4. Kapitel, in dem Taichi Ärger macht
„Ich weiß wirklich nicht, was wir noch mit dir machen sollen!“, rief Yuuko verzweifelt und raufte sich die Haare. „Es ist schon das zweite Mal diese Woche, dass du aus Versehen das Fenster des Lehrerzimmers zerschossen hast.“
„Das war wirklich aus Versehen!“, verteidigte Taichi sich. „Glaubst du, ich lege mich mit Absicht mit der Alten an?“
„Frau Kobayashi“, korrigierte Susumu ihn in scharfem Ton. „Und was sollte die Aktion mit dem Stuhl?“
„Was kann ich dafür, dass der einfach auseinanderfällt?“, blaffte Taichi und breitete die Arme aus.
„Der Stuhl ist natürlich ganz plötzlich einfach so, während du ganz artig darauf gesessen hast, kaputt gegangen“, erwiderte Susumu, die Stimme triefend vor Sarkasmus.
„Naja ich habe halt kurz gekippelt, weil…“
„Ach! Da ist er wohl doch nicht durch Zauberhand auseinandergefallen“, unterbrach ihn sein Vater.
„Hallo? Du lässt mich nicht mal ausreden!“, rief Taichi entrüstet und haute mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Warum hast du denn gekippelt? Etwa, weil du dir von deinem Hintermann nur einen Stift ausborgen wolltest?“ An der Art, wie er es sagte, konnte man hören, dass Susumu selbst nicht an diese Theorie glaubte.
„Eine Schere“, sagte Taichi nun ruhiger.
„Und warum musst du dir eine ausborgen? Du hast doch selbst eine. Wo war die?“
„Zu Hause vergessen.“
Hikari seufzte, während sie dieses Gespräch von der Couch aus verfolgte. Es war ständig das gleiche Thema, worüber ihre Eltern mit Taichi stritten: sein Benehmen in der Schule. Heute Nachmittag hatte Yuuko wieder einen Anruf von seiner Lehrerin Frau Kobayashi bekommen, weil er das Fenster im Lehrerzimmer beim Fußballspielen zerschossen und während des Unterrichts einen Stuhl kaputt gemacht hatte. Der letzte Anruf war erst zwei Tage her. Nach jedem Anruf setzten sich Taichi und Hikaris Eltern nach dem Abendessen gemeinsam an den Esstisch und sprachen über das, was passiert war. Anfangs waren diese Gespräche noch dazu gedacht gewesen, Taichi eine Chance zu geben, die Situation aus seiner Sicht zu erklären und gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden, doch als sich die Anrufe und die anschließenden Gespräche häuften, verwandelten sie sich mehr und mehr in ein Kreuzverhör, das nach ein paar Minuten in einen Streit eskalierte. Hikari wurde in dieser Zeit vor den Fernseher gesetzt, wo sie sich eine Zeichentrickserie angucken durfte, die sie jedoch nur mit halber Aufmerksamkeit verfolgte.
„Müssen wir denn ab jetzt jeden Abend deine Tasche kontrollieren, ob du auch alles eingepackt hast? Tai, du bist schon in der fünften Klasse. Du solltest selbst in der Lage sein, deine Schultasche zu packen“, seufzte Yuuko und rieb sich die Stirn.
„Nein, ihr sollt meine Tasche nicht kontrollieren!“, rief Tai genervt. „Kann ich jetzt endlich in mein Zimmer gehen?“
„Nein!“, polterte Susumu. „Du wirst dich morgen bei Frau Kobayashi für die Fensterscheibe und den Stuhl entschuldigen!“
„Boah nee, Mann! Ich will mich nicht bei der Alten entschuldigen. Es ist doch nicht meine Schuld, dass…“
„Keine Widerrede! Ich werde morgen Abend in der Schule anrufen und fragen, ob du dich entschuldigt hast, und wenn nicht, steckst du in großen Schwierigkeiten!“
„Aber ich hab‘ doch gar nichts…“
„Hör‘ auf damit! Wir wissen, was du gemacht hast. Ich glaube kaum, dass Frau Kobayashi uns anruft, um uns Lügenmärchen zu erzählen!“
„Habe ich ja auch gar nicht behauptet!“, rief Tai und ballte die Hände zu Fäusten.
„Du hast für den Rest der Woche Fernsehverbot!“, beschloss Susumu, ohne auf seinen Einwand einzugehen.
„Was?! Das ist voll unfair!“
„Anscheinend ist das der einzige Weg, wie du lernst, dich zu benehmen. Und jetzt kannst du in dein Zimmer gehen.“
Hikari riskierte einen vorsichtigen Blick zum Esstisch. Taichi war aufgestanden und starrte seine Eltern wütend an. Er sah aus, als wollte er noch etwas erwidern, doch schließlich drehte er sich um und stürmte in das Zimmer, das er sich mit seiner Schwester teilte.
Schwer seufzend stützte Yuuko den Kopf auf den Händen ab. „Warum ist er nur so ein Rabauke? Von wem hat er das denn?“
„Ich habe keine Ahnung“, grummelte Susumu mit einem Blick zu Hikari, als wüsste diese die Antwort. „Werd‘ bloß nicht so wie dein Bruder, hörst du?“
Hikari wandte sich nur wieder mit starrem Blick dem Fernseher zu, ohne jedoch wahrzunehmen, was dort passierte. Sie fand ihren Bruder gar nicht so schlimm. Klar, er ärgerte sie oft und verzapfte manchmal Mist in der Schule. Aber ganz oft half er ihr auch bei Hausaufgaben, beim Schuhebinden, spielte mit ihr, wenn ihr langweilig war oder passte auf sie auf, wenn ihre Eltern mal keine Zeit hatten. Ja, er war durchaus ein guter Bruder.
Bevor ihre Sendung zu Ende war, erhob sie sich von der Couch und schlich in das gemeinsame Kinderzimmer. Taichi lag ausgestreckt im unteren Bett des Doppelstockbetts und starrte mit finsterem Blick Löcher in die Luft.
„Hau ab“, fauchte er, als sie hereinkam.
„Das ist auch mein Zimmer“, erinnerte Hikari ihn. „Du kannst mich nicht rausschmeißen.“
Taichi erwiderte nichts, sondern drehte sich grummelnd auf die andere Seite, sodass er ihr nun den Rücken zuwandte.
Einen Augenblick lang musterte Kari seine Rückseite, dann ging sie entschlossen zum Bücherregal, zog ein Buch heraus und ging zurück zu Taichi. Wie selbstverständlich kletterte sie mit dem Buch in der Hand über ihn hinweg und setzte sich dicht an seinen warmen Körper gedrückt auf das Bett.
„Liest du mir das Buch vor?“, fragte sie und hielt ihm das Buch, das sie ausgewählt hatte, so dicht vor die Nase, dass er den Kopf zurückzog und sich am Bettpfosten stieß.
„Autsch! Verdammt, Kari! Ich hab‘ keinen Bock!“, murrte er und drehte sich auf den Rücken.
„Bitte, bitte, bitte“, bettelte Kari, legte das Buch auf seiner Brust ab und sah ihn mit dem Blick an, von dem sie wusste, dass er ihn nicht leiden konnte. Dem gab er nämlich immer nach.
„Boah, du nervst echt mega“, grummelte er, schnappte sich aber das Buch und musterte das Cover. „Die Erdbeerprinzessin. Schon wieder.“
„Ist mein Lieblingsbuch“, erklärte Hikari. In Wirklichkeit war es ihr jedoch im Moment egal, welches Buch er ihr vorlesen würde. Ihr war nur wichtig, dass er ihr eines vorlas, denn immer, wenn er für sie ein Buch las, war er so sehr damit beschäftigt, die Stimmen der Figuren nachzuahmen und es ausdrucksstark vorzulesen, dass er alles andere um sich herum vergaß. Er gab sich immer Mühe, für seine kleine Schwester möglichst perfekt zu lesen und wenn sie währenddessen an spannenden Stellen mit großen Augen die Luft anhielt, an lustigen Stellen laut lachte und an niedlichen Stellen vergnügt quietschte, war das für ihn ein Ansporn, noch einmal extra Gas zu geben. Es war schon vorgekommen, dass sie sich beide verkleidet und eine Geschichte nachgespielt hatten oder am Ende eines Buches gemeinsam überlegten, wie es weitergehen könnte. Nicht nur Hikari hatte ihren Spaß beim Vorlesen, auch Taichi brachte es jedes Mal auf andere Gedanken.
Zufrieden kuschelte sie sich an ihn, als er die erste Seite aufschlug und zu lesen begann.