Ein Fehler?
Dreizehnter Teil
Kid wusste genau, wie sein Therapeut ihn einschätzte; darum ging es ihm sicherlich nicht. Es war allein Laws Reaktion, die ihn interessierte und Law sah nur eine Möglichkeit zur Gegenwehr - und diese bestand zu seiner eigenen Überraschung aus schierer Ehrlichkeit. „Du willst wissen, ob ich dich für psychisch krank halte?“, schlussfolgerte Law nach einem Moment des Schweigens. Kids Gesicht blieb zunächst ausdruckslos, dann hob er anerkennend seine Augenbrauen und legte schlussendlich sein chronisches Grinsen wieder auf. Law hatte mit seiner Frage hoch gepokert, denn wenn er tief in sich ging, musste er feststellen, dass er sie nicht beantworten konnte. Seit dem gestrigen Tag schienen für ihn die Grenzen des Nonsens und des Wunderlichen mit denen der Krankheit und der gefährlichen Absonderlichkeiten zu einem bunten Wirrwarr zu verschmelzen. „Lieber nicht“, antwortete Kid schließlich mit ungewohnt zaghafter Stimme, drehte sich abrupt um und öffnete den Kühlschrank. Aus einem unerklärten Grund schien er seine Meinung geändert zu haben.
„Hier“, rief er und warf Law etwas entgegen. Dieser fing den Gegenstand und identifizierte ihn als einen durchsichtigen Plastikbecher voller Schokoladenpudding. Nachdenklich hob er eine Augenbraue. Kid wanderte unterdes an der Küchenzeile entlang. Der Raum war eine Art Schlauch mit einem Fenster am Ende. Hinter Kid befand sich der Kühlschrank, ein Herd und eine Spüle, zwei Thekenschränke am Boden und weitere darüber. Einem Fach fehlte bereits die Tür. Auf der anderen Seite, hinter Law, befand sich ein Küchenschrank, der nicht zum restlichen Stil passte. Daneben stand ein kleiner Tisch mit drei unterschiedlichen Plastikstühlen. Kid öffnete eine Schublade und schnappte sich einen kleinen Löffel; eine Schublade weiter fand er einen zweiten, den er Law reichte. „Frühstück“, erklärte er knapp. „Frühstück?“, wiederholte sein Gegenüber unschlüssig und schüttelte den Kopf: „Pudding?“ Kid grinste und zuckte mit den Schultern: „Keine Regeln!“, erklärte er und hob verspielt rebellisch seine Arme in die Luft, bevor er amüsiert lachte – Law stimmte ein.
Kaum hatten beide den Deckel der kindlichen Süßspeise geöffnet, konnte Law seine Neugierde nicht mehr zurückhalten: „Wo ist dein Mitbewohner?“, fragte er und gönnte sich den ersten Löffel. Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal diesen Geschmack im Mund gehabt hatte. „Arbeiten“, erwiderte Kid wie selbstverständlich, tauchte nur die Spitze seines Löffels in die schokobraune Masse und leckte mit der Zunge darüber. „Wow... Wer hätte gedacht, dass der arbeitet“, murmelte Law erstaunt in sich hinein. Sein Onkel hatte betont, dass der Rotschopf ihn offensichtlich mochte, so schien es für Law das Beste zu sein, genauso provokant neugierig zu bleiben wie am Tag zuvor. Kid kicherte. „Montags bis samstags von halb acht bis achtzehn Uhr baut er schöne Häuser, die viel zu teuer sind, als dass er sie sich selbst jemals leisten könnte. Traurig, nech?“, erklärte er weiter und wiederholte seine Pudding-Prozession. Law stutzte: „Ziemlich fies. Dafür dass sein ganzes Geld für einen faulen Sack wie dich draufgeht.“ Der Student grinste frech, doch konnte er Kid damit nicht einschüchtern. „Ich hab auch schon gearbeitet“, erklärte er stolz, „Müll sortiert aufm Schrottplatz.“ Law schüttelte den Kopf, während er sich einen zweiten Löffel gönnte. „Muss ja spannend gewesen sein“, meinte er unbeeindruckt. Kid nickte nichtsdestotrotz zustimmend. „War besser als das Studium.“
„Du hast studiert?“
„Überrascht dich das?“
„Ja… Also nein. Was denn?“
„Maschinenbau.“
„Aber das heißt… Dass du abgebrochen hast?“
„Ich gehör‘ nich an so möchtegernschlaue Orte“, entgegnete Kid überzeugt und dippte zufrieden seinen Löffeln in die Schokolade. „Ich denk‘ lieber selbst, weißte. Nimm das jetzt nicht persönlich.“ Ein freches Kichern unterbrach seine Erklärungen. Law schüttelte abermals ungläubig den Kopf, doch verstand er, was Kid meinte. So wie er die Aufgaben an der Tafel seines Onkels gelöst hatte, gab es für ihn in den Vorlesungen der Uni wohl kaum Neues zu lernen. „Und jetzt tust du gar nichts?“, fragte er weiter. Während er antwortete, rührte Kid verträumt in den Resten seines Puddings. „Weißt du… Wenn die Leute denken du seist nicht ganz richtig, dann hat das den interessanten Nebeneffekt, dass sie rein gar nichts mehr von dir erwarten.“ Mit den letzten Worten war das Lachen auf seinem Gesicht verschwunden, sodass er nun mit starren, beinahe traurigen Augen sein Gegenüber betrachtete.
Law schluckte schwer. Er dachte zurück an ihr Gespräch in der Bar; besonders daran, was Kid tatsächlich an der immer gleichen Frage störte, die ihm gestellt wurde. „Und du hältst dich an das, was die Gesellschaft erwartet?“, hakte er nach, um die trübe Stimmung mit einem Grinsen zu lockern. Kid blieb allerdings vollkommen ernst: „Du nicht?“, erwiderte er nahezu emotionslos. Mit dem Pudding in der Hand und der philosophischen Frage im Ohr wusste Law nicht mehr, wie er diesem immer größer werdenden Kontrast zwischen ihnen begegnen sollte. Kid schien es wohl nicht anders zu gehen, denn er wandte sich nun von Law ab, um seinen leeren Becher in die Spüle hinter sich zu stellen. Damit machte er Law auf etwas aufmerksam, das bisher vollkommen unentdeckt geblieben war.
„Du hast ein Tattoo?“, fragte er verblüfft und wunderte sich, wie ihm das Bild auf dem rechten unteren Rücken bisher entgangen sein konnte. Kid drehte seinen Kopf, blickte an sich hinab und tat selbst überrascht. Dann öffnete er den Mund, als wäre ihm im selben Augenblick etwas eingefallen. „Jap. Hat son Mädel gemacht. War ihr Erstes. Recht gut dafür, oder?“, erklärte Kid und löste damit endgültig die Anspannung in der Luft. Law verzog irritiert den Mund. „Ihr Erstes? Bist du wahnsinnig? Das hast du für immer auf dem Rücken.“ Der Rotschopf verdrehte die Augen. „Für immer auf dem Rücken“, äffte er den anderen nach. „Nummer eins: Ich sehe meinen Rücken nicht. Nummer zwei: Was soll‘s? Der Körper ist Gebrauchsgegenstand. Wenn der am Ende keine Geschichte zu erzählen hat, dann hast du was falsch gemacht.“ Kurz zwinkerte er Law über die Schulter hinweg zu, dann drehte er sich wieder um.
Law stutzte kurz über diese kleine Weisheit, die ihm gerade vermittelt werden wollte und versuchte sich an eine Narbe auf seinem Körper zu erinnern, entschied sich aber, lieber das Thema zu wechseln: „Was soll das denn sein?“ Bevor er antwortete, schnappte Kid Law den leeren Becher aus der Hand und warf ihn ebenfalls in die Spüle. „Nen Stabmagnet mit Feld.“ Der Medizinstudent legte irritiert seine Stirn in Falten und brachte Kid damit zum Lachen. „Ach ja, klar… Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin“, raunte Law voller Sarkasmus. Kid gluckste amüsiert und fühlte sich zu weiteren Erklärungen genötigt: „Das war das Letzte, was mein Papa zu mir sagte“, erläuterte er und wechselte daraufhin in eine tiefere Tonlage um augenscheinlich die Stimme seines Vaters zu imitieren: „Eustass, wie kann ein einzelner Mensch nur so etwas schaffen? Du bist ein förmlicher Magnet für Ärger. Nur ziehst du die Scheiße aus sämtlichen Himmelsrichtungen an!“ Er lachte schelmisch und wedelte zur gestischen Untermalung mit dem Zeigefinger durch die Luft.
Law wusste nicht, ob er die kleine Anekdote wirklich zum Lachen fand. Wann hatte Kid wohl das letzte Mal mit seinem Vater gesprochen? Ob es kurz nach der Sache mit Killer gewesen war? Wie sehr hatten ihn diese Worte mitgenommen, dass er nun eine stetige Erinnerung auf dem Rücken trug? Fand Kid es wirklich zum Lachen? Es waren zu viele Fragen, um sie jetzt zu beantworten, also entschied sich Law für eine ganz andere: „Ist das dein richtiger Name? Eustass?“ Kaum hatte er ihn ausgesprochen, hielt Kid schlagartig inne und rührte sich eine ganze Zeit nicht. Nur langsam regte er sich wieder, sah verspielt zu Law und schritt auf diesen zu, bis sich die beiden jungen Männer direkt gegenüberstanden. Law hielt vor Anspannung den Atem an. Verunsichert formulierte er eine zweite Frage: „Denkst du, dein Vater hatte Recht?“ Es war provokant, aber provokant war das, was Kid wollte, oder nicht? Zu Laws Verwunderung war seine Reaktion eine Hand, die sich zärtlich auf seine Wange legte. „Ich denke…“, begann Kid, während er an Laws Kinn entlangstrich, „dass du schon viel zu viel erfahren hast.“ Die Worte ließen einen kalten Schauer über den Rücken des Studenten laufen.
„Was?“, fragte er mit zitternder Stimme, während Kids Berührung dafür sorgte, dass sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. Doch anstatt zu antworten, beugte er sich weiter nach vorn, um seine blassen Lippen auf Laws zu legen. Law blieb weiterhin regungslos bis hin zum Atemstillstand. Er hatte die Worte seines Onkels nicht vergessen und schon lange stellte er in Frage, ob es richtig war, dass er die letzte Nacht überhaupt zugelassen hatte. „Ich denke, dass dir der Schokofleck an deinem Kinn wirklich ausgezeichnet steht“, fuhr Kid verspielt fort, kurz bevor Law seine warme Zungenspitze auf der Haut spürte. Ein warmes Flackern in Laws Brust wollte ihm signalisieren, dass sein Körper weiterhin die Liebkosungen genoss, doch in seinem Kopf trillerten die Sirenen. Er hatte nicht viel über Kid erfahren, doch die wenigen Dinge reichten schon aus, um den Worten seines Onkels Glauben zu schenken. Er musste hier weg.
Offensichtlich nichts vom inneren Kampf des anderen ahnend, wanderte Kid mit einzelnen Küssen Laws Hals hinab. „Und ich denke, ich mag das Shirt an dir. Siehst gar nicht mehr aus wie’n Muttersöhnchen.“ Ein freches Lachen, dann eine Hand, die Laws Oberschenkel streifte, um sich anschließend auf seinen Schritt zu legen. Der Student zuckte zusammen. Erneut sah er die Bilder der letzten Nacht vor sich; erinnerte sich daran, wie gut sich Kids Berührungen angefühlt hatten. „Kid…“, begann er und versuchte die richtigen Worte zu finden. Halluzinationen. Psychosen. Ich-Störungen. Jedes dieser Wörter schnürte ihm den Hals zu. Es war höchste Zeit den Kaninchenbau zu verlassen. Von plötzlicher Panik ergriffen, presste Law die Kiefer fest aufeinander, während Kid zur selben Zeit vor ihm auf die Knie sank und mit geübten Fingern den Kopf seiner Hose öffnete. „Die nächste Bahn fährt eh erst in einer halben Stunde“, flüsterte er nahezu geheimnisvoll, während er zu Law aufsah. Der Student hörte seine Worte hingegen nur wie ein Rauschen in weiter Ferne, während sich sein Blick manisch an die tiefe Narbe über Kids linkem Auge heftete. Sein Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust, während heiße und kalte Schauer über seinen Körper fuhren.
Gerade als Kid seine Hände um den Saum der Hose legte, um diese herunterzuziehen, entsagte Laws Verstand jeder weiteren Vorsicht und ergab sich völlig seinem Selbsterhaltungstrieb. Unvermittelt sprang er zur Seite, riss dabei Kid mit sich, der nunmehr überrascht auf den Küchenfliesen landete und mit erschrocken aufgerissenen Augen zu Law hochblickte. „Ich… Ich muss los“, stammelte dieser, schloss seine Hose und verließ die Küche, ohne Kid eine Sekunde länger anzuschauen. „Hast du sie noch alle?!“, hörte er eine wütende Stimme hinter sich, ließ sich allerdings nicht ablenken, sondern schnappte sich seine Mütze vom Boden, suchte schnell nach seinem Handy, Portmonee und Schlüssel und stopfte sie in seine Hosentaschen. Als er sich zur Tür wandte, stand Kid vor ihm und hielt sich den Ellenbogen.
„Verfickte Scheiße…“, murmelte der Rotschopf und schaute auf das kleine purpurne Rinnsal, das seinen Unterarm hinablief. Es war die Verletzung von gestern. Durch den Aufprall auf den Küchenboden musste sie wieder aufgeplatzt sein. Law schluckte schwer, traute sich allerdings nicht etwas zu erwidern und griff daher stumm nach seiner Jacke auf dem Boden. „Was geht denn bei dir ab?“, beschwerte sich Kid bei Law und schenkte diesem einen Blick, der das Blut des Medizinstudenten gefrieren ließ. „Tut mir Leid. Ich muss aber wirklich weg…“, nuschelte er in sich hinein. Er erinnerte sich an einen Schal, doch blieb ihm nicht genügend Zeit diesen zu suchen. Er wollte einfach nur noch hier raus.
Kid hatte seinen Kopf leicht nach vorn gebeugt und seine Brauen eng aneinandergeschoben, während seine Augen nachdenklich funkelten. Unzufrieden zog er seine Mundwinkel nach unten, bevor er schlussendlich seine Lippen spitze und nickte. „Hab verstanden“, murmelte er mit offenkundiger Enttäuschung in der Stimmte: „Verpiss dich.“ Law versuchte nicht weiter über Kids Verhalten nachzudenken, sondern nahm die Beleidigung als willkommene Einladung für seinen Abschied. Schnell setzte er sich seinen Hut auf, zog ihn tief in die Stirn und stapfte mit raschen Schritten zur Eingangstür. Knarrendes Parkett verriet ihm, dass Kid ihm folgte – umdrehen wollte er sich dennoch nicht. So ließ er die Wohnung hinter sich und lief weiter, bis er auf der Treppe stand. Doch auch wenn die Panik immer noch durch seine Adern floss, konnte er nicht gehen, ohne sich ein letztes Mal umzudrehen. Es wäre falsch, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf und er gehorchte ihr. Sein Blick traf automatisch Kids grüne Augen, die ihren Glanz verloren hatten. Auch von seinem obligatorischen Grinsen war jede Spur verschwunden. „Vielen Dank für die Gastfreundschaft“, murmelte Law und verbeugte sich ein Stück, wie es ihm seine Eltern seit frühster Kindheit beigebracht hatten – dabei war ihm selbst bewusst, wie absurd seine Geste wirken musste. Bestätigt wurde dieses Empfinden durch Kids Augenbrauen, die sich verwundert, nahezu entsetzt hoben.
Wie einen Außerirdischen betrachtete Kid nun den jungen Mann auf der Treppe. Als Ausdruck dessen, was er von Laws überstürztem Abgang hielt, blieb er vollkommen stumm und ließ stattdessen eine eindeutige Geste für ihn sprechen. Unter Laws fast ängstlichem Blick hob Kid seine linke Hand, die rechte in der Hosentasche verschwunden und demonstrierte Law seinen ausgetreckten Mittelfinger, untermalt mit einer provokant aggressiven Fratze. Der Student schluckte schwer, entschied sich auf kein weiteres Wort zu warten und lief mit höchstmöglicher Geschwindigkeit und dennoch ohne den Eindruck einer Flucht erwecken zu wollen, die Treppen hinunter, wobei er stetig lauschte, ob ihm jemand folgte. Der Anblick von Kid mit seiner obszönen Geste wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen und pochte wie eine stumme Warnung gegen seine Schläfen. Als er die alte Haustür durchschritt und die Kälte auf seinen Wangen spürte, konnte Law trotz aller Erleichterung in seiner Brust nicht anders, als sich zu fragen, ob er diesen letzten Tag noch bereuen würde. Außer Atem hob er unsicher seinen Blick zum wolkenverhangenen Oktoberhimmel. Kleine Punkte kämpften sich durch die trüben Massen: Es begann zu schneien.
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