steh auf“, drängte Mentis leise an seinem Ohr.

Ain hatte nicht das Gefühl, noch genug Kraft aufbringen zu können, um Mentis' Ratschlag zu folgen. Nach der schrecklichen Schlacht, bei der er der Welt die Kraft und den Willen Juprans demonstriert hatte, waren er und seine Begleiter fast eine Woche ununterbrochen unterwegs gewesen, um in den nahe gelegenen Bergpalast König Rowenos' zurückzukehren, wo die Forscher – die Weißen – Ain aufzogen. Die schmalen Schweineaugen des rasenden Weißen schienen ihn zu durchbohren. Er erhob sich mit gesenktem Blick. Es war immer besser, sich unterwürfig zu zeigen. Seinen Stolz hatte er längst überwunden, falls er denn jemals welchen besessen hatte. Er erinnerte sich nicht mehr.

Der Kopf des Weißen war vor Wut rot angelaufen. Er schnaufte. „Weißt du eigentlich, wie viele Soldaten du nicht erwischt hast? Sieben, Ain!“ Seine Stimme überschlug sich fast. „Sieben!“ Seine Worte schmerzten Ain mehr, als jede körperliche Strafe, die die Forscher ihm antun konnten. Er wusste, warum sie ihn ansahen wie ein unberechenbares Ungeheuer. Der Forscher holte erneut aus, doch die Frau hinter ihm hielt ihn zurück.

„Hör auf damit, Harind“, schalt sie den Weißen. „Ihn zu schlagen bringt nichts. Es ist unser Fehler. Wir hätten ihn besser vorbereiten müssen.“

Widerwillig zog der Weiße die Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er musterte die Frau abfällig. „Was sonst hätten wir tun können. Die neuen Testapparate sind noch nicht fertig.“

Sie lächelte. „Und diese Schlacht war auch nur ein Testlauf. Nicht mehr. Der Junge hat fast sechstausend feindliche Soldaten getötet, was erwartest du. Eine Fehlerquote von weniger als einem Prozent ist nicht schlecht und jetzt wissen wir, woran wir arbeiten können.“

„Und es ist viel Arbeit, die wir zu erledigen haben. Hast du gemerkt, wie erschöpft er war?“

„Basierend auf den Analyseberichten hat Eleyna bereits einen neuen Konditionierungsplan entwickelt.“

Der Weiße grunzte. „Nun, wenigstens wird man uns nicht so einfach feuern. Es hätte schlimmer kommen können.“

„Die Erwartungen waren hoch“, stimmte die Frau zu. „Aber niemand hat ein perfektes Ergebnis erwartet. Den Umständen entsprechend sollten wir zufrieden sein. Es war sein erster Einsatz.“

„Geben wir ihm zwei Stunden“, räumte Harind ein.

Die Frau wandte sich Ain zu. „Ruh dich aus, Ain“, befahl sie.

„Wie Ihr wünscht, Shia.“ Die Forscher hatten Ain nachdrücklich erklärt, dass er sie mit „Shia“ oder „Shiu“ anzusprechen hatte. Ein Ehrentitel, den sie aus der alten Jupranischen Sprache hergeleitet hatten. Ain sollte möglichst immer spüren, dass sie die Kontrolle hatten und es funktionierte. Er wusste, wie hilflos er war. Und das Schlimmste war, dass er kein anderes Leben kannte. Sie schrieben ihm vor, wann er zu schlafen und zu wachen hatte, was er zu essen bekam, wo er hinging und alles andere, was er tat. Als er jünger war, glaubte er sich an Besuche seines älteren Bruders zu erinnern. Liam hatte ihm Bücher mit vielen Bildern darin mitgebracht und Geschichten aus aller Welt erzählt. Doch als Ain älter wurde, kam ihn sein Bruder nicht mehr besuchen und irgendwann hörte er auf zu warten und akzeptierte seine Isolation. Wäre Mentis nicht an seiner Seite, wäre er längst wahnsinnig geworden in seiner Einsamkeit. Er war nicht nur den Versuchen der Weißen schutzlos ausgesetzt, sondern fürchtete sich auch vor dem schlichten, engen Silberarmreif, das er Zeit seines Lebens getragen hatte. Er wusste nicht wie sie es machten, doch wenn der Reif warm wurde und sich in seine Haut zu brennen begann, gewannen sie absolute Kontrolle über ihn. Dann tat er alles, was sie verlangten. Zum Beispiel hunderte Menschen töten.

Zwei Wachen nahmen Ain in ihre Mitte und führten ihn durch die verhassten weißen Gänge zu dem kleinen Raum, in dem er zu schlafen hatte. Die Frau folgte ihnen, um Ain an die vielen Gerätschaften anzuschließen, die die Forscher sich für ihn ausgedacht hatten. Damit kontrollierten sie seinen Körper und Geist. Wenn sie ihm befohlen, zu schlafen, blieb ihm dank der vielen Apparaturen nichts anderes zu übrig, als das auch zu tun.

Mentis schwieg, während er Ain folgte. Wie gewohnt bemerkte ihn niemand. Er hatte Ain einst erklärt, was er war, als er vor vielen Jahren plötzlich vor ihm erschienen war. Nicht, dass Ain es damals verstanden hätte. Für ihn war nur wichtig, dass Mentis genauso ein Gefangener war, wie er selbst. Nur schlimmer, denn Mentis hatte seinen Körper verloren und niemand außer Ain schien ihn sehen zu können.

Der junge Hexer ließe sich auf der harten, weißen Pritsche nieder und hielt der Frau wortlos seinen blassen Arm entgegen, damit sie einen ihrer Schläuche darin versenken konnte. Sobald er schlief, würden sie weitere Schläuche und Nadeln unter seine Haut führen, um jeden seiner Herzschläge und Atemzüge festzuhalten und zu analysieren. Kaum hatte sie das stillschweigend getan, spürte Ain die erste Welle unbesiegbarer Müdigkeit. Die Welt schien sich zu drehen und er musste sich abstützen, das geschah normalerweise nicht. Mentis' Gesicht zeigte Sorge.

Die Frau stützte ihn und half ihm, sich abzulegen. Sie griff nach ihrem Klemmbrett und notierte eifrig, wie erschöpft ihr Testobjekt war und woher genau seine Müdigkeit kommen könnte. Ain schloss die Augen, um das schwimmende Weiß nicht mehr sehen zu müssen. Sekunden später war er eingeschlafen.

Und nicht mehr in seinem weißen Gefängnis.

Eine sanfte Brise umspielte ihn und unter seinen baren Füßen spürte er das grüne Gras der großen Parkanlagen des Palastes König Rowenos' II. Er fühlte sich wach und erholt und wusste, dass er träumen musste. Das Seltsame war nur, dass er die königlichen Gärten gar nicht kannte. Hier stand er auf einer kleinen Wiese umgeben von Bäumen und Büschen. Der Ort war wie für ihn geschaffen und vor fremden Blicken anderer Parkbesucher geschützt. Vorsichtig, um die Illusion nicht zu zerstören, machte er einen kleinen Schritt. Die Halme kitzelten an seinen Fußsohlen. Ain lächelte. Natürlich kannte er Gras, doch das Grün, das die Forscher ihm darboten, war genauso in den weißen Räumlichkeiten gefangen, wie er selbst. Es war nur künstlich. Wie gerne hätte er Mentis jetzt an seiner Seite gehabt, doch dessen Seele konnte wohl kaum mit ihm träumen.

Er wagte einen weiteren Schritt, dann ließ er sich einfach niederfallen. Obwohl es nur ein Traum war, spürte er nicht nur das Gras, sondern auch den kühlen Spätsommerwind, roch die Natur um ihn herum und hörte Vögel und in weiterer Ferne einige Grillen.

Aber so viel Glück hatte er nicht verdient.

Ein kalter Schatten legte sich über sein Herz. Fast sechstausend feindliche Soldaten, hatte die Frau gesagt. Alles in Ain zog sich zusammen. Er hatte so viele Leben genommen. Die Männer waren erstickt, als er die Luft aus ihren Lungen gezogen hatte. Sie waren nicht einmal schnell gestorben, sondern hatten gelitten. Wie unbeschreiblich grauenvoll es sein musste, plötzlich keine Luft mehr zu bekommen. Ain hasste sich dafür. Er versuchte, sich einzureden, dass es nicht seine Schuld gewesen war, dass es die Drogen der Forscher gewesen waren, die ihn zu ihrer willenlosen Marionette machten, die einzig dafür da war, den Befehlen autorisierter Personen zu gehorchen. Doch wie immer erinnerte er sich an alles, was er in diesem Zustand tat.

Mit glasigem Blick und schwarzem Herz blickte er in den Himmel und sah dabei die faserigen Wolken kaum, die das volle Mittagsblau passierten.

Er hörte auf zu atmen.

Schon nach einigen Herzschlägen schrie alles in ihm, wieder Luft zu holen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, ihm wurde schlecht. Er wollte atmen, zwang sich jedoch, es nicht zu tun. Er musste husten und rollte sich auf die Seite.

Jemand klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine besorgte Stimme.

Vor Schreck vergaß Ain, dass er nicht atmen wollte. Mit einer schnellen Bewegung sprang er auf und fort von dem Fremden. Die Welt drehte sich und er verlor das Gleichgewicht, nur um wieder auf den Boden zu fallen, wo er mit pochendem Herzen verharrte. Mit weit aufgerissenen Augen sah er den Fremden an.

Der Fremde schien nicht weniger erschrocken und erhob in einer friedlichen Geste die beide Hände . Sein Wesen strömte eine sympathische Ruhe und Zuverlässigkeit aus.

Doch was brachte ihn in Ains Traum? Einen Menschen wie ihn hatte Ain noch nie gesehen. Seine Haut war von einer ungewöhnlichen dunklen Farbe, seine kurzen, dunkelbraunen Haare glatt. Kein Licht schien sich in ihnen zu reflektieren.

„Wer bist du?“, fragte Ain misstrauisch.

Der Fremde lachte. „Das fragst du mich? Ich dachte, du erstickst!“

Ain spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss. Er schwieg unbeholfen.

Der Fremde zuckte lässig mit den Schultern, schüttelte kurz den Kopf und ließ sich dann im Schneidersitz auf der Wiese nieder. „Du bist nicht gut mit anderen Menschen, was?“, stellte er mit einem seltsamen Akzent fest und seufzte theatralisch. „Aber ich sage dir trotzdem, wer ich bin. Auch, wenn du es eigentlich sehen solltest.“ Er grinste schief und deutete eine leichte Verbeugung an. „Gestatten, Luka Dragh'ny. Das einzige offiziell geduldete Mitglied des sogenannten Schattenvolks.“

„Was ist das Schattenvolk?“

„Bitte?“ Lukas Augen wurden groß. „Wie kannst du das nicht wissen?“

Ain zuckte erschrocken zurück angesichts des lauten Tonfalls, in dem der Fremde zu ihm sprach. Doch Luka schien es nicht böse zu meinen. Zögerlich entspannte Ain seine Haltung. „Ich weiß vieles nicht“, gab er leise zu. Die Forscher erzählten ihm nichts, lehrten ihn nichts. Alles, was er hatte, waren die Erinnerungen an die Geschichten seines Bruders, waren die Unterhaltungen der Forscher, die er von Zeit zu Zeit aufschnappte und war das, was Mentis ihm erzählte. Was nicht viel war, da Mentis generell nicht viel sprach, auch, wenn er alles zu wissen schien.

Luka sah ihn einen Moment lang schief an und fuhr sich dann unwohl mit der Hand durch das dunkle Haar. „Puh, unangenehmes Thema. Nun... Das Nachtvolk ist nicht unbedingt... beliebt. Wir sind Nomaden, sprechen die Hochsprache nicht, unsere Haut hat eine befremdliche Farbe und so weiter. Die Menschen fürchten sich vor uns, weil wir anders sind.“ Er rückte mit einer geschmeidigen Bewegung näher an Ain heran und deutete auf seine Augen. „Hier sieh. Das ist wohl das, was uns am Meisten von anderen Menschen unterscheidet.“

Ain zögerte. Er war es nicht gewohnt, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen, die Forscher verboten es.

„Sieh schon“, ermutigte ihn Luka.

Und Ain sah in die ungewöhnlichsten Augen, die er sich vorstellen konnte. Es war, als würde in den Nachthimmel blicken. Das endlose Schwarz von Lukas Augen schien zu funkeln. Ain sah Freiheit. Er konnte nicht verstehen, wie irgendjemand einen Menschen wie Luka fürchten konnte.

Luka schob Ain peinlich berührt von sich. „Genug gestarrt. Jetzt weißt du, was ich meine.“

„Ich weiß, was du meinst“, bestätigte Ain traurig. „Aber ich verstehe es nicht.“

Luka hob den Blick. „Ernsthaft?“

„Was ist daran so seltsam?“ Ain zog die Knie an den Körper. „Ich weiß nicht, warum man Menschen, die anders sind, fürchten muss.“

Dasselbe geschah im Grunde genommen mit ihm auch. Er war anders und deswegen sperrte man ihn ein, machte Versuche mit ihm und kontrollierte sein ganzes Dasein. Sie nannten ihn einen „Jahrtausendhexer“, weil ein Magier mit seinen Fähigkeiten so selten war. Sie nutzten ihn und fürchteten ihn. Er hatte nie die Möglichkeit gehabt, ein normales Leben zu führen. Aber er wusste, dass sie ihn zu Recht fürchteten.

Luka klopfte ihm fröhlich auf die Schulter. „Du bist ein guter Kerl.“ Er verstummte kurz. „Wenn auch etwas zu dünn, wenn ich genauer hinsehe.“

„Bitte?“

„Zu dünn“, wiederholte Luka. „Ich spüre deine Schulterknochen.“

Ain wischte seine Hand sanft weg. Es war ein ungewohntes Gefühl, einen anderen Menschen so zu berühren. Ohne Zwang.

„Gut, kein Anfassen“, grinste Luka und zog seine Hände zurück. „Ich glaube, wir waren an dem Punkt, an dem du mir auch sagst, wer du bist?“

„Ich...“ Ain hielt sich zurück. Er wusste, dass andere Menschen in ihm ein Monster sahen.

„Komm schon. Ich habe dir auch gesagt, wer ich bin.“ Luka lachte in sich hinein. „Nicht, dass ich mich jemals hätte vorstellen müssen. Du solltest die Blicke der Menschen sehen, wenn ich vor ihnen auftauche.“ Er lachte, um seinen Schmerz und seine Einsamkeit zu überspielen.

Luka war genauso einsam und gefangen wie Ain. Der junge Hexer hatte das plötzliche Gefühl, sich diesem Fremden anvertrauen zu können.

Plötzlich schoss ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf und Ain stöhnte mit zusammengebissenen Zähnen. Wie instinktiv fuhren seine Hände an seine Schläfen. Der vermeintliche Traum verlor an Farbe.

„Hey, alles in Ordnung?“, hörte er Lukas besorgte Stimme und spürte wieder dessen Hand auf seiner Schulter. Luka schüttelte ihn leicht. Ains Kopf pochte, doch die Farben schienen zurückzukehren.

„Ja, alles gut“, versicherte er. Er fühlte sich heiß und kalt zugleich. Die Forscher machten irgendetwas mit seinem Körper, ihm blieb nicht viel Zeit.

„Sicher?“ Luka ließ ihn vorsichtig los.

„Ja.“

„Was war los?“

Ain zuckte die Schultern. Er war sich nicht sicher, dass er träumte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er dazu in der Lage war, sich einen Menschen wie Luka auszudenken. Die Weißen mussten seinen Ausflug bemerkt haben.

„Mein Name ist Ain“, sagte er daher schnell. Er lächelte Luka gequält an. „Ain Pantokratos.“

Mit einem Schlag war der Schmerz wieder da. Heftiger als zuvor. Ain krümmte sich. Er war Schmerzen gewohnt, die Forscher testeten ihn bis an seine körperlichen Grenzen und weit darüber hinaus. Doch noch nie hatte er einen solch intensiven Schmerz im Kopf verspürt, wie jetzt. Die Welt verschwamm und wurde grau. Luka rief etwas, doch Ain konnte es nicht mehr hören. Dann verschwand der junge Angehörige des Schattenvolks mitsamt den königlichen Gärten. Alles wurde schwarz.

Als Ain mit aller Macht die Augen aufriss, sah er die strahlend weiße Decke seines Raumes und spürte die harte Pritsche unter sich. Geräte piepten manisch, viele Stimmen sprachen durcheinander, manche laut, einige leiser. Er spürte Mentis' beruhigende Nähe, die Schmerzen ebbten ab. Verwirrt blickte er zwischen den vielen Weißen hin und her, die zu ihm gestoßen waren. Sofort war ein junger Weißer mit rötlichen Haaren und einem schmalen Bart an seiner Seite. Ain kannte ihn, doch wie bei den meisten Weißen konnte er ihm keinen Namen zuordnen. Obwohl dieser bärtige Weiße schon so lange an seiner Seite war, wie er zurückdenken konnte.

Der Mann prüfte mit zwei Fingern seinen Puls, dann seine Temperatur. Dann zückte er ein magisches Licht und prüfte irgendetwas an Ains Augen, wodurch diesem die Tränen in die Augen stiegen. Das Piepen der Geräte ließ nach, die Forscher beruhigten sich.

„Was ist mit ihm?“, wollte einer wissen.

„Ihre Geräte haben angeschlagen, während du schliefst. Sie versuchen seit einiger Zeit, dich zu wecken“, erklärte Mentis.

„Physisch ist alles in Ordnung“, antwortete der bärtige Weiße mit einer sehr klaren Stimme.

„Vielleicht haben wir ihn überfordert?“, schlug Eleyna vor, die für Ains Körpertraining zuständig war.

„So ein Blödsinn“, widersprach der kräftige Weiße mit den Schweineaugen. „Das ist ein Jahrtausendhexer. Wir sind noch weit davon entfernt, sein volles Potential zu nutzen.“

„Trotzdem können wir an eine Grenze gestoßen sein“, beharrte Eleyna. Sie wandte sich an Ain und drängte sich neben den bärtigen Weißen. „Weißt du, wo du bist, Ain?“

Sie mochten es, entweder in seiner Gegenwart über ihn zu sprechen, als wäre er nicht da, oder ihn jedes Mal beim Namen zu nennen, wenn sie sich direkt an ihn wandten. Ain wollte, er wüsste es nicht.

„Ja, Shia.“

„Kannst du uns sagen, was passiert ist, Ain?“

Er wandte den Kopf ab. „Nein, Shia.“ Er wollte ihr nicht von seinem Erlebnis erzählen, weil er sich vor den Folgen fürchtete. Was auch immer es gewesen war, er wollte den winzigen Funken an Freiheit nicht verlieren, der sich ihm so unerwartet dargeboten hatte.

„Natürlich kann er das nicht“, warf der bärtige Weiße ein. „Wir kontrollieren seinen Schlaf. Er hat keine Möglichkeit, sich unserem Zugriff zu entziehen. Über fünfzig Magier -“

„Ruhe!“, herrschte ein kleiner alter Weißer mit vollem grauen Bart und sehr hoher Stirn. „Kein weiteres Wort.“

Der junge Weiße warf ihm einen verärgerten Blick zu. Er war es scheinbar nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Der Alte musste eine große Autorität besitzen. Ain sah ihn selten.

„Was soll er denn machen, wenn er es weiß?“, zischte der junge Weiße ungehalten.

„Besser ist, wir verraten nichts“, beschwichtigte Eleyna. „Man kann ja nie wissen.“

„Auch gut. Dennoch, ihr wisst, was ich meine.“

Schweigen.

Auch Ain wusste, was der Weiße meinte. Er sprach zwar kaum, doch er war nicht dumm. Es ging um die knisternde Magie, die den gesamten weißen Bereich und möglicherweise noch viel mehr um ihn herum durchzog und die ihn daran hinderte, seine eigenen Kräfte unautorisiert einzusetzen. Er warf einen kurzen verstohlenen Blick auf Mentis, dessen Gesicht eine starre Maske der Abneigung war. Diesen Blick bekam er oft, wenn er den Forschern zuhörte oder zusah. Seine geisterhaften Augen blitzten zornig, doch ansonsten blieb er wie immer ruhig. Ain wusste nicht, was Mentis bei ihm hielt, doch im Verlauf der Jahre hatte er verstanden, dass sein Freund die Forscher abgrundtief verabscheute für das, was sie taten.

„Ain“, wandte sich Eleyna wieder an ihn. „Du weißt, dass du gefährlich für die Außenwelt bist. Was auch immer passiert ist, wir wollen dein Bestes. Dafür musst du uns assistieren, wo immer du kannst.“

„Ja, Shia.“ Waren es nicht die Weißen, die ihn zu einer Gefahr für die Welt machten?

Aber es war nicht schwer, unterwürfig zu wirken, wenn man an ein Dutzend Geräte angeschlossen halbnackt auf einer Pritsche lag. Ain fühlte sich mindestens so schwach und hilflos, wie er aussah. Doch sein Geheimnis wollte er hüten. Er würde es bei Gelegenheit mit Mentis teilen.

Eleyna erhob sich und klatschte mehrfach in die Hände. „Gut, da seine Werte soweit normal sind, kehren wir am Besten zum täglichen Betrieb zurück. Wir sind im Verzug.“

Es kam wieder Bewegung in die Weißen. Der Alte und einige andere scheinbar hochrangige Forscher verließen zusammen den Raum. Der Bärtige begann, die Schläuche und Kabel von Ain zu entfernen, Eleyna notierte etwas auf ihrem Klemmbrett, ein Assistent legte neue Kleidung für Ain zurecht. Die Wächter an der Türe warteten. Mentis' Augen sprühten noch immer Funken, seine Aufmerksamkeit galt dabei dem jungen Weißen mit den rötlichen Haaren.

Ohne die Blicke der anderen zu beachten, zog Ain sich um. Sie würden niemals wegsehen. Sie sahen ja nicht einmal weg, wenn er schlief.

„Bringt ihn in die große Halle“, ordnete Eleyna die Wachen an, als er fertig war. „Wir werden an seinem Durchhaltevermögen arbeiten.“

„Er ist noch nicht ausgeruht genug“, warf der Bärtige ein.

Eleyna ließ ihren Stift auf das Klemmbrett schnalzen. „Und das wäre immer noch mein Zuständigkeitsbereich. Lass dich nicht von Gefühlen leiten.“

Der junge Weiße warf ihr einen abfälligen Blick zu. „Wäre ich dann hier?“, fragte er mit einer eisigen Kälte in der Stimme, die Ain schaudern ließ.

Die Wächter nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn durch die weißen Gänge bis vor eine gewaltige Türe. Dahinter befand sich die große Halle, in der er den Blicken der Forscher ausgesetzt alle möglichen Übungen absolvieren musste. Sie dachten sich die verrücktesten Aufgabenstellungen aus, um seine Kondition, seine Zielgenauigkeit oder seine Stärke zu schulen. Die heutige Übung war in ihren Grundbausteinen nicht neu. Etwas Ähnliches hatte Ain erwartet.

In der Mitte des Raumes stand eine schmale, erhöhte Plattform, auf die er sich stellen sollte. Der Boden des gesamten Raumes war mit schwarzen Spänen ausgelegt, die sein Feuer davon abhalten sollten, die Halle zu zerstören.

„Hör zu, Ain“, wies Eleyna ihn an. „Du wirst dich auf die Plattform stellen und den Raum in Brand setzen. Wir werden auf Höhe deines Feuers faustgroße, leicht entflammbare Scheiben in den Raum werfen. Du wirst sie mit deiner Luft auffangen und vor den Flammen schützen. Um die Aufgabe etwas schwieriger zu gestalten, werden wir die Scheiben auch außerhalb deines Blickfeldes starten. Du wirst sie mit deiner Magie finden müssen. Alles klar so weit?“

„Wie lange -“

Eleyna fuhr ihm über den Mund. „So lange du kannst. Zwei bis drei Stunden solltest du wohl schaffen.“

Ain war froh, dass Eleyna sein Entsetzen nicht sehen konnte. Er fühlte sich bereit schwach und sollte jetzt für mehrere Stunden auf einer Plattform balancieren, die kaum größer war als seine Füße. Nicht nur das, er sollte seine Stärke unter Beweis stellen, indem er den Raum entflammte und das kräftezehrendste aller Elemente über einen langen Zeitraum am Leben hielt. Und gleichzeitig sollte er seine Zielgenauigkeit und Konzentration unter Beweis stellen und kleine, gut brennbare Gegenstände, die er nicht sehen konnte, davor bewahren, zu Asche zu werden.

„Ach, Ain“, erinnerte Eleyna ihn wie beiläufig, „zuerst das Feuer.“

Sie verließ den Raum zusammen mit den Wächtern. Ain hörte, wie sie die Türe verschloss und spürte, wie sich der Griff der unangenehmen Magie um ihn herum löste und bis an die Grenzen der gewaltigen runden Halle zurückzog. Ein einziges Mal hatte er versucht, seine magischen Fesseln gewaltsam zu sprengen. Sie hatten wochenlang furchtbare Versuche mit ihm gemacht, die seinen Widerstand so gebrochen hatten, dass er jeden weiteren Gedanken an eine Flucht sofort wieder verworfen hatte.

Er sah zu den Fenstern, die den gesamten Raum auf einer Höhe von mindestens fünfzehn Metern umrundeten. Dahinter saßen die Weißen, hielten ihre Beobachtungen fest, diskutierten und planten weiter. Mentis streifte sanft Ains Schulter, als er sich ihm voraus zu der Plattform begab, um dort auf ihn zu warten und ihm die Kraft und den Halt zu geben, die Ain benötigte, um sein eigenes Feuer zu durchqueren.

Ain schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Er dachte an seinen wunderlichen Traum und schob ihn beiseite. Die scharfkantigen Späne stachen unangenehm in seine wie so oft baren Fußsohlen. Er holte tief Luft und ließ alle Wärme in sich explodieren. Mit einem lauten Zischen stand die gesamte Halle in Flammen. Aus jeder Richtung griff das verderbliche Element nach Ain, der es Zentimeter vor sich aufhielt. Er rannte los. Die Hitze brannte auf seiner Haut, doch das Feuer berührte ihn nicht. Mit einem gewaltigen Sprung und seinem eigenen Wind im Rücken erklomm er die mannshohe Plattform, wo Mentis ihn vor den Augen der Weißen unsichtbar abfing. Er hatte eine Art eigene Magie, die mit Ains Kräften harmonierte. Kaum hatte Ain sein Gleichgewicht gefunden und die Fühler seines Windes zwischen den Flammen verteilt, schoss die erste Scheibe durch eine kleine Öffnung in seine heiße Hölle. Nur durch Glück konnte er sie auffangen und unversehrt zu sich führen, wo er sie verharren ließ. Sie war direkt in seinen Wind geflogen. Die Flammen züngelten bis auf die Höhe seiner Knie an ihm empor, die Luft um ihn herum flimmerte vor Hitze. Er erhöhte seine Konzentration und fing auch die nächste Scheibe erfolgreich auf. Nach und nach sammelte er sie ein und scharte sie im sich, wo er sie und sich selbst vor den züngelnden Fingern des Feuers schützte. Der Schweiß rann ihm in Strömen über den gesamten Körper. Zum größten Teil aufgrund der tatsächlichen Hitze, zu einem noch kleinen Anteil auch wegen der steigenden Anstrengung, an so vielen Enden gleichzeitig präzise zu agieren und dabei seine Flammen aufrecht zu halten.

„Höher mit dem Feuer!“, hörte er Eleynas Stimme über das laute Knistern des Infernos.

Er fachte die Flammen weiter an sodass sie nun sein Gesicht erreichten. Mit einer zusätzlichen Bewegung seiner linken Hand führte er den sich bildenden schwarzen Qualm durch eine der Öffnungen ab, durch die gerade eine weitere Scheibe in den Raum geschossen wurde und sog frische Luft aus der nächsten.

Die Forscher sahen sein Gesicht nicht mehr.

„Was ist vorhin passiert?“, fragte Mentis. Er wusste, dass Ain nur in einem Moment wie diesem mit ihm sprechen konnte.

„Du wirst es nicht glauben“, antwortete Ain zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Die zunehmende Anstrengung und die Hitze belasteten ihn sehr. Er wusste nicht, wie viel Zeit er bereits inmitten der Flammen verbracht hatte, aber er wusste, dass es nicht genug war. Ohne Mentis' unterstützende Magie hätte er vor Konzentration kein einziges Wort herausgebracht. So fiel es ihm zwar schwer, sich währendher zu unterhalten, doch es war möglich.

„Ich war draußen.“

Mentis sah ihn zweifelnd an. „Was meinst du mit draußen?“

„Ich habe den königlichen Garten gesehen. Mentis, ich habe das Gras unter meinen Füßen gespürt, ich habe die frische Luft gerochen.“

„Das ist unmöglich“, widersprach sein Freund.

„Dort war ein Junge“, fuhr Ain fort, ohne den Einwand zu beachten. „Er war etwa so alt wie ich und hatte schwarze Haut und Augen wie der Nachthimmel.“

Mentis wandte sich ab, sodass Ain sein Gesicht nicht einmal hätte sehen können, wenn er sich von den Flammen hätte abwenden können, ohne die nächsten Scheiben zu verpassen. Mittlerweile schwebten mindestens dreißig Stück um ihn herum unmittelbar über den Spitzen der Flammen.

„Er war ein Angehöriger des Schattenvolkes.“

„Der Hüter der Nacht“, korrigierte Mentis ihn leise. „Schattenvolk ist ein schmachvoller Name, den wir ihnen gaben, um sie nicht akzeptieren zu müssen, sondern um unsere Furcht vor ihnen zu rechtfertigen.“

Ain erkannte die Logik. Er fühlte sie jedes Mal, wenn man ihn als Jahrtausendhexer bezeichnete. Es war ein großer wie verwerflicher Titel. Luka hatte sich ihm als Schattenvolk vorgestellt. Er hatte sich den Trägern seiner Fesseln ebenso unterworfen, wie Ain sich den seinen.

„Warum konnte ich dort sein?“, fragte Ain. „Es war kein Traum und es war auch keine Illusion. Luka Dragh'ny konnte mich berühren.“

Mentis schwieg nachdenklich. Dann positionierte er sich direkt vor Ain und blockierte dessen Blick in die Flammen. Er sah ihm tief in die Augen. „Das könnte unser Weg in die Freiheit sein“, sagte er eindringlich. „Du musst dich erinnern, wie du dorthin gelangt bist. Von hier aus wirkte es, als würdest du schlafen. Die Forscher haben lange gebraucht, um zu merken, dass etwas nicht stimmt. Aber sie wissen nicht, was es war.“ Mit diesen Worten verstummte er und Ain wusste, dass Mentis ihm nicht mehr sagen würde.

Nach knapp drei Stunden brach Ain zusammen und seine Flammen erloschen. Über dreihundert kleine Scheiben stürzten mit ihm zu Boden und verglühten sofort. Eine einzige war bereits zuvor verbrannt. Doch er wollte sich nicht vorstellen, welche Aufgaben als nächstes auf ihn warteten, mit denen die Weißen sein Versäumnis zu korrigieren gedachten. Er spürte, wie Mentis seinen Sturz abfing, sodass er sich nicht ernsthaft verletzte und spürte kurz darauf etliche Hände an sich, die ihm aufhalfen und ihn zurück in seinen Raum führten, wo sie ihn entkleideten, wuschen, ihm ein frisches, weißes Hemd anzogen und ihn wieder an die Geräte anschlossen, mit denen sie seinen Schlaf bewachen wollten. Erst, als die Weißen ihre Tätigkeiten beendet hatten, erlaubten sie ihm, sich der Schwerelosigkeit hinzugeben. Diesmal fühlte er nur die gewohnte erdrückende Schwärze, die sie ihm zusprachen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: Futuhiro
2017-02-04T18:51:15+00:00 04.02.2017 19:51
Wouw, ein hartes Leben. Ich habe mich zeitweise gefragt, ob Ain eigentlich ein normaler Mensch ist, der von einer normalen, menschlichen Mutter geboren wurde, oder ob er im Labor im Reagenzglas zusammengebastelt wurde. (Und wenn er Eltern hat, wo sind die dann hin, bzw. stellen die gar keine Elternansprüche? Wollen die nicht wissen, was mit ihrem Kind passiert oder verlangen ihr Kind gar nicht zurück?) Es ist zwar von einem älteren Bruder die Rede, aber das muss ja nichts zu heißen haben. Er kann sich ja auch nur als sein "Bruder" ausgegeben haben, um eine emotionale Verbundenheit zu suggerieren.
Von:  Lianait
2014-07-23T09:36:35+00:00 23.07.2014 11:36
Eben habe ich das Kapitel noch zu Ende gelesen und es war genauso gut, wie auch schon der Prolog. Ich bin wirklich begeistert von dieser Geschichte und deiner Art zu schreiben.
Wie du Ains Situation bei den Weißen beschreibst, ist - traurigerweise - sehr realistisch und man kann sich sehr schnell ich seine hoffnungslose Lage hineinversetzen. Man kann sich nur zu gut vorstellen, dass einige Menschen wohl genauso handeln und jemanden wie Ain benutzen würden. Er tat mir richtig leid, wie er nur wie ein 'Ding' behandelt wird und nicht mehr wie ein Mensch.
Umso schöner fand ich dann Lukas Auftauchen und den kleinen Hoffnungsschimmer, den Ain jetzt nach all den Jahren endlich einmal hat.
Auch Mentis' Existenz finde ich ziemlich interessant und bin schon wirklich gespannt, was es sich mit im eigentlich WIRKLICH auf sich hat, denn sein Steckbrief deutet ja schon an, dass da noch lange nicht alles gesagt ist. (Ich hab schon wieder wilde Theorien, aber die habe ich immer, von daher... :,D)
Nun ja, wenn auch ein bisschen lahm, gehöre ich jetzt auch zu deinen begeisterten Lesern und werde diese Geschichte nun gespannt mitverfolgen. :3 (Also wenn ich aufgeholt habe. :,D)
Liebe Grüße, Lianait


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