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Tender is the night

von

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Act 3.

 

„Es war einmal vor langer, langer Zeit auf Gaia. Ein junger Prinz machte sich auf in die tiefen Wälder Fanelias, um einen Drachen zu töten, der sein Volk bedrohte. Er hatte lange für diesen Tag trainiert, er war mutig, gütig und ein friedlicher Mann. Es widerstrebte ihm auf die Jagd zu gehen. Doch sein Volk war in Gefahr. Würde er den Drachen töten, konnte sein Volk endlich in Frieden leben. Dann erst war er bereit König zu werden.

 

Er lief durch den Wald auf der Suche nach dem Drachen, seine schwere Rüstung machte ihm das Laufen schwer, als plötzlich eine grelle Lichtsäule vor ihm erschien. Sie ragte bis in den Himmel. Geblendet vom Licht, hielt er sich den Arm vor die Augen und als er wieder sehen konnte, stand vor ihm ein junges Mädchen. Sie war wunderschön, sie trug Kleidung, die er noch nie an einem Mädchen gesehen hatte, sie hatte blaue Augen und blondes langes Haar. Er hatte keine Zeit sie länger zu betrachten, denn der Drache erschien hinter ihr. Er stieß sie weg, um sie zu retten und bohrte sein Schwert in das Herz des Drachen.“

 

„ÄH-ÄH! Nein, wenn Hitomi das vorliest, ist das anders!“, protestierte Chid, „Du liest das falsch vor!“

 

Van blickte auf und fragte ein wenig trotzig: „Das steht hier aber so. Wie soll es denn bitte sonst sein?“

 

„Aaaalso, “, setzte Chid an und Hitomi kicherte, „In Hitomis Geschichte ist das ganz anders. Der Prinz ist ein hitzköpfiger Streithahn. Er zieht los und will den Drachen töten, weil das so ein verrücktes Ritual seines Volkes ist. Die Drachen sind nämlich eigentlich gaaaaanz harmlos. Und daaaaann, dann kämpft er gegen den Drachen, aber gegen den Drachen hat er kaum eine Chance! Mitten im Kampf werden er und der Drache wegteleportiert. Er landet auf dem Mond der Illusionen und daaann trifft er ein Mädchen. Sie rettet ihn und hilft ihm dabei den Drachen zu töten, denn ohne ihre Hilfe hätte er das nicht geschafft. Und außerdem sieht sie gaaaanz anders aus! Sie ist groß und schlank und hat kurze honigbraune Haare und hat grüne Augen!“

 

Van musste lachen, denn Chid merkte offensichtlich nicht, dass Hitomi ihm eine ganz eigene Version des Märchens vorgelesen hatte. Eine in der das Mädchen zur Rettung Gaias und des Prinzen kam und die ganz zufällig so aussah wie Hitomi selbst. Hitomi legte den Finger an die Lippen und bedeutete Van mit den Augen, Chid nichts zu verraten. Van klappte das Buch zu und sagte: „Na gut Chid, du hast mich erwischt, ich hab ein wenig geflunkert, damit der Prinz in dieser Geschichte nicht so schwächlich rüberkommt.

 

„Ist schon in Ordnung Van, “, sprach Chid und machte mit der Hand eine abwinkende Bewegung, „die Frauen sind halt immer die stärkeren, irgendwann wird sich das ja vielleicht mal ändern!“

 

Van schnaubte los, Hitomis feministische Erziehung hatte wohl bereits Früchte getragen. Hitomi stimmte in das Lachen mit ein. Ihr Lachen klang wie Musik in Vans Ohren. „In Ordnung Chid, vielleicht lesen wir ja einfach etwas anderes.“, schlug Van vor.

 
 

***
 

 

Es herrschte viel Betrieb im Hauptquartier der Abaharaki. Nach ihrer Ansage am vorigen Tag machten sich die Mitglieder dran Hitomis Anweisungen umzusetzen. Waren die Abaharaki in den Distrikten unterwegs, war es eine gute Ablenkung, sodass Hitomi sich gut in der Stadt bewegen konnte, ohne viel Aufsehen zu erregen.

 

Chid lag noch in ihrem Bett und schlief. Er hatte den ganzen Tag mit ihr und Van verbracht. Sie war ein wenig eifersüchtig, dass Chid Van unbedingt dabei haben wollte. Andererseits war sie auch gerührt, dass Van so gut mit dem kleinen Jungen umgehen konnte. Vermutlich war es für ihn etwas Besonderes, dass ein Mann ihm so viel Zeit schenkte, während es sein eigener Vater nicht tat. Hitomi schob den aufkommenden Zorn beiseite.

Denn Chid war keine Vollwaise, nur wusste er nicht davon und sie fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, es vor ihm zu verheimlichen. Doch es war zu seinem Besten.

 

Bei dem Gedanken an seinen Vater zog sich Hitomi der Magen zusammen. Sie war vermutlich die Einzige, die wusste, dass Allen Chids leiblicher Vater war.

 

Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als Allen sich eines Nachts zu den Abaharaki schlich und sie vor dem Hauptquartier im Dunkeln traf, in seinen Armen ein Neugeborenes.

 

 

„Hitomi, ich weiß nicht, wie ich dir das alles erklären soll. Das… Das ist mein Sohn.“

In Hitomis Kopf herrschte Leere, sie brachte nur ein Wort heraus: „Marleen.“

 

Allen senkte seinen Kopf. „Es tut mir Leid, Hitomi… Ich…“

 

„Schon gut, Allen. Es war dumm von mir zu glauben, dass du mich begehren würdest.“, sagte Hitomi trocken. „Ich hätte nur nicht erwartet, dass du so unehrlich wärst.“

 

„Marleen. Sie ist tot. Sie starb bei der Geburt gestern. Ich wusste nicht, dass sie schwanger war. Bis gestern, als Milerna mich informierte. Sie weiß aber nicht, dass ich der Vater bin.“

 

Hitomi erkannte erst jetzt im Dunkeln, dass Allens Augen stark gerötet waren. Hitomi schalt sich für ihre Eifersucht. Allen hatte einen geliebten Menschen verloren. Hier war kein Platz für ihre Schwärmereien. Vor ihr stand nicht der Mann, den sie anhimmelte, seit er sie eines Nachts beim Herumstreuen durch Pallas erwischt hatte. Vor ihr stand nicht der Mann, der sie trainierte, der sie als Erster überhaupt als richtige Frau wahrnahm. Vor ihr stand nicht der Mann, den sie schon so lange liebte und von dem sie glaubte, dass er sie auch liebte. Sie wusste von Marleen und sie hatte immer gehofft, dass er sich eines Besseren besinnen würde, dass er SIE sehen würde. Sie musste nur Geduld haben. Doch nun hielt er den Beweis dafür, dass sie sich irrte, in seinen Armen.

 

„Hitomi, ich bitte dich. Keiner wusste von Marleens Schwangerschaft. Es darf keiner erfahren, dass er ihr und auch mein Sohn ist. Er würde in ständiger Gefahr leben. Bitte nehmt ihn auf. Es ist der einzige Ort an dem er sicher wäre. Ich flehe dich an.“

 

Hitomi sah lange in das Gesicht des schlafenden Neugeborenen. Sie seufzte. „Wie ist sein Name?“

„Chid.“

„Ein schöner Name.“

Sie nahm Allen das Baby aus den Händen und drehte sich wortlos um, um wieder in das Hauptquartier zu gelangen. Allen ließ sie stehen. Sie hörte ihn noch sagen:

„Hitomi, er darf es nie erfahren.“, und kurze Zeit später, sie war schon fast zu weit entfernt, um es zu hören, „Danke.“

 

 

Hitomi setzte sich auf die Bettkante zu Chid und strich ihm zärtlich über die Stirn. Seit dem ersten Tag seiner Ankunft bei den Abaharaki hatte sie sich um ihn gekümmert. Er war der Anstoß gewesen, mehr Waisenkinder zu retten und ihnen Unterschlupf zu gewähren. Doch zu keinem Kind hatte sie eine Bindung, die so stark war, wie die zu Chid.

Auch wenn es sie jeden Tag schmerzte, ihn zu sehen, und IHN in ihm wieder zu erkennen, so konnte sie nicht anders, als ihn zu lieben.

Sie dachte an ihren eigenen kleinen Bruder. Er konnte damals gerade einmal Laufen, als er zusammen mit ihren Eltern umgebracht wurde. Bei dem Gedanken an jene Nacht fühlte Hitomi sich, als hätte ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Sie wollte nicht an dieses schreckliche Geräusch von damals denken, dass sie erfolgreich verdrängt hatte.

Sie fasste sich wieder und dachte an ihre Mission. Sie würde irgendwann die Black Dragons zerschlagen, sie würde sich rächen und sie würde dafür sorgen, dass Chid irgendwann einmal seinen Vater kennenlernen durfte.

 

Sanft weckte sie den Jungen. Er streckte sich und gähnte: „Ist es schon Morgen?“

Hitomi musste lächeln als sie in sein verschlafenes Gesicht blickte. Er war das genaue Abbild von Allen und Marleen. Sie stellte sich für einen Moment vor, wie es gewesen wäre, wenn Hitomi an Marleens Stelle schwanger geworden wäre. Wäre sie dann immer noch die Anführerin der Abaharaki?  Sie wandte sich wieder zu Chid: „Ja, wasch dich und geh zu den anderen frühstücken. Ich fahre dich danach nach Hause.“ Chids Augen strahlten. „Du fährst mich? Das heißt du kommst mit nach Arzas?“

„Jep. Und jetzt hoch mit dir! Ich will nicht zu spät los hier.“

Chid sprang aus dem Bett, lief aus dem Zimmer und ließ Hitomi alleine mit ihren Gedanken zurück.

 

Langsam stand sie auf und blickte zur Tasche, die vor ihrem Schrank stand. Sie hatte noch vor dem Schlafengehen gepackt. Kleidung, Medikamente, ein Laptop, Munition. Sie wusste nicht, wie lange sie weg sein würden und so bereitete sie sich auf alles vor. Sie zog die Tasche, die eindeutig zu schwer war, aus dem Zimmer. Im Gang lief ihr Van über den Weg, der ohne zu fragen ihre Tasche nahm und sie locker schulterte. „Hey!“, protestierte Hitomi, „Ich bin keine Jungfrau in Nöten!!“

Van ging trotzdem weiter und winkte mit seiner freien Hand ab. „Ja, ja schon klar. Mädchen vom Mond der Illusionen.“ Hitomi blieb fassungslos stehen. Wann hatten sie die Rollen getauscht? Es war doch ihr Job, coole Sprüche zum Besten zu geben und ihr Gegenüber stehen zu lassen. Den Kopf schüttelnd drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zur Asservatenkammer. Als Rache würde Van die mädchenhafteste Knarre bekommen, die sie auf Lager hatten.

 

Es verging noch eine weitere Stunde bis sich alle Mitglieder der Crew im Hangar versammelten. Sie beluden Hitomis Geländewagen mit den Taschen und Proviant und versteckten Waffen im Kofferraum. Hitomi schaute ihnen nachdenklich dabei zu, wie sie die Waffen in einem Fach unter dem Kofferraum verstauten. Sie würde nicht darum herumkommen, sich mit Allen zu treffen und sich einen Armeepass zu besorgen, der ihr freie Fahrt gewährleistete, ohne ständig an den Checkpoints der Stadt von seinen Männern durchsucht zu werden. Sie hatte keine Lust Allen schon wieder um einen Gefallen zu bitten, doch was blieb ihr übrig?

 

„Okay Männer, wir werden uns jetzt trennen. Wichtig ist, dass wir uns in Zukunft immer in unterschiedlichen Distrikten aufhalten, das verschafft uns ein wenig Deckung. Kio, du schaust bitte alle paar Tage in Arzas vorbei, denn ich weiß nicht, wie lange wir weg sein werden. Und sorg dafür, dass sie nicht wieder auf die Idee kommen, das Dorf zu verlassen, um in die Stadt zukommen. Ihr wisst was zu tun ist, ansonsten: Gaddes ist euer Mann. Ich verlasse mich auf euch.“, beendete Hitomi ihre Ansprache

 

„Aye Captain!“, brüllten die Männer im Chor und salutierten dabei. Nur Gaddes hatte sie mit verschränkten Armen argwöhnisch angestarrt. Sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Sie stieß ihm immer wieder mit ihren Aktionen vor den Kopf und er machte alles mit. Seit dem Tag als sie ihm von ihrer Idee erzählte in den Untergrund zu gehen, hatte er sie immer unterstützt, nur um sie glücklich zu machen. Sie wusste, sie war kein einfacher Mensch, viel zu emotional und irrational, um eine Untergrundorganisation zu leiten, doch er hatte ihr die Aufgabe freiwillig überlassen, hatte sich ohne Widerworte unter ihren Dienst gestellt. Wenn sie etwas vermasselte, war er da, um alles wieder richtig zu biegen.

 

„Also, ihr habt euren Boss gehört, macht euch nützlich!“, rief Gaddes und warf Hitomi ein verschmitztes Lächeln zu, „Teo, Pyle, ihr bleibt mit Vargas hier und bewacht das Hauptquartiert bis ihr abgelöst werdet.“

 

„Aye, Kommandant!“, antworten die Angesprochenen.

 

Hitomi grinste Gaddes zurück an. Die Loyalität, die die Männer zu Gaddes und ihr hatten, war unvergleichlich. Sie war froh, dass Van Zeuge dieser Darbietung war. Insgeheim hoffte sie, ihn damit beeindruckt zu haben. Bei dem Gedanken an Van suchte ihr Blick wieder nach ihm. Er stand etwas abseits der Gruppe und hörte Chid zu, der ihm aufgeregt etwas erzählte. Auf Vans Gesicht zeichnete sich ein gütiges Lächeln ab. Seine schwarzen Haare hingen ihm ein wenig ins Gesicht, weil er sich leicht zu Chid hinabbeugte. Er trug eine dunkle, nicht zu weite,  Jeans, die ihm tief auf den Hüften saß, das schwarze T-Shirt spannte ein wenig über seine Brust und betonte seine gebräunte Haut und die übrigen Muskeln an seinem Körper. Er hatte wohl seine Zeit, eingesperrt im goldenen Käfig, gut für sich genutzt. Für eine Sekunde stellte Hitomi sich vor, wie er wohl unter seinem Shirt aussehen würde. Hitomi schluckte langsam. Sie schalt sich dafür ihn mit solchen Augen zu betrachten. Verrückte Hormone, dachte sie sich, nur weil ein gleichaltriger, gutaussehender Mann, der auch noch gut mit Kindern konnte, vor ihr stand, wurde sie zur verzückten Hausfrau? Nein, niemals. Er war ein arroganter, reicher Schnösel. Basta.

 

Nach dem ihr einige der Männer noch persönlich Glück wünschten und ihr rieten auf sich auszupassen, stand Vargas vor ihr. Hitomi war verwundert. Der mürrische Gesichtsausdruck, an den sie sich die vergangenen Tage gewöhnt hatte, war verflogen. Das Mienenspiel, das sich nun auf seinem Gesicht abzeichnete, konnte sie nicht deuten.

Bevor Hitomi etwas sagen konnte, sprach Vargas, der sich vergewisserte, dass keiner zuhörte: „Pass auf dich auf, Kleines. Ich weiß, es hat keinen Sinn, es dir auszureden. Du kommst einfach zu sehr nach deinem Vater.“ Er schwieg einen Moment und blickte ihr direkt in die Augen. „Und auch wenn ich es schrecklich finde, er wäre sehr stolz auf dich und auf das, was du hier geleistet hast, gewesen.“ Vargas lächelte müde und legte ihr die Hand auf die Schulter: „Passt auf euch beide auf.“ Ohne Hitomis Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand in den Gängen des Hauptquartiers.

Die Erwähnung ihres Vaters machte Hitomi schlagartig wieder traurig. Auch wenn sie es vor den anderen nicht zeigte, hatte sie vor allem seinen Tod nie wirklich verwunden. Nach Vargas Worten war sie sich sicher, dass auch er es noch nicht geschafft hatte. Sie durfte ihren Vater leider nicht lange kennen, doch sie liebte ihn abgöttisch. Sie erinnerte sich, dass Vargas und ihren Vater eine tiefe Freundschaft verband. Sie sah dem alten Krieger hinterher, als sie von ihrem neuen Kompagnon gestört wurde. „Fahren wir los? Chid sitzt schon im Wagen.“

 

Gemeinsam gingen sie zu Hitomis Auto. Es war ein schwarzer, geräumiger Geländewagen der Marke Jeep. Ein wenig aufgemotzt war er. Schusssicheres Glas und eine gepanzerte Karosserie waren die Standardausrüstung für Vehikel der Abaharaki. Das Nummernschild war selbstverständlich gefälscht. Angemeldet auf Hitomis ebenfalls gefälschten Decknamen: Yuri Chino.

Angekommen an dem Wagen, musste Hitomi laut lachen als Van Anstalten machte auf die Fahrerseite zu steigen. Auch die übrigen Männer im Hangar, die noch nicht auf dem Hovership verschwunden waren, stimmten in das Lachen ein. Hitomi schob Van leicht zur Seite und sprach: „Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich mein Baby fahren lasse.“

Sie schüttelte den Kopf und wollte die Tür öffnen als Van seine Hand auf die Fahrertür donnerte und sie zu hielt, so dass Hitomi sie nicht öffnen konnte. Hitomi erstarrte.

Er beugte sich zu ihr hinab und knurrte: „Ich hab deine Spielchen langsam satt, Hitomi. Du kannst aufhören mir ständig zu beweisen, was für eine toughe Frau du bist. Ich habe mich aus Respekt vor dir und deiner Position hier zurückgehalten. Es ist nicht meine Art einen Anführer vor seinen Männern zu diffamieren. Aber von jemanden in deiner Position erwarte ich, dass er weiß, was Respekt bedeutet.“ Er funkelte sie an und Hitomi fühlte sich auf einmal ganz klein vor ihm. Aus irgendeinem Grund war sie ungemein erregt von der Art und Weise, wie er vor ihr stand. Sie bekam ein schlechtes Gewissen, denn Van hatte Recht. Für eine Anführerin verhielt sie sich nicht in Ordnung. Sie tat etwas für sie ganz unübliches: „Entschuldige. Ich werde es sein lassen.“

Augenscheinlich zufrieden mit ihrer Antwort stellte Van sich wieder gerade vor ihr hin und gab die Tür frei. Er machte ein wenig Platz und öffnete anschließend die Tür, damit sie einsteigen konnte. Ihr Augenrollen bemerkte er nicht und knallte die Tür wieder zu, um selber auf der Beifahrerseite Platz zunehmen. Wortlos stieg Van ein. Hitomi krallte sich ans Lenkrad und atmete durch. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht drehte sie sich zu Chid um, der auf der Rückbank saß: „Bist du angeschnallt, Kleiner?“

„Jep!“, rief Chid.

Hitomi klappte die Sonnenblende über ihr auf und holte einen Pass hervor und hielt ihn Van hin ohne ihn dabei anzuschauen. Als er ihr den Pass aus der Hand nahm, legte sie die Hand an den Schaltknüppel und legte den Rückwärtsgang ein, um aus dem Hangar zu fahren.

 
 

***
 

 

Van klappte das Dokument auf und staunte einen Moment, als er in sein eigenes Gesicht blickte. Es waren sein neuer – gefälschter – Ausweis und ein Führerschein. „Drago Deus?“, sprach er verwundert aus, „was soll das denn bitte für ein Name sein?“ Er blickte Hitomi verdutzt von der Seite an. Sie lächelte kurz und Van war erleichtert, dass sie nicht allzu wütend über seinen kleinen Wutausbruch vor ihrer Abfahrt schien.

„Bei den Namen können wir nicht wählerisch sein. Wir stehlen meist die Identitäten von kürzlich Verstorbenen. Sie müssen uns in gewisser Weise ähneln, wenn es zum Beispiel um das Alter, Haarfarbe und Körpergröße geht. Bei einer normalen Kontrolle fällt man nicht zu sehr auf und die Soldaten forschen nicht weiter nach. Wenn wir unter Fremden sind, denk dran mich ausschließlich mit dem Namen ‚Yuri‘ anzusprechen. Verstanden, Drago?“

Chid meldete sich zu Wort und rief von hinten: „Ich finde Drago ist ein cooler Name, erinnert mich irgendwie an Drachen.“

Hitomi und Van sahen sich an und fingen laut an zu lachen.

 

Die Fahrt verlief ruhig, da sie die Stadt gleich nach Abfahrt aus dem Hauptquartier verließen. Hitomi war eine gute Autofahrerin, musste Van feststellen. Nach einer halben Stunde war Chid bereits auf dem Rücksitz eingeschlafen. Hitomis Augen blieben die ganze Zeit an der Straße heften, sie hatte wohl darauf gewartet, dass Chid einschlief als sie fragte: „Wie war das damals, als Fanelia angegriffen wurde? … Also… Was ist mit dir passiert?“

Van blickte Hitomi lange an. Ihr schien die Frage aus irgendeinem Grund unangenehm zu sein, denn sie biss sich auf die Unterlippe. Einen Augenblick dachte Van daran, wie verführerisch es aussah und wie sich ihre Lippen wohl anfühlten bis er sich mental eine Ohrfeige verpasste.

„Ich habe nicht viel Erinnerung an den Angriff.“, antworte Van ehrlich, „meine Eltern kamen in mein Zimmer. Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter weinte und sie sagte, dass ich mit Vargas mitgehen müsse. Ich verstand damals noch nicht wirklich was los war. Vargas kam kurze Zeit später, sie packten einige Sachen und ich verließ mit ihm und einigen Männern den Palast. Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern sah.“

Es herrschte kurz Stille.

Van forschte in seinen Erinnerungen. „Wir verbrachten einige Tage in einem versteckten Stützpunkt und reisten irgendwann nach Asturia. Von da an lebte ich praktisch in irgendwelchen Villen eingesperrt oder auf Militärstützpunkten oder bei irgendwelchen Aristokraten Asturias. Vargas unterrichtete und trainierte mich. Als es noch nicht so gefährlich wegen der Black Dragons war, durfte ich mich noch ohne Probleme allein in der Stadt bewegen. Bald durfte ich auch das nicht mehr.“

Wieder herrschte Stille bis Hitomi weiterfragte: „Was ist eigentlich mit deinem Bruder geschehen?“ Van blickte wieder verwundert zu Hitomi. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich noch jemand an Folken erinnern würde. Van überlegte kurz, ob er sie einfach anlügen solle, doch entschied sich für die Wahrheit.

„Folken. Er hat unsere Familie eines Tages einfach verlassen. Damals verstand ich nicht weshalb, bis einige Jahre später Vargas mich aufklärte. Er hat das Land verlassen, um sich den Zaibachern anzuschließen. Verräter.“ Gespannt wartete Van Hitomis Reaktion ab. Er erwartete Vorwürfe, wie sich ein Mitglied der königlichen Familie dem Feind anschließen konnte, doch es kam nichts. Stattdessen seufzte sie nur:

„Es ist traurig, keine Familie mehr zu haben.“

 

Das Thema hatte sich augenscheinlich für beide geklärt und so schwiegen sie den Rest der Fahrt.

 

Es dauerte noch eine weitere Stunde, die sie durch den Wald fuhren, bis sie ein kleines Dorf erreichten. Vor dem großen Holztor kam der Geländewagen zum Stehen und Hitomi fuhr ihr Seitenfenster hinunter.

Ein Wolfsmann trat an das Auto: „Ahh, Hitomi! Schön dich endlich wieder zu sehen! Was führt dich zu uns?“ Er trug ein langes Gewand und heute ein freundliches Gesicht.

„Hallo Janes! Ich bin nur kurz hier, um den kleinen Bengel zurückzugeben.“ Sie deutete schmunzelnd auf den Rücksitz.

Der Wolfsmann Janes blickte durch die Fenster, erblickte Chid und lachte: „Na dann! Zum Fundbüro geht es dort lang!“ Hitomi lachte herzlich und Van spürte, wie Hitomi die Anspannung verließ als sie in das Dorf hineinfuhren. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verriet Van, dass sie sich hier wohlfühlte.

 

Sie fuhren einige Minuten durch das Dorf, das wohl nur von außen so klein aussah. Vor einem großen Steingebäude kam der Jeep zum Stehen. Hitomi drückte zwei Mal auf die Hupe, was Chid sofort aufweckte. „Sind wir schon da?“, er rieb sich die Augen. Hitomi schnallte sich ab: „Jep.“ Sie stiegen aus dem Auto aus und die große Tür des Gebäudes öffnete sich. Heraus kam Merle, die Katzenlady, die noch am selben Tag ihrer Ankunft bei den Abaharaki wieder abgereist war. Sie fiel fast die Treppen hinab als eine Handvoll jubelnder Kinder aus dem Gebäude herauskam und sie fast umlief.

„Hitomiiiiiiiiii!!“, riefen sie im Chor und scharrten sich um die kleine Reisegruppe.

Wenn Hitomi nicht so eine unausstehliche Person gewesen wäre, hätte Van sich wahrscheinlich genau in diesem Moment in sie verliebt. Sie nahm alle Kinder in den Arm und sprach mit jedem einzelnen Kind ein paar kurze Worte, fragte nach seinem Befinden oder erzählte ihm eine lustige Geschichte. Das ging so lange bis sich Chid vor Hitomi schützend aufbaute und versuchte sich groß zu machen, indem er die Arme zu den Seiten hinausstreckte. „HeeeHeeee, lasst Hitomi in Ruhe. Sie war ganz doll krank und braucht immer noch Ruhe!“ Schlagartig wurde es still und die Kinder blickten Hitomi ängstlich an. Hitomi lächelte ihr schönstes Lächeln: „Keine Sorge, Chid. Mir geht es schon dank dir und deinem Besuch schon viel, viel besser! Siehst du, ich bin schon wieder ganz stark!“ Mit diesen Worten packte sie Chid unter den Armen und lief durch den Garten. Die restlichen Kinder liefen ihr lachend hinterher.

 

Van beobachtete belustigt das Treiben vor ihm als Merle sich zu ihm stellte. „Sie scheint ja wirklich ganz fit zu sein. Ihr blaues Auge ist wieder verschwunden.“ Van war für einen Moment ganz verblüfft. Es war ihm gar nicht aufgefallen. Sie trug zwar noch den Verband um ihren Arm, aber die Schiene trug sie nicht. Außerdem humpelte sie gar nicht mehr. Wie konnte das sein? So schnell konnte sich doch keiner von solchen Verletzungen erholen und niemand schien es zu verwundern!

Merle riss ihn aus seinen Gedanken. „Hitomi! Komm! Ruhm wartet schon im Arbeitszimmer auf dich!“

Hitomi setzte Chid wieder auf dem Boden ab. „Tut mir leid, ihr Süßen. Aber ihr habt Merle gehört.“ Die Kinder protestierten. „Keine Sorge, ich komme euch bald wieder besuchen und habe dann mehr Zeit zum Spielen, ja? Und jetzt seid brav und geht weiterspielen.“ Hitomi klopfte ihre Hose ab und ging die Treppen zum Haus hinauf. Merle und Van folgten ihr.

 

Das Gebäude war also das Waisenhaus von dem Hitomi erzählt hatte. Es war gemütlich eingerichtet. Überall lagen Spielsachen und Plüschtiere. Es sah aus wie das Heim einer Großfamilie und Van konnte sich gut vorstellen, dass es den Kindern hier gut ging.

Als sie durch das Haus schritten, bemerkte Merle Richtung Van: „Oben wohnen die großen Kinder.“

„Und wie lange bleiben die Kinder hier?“

„Bis sie sechzehn sind. Die meisten gehen dann nach Pallas um zu arbeiten. Viele wollen zu Hitomi und sich den Abaharaki anschließen.“, sagte Merle nachdenklich. Es wirkte, als wäre sie nicht sehr glücklich über Hitomis Tätigkeiten.

„Und sie werden Mitglieder?“

„Nein“, sagte Merle entscheiden, „Hitomi lässt es nicht zu. Schließlich geht es bei den Abaharaki darum, die Kinder davor zu bewahren, ein solches Leben führen zu müssen.“ Van konnte nicht anders, als ein wenig Stolz zu verspüren. Hitomi und die Abaharaki hatten einen Ehrenkodex und daran hielten sie sich.

Sie blieben vor einer Tür stehen und Hitomi klopfte leise an dieser.

 

In dem Arbeitszimmer stand gerade ein älterer Wolfsmann von seinem Schreibtisch auf. Er kam Van sehr bekannt vor. „Hitomi, es ist schön dich zu sehen. Merle erzählte mir von deinem Zwischenfall mit dieser Gang.“ Er blickte sie ernst an.

„Ruhm, es ist alles gut gegangen. Ich stehe doch vor dir.“, Hitomi starrte zu Boden und scharrte mit den Füßen. Erstaunlicherweise war sie ganz kleinlaut geworden.

Er atmete tief aus: „Da hast du Recht. Ich bin froh, dass es dir gut geht.“ Er war riesig, fast zwei Köpfe größer als Van. Als er Hitomi in den Arm nahm, sah sie aus, wie ein kleines Kind. Als Ruhm sich aus der Umarmung löste, drehte er sich zu Van.

„Wie ich sehe bist du in Begleitung von Van Fanel.“ Van stand der Mund offen und er sah kurz zu Merle rüber.

Die hob die Hände in die Höhe und rief: „Mich brauchst du nicht anzustarren, auch wenn ich es gerne erzählt hätte, hab ich die Klappe gehalten.“

„Das stimmt, Merle hat mir nichts erzählt. Ich kannte deinen Vater sehr gut Van. Du siehst genauso aus, wie er als er deinem Alter war.“ Ruhm lächelte ihn gütig an. „Er war ein großer Mann, der diese Welt viel zu früh verlassen musste.“ Van hatte einen Kloß im Hals, viel zu oft wurde in den letzten Tagen an seine Eltern erinnert. „Hitomi kommt auch genau nach ihrem Vater. Das haben wohl fanelische Kinder an sich.“ Ruhm lachte und sein tiefes herzliches Lachen durchströmte den ganzen Raum. Wieso fühlte Van sich bei all diesen Menschen nur so wohl? Er beneidete Hitomi von all diesen warmherzigen Menschen umgeben zu sein. Er hätte diese Wärme auch gerne gespürt.

 

„Also Hitomi, willst du mir vielleicht erzählen, weshalb du höchstpersönlich Chid zurückgebracht hast?“, fragte er Hitomi um die er noch immer einen Arm gelegt hatte. Wieder blickte Hitomi zu Boden.

„Das hatte keinen Hintergrund, Ruhm. Ich wollte die Kinder alle wiedersehen, schließlich habe ich mich ja einige Zeit nicht blicken lassen.“ Van konnte es nicht fassen. Hitomi war eine miserable Lügnerin. Zumindest kaufte ihr keiner im Raum ihre Erklärung ab.

Ruhm, der ihre Lüge offensichtlich durchschaut hatte, spielte allerdings mit: „Na dann freut es mich, dass du uns besucht. Dass ihr uns besucht. Dann gibt es heute zur Feier des Tages ein prächtiges Abendessen und ihr nächtigt natürlich auch bei uns! Die anderen werden sich freuen, auch mal was von dir zu haben Hitomi.“ Ha! Jetzt hatte er sie. Van musste sich den Bauch halten, um sein Lachen zu unterdrücken. Hitomi öffnete den Mund und blickte Ruhm an. Er lächelte einfach nur zurück und sie verkniff es sich, etwas zu entgegnen. Stattdessen sagte sie ein wenig zerknirscht: „Fein Ruhm, wir bleiben gerne. Es ist eh schon zu spät, um noch weiter zu fahren.“ Merle klatschte freudig in die Hände und Ruhm legte seine großen Hände auf Hitomis kleine Schultern und drehte sie um: „Prima, dann geht euch mal nützlich machen.“, und schob Hitomi Richtung Tür.

 

Den restlichen Nachmittag verbrachten Van und Hitomi damit im Dorf zu helfen und mit den Kindern zu spielen. Nach einem prächtigen Abendessen bei Ruhm und seiner Frau zu Hause saßen sie in seinem Garten an einem Lagerfeuer. Es stießen noch andere Wolfsmenschen dazu, unter anderem auch Janes, der sie mittags am Tor begrüßt hatte. Mit einer Gitarre in den Händen setzte er sich neben Hitomi ans Lagerfeuer und begann zu spielen. Ein fanelisches Volkslied. Als er das Lied beendete schwiegen alle. Jeder schaute nachdenklich ins Feuer und erinnerte sich an die alte Heimat. Es war ein schöner Moment indem man vergessen konnte, welch Leid in der Welt derzeit herrschte. Van saß Hitomi gegenüber und sah sie durch die Flammen an. Als Janes ein weiteres Lied sang, schloss sie ihre Augen und lehnte ihren Kopf lächelnd an Ruhms Schulter an. Die Flammen verursachten ein wunderschönes Lichtspiel auf ihrem Gesicht. Ruhm legte den Arm um ihre Taille und drückte an sie an sich. Sie gaben ein schönes Bild ab und jeder konnte sehen, dass Ruhm väterliche Gefühle für Hitomi hegte.

 

„Wenn du so weiter starrst, fallen dir noch die Augen ab.“ Van schreckte aus seinen Gedanken hoch. Merle hatte sich neben ihn gesetzt. „Ich starre nicht, ich habe nachgedacht.“, konstatierte Van.

„Wer’s glaubt.“, lachte Merle, „du bist auch nur ein Mann. Ich sehe doch, wie du sie anschaust.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“, stellte Van sich dumm. Dabei wusste er sehr wohl, was sie meinte. Auf unerklärlicherweise fühlte er sich zu der jungen Frau hingezogen. Sie war anders als die Frauen, die er kannte. Sie war voller Gegensätze. Zart und hart. Eingebildet und Einfühlsam. Sie war egozentrisch und doch opferte sie sich auf. Vor allem war ihr Wille ungebrochen. Vielleicht imponierte genau das Van am meisten.

„Hör mal Van…“, setzte Merle an, „Ich weiß, es ist schwierig mit Hitomi manchmal. Aber sie meint es nur gut. ZU gut. Sie vergisst sich, denkt nur an andere, an ihr großes Ziel. Sie braucht jemanden, der sie vor sich selbst beschützt.“

„Ich glaube nicht, dass sie jemand ist, der sich gerne von einem Kerl beschützen lässt.“, sagte Van trocken.

„Ach Papperlapapp“, schnaubte Merle, „sie ist auch nur eine Frau und insgeheim hat jede Frau, egal wie stark sie auch ist, gerne einen starken Mann an ihrer Seite… Spaß beiseite Van, es hat sich was geändert. Ich glaube, es brechen nun härtere Zeiten an und dass ihr einfach so in Pallas rumlauft, ist nicht unbedingt das Klügste.“ Merle stand auf und ging in das Haus.

Langsam erlosch das Feuer und Ruhm setzte sich auf: „Ich denke, es wird Zeit schlafen zu gehen. Kommt ich zeige euch euer Zimmer.“

Hitomi schreckte auf: „UNSER Zimmer?“ Und auch Van schaute Ruhm verwundert an.

Ruhms Frau meldete sich zu Wort: „Also Hitomi, ich bitte dich. Du kennst dich doch hier aus! Sind wir hier etwa ein Hotel? Wir haben nicht Zimmer im Überfluss zu vergeben.“

Hitomi antwortete nichts mehr sondern folgte Ruhm ins Haus. Van blieb noch einen Moment stehen. Hitomis Reaktion war wenig schmeichelhaft, es versprach noch eine interessante, gemeinsame Reise zu werden.

 
 

***
 

 

Im Gästezimmer in Ruhms Haus angekommen, stellten Van und Hitomi ihre Taschen auf dem Bett ab, das in der Mitte des Raums stand. Hitomi ließ den Blick durch den Raum schweifen auf der Suche nach etwas, dass das Bevorstehende vermeiden konnte: ein Sofa, eine zweite Matratze, ein großes Kissen, IRGENDWAS! Doch sie kannte den Raum bereits, schließlich schlief sie immer hier, wenn sie in Arzas zu Besuch war. Es war vergebens. Ihr Blick ging zurück zu Van, der ihr gegenüber an der anderen Seite des Bettes stand und sie schelmisch ansah. „Was?!“, blaffte sie ihn an.

Er lächelte und Hitomi konnte seine perfekten weißen Zähne sehen, die sie in einer Reihe anstrahlten: „Die Frage kann ich gerne zurückgeben. Du hast doch nicht etwa ein Problem damit, mit mir in einem Bett zu schlafen? Du, die du dein ganzen Leben lang nur unter Männern gelebt hat?“

Hitomi spürte die Wut in sich aufsteigen. Er machte sich über sie lustig. Lässig versuchte sie zu entgegnen: „Das mag sein, aber das waren ja auch schließlich alles Männer, die ich ausstehen konnte.“

Van zog sein T-Shirt aus und stopfte es in seine Tasche. Er atmete tief durcg und spukte ihr dann entgegen: „Was ist eigentlich dein Problem Hitomi? Du spielst hier mit mir Hot’N’Cold! Erst rettest du mich, dann feindest du mich an und so geht das schon die ganze Zeit!“ Hitomi wusste darauf keine Antwort. „Keine Sorge, ich würde nicht im Traum daran denken, dich anzurühren.“ Autsch, der hatte gesessen. „Ich geh jetzt Duschen, macht es dir was aus?“ Hitomi schüttelte wortlos den Kopf und Van ließ sie im Zimmer zurück und ging ins Bad. Was war eigentlich ihr Problem? Und warum tat es ihr weh, dass er sie nicht begehrenswert fand?

 

Sie wechselte ihre Kleidung in eine Shorts und ein weites Shirt, löschte das Licht im Zimmer und legte sich in das Bett.

Noch immer schweiften ihre Gedanken um Van und seine Provokationen. Demonstrativ legte sie sich weit in die Mitte des Bettes, sodass Van, ob er wollte oder nicht, sie anrühren musste, wenn er in diesem Bett schlafen wollte.

Nach einigen Minuten schalt sie sich: „Was willst du eigentlich Hitomi? Bist du so verzweifelt auf der Suche nach Anerkennung durch die Männer in deinem Leben?“ Seufzend rutschte sie wieder an den Rand des Bettes und versuchte einzuschlafen. Nein, diesmal ging es ihr nicht um die Anerkennung irgendeines Mannes. Nein. Es passte ihr nicht, dass Van, zu dem sie sich aus irgendeinem Grund hingezogen fühlte, nicht das Gleiche empfand.

Es dauerte noch eine Weile bis sie es schaffte einzuschlafen. Ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit um Van im Badezimmer nebenan. Es machte sie nervös und dass es sie nervös machte, machte sie wütend!

Ihr Vorhaben schnell einzuschlafen, wurde dadurch gestört, dass Van das Bad bereits wieder verlassen hatte und auf seine Seite des Bettes schlüpfte. Sein Duft erfüllte den ganzen Raum und Hitomi musste das Bedürfnis unterdrücken, die gesamte duftende Luft durch die Nase einatmen zu wollen. Sie lagen nur weniger Zentimeter voneinander entfernt und Hitomi konnte ihren Herzschlag bis in den Kopf und die Wärme, die er ausstrahlte an ihrem Körper fühlen. Sie lag mit dem Rücken zu ihm und sie hörte, wie er sich mit dem Gesicht zu ihr drehte. Langsam entspannte sich Hitomi wieder, als sie Van flüstern hörte: „Es tut mir leid, das habe ich nicht so gemeint.“

Ein wenig erleichterter glitt Hitomi in einen tiefen Schlaf.

 

Als Hitomi am nächsten Morgen aufwachte, wunderte sie sich, warum sie sich so erdrückt fühlte. Es dauerte einige Momente bis sie realisierte, dass sie unter zwei Decken lag. Van war nicht zu sehen. Hatte er etwa heute Nacht bemerkt, dass sie fror und sie mit seiner Decke zugedeckt? Der Gedanke entzückte sie und trieb ihr gleichzeitig Übelkeit, wegen ihrer Albernheit, in den Magen.

Sie schob die Gedanken an Van beiseite und schwang sich aus dem Bett. Sie duschte schnell und zog sich frische Kleidung – ihre Lieblingskombi: enge Jeans und T-Shirt mit weitem V-Ausschnitt – an.

 

Unten in der Küche traf sie auf Ruhm, seine Frau und Van, die bereits am Küchentisch saßen und frühstückten. „Aaahh“, sprach Ruhm und grinste sie an, „ist die Prinzessin auch mal wach.“

Hitomi setzte sich zu ihnen an den Tisch: „Ja, ich musste ein wenig Schlaf nachholen, schließlich musste ich vorige Nacht mein Bett mit Chid teilen und das war für mich keine bequeme Sache.“

„Schon gut, Hitomi. Das war nur ein kleiner Witz.“, beschwichtigte Ruhm sie. „Und jetzt erzähl mir, was wirklich dein Plan ist.“ Ruhm blickte sie eindringlich mit seinem ‚Ich-tu-so-als-wäre-ich-dein-Vater-Blick‘ an und Hitomi musste seufzen. Was brachte es schon Ruhm anzulügen, er war schließlich immer auf ihrer Seite, egal was für verrückte Ideen sie hatte. „Wir fahren zurück nach Pallas, aber diesmal ins Zentral-Distrikt. Ich bin auf der Suche nach einem Oligarchen. Sein Name ist Dryden Fassa.“

„Und was möchtest du von diesem Mann?“, fragte Ruhms Frau sorgenvoll nach.

„Das weiß ich selber noch nicht so genau. Er ist reich, hat viele Kontakte und auf der Straße sagt man sich, er wäre Gegner des Zaibacher Regimes.“ Hitomi biss in einen ein Apfel, kaute ein paar Mal und sagte mit noch vollem Mund: „Ich habe da ein, zwei Anlaufstellen aufgesucht, die mir sagen konnten, wo ich ihn suchen muss. Aber vorher müssen wir Allen auf seinem Stützpunkt besuchen.“ ‚Klirr‘ Alle blickten verwundert zu Van, der genau in dem Moment als Hitomi Allens Namen erwähnte, sein Besteck aus der Hand fallen ließ.

Van räusperte sich kurz und sprach: „Und wieso müssen wir zu Allen? Also ich glaube, er ist sicherlich nicht sonderlich erfreut von deinem Plan zu hören!“

Hitomi rollte mit den Augen. Wieso glaubte eigentlich jeder Kerl auf dieser Welt ihr sagen zu müssen, was richtig oder falsch wäre.

„Es bleibt uns nichts anderes übrig, Van. Ich habe ein Auto voller Waffen und ich habe keine Lust andauernd in Kontrollen zu geraten. Ich glaube, du hast keine Ahnung, wie es da draußen zugeht. Mit Allens Hilfe können wir die vielen Checkpoints einfach durchfahren. Und ab jetzt werde ich nicht mehr in Frage gestellt, schließlich gehörte es eigentlich nicht zu meinem Plan, dass du mitkommst.“

Hitomi hoffte Van damit in seine Schranken verwiesen zu haben. Dieser Kerl machte sie noch wahnsinnig.

 

Nach dem Frühstück bei Ruhm gingen sie nochmals ins Waisenhaus. Hitomi wollte sich von den Kindern und Merle verabschieden. Es war bereits früher Mittag, als sie es endlich schafften ins Auto zu steigen.

Ruhm stellte sich an die Fahrerseite und Hitomi ließ das Fenster hinunter.

„Passt auf euch auf, Hitomi. Ich spüre, dass etwas Schreckliches passieren wird.“

„Keine Sorge, Ruhm. Ich habe alles im Griff.“ Hitomi startete das Auto und blickte starr auf die Straße vor sich. Ruhms letzter Satz klang noch in ihrem Ohr. Es ängstigte sie, denn von einem schrecklichen Ereignis hatte auch sie letzte Nacht geträumt. Sie wusste nicht, was und wann es passieren würde; in ihrem Traum sah sie nur die Flamen und spürte die unendliche Traurigkeit, die sie überrollte.

 

Es dämmerte bereits als sie Pallas und den Stützpunkt unter Allens Kommando erreichten. Glücklicherweise waren sie hier angelangt, ohne irgendwelche Kontrollen über sich ergehen lassen zu müssen. Sie parkte den Geländewagen in einer dunklen Seitenstraße vor den Toren des Stützpunktes und bedeutete Van mit auszusteigen.

Auf dem Fußweg zum Stützpunkt fragte Van Hitomi: „Und wir marschieren jetzt hier einfach in irgendeinen militärischen Stützpunkt der asturischen Armee ein?“

„Nicht irgendeinen“, erwiderte Hitomi, „Allens Stützpunkt. Man kann sagen, dass er und seine Männer sozusagen auf unserer Seite sind. Wir können ihnen vertrauen. Dort -“, sie zeigte mit dem Finger auf einen Eingang rechts von ihnen, „dort ist der Eingang für Soldaten, die hier wohnen, dort kommen wir schnell durch.“

Hitomi ignorierte Vans skeptischen Blick und ging einige Schritte vor. Sie mochte es nicht so lange unbewaffnet durch die Straßen Pallas‘ zu gehen. Der Stützpunkt war von hohen Mauern umgeben, grelle Scheinwerfer erleuchteten die Straße und Videokameras verfolgten die beiden jungen Menschen als sie sich dem Stützpunkt näherten. Am Eingang angekommen, wartete sie ab, dass Van sie einholte. Sie klappte eine kleine Metallbüchse auf, die an der Wand neben der Tür montiert war. Ein Tastenfeld kam zum Vorschein. Sie tippte den Sicherheitscode ein, den Allen ihr vor einiger Zeit gegeben hatte, die Tür summte und öffnete sich automatisch.

 

Sie betraten einen kleinen Übungsplatz. Hitomi ging zielsicher auf den Wachturm zu, an deren Tür wartete bereits ein Soldat auf sie. Er war groß, hatte blondes, kurzes Haar und eisblaue Augen. Er war in einer dunklen Uniform gekleidet, trug schwere Stiefel und in seinen Händen hielt er ein großes Maschinengewehr.

„Hallo Hitomi! Schon der nächste Besuch in so kurzer Zeit?“ Er warf ihr einen skeptischen Blick zu.

„Hi Chesta, ja ich konnte es einfach nicht abwarten, euch wieder zu sehen.“, lächelte Hitomi den Soldaten vor ihr an und legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Arm.

„Nun ja, wir haben gehört, was dein letzter Besuch für Folgen hatte.“, antwortete Chesta und musterte Van mit argwöhnischen Augen.

„Naja, du kennst mich ja, ich bin immer für ein wenig Action zu haben!“, kicherte Hitomi und kam sich dabei unendlich dumm vor. Doch es war notwendig das kleine süße Mädchen zu spielen, um sich die Gunst bei den Soldaten zu bewahren. „Ich suche Allen.“, fügte sie noch hinzu. Chesta drehte sich um, um wieder in den Wachturm zu gelangen. „Du weißt ja, wo du ihn findest.“

Hitomi gefiel der verheißungsvolle Ton in seiner Stimme nicht, doch entschied sich das unkommentiert zu lassen. Stattdessen ging sie auf den Gemeinschaftsraum des Stützpunktes zu, Van folgte ihr wortlos und Hitomi war dankbar, dass er die Klappe hielt.

 

Im Gemeinschaftsraum angekommen, wurde es schlagartig still, als sie den Raum betrat. Die Männer die an einem Tisch in geselliger Runde saßen, sahen auf. Unter ihnen auch Allen. Für einen kurzen Augenblick schien Hitomi Freude in seinen Augen zu erkennen, doch dann fiel sein Blick auf Van hinter ihr und sein Gesicht versteinerte sich. „Hallo Allen, könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“ Wortlos stand Allen auf und ging auf die Tür eines Nebenzimmers zu. Hitomi setzte sich in Bewegung ihm zu folgen. „Jungs? Könnt ihr kurz meinen Freund Drago hier beschäftigen?“, wieder lächelte sie ihr süßestes Lächeln. „Kein Problem Hitomi! Komm Drago setz dich zu uns, wir haben hier frischen, sichergestellten Whiskey!“, rief Gatti, einer der Offiziere unter Allens Kommando aus. Die anderen Soldaten lachten.

 

Hitomi betrat das Zimmer in dem Allen auf sie wartete und wappnete sich bereits für den Streit, den sie sicherlich gleich haben würden. Allen stand in der Mitte des Zimmers, lediglich eine Kerze auf dem Tisch hinter ihm erhellte den Raum ein wenig. Hitomi konnte nur schwer seine Gesichtszüge ausmachen. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, das oben locker aufgeknüpft war. Seine langen, blonden Haare hatte er zu einem losen Zopf zusammengebunden. Er hatte die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt und seufzte: „Na, was hast du dieses Mal vor, Hitomi.“

Das fing ja gut an, dachte sich Hitomi. „Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Allen. Ich habe vor einige Nachforschungen in der Stadt anzustellen und brauche dafür einen Armeepass für mein Auto.“ Innerlich ging Hitomi in Deckung, denn sie wusste, was jetzt kommen würde.

„Nachforschungen? Wirklich Hitomi? Für wie blöd hältst du mich?“, knurrte Allen und Hitomi verkniff es sich mit Sarkasmus auf diese rhetorische Frage zu antworten. „Ich weiß, was du vorhast. Du willst diesen Fassa suchen und glaubst, weil du Fanel im Schlepptau hast, wird er mit dir reden wollen und dir helfen, deine große Revolution anzuzetteln! Pah!“, Allen warf die Arme in die Luft und drehte sich um. Am Tisch hinter sich stützte er die Hände ab und sah in die kleine Flamme der Kerze.

Ruhig Blut, Hitomi, versuchte sie sich einzureden. Hier war kein Platz für Stolz.

„Allen, ich bitte dich, mir zu helfen. Du weißt, ich werde mit oder ohne deine Hilfe nach ihm suchen. Muss ich auf deine Hilfe verzichten, weißt du, wie es für mich enden kann, doch ich bin bereit dieses Risiko einzugehen.“ Allen drehte sich blitzartig um.

„Das Risiko eingehen? Weißt du eigentlich, wie gefährlich es hier für dich geworden ist? Wenn dich die anderen Soldaten schnappen und sie erfahren, wer du bist, erschießen sie dich gleich an Ort und Stelle.“

Hitomi lächelte müde: „Das ist ein Zustand an den ich mich gewöhnt habe, Allen. Ob es deine Männer sind oder die Black Dragons, irgendjemand will mich immer tot sehen. Aber du kannst mir helfen, diesen Tod hinauszuzögern.“ Die Ohne-dich-bin-ich-tot-Karte zog fast immer bei Allen. Hitomi hatte ein schlechtes Gewissen, Allen so auszunutzen, nach allem, was er bereits für sie getan hatte. Doch ihre Mission war wichtiger als irgendwelche Zwischenmenschlichkeiten.

Allen trat näher auf Hitomi zu und sie wich instinktiv nach hinten zurück.

„Dann ändere diesen Zustand Hitomi!“, er ging weiter auf sie zu und trieb sie gegen die Wand hinter sich.

„Allen…“ Hitomi war zwischen der Wand und Allen, der seine Arme rechts und links von ihr an der Wand abstützte, gefangen. Er beugte sich zu ihr hinunter, um ihr in die Augen sehen zu können. Sie roch den Alkohol in seinem Atem.

„Hitomi. Ich kann das nicht mehr aushalten. All die Jahre liebe ich dich und du ignorierst mich und meine Angst um dich. Du liebst mich immer noch, ich weiß es.“ Mit diesen Worten neigte er sich weiter zu ihr hinab bis seine Lippen ihre berührten. Hitomi war zu perplex, um reagieren zu können.

Er hatte Recht, irgendwo tief in ihr liebte sie ihn immer noch so wie vor neun Jahren, als sie ihn das erste Mal sah. Sie schloss die Augen und erwiderte seinen Kuss. Es war zum Verrücktwerden mit Allen. Zeitweise begehrte er sie und plötzlich änderte sich seine Stimmung und er bevormundete sie, als wäre sie ein kleines Kind. Doch sie konnte sich seiner Anziehungskraft nicht erwehren.

Allen drängte sich dichter an sie und intensivierte den Kuss. Seine Hände glitten nun um ihren schmalen Körper und er drückte sie fester an sich.

Hitomi vergaß alles um sich herum und wollte sich ihm hingeben, doch dann erschien Chid vor ihrem inneren Auge und sie riss die selbigen auf. Sie stemmte ihre Hände gegen Allens Brust und versuchte den Kuss zu unterbrechen. Allen ließ ein wenig von ihr ab, um sie ansehen zu können.

„Hitomi, ich bitte dich. Verlass die Abaharaki und bleib bei mir. Ich kann dich hier beschützen.“

Hitomi blickte zur Seite: „Du weißt, dass ich das nicht kann Allen.“ Er ließ sie los und donnerte seine rechte Faust neben ihr gegen die Wand und schrie: „WARUM NICHT?“

Hitomi versuchte sich nicht von ihm einschüchtern zu lassen: „Denk an Chid. Denk an die anderen Waisenkinder. Denk an mich, als du mich damals das erste Mal getroffen hast. Ohne die Abaharaki würde diese Stadt zu Grunde gehen und das weißt du.“

Allen ließ die Faust sinken und blickte zu Boden. „Warum hast du nicht vertrauen in mich? Warum können Gaddes und die anderen das nicht alleine fortführen?“

Er wartete Hitomis Antwort nicht ab, sondern drückte seine Lippen wieder auf die ihrigen. Diesmal erwiderte sie den Kuss nicht, sondern versuchte sich aus seinen Armen zu wenden, doch er hielt sie nur fester. Mit ihrer rechten Faust verpasste sie ihm einen Haken in die Magengegend und er ließ kurz von ihr ab. „Hör auf damit Allen! Lass mich LOS!“, schrie sie ihn an, doch Allen ließ sich nicht abbringen und wollte sich wieder an sie drängen, als plötzlich die Tür zum Zimmer sich öffnete, Van im Türrahmen erschien und sah wie Allen Hitomis Arme fest gepackt hatte.

„Ist hier alles in Ordnung, Hitomi?“, fragte Van scheinheilig, er hatte die Situation offenbar sofort durchschaut und warf Allen einen zornigen Blick zu. Allen ließ seine Hände langsam von Hitomi ab.

„Ja.“, antwortete Hitomi knapp und stieß Allen weiter von sich weg. „Bekomme ich jetzt den Pass, oder nicht?“

Allen schaute Hitomi nicht mehr an. Seine Augen hafteten an Van und er nickte stumm. Er verließ den Raum, als er bei Van ankam blieb er stehen und sprach ohne Van dabei anzusehen: „Pass gut auf sie auf, …Drago.“

 

Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, verließen Hitomi und Van den Stützpunkt und gingen zum Wagen. Hitomi überlegte, ob sie Van danken sollte, entschied sich aber dagegen. Es war ihr unangenehm, dass Van sie und Allen so gesehen hatte und insgeheim war sie froh, dass Van nicht weiternachfragte.

 

Sie fuhren noch eine weitere Stunde durch die Stadt. Durch den Armeepass den Hitomi an die Windschutzscheibe ihres Wagens klebte, wurden sie an den zahlreichen Checkpoints durch gewunken. Das Stadtbild veränderte sich. Es wurde dunkler und schmutziger. An vielen Stellen konnten sie Obdachlose sehen, die auf der Straße lagen oder sich, um brennende Mülltonnen versammelt, die Hände wärmten. Sie waren im Zentral-Distrikt angekommen. Es war eine zwielichtige Gegend. Als Hitomi das Auto am Straßenrand parkte, sprach Van als erstes wieder: „Und was machen wir jetzt?“

Hitomi stieg auf ihren Sitz um auf die Rückbank zu klettern. „Dort drüben, siehst du das?“ Sie zeigte auf ein hellerleuchtetes Hochhaus, dessen Glasfassade mit bunten Scheinwerfern angeleuchtet wurde. „Da im Erdgeschoss siehst du den Eingang zu einem Club. Dort feiern die Reichen, die Schönen und die Abscheulichen. Mitten im Elend der Stadt, zwischen Obdachlosen und Straßenkindern, die unter freiem Himmel verrecken.“, Hitomi war angewidert, doch so funktionierte Pallas nun mal. Fressen oder Gefressen werden. „Dieser Club ist neu und ich habe von einem der Straßenkids gehört, dass dieser Club Dryden Fassa gehören soll und er sich selbst regelmäßig dort aufhält.“

Van erblickte die lange Schlange vor dem Club und fragte: „Und wie gedenkst du dort reinzukommen? Es sieht mir nicht so aus, als ob da Jedermann feiern dürfte.“

Hitomi musste lächeln: „Lass das ruhig meine Sorge sein. Erstmal machen wir uns schick.“ Mit diesen Worten zog sie ihr T-Shirt aus und warf es Van ins Gesicht. „Nicht gucken, ich muss mich umziehen.“

 

Es war nicht einfach, sich auf der Rückbank eines Autos umzuziehen und Hitomi war glücklich, dass die hinteren Scheiben ihres Wagens getönt waren. Sie versuchte nicht darauf zu achten, doch glaubte sie gesehen zu haben, wie Van sie im Rückspiegel beobachtete. Sie kam sich dumm vor, doch irgendwie schmeichelte ihr der Gedanke.

 

Nach einigen Minuten Kampf mit der Kleidung und ein wenig Make-Up stieg Hitomi aus dem Wagen aus. Van tat es ihr gleich. Als er sie sah, blieb ihm der Mund offen stehen und Hitomi errötete ein wenig. Sie hatte ihre Jeans und ihr T-Shirt gegen ein kurzes, smaragdgrünes Cocktailkleid eingetauscht. Es war schulterfrei und lag eng am Oberkörper. Es gab einen guten Blick auf ihr Dekolletee frei, dass sie mit dem richtigen BH unter dem Kleid betonte. Dazu trug sie schwarze Pumps mit roter Schuhsohle, die ihre Beine noch länger wirken ließen. Den Verband an ihrem Arm und den an ihrem Bein hatte sie entfernt. Es war nichts mehr von ihren Verletzungen zu erkennen. Vans Reaktion stellte sie zufrieden. Sie wedelte nochmals ihr schulterlanges Haar durch, um ihm mehr Volumen zu verliehen und schritt voran. Sie ergriff dabei Vans Hand und zog ihn mit sich.

 

Zielstrebig ging sie an der langen Schlange vorbei und drängte sich vor die ersten, die in der Schlange warteten vor das rote Samtband. Die Leute hinter ihr protestierten und stöhnten auf.

„Heee, schöne Frau. So geht das aber nicht!“, sprach der bullige Türsteher hinter dem Band und ließ dabei seine Augen über Hitomis Körper gleiten. Er ekelte Hitomi an und sie erschrak als Van plötzlich seinen Arm um ihre Taille legte. Sie gewann wieder an Selbstvertrauen und antwortete kokett: „Ich weiß gar nicht, was du meinst.“

„Du glaubst wohl, du kommst hier einfach an mir vorbei, Süße. Sorry, der Club ist voll. Aber du kannst gerne mit zu mir kommen, ohne deinen Aufpasser selbstverständlich.“, der Türsteher leckte sich über die Lippen und Hitomi musste ihren Würgereiz unterdrücken. Sie fasste sich und ging einen Schritt vor und sah dem Türsteher trotzig in die Augen. „Ich glaube nicht, dass der Club voll ist, Zongi. Ich glaube, du wirst mich und meinen Freund hier schön reinlassen und ich glaube, ich werde dann Allen Shezar und seiner Armee nichts von deiner illegalen Schnapsbrennerei erzählen, die du am Hafen betreibst. Glaubst du nicht auch?“

Der Türsteher sah sie zornig an, doch sie hatte gewonnen. Er öffnete das Band, so dass Hitomi und Van hindurch gehen konnten und den Club betreten konnten. Beim Vorbeigehen zischte er: „Abaharaki-Miststück.“ Hitomi war es egal, dass er sie erkannt hatte. Er war nur ein kleiner Gauner, dem keiner Beachtung schenkte. Vor der Tür bemerkte Van: „Nicht schlecht, kleine Erpresserin.“

„Tja, mir traut keiner zu, dass ich mich ausreichend vorbereite. Und überhaupt: Ich bin nicht klein.“ Hitomi musste schmunzeln und freute sich darüber auch endlich mal Lob geerntet zu haben.

 

Im Club war es dunkel, nur das Stroboskoplicht erhellte im Einklang mit dem dröhnenden Bass den großen Saal. Es war brechend voll und die Gäste bewegten sich ekstatisch zur Musik. Es war so laut, dass man kaum sein eigenes Wort verstand und Hitomi versuchte per Handzeichen Van deutlich zu machen, mit zur Bar zu kommen.

 

Im Barbereich war es zum Glück ein wenig leiser. Hitomi und Van drängelten sich durch die Menge und kämpften sich an den Tresen heran. Hinter der Bar stand ein kleiner, dicker Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte. Er hatte eine Halbglatze und trug eine getönte Brille. Er schnitt gerade ein paar Limetten in Spalten, als Hitomi zu ihm rief: „Zwei Wodka ohne Eis, bitte!“ Der kleine Mann schaute über seine Brille hinweg auf und erblickte Hitomi. „Ah. Hitomi. Das ist ja nett, dass du mich an meinem neuen Arbeitsplatz besuchst.“ Er drehte sich um und holte zwei Schnapsgläser aus dem Regal und stellte diese vor sich ab.

„Hi Mole, ich hatte gehofft, mit deinem Boss reden zu können.“, rief Hitomi und beugte sich dabei über den Tresen, wohl bedacht ihm einen guten Einblick in ihr Dekolletee bieten zu können. Mole schaute kurz hin und lachte dann. „Du brauchst dich nicht so anzustrengen, Schätzchen. Er wird nicht kommen.“ Hitomi ließ sich auf den Barhocker hinter sich zurückfallen. „Wieso will er nicht mit mir reden?! Kannst du nicht doch versuchen, ihn herzuholen? Ich hab hier jemanden, den ich ihm vorstellen möchte!“, sagte Hitomi und zeigte dabei auf Van, der gerade die beiden Schnapsgläser entgegen nahm.

Mole seufzte und griff nach einem Telefon. Er sprach mit vorgehaltener Hand in den Hörer und sah Hitomi dabei an. Dann schüttelte er den Kopf. Hitomi warf die Arme in die Höhe und drehte sich mit dem Hocker vom Tresen weg.

„Es hatte so gut angefangen.“, sagte Van und reichte ihr das Glas. Hitomi nahm es ihm ab und erwiderte: „Ohne Fassa komme ich einfach nicht weiter.“ Sie hielt ihm das Glas zum Anstoßen hin und trank den Wodka in einem Schluck. Sie war frustriert. Ständig hatte sie mit irgendwelchen Männern zu kämpfen. Ständig musste sie irgendwelche Männer um etwas anbetteln. Ständig verwehrten ihr irgendwelche Männer etwas. Sie dachte an ihren Vater, der sie immer darin bestärkt hatte, sich nie unterkriegen zu lassen, nur weil sie ein Mädchen war. Es ist nicht so einfach, wie du glaubtest Vater.

 

Hitomi blickte zur Seite und wunderte sich, weshalb Van sie nicht tadelte. Gaddes hätte an dieser Stelle einen sarkastischen Kommentar nach dem anderen abgelassen. Doch Van blickte sie einfach nur an, ohne jeglichen Vorwurf und sie fühlte sich noch schlechter. Sie drehte sich zu Mole um. Noch einen bitte? „Für mich nicht!“, warf Van ein und Hitomi rollte mit den Augen. Jetzt war er auch noch verantwortungsbewusst, doch Hitomi war es egal. Jetzt war sie schon mal in einem Club, jetzt konnte sie auch mal ihren Frust ablassen.

 

Nach dem dritten Wodka spürte Hitomi, wie sich in ihr die Hitze ausbreitete. Sie fühlte sich leichter und hatte das Bedürfnis zu tanzen. Sie bestellte sich einen vierten Wodka stürzte diesen hinunter und kicherte Van an: „Lass uns tanzen, Vanny.“

Doch der lächelte sie nur entschuldigend an und erwiderte, „Das ist nicht so meine Musik.“ Hitomi haute ihm mit der flachen Hand gegen die Schulter. „Ich hab mich doch so hübsch gemacht!“

 

Alleine stapfte sie davon und betrat die Tanzfläche. Man hatte kaum Platz zum Tanzen, doch das war Hitomi egal. Sie bewegte sich im Einklang zur Musik und vergaß die Zeit. Irgendwann spürte sie starke Hände an ihren Hüften. Sie glaubte es war Van, der seine Hüften dich an ihren Po drückte und sich gemeinsam mit ihr zur Musik bewegte. Sie tanzten eine Weile in dieser Position bis die Hände an ihrem Körper langsam ihren Körper auf und ab wanderten. Hitomi wusste, dass der Alkohol sie enthemmte, doch sie ließ die Erregung zu. Sie schloss die Augen, um sich zu ihrem Tanzpartner umzudrehen. Seine Hände versteiften sich plötzlich und sie öffnete die Augen, um in ein paar blutrote Augen zu blicken.

„Dilandau!“ Der Angesprochene grinste und festigte den Griff um ihre Hüften, um Hitomi näher an sich heran zu drücken.

„So, so kleine Hitomi, ganz alleine hier? Ich wusste doch, dass du irgendwann von selbst zu mir kommen wirst.“

Der Alkohol machte Hitomi schwach, sie konnte sich nicht aus seinen Armen befreien. Er drückte sie noch näher an sich ran und säuselte in ihr Ohr: „Wie wär’s wenn du diesmal mit mir mitkommst, wir sind hier ganz unter uns, keiner meiner Männer ist hier vor dem ich dich quälen muss, ich werde dir eher etwas Gutes tun.“ Er lachte hämisch und neigte seine Lippen an Hitomis Hals und verteilte feuchte Küsse auf ihrem Dekolletee. Hitomi war schwindelig vom Alkohol, von der Musik und vom Ekel den sie Dilandau gegenüber empfand. Sie merkte wie ihre Knie unter ihr nachgaben, doch Dilandau hielt sie noch fest im Arm und machte sich daran sie von der Tanzfläche zu ziehen.

„Lass mich los, Dilandau!“ Hitomi versuchte sich zu wehren, doch Dilandau ignorierte sie, seine Hand umschloss fest ihren Oberarm und er zerrte rückwärts von der Tanzfläche. Allerdings wurde er am Weiterkommen gehindert, als er mit dem Rücken gegen Vans Brust stieß. Hitomi fühlte Erleichterung. Van stand unbeeindruckt auf der Tanzfläche eine Hand in der Hosentasche, in der anderen hielt er eine Bierflasche.

„Ich glaube, die Lady hat keine Lust auf deine Gesellschaft, Kumpel.“, rief Van.

„Ach verzieh dich du Spinner!“, Dilandau versuchte sich an Van vorbei zu drängeln, seine Finger gruben sich in Hitomis Arm hinein, doch Van wich keinen Zentimeter zurück. Van fackelte nicht lange und packte Dilandaus Handgelenk und riss sie von Hitomis Oberarm ab. „Sie gehört zu mir, also lass die Finger von ihr.“, spuckte Van Dilandau entgegen.

Dilandau holte aus und versuchte Van eins mit der Faust zu verpassen doch dieser ging in Deckung warf seine Flasche auf den Boden und verpasste Dilandau einen Kinnhaken. Er strauchelte zurück und stieß Hitomi fast um. Hitomi war zu benebelt, um eingreifen zu können und starrte fassungslos auf das Geschehen. Die Menge auf der Tanzfläche wich zurück und gab den beiden Kämpfern Platz.

Dilandau lachte auf. Beide Männer fingen an sich im Kreis zu bewegen, beide auf der Hut den nächsten Angriff abzufangen. Van stürzte auf Dilandau zu um ihm die nächste Faust ins Gesicht zu rammen, doch dieser zog ein Messer aus seinem Stiefel und schnappte Van. Van drehte sich noch rechtzeitig weg und entwaffnete Dilandau dabei. Dieser stürzte auf Van und lief dabei in die Klinge des Messers.

Dilandaus Schrei war trotz der lauten Bässe deutlich zu hören. Das Messer schlitzte seine Wange auf.

Hitomi war angeekelt von dem Blut, das über Dilandaus schmerzverzerrtes Gesicht lief. „Das wirst du noch bereuen, aber deine kleine Schlampe nehme ich jetzt mit.“ Dilandau machte sich auf Hitomi wieder zu packen, doch Van stellte sich ihm in den Weg und baute sich vor Hitomi auf. Dilandau nässelte an seinem Gürtel und zu Hitomis Schrecken erkannte sie einen Revolver, den er versuchte zu zücken.

 

Hitomi erschrak als hinter ihr ein großer Mann erschien und laut schrie: „DILANDAU! Das reicht!“

Hitomi drehte den Kopf und riss ihre Augen auf. Dieses Gesicht würde sie nie vergessen. Doch bevor sie etwas sagen konnte, fing eine Vision sie ein.

 

„Hitomi! Halt den Kopf unten!“, sprach Vargas ihr ins Ohr. Sie saßen auf der Rückbank des Wagens, das vor dem Haus ihrer Eltern stand. Vargas hatte sie auf seinen Schoss genommen, die Hand an ihrem Hinterkopf, versuchte er sie an seinen Körper zu drücken. Er wollte verhindern, dass sie aus dem Fenster sah. Fast alle Häuser in der Straße brannten bereits, nur ihr Haus stand noch.

Hitomi schluchzte, sie hatte Angst, weil ihr Vater sie mit Tränen in den Augen Vargas in die Arme gegeben hatte.

 

Er hatte ihr Liebesbekundungen ins Ohr geflüstert: >Hitomi, denk immer daran. Ich liebe dich über alles, mein Schatz. Wir lieben dich über alles. Hör auf Vargas, ja?< Er drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange bevor Vargas mit ihr das Haus verließ.

 

Hitomi wollte zurück zu ihrem Vater. Tränen liefen ihr über die Wangen.

 „Still!“, flüsterte der Mann auf dem Fahrersitz, „sie sind bereits da! Wir können nicht losfahren, das wäre zu auffällig. Sie würden sofort merken, dass wir es sind!“ Hitomi hielt die Luft an.

„Verdammt!“, fluchte Vargas und drückte Hitomi noch fester an sich.

 

Vor ihrem Haus blieb eine Gruppe schwarzgekleideter Männer stehen. Aus der Gruppe trat ein großer Mann hervor. Er hatte hellblaues, kurzes Haar und unter seinem rechten Auge konnte Hitomi etwas erkennen, das aussah wie eine aufgemalte Träne. Er trug einen schwarzen Umhang mit hohem aufgestelltem Kragen. Der Umhang flog auseinander als er einen metallenen Arm auf das Haus hielt, seine Finger sahen aus, wie die eines Skeletts. Hitomi konnte seine Stimme deutlich hören.

„Das muss das Haus sein. Los und denkt dran: keine Zeugen.“ Die Männer stürmten das Haus.

 

Hitomi konnte Vargas‘ Herzschlag an ihrem Körper spüren, sein Griff um ihren Körper wurde immer fester. Es vergingen zwei, vielleicht drei Minuten bis Vargas schwer atmend knurrte: „Riskieren wir es Boris! Fahr los!“ Das Auto fuhr mit quietschenden Reifen los und der Anführer der Männergruppe drehte sich in ihre Richtung. Hitomi glaubte, dass er ihr in die Augen sah. Lächelte er etwa? Vargas nahm Hitomis Gesicht zwischen seine Hände: „Sieh mich an Hitomi! Sieh mich an! Hörst du! Alles wird gut!“ Doch die Verzweiflung in Vargas Augen machten ihr noch mehr Angst. Genau in dem Moment als sie an dem Haus und dem Mann vorbei fuhren, ertönten drei Pistolenschüsse aus dem Hausinneren.

„Papaaaaaaaa!!!“…

 

Hitomi blinzelte mehrmals und gelang wieder ins Hier und Jetzt. Es schien keine Sekunde vergangen zu sein. Sie blickte noch immer dem Mann ins Gesicht, als sie Van hinter sich „Folken?!“ rufen hörte. Das konnte nicht wahr sein. Hitomi spürte, wie sie die Bewusstlosigkeit einholte und sie fühlte noch wie Van sie vor dem Aufprall auffing. Dann wurde alles schwarz.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Minatoast
2015-03-04T22:55:58+00:00 04.03.2015 23:55
Oh mein gott ist das spannend und aufregend zum ende dieses Kapitels :) find es gut das van ein bisschen mehr aus sich raus kommt und sich behauptet! Es knistert aber auch schon ganz gut zwischen ihm und Hitomi 😊 mal gucken was die zeit für die beiden so bringt. Jede einzelne person wie z.b. gaddes, allen... und viele mehr, haben wichtige Rollen die aber gut zu den jenigen passen und man sich auch gut in die rollen rein versetzen kann ☺ schreib schnell weiter freu mich schon wenn es weiter geht :)


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