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Engelstränen

Ich gehöre euch
von

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Der Tag danach

Der folgende Tag zieht wie ein Film an mir vorbei. Ich sitze mit Marie bei Mama auf der Arbeit, weil wir nicht allein sein wollen. Marie hat das ganze nur beiläufig mitgekriegt, aber es hat sie anscheinend dennoch stark getroffen.

Ich verbringe den Tag mit Kakao, Keksen und damit, ein Heft für Marcel zu bemalen, mit aufmunternden Texten, welche künstlerisch gestaltet sind. Das Heft soll er an seinem Geburtstag bekommen, welcher in wenigen Tagen stattfindet. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich im Moment mehr tun kann. Dass ich überhaupt mehr tun kann.

Beim Mittagessen bei der Kollegin von Mama werde ich gefragt, warum ich denn schon wieder frei habe. Ich bringe ein gequältes Grinsen zum Vorschein und begründe damit, dass meine Schule nun mal toll sei und wir ständig frei hätten.

Sie gibt sich damit zufrieden.

Ich bleibe lange auf Mamas Arbeit, es wird schon dunkel, als wir nach Hause gehen. Beim Abendessen werde ich wieder mit der Situation konfrontiert, wieder sprechen meine Eltern und Marie darüber. Ich konzentriere mich auf mein Essen, obwohl ich nicht mehr als einen Happen herunterwürgen kann.

Und erst, als ich endlich in meinem Bett liege und Musik höre, spüre ich endlich wieder das Blut durch meine Adern rauschen, mein Herz schlagen, mein Leben.

Ich schalte mein Handy an. Noch immer ist keine Nachricht von Marcel angekommen, mein heutiger SMS-Empfang ist noch immer genau so leer wie heute Morgen. Ich klicke den Mitteilungs-wechsel von gestern an und lese ihn noch einmal durch.

»Bye.«

»Du kommst Montag doch wieder zur Schule?«

»Ich habe gerade eine Überdosis von einem Medikament genommen.«

»Willst du dich umbringen?«

»und ja«

»ganzes Leben vor dir«

»zu spät.«

»schön, mit dir zu schreiben, während ich sterbe.«

»Warum?«

»Niemand mag mich.«

»Ich soll weg.«

»ertrag ich nicht«

»Ich werde in den nächsten Minuten«

»sterben«

»Halte durch!«

»Gib mir Zeit!«

»Ich will sterben!«

»dein ganzes Leben vor dir«

»werde gerade versorgt«
 

»Ich will sterben!«
 

Auf einmal kommt alles wieder hoch. Die ganze Angst von gestern, die Verzweiflung. Es scheint mir wie ein Traum, und doch so real. Ich will die Realität nicht an mich heran lassen, doch sie überwältigt mich. Ich ersticke an den Tränen, die meine Kehle verschließen.

Und wieder beginne ich bitterlich zu weinen.

Verdammt, ich wollte das doch nicht mehr, nie mehr. Und doch…

»Ich will sterben!«

Habe ich ihn verärgert? Ist er jetzt wütend auf mich? Hasst er mich jetzt vielleicht sogar?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Er schrieb doch, er würde mich lieben?

Das ist egoistisch. Ich nutze so doch seine Gefühle aus.

Aber er hat mich mit seinem Tod konfrontiert. Auf brutalste Weise.

Doch ist es nicht meine Aufgabe, ihm zu Helfen? Als Freundin? Als eine normale Freundin?

»Ich will sterben!«

Tausende Gedanken schießen wie tödliche Kugeln durch meinen Kopf, jede einzelne bohrt sich tief in mein Herz hinein und hinterlässt eine blutende Wunde. Tausende Fragen bilden sich aus den Gedanken, während meine Tränen das Bett unter mir befeuchten und Mama zu mir rennt, um mich hilflos in den Arm zu nehmen. Alles gleitet an mir vorbei – Mamas Arme, ihre Berührungen, ihre tröstenden Worte, die Musik – Ich versinke in meinen Tränen, ich ertrinke in ihnen.

»Ich will sterben!«

Ich weiß nicht, ob ich den morgigen Schultag ohne aufzufallen überstehe. Ich weiß nicht, ob ich nicht bei jedem unbedachten Witz, jedem noch so ernsten Wort an Marcel denken muss. Und erst Recht weiß ich nicht, ob ich bei diesen Gedanken meine Tränen herunterschlucken kann.

Ich weiß nur, dass ich morgen unter keinen Umständen Traurigkeit zeigen darf. Ich weiß nur, dass ich niemandem etwas erzählen darf.

»Ich will sterben!«

Stirb, doch stirb nicht vor mir, Marcel.

Ich könnte das nicht ertragen.



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