62. Kapitel, in dem es viel zu früh ist
Es war eine kalte, stürmische Nacht Anfang Februar, als Hikari aufwachte und zunächst nicht wusste, wieso. Doch dann plötzlich spürte sie den ziehenden Schmerz, der durch ihren Unterleib schoss und sie das Gesicht verziehen ließ. Für einen Augenblick dachte sie in ihrer schlaftrunkenen Irritation, sie hätte ihre Tage bekommen, doch dann fiel ihr ein, dass sie schwanger war. Schwanger im sechsten Monat, fast im siebten. Eigentlich durfte sie solche Schmerzen nicht haben.
Sie stöhnte leise auf, als der Schmerz stärker wurde und rollte sich auf die Seite. Mit den Armen umschlang sie ihren Bauch, der inzwischen deutlich sichtbar ein Kind beinhaltete, doch es half natürlich nichs. Irgendetwas stimmte nicht.
Der Schmerz flaute ab und Hikari kam langsam wieder zu Atem, doch dann fing es wieder an und sie wimmerte leise. Nein, das war nicht normal. Sie brauchte Hilfe. Das war nicht in Ordnung. Irgendwas war mit ihrem Kind.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf, woraufhin ihr übel wurde. Waren das etwa schon Wehen? Es war doch noch viel zu früh.
Mit wackeligen Beinen stand sie auf und schleppte sich zur Tür. Immer wieder musste sie zwischendurch anhalten, weil die Schmerzen unerträglich wurden. Vornübergebeugt verließ sie ihr Zimmer und wankte über den Gang zu Takerus Zimmer. Während sie eine zittrige Hand auf den Klingelknpf presste, sank sie auf die Knie. Sie konnte sich nicht länger aufrecht halten. Wimmernd und schniefend kauerte sie auf dem Boden und wartete, dass Takeru endlich die Tür öffnete. Was sollte sie tun, wenn er nicht aufmachte? Wenn er nicht da war, um ihr zu helfen? Würde sie dann hier nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet auf dem Gang ihres Wohnheims sterben mit ihrem ungeborenen Kind?
Endlich öffnete sich die Tür und Hikari konnte durch ihren verschleierten Blick seine Füße vor sich erkennen.
„Kari, was… scheiße!“ Er fiel vor ihr auf die Knie, legte die Hände auf ihre Schultern und starrte sie an.
„Ich glaube, ich muss sterben“, schluchzte sie.
Sie spürte, wie er ihren Oberschenkel berührte und als er die Hand wieder hob, klebte Blut an seinen Fingerspitzen. War das etwa ihr Blut?
„Ich… warte, ich ruf‘ ein Taxi!“ Er stand auf und verschwand wieder in seinem Zimmer. Hikari wollte ihm hinterherrufen, dass er sie nicht allein lassen sollte, doch sie war zu schwach, hatte keine Stimme mehr. Sie hörte ihn ungeduldig ins Telefon brüllen, dann war er wieder bei ihr.
„Das Taxi ist in fünf Minuten hier“, verkündete er. Hikari konnte das Zittern in seiner Stimme deutlich heraushören. Mit fahrigen Bewegungen wickelte er sie in eine Decke und hob sie kurzerhand auf seine Arme. Hikari stöhnte auf vor Schmerz.
„Es tut mir leid“, keuchte er. „Aber wir müssen dich irgendwie nach unten bringen.“
Sie schlang die Arme um seinen Hals und presste das Gesicht gegen seine Schulter. Sie wollte nichts sehen und nichts hören. Der Schmerz in ihrem Unterleib brachte sie förmlich um.
„Keine Angst. Es wird alles gut“, murmelte er, klang jedoch wenig überzeugend. „Sobald wir im Auto sitzen, rufe ich Willis an. Das wird schon. Und morgen Früh seid ihr dann bestimmt schon Eltern. Keine Angst. Alles gut.“
Erneut wimmerte Hikari vor Schmerz. Da sie nichts sah, hatte sie keine Ahnung, wo genau Takeru mit ihr hinging. Irgendwann setzte er sie jedoch vorsichtig auf der Rückbank eines Autos ab. Hikari öffnete die Augen. Der Taxifahrer hatte sich zu ihr umgedreht und starrte sie entgeistert an.
„In zehn Minuten sind wir im Krankenhaus“, sagte er und als auch Takeru auf der Rückbank Platz genommen hatte, setzte sich das Auto in Bewegung und fuhr viel zu schnell die Straße entlang. Hikari sah blinkende Lichter an ihnen vorbeirasen, nahm sie jedoch kaum war. Auch dass Takeru die ganze Zeit ihre Hand streichelte, nahm sie kaum war. Was sie jedoch überdeutlich spürte, waren die Schmerzen in ihrem Unterleib, die mal etwas abflauten und dann auf einmal wieder unerträglich wurden.
Takeru tippte auf seinem Handy herum und hielt es sich ans Ohr. „Er hat sein Handy aus“, fluchte er und schob es zurück in seine Hosentasche.
„Hat er immer über Nacht“, flüsterte Hikari.
„So ein Mist! Was soll das?“
„Glaubst du, ich muss sterben?“, fragte sie mit Tränen in den Augen und drehte sich zu Takeru.
„Was? Nein! Niemand stirbt!“, eriwderte er heftig. „Hör‘ auf, das zu denken. Können Sie nicht schneller fahren?“
„Ich fahre schon zu schnell!“, brummte der Taxifahrer.
Endlich kamen sie am Krankenhaus an. Takeru sprang aus dem Wagen und hob dann auch Hikari heraus. Eilig betrat er mit ihr den gläsernen Eingangsbereich des Gebäudes und stürmte zum Empfang.
„Hikari Yagami!“, rief er der Frau dort zu. „Sie hat Wehen oder so. Keine Ahnung. Zumindest ist sie schwanger und blutet!“
Was Hikari mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und auch Takeru in den Wahnsinn getrieben hatte, waren tatsächlich Wehen gewesen. Als sie sich endlich im Kreißsaal befand, dauerte es noch über vier Stunden, bis das Kind auf der Welt war.
Takeru war die ganze Zeit bei ihr gewesen, das Gesicht so voller Sorge, dass Hikari ihn zwischendurch hatte nach Hause schicken wollen. Doch das hätte eh nichts gebracht, das wusste sie. Er hatte jedoch die ganze Zeit ihre Hand gehalten, ihre Stirn gestreichelt und ihr gut zugeredet.
Endlich, mit einem letzten Schmerzensschrei, brachte Hikari das Kind zur Welt. Die Krankenschwester nahm es an sich und starrte es an.
Völlig erschöpft und mit Schweiß auf der Stirn streckte Hikari die Hände nach ihrem Baby aus. Sie wollte es endlich im Arm halten. Auch, wenn es aufgrund des viel zu frühen Zeitpunkts sicher versorgt werden musste, wollte sie es wenigstens für eine Sekunde im Arm halten und ansehen. Außerdem wollte sie nun endlich wissen, ob es ein Mädchen oder ein Junge war.
Doch die Krankenschwester rührte sich nicht. Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit der Ärztin, die daraufhin aufstand und ihr das winzige Neugeborene aus den Händen nahm. Und auch da fiel es Hikari auf. Das Kleine hatte noch keinen einzigen Laut von sich gegeben.
„Was ist los?“, fragte sie schwach.
Mit einem betroffenen Gesichtsausdruck kam die Ärztin auf sie zu. Hikari starrte ihr Kind an. Die Hautfarbe war seltsam. Sie hatte immer gedacht, neugeborene Babys würden rosa oder sogar rot aussehen. Ihr Baby war eher… grau.
„Es tut mir furchtbar leid“, sagte die Ärztin bedauernd, „aber ihr Sohn lebt nicht mehr. Er muss schon vor Tagen gestorben sein.“
Hikari erstarrte. Was hatte sie da gesagt?
„Was?“, erwiderte Takeru an ihrer Stelle.
„Wir können nichts mehr für ihn tun. Er ist tot“, wiederholte die Ärztin.
Hikaris Mund klappte auf. Ungläubig starrte sie von ihrem Baby – ihrem Sohn – in das Gesicht der Ärztin. Diese begann mit Erklärungen. Dass es in seltenen Fällen passierte, dass Kinder auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche im Mutterleib verstarben und dass dies zunächst eventuell gar nicht auffiel. Sie nannte Hikari Gründe, woran es gelegen haben könnte, doch sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Alles, was sie verstanden hatte, war: ihr Sohn war tot. Ihr erstes Kind war in ihrem Bauch gestorben und sie hatte gerade ihr totes Kind zur Welt gebracht. Aus den Augenwinkeln bekam sie mit, wie Takeru den Kopf sinken ließ und sich leise stöhnend durch die Haare fuhr.
„Ich…“, begann sie heiser, als die Ärztin ihre Ausführungen beendet hatte, „das… das geht doch nicht. Mein Kind ist tot?“
Sie nickte betreten.
„Ich habe mein totes Kind geboren?“
„Es ist wichtig, dass Sie es auf natürlichem Wege zur Welt gebracht haben“, erklärte die Ärztin leise. „Das hilft dem Verarbeitungsprozess. Möchten Sie ihn halten?“
Es dauerte eine Weile, bis Hikari fassungslos nickte. Behutsam legte die Ärztin ihr das winzige Baby in die Arme.
Hikari sah auf ihn hinab. Obwohl er so klein und viel zu früh auf die Welt gekommen war, sah er aus wie ein richtiges Baby. Wie ein kleiner Mensch. Arme, Beine, ein Gesicht mit Augen, Nase und Mund, Ohren, kleine Hände mit winzigen Fingern. Sanft strich sie ihm über das Köpfchen und sah zu Takeru.
Sie wusste nicht, was sie erwartete. Takeru war in ihrem Leben immer da gewesen, wenn sie am Verzweifeln war. Irgendwie waren ihm immer die richtigen Worte eingefallen, um sie zu beruhigen, sie aufzumuntern oder zum Lachen zu bringen. Vielleicht hatte sie sich auch jetzt erhofft, dass er ihr etwas anderes erzählen würde als die Ärztin. Doch als sie in sein Gesicht sah, glänzten seine Augen feucht und waren gekennzeichnet von Hoffnungslosigkeit. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und wandte sich ab, während er sich mit dem Handrücken über die Augen wischte.
Und dann schossen plötzlich auch Hikari Tränen in die Augen. Eine Sekunde später begann sie zu schluchzen und ihre Wangen wurden nass. Sie presste ihren Sohn – nein, den leblosen Körper ihres Sohnes – an sich und weinte hemmungslos. Sie spürte, wie Takeru die Arme um sie schlang und sie an sich drückte. Tränen tropften auf das kleine fahle Gesicht ihres toten Babys.
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Gegen halb acht Uhr morgens stürmte Willis in das Krankenzimmer, auf das man Hikari inzwischen gebracht hatte. Er wirkte abgehetzt und panisch. Anscheinend hatte er erst vor wenigen Minuten Takerus Nachricht gelesen.
„Kari!“, rief er und kam auf sie zu. „Oh mein Gott, geht’s dir gut?“ Er setzte sich an die andere Seite ihres Bettes und griff nach ihrer Hand.
Sie hatte die ganze Zeit fast ununterbrochen geweint. Ihre Augen waren geschwollen und rot und in ihrem Gesicht war sehr deutlich zu erkennen, dass es ihr nicht gut ging. Takeru presste die Lippen aufeinander.
„Was ist passiert? Wo ist unser Kind?“, fragte Willis, als sie nichts erwiderte.
„Er… er ist…“, begann sie mit heiserer Stimme, brach jedoch wieder in Tränen aus und konnte nicht weitersprechen, sodass Willis hilfesuchend zu Takeru sah.
Er räusperte sich und wich seinem Blick aus. „Es war ein Junge. Er war schon tot, als er auf die Welt kam.“
„Was?!“ Entsetzt starrte Willis von Takeru zu Hikari. „Wie… was… ist das dein Ernst?“
Hikari vergrub das Gesicht in ihrer Bettdecke und weinte herzzerreißend. Takeru konnte das nicht länger mitansehen. Außerdem war es ohnehin Zeit, die beiden allein zu lassen.
„Ich ähm… gehe jetzt mal“, murmelte er und machte Anstalten, aufzustehen, doch Willis hielt ihn auf.
„Warte. Kannst du mich mal aufklären? Ich verstehe nicht, was hier passiert ist.“
Unschlüssig beobachtete Takeru Hikari, doch sie sah nicht so aus, als würde sie in den nächsten Minuten die Kraft aufbringen, Willis zu erzählen, was genau passiert war. Also seufzte er tief und erklärte ihm möglichst genau, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Völlig verstört hörte Willis ihm zu, fragte hin und wieder nach und streichelte nebenbei Hikari beruhigend den Rücken. Als Takeru seine Schilderung beendete, schüttelte Willis ungläubig den Kopf und starrte Hikari an. Diese schluchzte zwar nicht mehr so hemmungslos, hatte jedoch das Gesicht noch immer in ihre Decke gepresst, als wollte sie die Welt um sich herum ausschließen.
„Es tut mir echt leid“, sagte Takeru an Willis gewandt, denn nicht nur Hikari hatte ein Kind verloren. „Ich wünschte, ich hätte irgendetwas tun können.“
„Du hast genug getan“, widersprach Willis bestimmt. „Wer weiß, was passiert wäre, wenn du nicht da gewesen wärst. Danke.“
„Nicht dafür“, nuschelte Takeru und warf einen letzten Blick auf Hikari, bevor er aufstand und die beiden allein ließ.