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Equinox

von

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Wenn der Mond nicht für dich scheint

Der Flug nach Alaska dauerte etwa vier Stunden. Zu meiner eigenen Überraschung überstand ich ihn ganz ohne Zwischenfälle. Ich brauchte nicht mal die Baldriantropfen, die Mum mir sicherheitshalber mitgegeben hatte. Ich war die Ruhe selbst, trotz der vielen Menschen auf engem Raum um mich herum.

Am Nachmittag landete ich in Fairbanks, von dort ging es für mich mit dem Taxi weiter. Ich hatte nichts weiter als einen kleinen Notizzettel mit einer Adresse, die ich dem Fahrer nannte. Das Ergebnis war, dass er mich irgendwann an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo absetzte.

Ich bezahlte etwas verwundert. „Sind Sie sicher, dass ich hier richtig bin?“

Der ältere Herr zuckte die Achseln. „Ich bin mir sicher, dass das die Adresse ist, die auf deinem Zettel stand. Ob du natürlich hier richtig bist, kann ich dir nicht sagen.“

„Mhm“, murmelte ich. „Na gut, trotzdem vielen Dank.“

„Nichts zu danken, junges Fräulein. Ich wünsche dir alles Gute.“ Dann fuhr er davon und ließ mich stehen.

Ich sah mich um. Hier tankte kein einziges Auto und ringsherum sah ich nichts weiter als Berge mit weißen Spitzen. Ich ging in den Shop und kaufte mir einen Schokoriegel, um mit dem Tankstellenwart ins Gespräch zu kommen.

„Entschuldigen Sie, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?“

Er sah mich verwundert an und scannte den Riegel ein. „Hat dich der Taxifahrer rausgeschmissen, weil dir das Geld ausgegangen ist?“

„Ich... was? Nein!“, gab ich zurück.

„Entschuldigung?!“, rief plötzlich jemand hinter uns und ich drehte mich zur Tür um. „Braucht hier eine kleine Quileute zufällig eine Mitfahrgelegenheit?“

Mein Herz machte einen Hüpfer. Ich war doch nicht gestrandet!

„ONKEL SETH!“, rief ich freudig und sprang auf ihn zu.

Er fing mich auf. „Hey, nicht so stürmisch! Ich freu mich ja auch, dich mal wieder zu sehen.“

Er setzte mich ab und hielt die Handfläche ein paar Zentimeter über meinen Kopf. „Bist seit dem letzten Mal ja noch mal ein ganzes Stück gewachsen, was?“

Ich nickte und strahlte ihn dabei an. Er sah noch immer genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Die treuen dunklen Augen, das schwarze kurze Haar, das verschmitzte Lächeln. Seit ich zurück denken konnte, war ich von meinem Onkel derart begeistert gewesen, wie von keinem sonst. „Na dann machen wir uns mal auf den Weg“, sagte er dann, schob mich nach draußen und winkte dem Tankstellenwart noch einmal zu.

Vor der Tür stand ein violetter Sportwagen. „Wow“, murmelte ich.

„Gehört Mariella“, sagte er, als er den Knopf an seinem Schlüssel drückte und der Kofferraum daraufhin langsam nach oben fuhr. „Ich brauche ja keines. Du weißt warum.“

Ja, natürlich wusste ich das. Er hatte als Wolf vier Pfoten, die deutlich schneller waren, als jedes Auto. Nachdem er meine Koffer für mich verstaut hatte, fuhren wir los. Die nächste Stunde ging es nur noch stur geradeaus. Ich konnte nicht mal sagen, wie schnell wir eigentlich fuhren, aber es musste ziemlich schnell sein, denn die Vegetation, die an uns vorbei zog, blieb nicht lange sichtbar. Ich starrte fasziniert aus dem Fenster. Für mich war das alles hier neu.

 

„Freust du dich schon?“, fragte Seth nach einer Weile.

„Natürlich“, antwortete ich. „Aber es wird auch ungewohnt sein, schätze ich.“

„Eine Familie bestehend aus Vampiren, Werwölfen und Hybriden? Was du nicht sagst“, scherzte er und lachte dabei. „Nein, mal im Ernst. Du wirst feststellen, dass wir gar nicht so abnormal sind, wie sich das anhört. Trotz allem sind wir eine Großfamilie und die sind ja bekanntlich immer etwas chaotischer, ganz gleich, ob wir nun schlafen oder nicht schlafen, zum Essen in den Wald gehen oder uns in pferdegroße Wölfe verwandeln.“

„Es klingt alles so selbstverständlich aus deinem Mund“, sagte ich. „Für mich ist es das nicht.“

„Weißt du, warum deine Mutter euch nie mitgenommen hat, wenn sie uns besucht hat?“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie meinte immer nur, es sei besser so.“

„War es vielleicht auch“, gab er zurück.

Ich sah ihn verwundert an.

„Wenn ein Gestaltwandler zu viel Kontakt mit Vampiren hat, wird das Gen aktiv. Früher dachten wir, dass es nur bei Teenagern passiert. Dein Vater jedoch, hat sich bereits verwandelt, da konnte er noch nicht mal laufen, geschweige denn sprechen. Es ist egal, wie alt man ist, trägt man das Gen in sich, ist der Moment der ersten Verwandlung davon abhängig, wie stark der Kontakt zu Vampiren ist und wie viele andere Gestaltwandler es in der Nähe gibt.“

„Du meinst in meiner Schule ist ein Vampir aufgetaucht?“

„Sehr wahrscheinlich ist das der Grund“, antwortete Seth.

Ich überlegte, wessen Erscheinen meine Verwandlung verursacht haben könnte, aber mir war niemand aufgefallen, der den Beschreibungen von Vampiren, wie meine Mutter sie mir mal genannt hatte, entsprach. Bernsteinfarbene Augen, heller Teint, kalte, steinharte Haut.

 

„Da wären wir“, sagte Seth plötzlich und riss mich damit aus meinen Gedanken. Vor uns tauchte ein ziemlich großes, luxuriöses Haus auf. Die Auffahrt war sehr großzügig, ich sah jedoch nirgendwo Zäune, wahrscheinlich weil hier ohnehin niemand her kam. Dieses Anwesen lag sprichwörtlich mitten im Nirgendwo. In der Ferne sah ich weiterhin nichts als Berge und ein paar hundert Meter hinter dem Haus begann ein üppiger Wald.

Seth parkte den Wagen etwas vom Eingang entfernt. Was mir als erstes auffiel, war die Fensterfront. Das Haus schien größtenteils aus Glas zu bestehen. Alles war hell und offen. Der Rest war mit schwarzem, lackiertem Holz verkleidet. Es hatte kein schräges Dach, so wie unsere Häuser in La Push. Das Dach war flach, oben thronte eine Art Penthouse. Es war etwas schmaler als die anderen zwei Stockwerke, wodurch sich ringsherum ein Balkon bildete.

Seth folgte meinem Blick nach oben und begann ein bisschen zu erklären. „Esme hat das Haus so gestaltet, dass wir alle unter einem Dach leben und uns trotzdem aus dem Weg gehen können. Wir wohnen jeweils getrennt in verschiedenen Suiten. Im Erdgeschoss teile ich mir eine mit Mariella, die Andere haben Edward und Bella. Im zweiten Stock wohnen Renesmee und Jacob. In der anderen Suite wohnen abwechselnd Carlisle und Esme, Rose und Emmett oder Alice und Jasper – je nachdem wer gerade hier ist. Theoretisch hat es dort sogar Platz für alle, schließlich braucht keiner von ihnen wirklich ein Bett, aber sie sind meistens nicht da.“

„Wirklich?“, fragte ich. „Wo sind sie?“

„In Italien. Vampir-Business.“ Weitere Erklärungen blieb er mir schuldig, aber ich nahm mir vor irgendwann noch einmal genauer nachzuhaken. „Momentan ist keiner von ihnen da. Sie gehört also komplett dir.“

Eine ganze Suite nur für mich? Mein Herz machte einen Hüpfer. Das hörte sich großartig an!

„Ach so“, fügte er dann noch hinzu. „Und im Penthouse wohnen Anthony, Sangreal, Nayeli und Luna.“

Ich sah nach oben. So wie er die Namen aneinander reihte, klang es so, als hätte man diesen Vier am meisten Privatsphäre gegönnt. Als hätten sie ihr eigenes Haus, nur dass es eben auf einem anderen drauf stand.

„Na komm, lass uns rein gehen“, sagte Seth dann.

„Aber meine Koffer?“, protestierte ich.

Seth legte seine Hand an meinen Rücken und schob mich sanft nach vorn. „Die laufen schon nicht weg.“

Etwas unsicher betrat ich jenes Haus, das für die nächste Zeit mein Zuhause sein würde. Wie lange ich hier wohnen würde, wusste ich nicht, aber ich ging davon aus, dass es Monate, wenn nicht sogar Jahre sein würden. Letzteres wäre für mich sicher viel schlimmer, als ich es mir momentan ausmalen konnte. Zum jetzigen Zeitpunkt war ich von allem einfach nur überwältigt. All der Luxus um mich herum, ließ mich die bösen Gedanken ganz vergessen. Wo auch immer ich in diesem Haus hinsah, sah ich Perfektionismus vor mir. Nicht ein Staubkörnchen, nicht ein vergessener, herumliegender Gegenstand auf den man hätte treten können. Es sah aus wie aus dem Katalog eines Möbelhauses. Alles war harmonisch aufeinander abgestimmt und in hellen Tönen gehalten. Der Boden war mit hellem Parkett ausgelegt worden, die Wände waren schneeweiß und gelegentlich hingen Bilder an ihnen, deren Künstler ich nicht kannte, aber sie sahen teuer aus. Im Erdgeschoss befand sich ein gemeinschaftlich, von allen genutzter Wohn- und Essbereich, mit einem weißen Ledersofa und einem riesigen Fernseher an der Wand.

Seth wollte gerade mit mir Kehrt machen, um mich ein Stockwerk höher zu führen, da kam plötzlich Opa Jacob auf uns zu. Er hatte nur Shorts an, was mich darauf schließen ließ, dass er bis eben noch ein Wolf gewesen war. Ich kannte es so von Embry. „Hey, Billy!“, rief er mir freudig zu und umarmte mich zur Begrüßung. Hinter ihm sah ich nun auch Renesmee. Sie hatte ihr langes bronzefarbenes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug eine luftige hellblaue Bluse. Wenn ich so an die weißen Bergspitzen um uns herum dachte, war das ziemlich leichte Kleidung, aber als auch sie mich herzlich umarmte, stellte ich fest, dass wir eine ähnlich warme Körpertemperatur hatten und hier draußen in der Wildnis mussten sie sich wohl auch nicht verstecken, indem sie der Außentemperatur angepasste Kleidung trugen.

„Hattest du eine gute Reise?“, fragte sie freundlich.

Ich nickte.

„Au ja!“, rief Seth plötzlich aus. „Ich habe dir ja etwas zum Futtern vorbereitet!“

„Ist schon fertig, Schatz, ist schon fertig“, kam es plötzlich von oben. Mariella stand auf der Treppe und lächelte mich an.

„Super!“, rief Seth aus und schob mich Richtung Esstisch.

Dort stand eine riesige Schüssel Pasta und neben ihr ein etwas kleinerer Topf mit Soße auf einer Art kleinem Bunsenbrenner, der alles warm hielt. „Setz dich ruhig. Ich geh mal eben hoch und hole die Anderen.“

Etwas unsicher näherte ich mich dem Tisch. Ringsherum standen etwa ein Dutzend Stühle, aber ich wusste ja nicht, ob ich irgendjemandem den Platz wegnahm, wenn ich mich einfach irgendwo hinsetzte.

„Setz dich ruhig“, wiederholte Mariella die Worte, die Seth eben zu mir gesagt hatte. Ich sah nur ihr langes, leicht gelocktes braunes Haar, weil sie gerade Getränke aus dem Kühlschrank holte.

Also gut, dachte ich und setzte mich einfach auf den Stuhl ganz links. Mariella lächelte mich an, als sie die Flaschen auf den Tisch stellte, dann gesellten sich Jacob und Renesmee zu mir und setzten sich auf die gegenüberliegende Seite.

 

Plötzlich wurde es deutlich lauter, da mehrere Personen im wilden Stimmgewirr die Treppe herunter kamen. Zuerst betrat Seth wieder die Küche, gab Mariella einen sanften Kuss auf die Wange und setzte sich dann neben Jacob. Mariella folgte ihm und nahm auf dem Stuhl neben Seth platz. Er wollte eben nach der Zange für die Nudeln greifen, da hielt er plötzlich inne. Erst sah er zu mir, dann sah er irgendetwas oder irgendjemanden hinter mir an. „Au ja“, sagte er, als sei ihm eben etwas eingefallen. Ich drehte mich verwundert um. „Billy-Sue, das sind Nayeli und Luna. Nayeli, Luna – Billy-Sue“, stellte er uns einander vor. Die Mädchen musterten mich wortlos. Die Linke sah etwas älter aus, als die Rechte. Sie hatte schwarzes, lockiges Haar und graue Augen. Das Mädchen neben ihr hatte dagegen nur leicht gelockte braune Haare mit einem Pony. Auffällig waren für mich auf jeden Fall ihre unterschiedlichen Hautfarben. Während die Schwarzhaarige einen sehr gesunden und gewöhnlichen Hautton hatte, hatte die Braunhaarige alabasterfarbene Haut. Ihr dunkler Lidstrich unterstützte diesen Effekt auch noch. Und nun, da ich ihre Augen sah, fiel mir eine Gemeinsamkeit mit mir auf, mit der ich nicht wirklich gerechnet hatte: sie hatten genau denselben Grünton, wie meine. Das Grün, das ich laut meiner Mutter, von meinem Vater geerbt hatte.

Ich kannte sie erst seit ein paar Sekunden, aber diese Kleinigkeit führte dazu, dass ich mich ihr irgendwie verbunden fühlte. Doch schien es nicht auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn als mir das andere Mädchen freundlich die Hand reichte und sich mir nochmals persönlich als Nayeli vorstellte, setzte sie sich stumm in Bewegung und nahm zwei Stühle von mir entfernt Platz.

Hatte ich etwa etwas falsch gemacht? Saß ich vielleicht auf ihrem Stuhl?

„Lasst es euch schmecken“, sagte Seth und machte der schrecklichen Stille, die eben noch geherrscht hatte, glücklicherweise ein Ende.
 

In den ersten Minuten waren alle damit beschäftigt sich Essen auf ihren Teller zu legen, doch als alle versorgt waren, begann Jacob mit dem Smalltalk. „Wie geht es denn deiner Mum?“, fragte er mich.

„Gut, denke ich... na ja, abgesehen von der Sache mit mir“, antwortete ich.

„Ach, das kriegen wir sicher in den Griff“, winkte er ab.

„Oh, wenn es sogar Colin geschafft hat, schaffst du es mit links“, warf Seth ein.

Jacob lachte zur Antwort und schob sich dann eine Gabel Nudeln in den Mund.

„Für dich ist das sicher alles sehr aufregend, mh?“, fragte Renesmee.

„Definitiv“, gab ich zurück.

„Wir finden es alle klasse, dass du jetzt eine Weile bei uns bleiben wirst. So bekommen endlich auch mal diejenigen die Chance dich kennenzulernen, die sie bisher nicht hatten“, kam es von Seth. „Und umgekehrt“, sagte ich lächelnd und sah einmal in die Runde. Mein Blick blieb kurz an Lunas Gesicht haften. Im Gegensatz zu Nayeli neben ihr, die mich anlächelte, verzog sie keine Miene. Ich hoffte, dass sie nur einen schlechten Tag hatte. Schnell sah ich wieder zu Jake. „Wie lange wird es denn ungefähr dauern? Ich meine, wie lange ist 'eine Weile'?“

„Och“, sagte Jake und rollte die letzte Gabel Pasta auf. „Das kommt darauf an, wie schnell du lernst, beziehungsweise wie gut sich Anthony als Lehrer macht.“

„Wohl eher Ersteres.“

Mein Blick richtete sich schlagartig wieder auf Luna. Es war das erste Mal, dass ich ihre Stimme gehört hatte. Obwohl sie einen sehr wohltuenden Klang hatte, hörte ich deutlich einen Anflug von Eitelkeit darin.

 

Jacob schob sich die Gabel in den Mund und sprach einfach mit vollem Mund weiter. „Ich weiß, er hat dich auch trainiert, aber dir musste er nicht das Fliegen beibringen.“

Luna stand ruckartig auf. „Nur weil ich von Anfang an Teil des Rudels war und viel zu sehr an die Wolfsform gebunden.“

Jacob legte sein Besteck auf den leeren Teller und lehnte sich im Stuhl zurück, dabei breitete er die Arme aus und legte einen davon um Renesmees Schultern. „Oh gut, jetzt wo du schon mal stehst, Luna, kannst du Billy auch gleich ihr Zimmer zeigen.“

Luna funkelte Großvater finster an.

„Tu doch einfach, was er sagt“, seufzte Nayeli entfernt.

„Meinetwegen“, gab ihre Schwester daraufhin nach, stellte sich hinter ihren Stuhl und schob ihn zurück an den Tisch. „Komm mit“, richtete sie sich dann an mich.

Ich stand mit einem mulmigen Gefühl auf und folgte ihr nach oben. Wie nicht anders zu erwarten war, sah auch hier alles wundervoll aus. Hell, freundlich und sehr modern. Als sie mich durch den Korridor führte, fiel mir jedoch auf, dass ich gar keine Treppe zum Penthouse gesehen hatte. Mir blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn schon waren wir angekommen und Luna führte mich in mein neues, vorübergehendes Zuhause. Die Suite war bombastisch. Durch die großen Fenster schien das Mondlicht herein, ich sah wie sich die Bäume vor den Scheiben im Wind wogen. Luna drückte auf den Lichtschalter und nach und nach glimmten die kleinen LED-Leuchten, die überall in die Decke eingelassen waren, auf und tauchten den Raum in ein warmes Licht.

„Deine Koffer sind schon da. Normalerweise gibt es hier kein Bett, aber es wurde nun eines für dich aufgestellt. Wenn dir der Standort nicht passt, musst du einfach nur Seth und Grandpa bescheid sagen.“

„Nicht passen?“, fragte ich. „Machst du Witze? Das ist alles wundervoll!“

Sie sah mich ausdruckslos an und jedes weitere Wort blieb mir förmlich im Hals stecken. Warum hatte ich mich vor ihr zu so einem Gefühlsausbruch hinreißen lassen? Hatte ich wirklich mit einer Reaktion gerechnet? Ich wusste von diesem Mädchen nichts, außer den genauen Farbton ihrer Augen bei sämtlichen Lichtverhältnissen, allerdings nur, weil ich dieselben Augen hatte, aber schon jetzt war mir irgendwie klar, dass ich auf diese Weise keinen Draht zu ihr finden würde. Aus irgendeinem Grund wünschte ich mir aber genau das. Und ich wusste beim besten Willen nicht, wieso. Bisher war es mir auch immer egal gewesen, wenn mich jemand nicht mochte.

„Gute Nacht“, sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Ich nickte und sie schloss die Tür hinter sich, als sie den Raum verließ.
 

Ich seufzte. Okay, das war nicht so gut gelaufen, aber fürs erste war es erstmal wichtig für mich, meine Verwandlungen unter Kontrolle zu bringen. Freundschaften schließen musste ich hinten anstellen.

Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, mein Hab und Gut aus meinen Koffern zu räumen. Wenn mich schon nicht alle so gut bei sich aufnehmen wollten, wollte ich mich wenigstens in meinem Zimmer einigermaßen heimisch fühlen.
 

Bis in die frühe Nacht hinein blieb ich allein und dachte schon, dass erst im Morgengrauen wieder jemand mit mir reden würde, da öffnete sich die Tür und Renesmee trat ein.

„Hast du alles was du brauchst?“, wollte sie wissen.

 

Ich nickte.

 

„Wenn du je irgendetwas brauchen solltest, kannst du jeden im Haus danach fragen. Scheu dich nur nicht davor.“

„Alles klar“, sagte ich.

Nun nickte sie. „Dann wünsche ich dir eine gute Nacht.“ Sie wollte gerade gehen, da richtete ich noch mal das Wort an sie.

„Moment“, bat ich.

„Ja?“, fragte sie und drehte sich noch einmal um.

„Beginnt mein Training schon morgen?“ Ich hoffte, sie nahm mir diese Frage nicht übel. Ich wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, nicht gerne hier zu sein. Denn obwohl ich meine Mutter und meine Geschwister schon jetzt vermisste, empfand ich es momentan noch als eher positiv, dass ich nun hier war. Es war alles so neu und aufregend. Nur der Gedanke an das kommende Training machte mir Angst, dennoch wollte ich unbedingt meine Probleme so schnell wie möglich in den Griff kriegen, um nie wieder in so eine brenzlige Lage zu kommen, wie auf dem Schuldach.

Renesmee sah etwas traurig aus, als sie den Mund öffnete, um mir zu antworten. Ich dachte schon, sie nahm es mir wirklich übel, realisierte jedoch dann, dass das nicht der Grund für ihren Blick war, sondern die Tatsache, dass sie mir keine positive Antwort geben konnte.

„Leider nicht. Anthony und Sangreal sind derzeit mit Mum und Dad, also ich meine mit Bella und Edward, in Italien, aber sie müssten in den nächsten Tagen den Rückflug antreten.“
 

***
 

Am nächsten Morgen musste ich mir, da ich in einem mir fremden Zimmer aufwachte, erstmal in Erinnerung rufen wo ich war und warum ich hier war, dann jedoch zog ich mich rasch um und ging hinunter in die Küche. Bereits im Flur roch ich den wohlschmeckenden süßlichen Geruch, der von etwa einem Dutzend übereinander gestapelter Waffeln in der Mitte des Esstisches herrührte.

Als ich den Raum betrat, drehte sich Nayeli, die am Herd stand und die Waffeln offensichtlich zubereitet hatte, mit einem freundlichen Lächeln um. Ihr langes, schwarzes Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und zusätzlich mit einem Dreieckstuch bedeckt, was mich darauf schließen ließ, dass sie wohl öfter zu kochen schien.

„Guten Morgen, Billy-Sue!“, begrüßte sie mich strahlend. „Hast du Hunger? Nimm dir ruhig so viel du möchtest, ich mache gerade noch mehr, bevor Jake und Seth kommen.“

Ich setzte mich an denselben Stuhl wie am Vorabend und hob mir eine Waffel auf den Teller. Sie hatte eine perfekte goldbraune Farbe.

„Dankeschön“, bedankte ich mich. „Die sehen toll aus.“

„Nichts zu danken, Billy-Sue“, antwortete sie freundlich.

„Du kannst mich gern Billy oder Bills nennen“, bot ich ihr an.

„Oh, wirklich? Okay, dann eben Bills“, antwortete sie und wand sich dann wieder dem Waffeleisen zu.
 

Plötzlich hörte ich schnelle Schritte und Seth und Jake kamen unter lautem Gelächter in die Küche gestürmt. Sie setzten sich links und rechts von mir an den Esstisch und nahmen sich jeweils gleich drei Waffeln auf ihre Teller.

„Morgen, Billy!“, sagte Jake, während er auf seine erste Waffel Ahornsirup kippte.

„Von mir auch einen guten Morgen, Billy“, schloss Seth sich an und aß seine pur.

„Mhmm!“, murmelte er, kaum dass er einen Bissen genommen hatte. „Schmeckt toll. Nayeli hast du den Zuckergehalt geändert?“

Nayeli schüttelte den Kopf und befreite die fertige Waffel aus dem Waffeleisen. „Ist keiner drin. Ich hab dieses Mal Stevia benutzt.“

„Ah“, sagte Seth und zeigte zur Antwort einen Daumen nach oben. „Sie ist bei mir in die Lehre gegangen“, klärte er mich auf meinen fragenden Blick hin auf.

Wenig später aßen auch Renesmee und Mariella mit uns und auch Nayeli gesellte sich an den Tisch, nachdem sie den gesamten Waffelteig zu Waffeln verarbeitet hatte.

„Ach Billy“, sagte Renesmee dann zu mir gewandt. „Wenn du deine Mutter anrufen möchtest, kannst du gern unser Telefon benutzen.“

„Super, danke, werde ich heute Abend machen, wenn sie von der Arbeit heim gekommen ist.“

„Ist sie immer noch Lehrerin an der Reservatsschule?“, fragte Mariella.

Ich nickte. „Ja, aber fragt mich nicht, wie sie sich da schlägt. Ich nehme an, dass sie super ist, aber ich gehe nicht auf die Reservatsschule.“

„Ja, davon haben wir gehört“, meinte Renesmee.

„Ein kleines bisschen Rebellin, was?“, sagte Grandpa Jake und grinste dabei.

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, antwortete Renesmee.

„Hey, ich bin brav auf die Reservatsschule gegangen!“, protestierte Jake noch immer grinsend.

„Ja, aber man darf nicht vergessen, dass du der erste Alpha warst, der seinen Rang ablehnte, ihn dann später wieder zurückforderte und dabei sogar ein Rudel spaltete. Ach und du warst auch der erste Quileute, der sich auf einen Vampir geprägt hat – einen halben, meine ich“, sagte Seth.

„Ja, ja“, murmelte Jake.

„Und!“, fügte er dann noch hinzu. „Wir kennen ja da noch jemanden, der mit dir eng verwandt ist und meinte, die Regeln einfach ignorieren zu müssen und sich eben nicht in einen Wolf zu verwandeln.“

Jetzt wurde ich erst richtig hellhörig. All das Gerede darüber, dass Grandpa seinen Platz als Stammesoberhaupt nicht annahm und es stattdessen Sam Uley übergeben hatte, hatte Mum uns bereits mehrfach erzählt. Auch, dass es eine Zeit lang zwei Rudel gab, wussten wir. Aber von den Verwandlungen hatte sie kaum etwas erzählt, erst recht nicht, dass die Wolfsgestalt nicht die einzige Form war.

„In was hat er sich denn schon alles verwandelt?“, fragte ich neugierig.

„Och“, begann Grandpa Jake. „Raben, Adler...“

„Panther“, ergänzte Renesmee.

„Ein Kaninchen“, sagte dann Mariella und alle – inklusive mir – starrten sie an.

„Autsch, erinnere uns bitte nicht daran“, sagte Jake.

„Sie hat danach gefragt“, rechtfertigte sie sich.

„Er kann sich das frei aussuchen?“ Ich hoffte durch meine Frage weitere Sticheleien zwischen den Familienmitgliedern zu verhindern. Wahrscheinlich neckten sie sich nur, aber ich kannte es von meinen eigenen Geschwistern so, dass bloße Worte auch ausarten konnten und wollte es lieber nicht darauf ankommen lassen.

„Natürlich.“

Ich drehte mich verwundert um. Hinter uns betrat Luna die Küche, ging geradewegs auf den Tisch zu, hob sich eine Waffel auf den Teller und verließ den Raum wieder.

Ich schluckte und griff nach dem Ahornsirup.

„Mach dir nichts draus“, sagte Nayeli, hob Jake die letzte Waffel auf den Teller und nahm das dreckige Geschirr vom Tisch.

Ich nickte kaum merklich. Natürlich machte ich mir etwas daraus, wenn eine Person, die ich kaum kannte und die mich kaum kannte, so abweisend mir gegenüber war.

„Was hältst du davon, wenn ich dir nachher ein bisschen die Gegend zeige?“, bot Nayeli mir an, als sie auch meinen Teller wegräumte, nun da ich aufgegessen hatte.

„Das wäre toll.“
 

***
 

Etwa eine Stunde später lief ich gemeinsam mit Nayeli durch die üppigen Wälder, die sich hinter dem Haus der Cullens erstreckten. Sie hatte mir bereits die Wiesen vor dem Haus gezeigt und mir erklärt, dass der nächste Ort, eine relativ kleine Ortschaft, ein gutes Stückchen von ihnen entfernt lag. Auch erzählte sie mir, dass in der entgegengesetzten Richtung eine andere Vampirfamilie lebte, die sich ebenfalls dem vegetarischen Leben verpflichtet hatte. Zwar musste sie mir noch einmal erklären, was es genau mit dem Vegetarismus unter Vampiren auf sich hatte, da Mum auch hierüber nicht viel gesprochen hatte, doch nach und nach begann ich langsam mit dieser Hälfte meiner Verwandtschaft warm zu werden.

Sie selbst, so erzählte mir Nayeli weiter, war zwar ein Halbvampir, ernährte sich jedoch ausschließlich von menschlicher Nahrung. Ihre Mutter war in dem Versuch, sie zu beschützen umgekommen, ihren Vater hatte sie nie kennengelernt. Luna war also nicht ihre leibliche Schwester, dennoch standen sie sich einander sehr nahe.

„Das mit deinen Eltern tut mir sehr leid“, sagte ich traurig. „Ich glaube ich weiß, wie du dich fühlst.“

„Ist schon in Ordnung, Billy“, antwortete sie. „Ich bin Sangreal sehr dankbar, dass sie mich bei sich aufnahm und zusammen mit ihrer Tochter aufzog. Sie hat mir nie das Gefühl gegeben, dass sie mich weniger lieben würde als Luna. Und obwohl ich ihn nicht Dad nenne, habe ich in Anthony so etwas wie eine Vaterfigur gefunden. Ich hatte nie das Gefühl, dass mir etwas fehlte. Ich kenne dich kaum, aber ich denke, bei dir ist das anders.“

Ich sah traurig zu ihr auf und blickte in ihre grauen Augen. Sie hatte offensichtlich ein sehr gutes Einfühlungsvermögen. „Das stimmt. Mein Dad fehlt mir jeden Tag, aber...“, ich kramte in meiner Hosentasche, zog mein Portmonee heraus und zeigte ihr das Foto von Daddy. „Ich trage ihn immer bei mir.“

„Das ist toll“, sagte sie lächelnd.
 

Ich packte das Foto wieder weg. „Darf ich dich etwas fragen?“

Sie nickte und sah mich erwartungsvoll an.

„Was hat Luna gegen mich?“

Nayeli öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen. Ein paar Sekunden später schien sie ihre Sprache dann doch wiedergefunden zu haben. „Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich etwas gegen dich hat. Sie hat viel eher ein Problem mit sich selbst.“ Nayeli legte mir ihre Hand an den Rücken und gab sanft druck, so dass wir uns wieder gemeinsam in Bewegung setzten, plötzlich jedoch blieben wir beide stehen, als wir ein Rascheln in einer der Baumkronen über uns hörten.

Nayeli seufzte und schloss die Augen. Im nächsten Augenblick sprang Luna zu uns herab.

„Ein Problem mit mir selbst“, wiederholte sie die Worte ihrer Schwester und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist das so?“, fragte sie dann.

Nayeli funkelte ihre Schwester etwas böse an. „Du bist neidisch – nein halt, du bist eifersüchtig auf sie, weil sie sich in verschiedene Tiere verwandeln kann und du nicht, aber das ist Unsinn, Luna, nur weil er sie unterrichten wird und sie etwas gemeinsam haben, heißt das doch noch lange nicht, dass er dir deswegen weniger nahe stehen wird. Er liebt dich mehr als alles andere auf dieser Welt und nichts wird das jemals ändern.“

Lunas Augen wurden glasig. „Du hast keine Ahnung!“, sagte sie bitter. „Keine!“

„Schön“, antwortete Nayeli und verschränkte nun ebenfalls die Arme. „Dann klär uns doch auf.“

Ich sah unsicher zwischen den Schwestern hin und her. Ich nahm nicht an, dass sie sich häufiger stritten, umso schäbiger kam ich mir vor, weil ich der Grund für einen dieser wenigen Streits war.

Luna trat näher an mich heran. Wir waren fast gleich groß. Ich sah wie ihre feuchten Augen funkelten. Die Augen, die genau denselben Grünton hatten, wie meine Augen. Die Augen, die mir im ersten Moment unserer Begegnung das Gefühl gegeben hatten, dass wir eine Verbindung hatten, obwohl wir uns noch nie zuvor sahen.

„Du weißt es wahrscheinlich gar nicht und du wirst es auch nicht absichtlich tun, aber du wirst Wunden aufreißen, die längst verheilt waren!“, schrie sie mich nun fast an.

Nayeli trat an ihre Seite, legte ihre Hand an die Schulter ihrer Schwester und drehte sie so hin, dass sie sie ansehen musste. „Verheilte Wunden können nicht aufgerissen werden, Luna, nur vernarbte.“

Luna sah betroffen zu Boden, doch ihre Schwester ging leicht in die Knie, sah sie warm an und redete ihr gut zu. „Luna“, sagte sie leise. „Vielleicht ist es gut so. Vielleicht muss es so sein, damit es ein für alle Mal richtig heilen kann.“

Luna wand den Blick nach links ab.

„Verstehst du, was ich dir damit sagen möchte?“, fragte Nayeli.

Luna kniff die Augen zusammen. „Nein“, antwortete sie, doch ihre Körperhaltung verriet das Gegenteil. Luna sah mich nicht noch einmal an, stattdessen machte sie einen Satz nach hinten, verwandelte sich in einen schneeweißen Wolf und rannte davon.

Ich hatte keine Ahnung, von welchen Wunden sie sprachen, aber mir dämmerte langsam, dass Mum mir noch mehr verheimlicht zu haben schien, als mir bisher bewusst gewesen war...



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