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Stolen Dreams Ⅷ

von

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3. Kapitel

Kim hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war. Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen, ebenso wie die Hoffnung, sein Zuhause jemals wiederzusehen. Wenn er aus dem Fenster sah, konnte er nur Wolken und einen dunklen Himmel voller Sterne erblicken. Er wünschte sich, dass ihn jemand in den Arm nehmen und sagen würde, dass alles okay wäre, aber außer ihm gab es hier nur Lee und diese sah aus, als würde sie lieber aus dem Flugzeug springen als Kim zu umarmen.

„K-können Sie mir jetzt sagen, was unser Ziel ist?“, fragte er zaghaft. „Ich meine... nun kann ich eh nicht mehr fliehen.“

„Das konntest du schon von Anfang an nicht“, erwiderte sie abweisend.

„Bitte. Mir reicht es auch, wenn ich nur das Land erfahre.“

„Na gut.“ Sie seufzte. „Wir fliegen nach Kanada.“
 

Eigentlich hatte Kim sich eine Antwort gewünscht, mit der er etwas anfangen konnte, aber die Information, dass er bald in Kanada landen würde, warf nur noch mehr Fragen auf. Kim dachte über seine Freunde, seine Verwandten, die Freunde seiner Verwandten und die Verwandten seiner Freunde nach, aber niemand von ihnen hatte etwas mit Kanada zu tun.

Ihm blieb nichts anderes übrig. Er musste das Gespräch mit Lee fortführen.

„Und... was machen wir dann dort?“

„Ich habe die Aufgabe, dich zu einem bestimmten Mann zu bringen. Mehr werde ich dir nicht sagen.“

„Aber ich kenne niemanden, der in Kanada wohnt. Sind Sie sich sicher, dass es sich hier nicht um ein Missverständnis handelt und Sie eigentlich einen anderen Kim zu diesem Mann bringen müssen?“

„Hast du einen eineiigen Zwilling?“
 

„Äh... nein.“

„Dann ist es recht unwahrscheinlich, dass wir uns geirrt haben.“

„Wer sind ''wir''?“

„Vergiss es. Halt einfach die Klappe und warte, bis wir da sind.“

„Okay, ich-- Warten Sie.“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Kennen Sie einen Mann namens Alexej?“

„Alexej? Lass mich kurz nachdenken; dieser Name kommt mir bekannt vor.“

Kim musste ein aufgeregtes Japsen unterdrücken. War der unwahrscheinliche Fall, dass er und Alexej sich wiedersehen würden, wirklich eingetreten oder--?

„Ja, ich erinnere mich an Alexej“, sagte Lee. „Ich kannte ihn kaum, aber er schien ganz in Ordnung zu sein.“
 

„Wie geht es ihm?“

Lee hob leicht verwundert die linke Augenbraue.

„Er ist tot“, antwortete sie, woraufhin Kims Hoffnung genauso schnell verschwand wie sie aufgetaucht war. „Ist vor 'n paar Monaten im frühen Morgen von 'ner Klippe gestürzt, weil es ziemlich nebelig war und er nicht gesehen hat, wohin er gegangen ist. Typischer Fall von zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Oh... mein Beileid.“

Na großartig. Entweder reden wir von ganz verschiedenen Personen oder – was zwar unwahrscheinlich, aber auch eine Möglichkeit ist – Alexej ist gestorben und wir werden uns nie wieder begegnen. Ich weiß, dass ich daran nichts ändern kann, aber wenn ich die Wahl zwischen diesen beiden Optionen hätte, wäre es wie Pest und Cholera.
 

Als Kim und Lee landeten, war die Sonne schon vor ein paar Stunden aufgegangen. Die beiden wurden von einem Auto abgeholt, in dem zwei Männer saßen, die Kim irgendwie nicht geheuer vorkamen. Sie waren muskulös genug, um ihn zusammenzuschlagen, und warfen ihm abwertende Blicke zu, was ihre unheimliche Aura nicht gerade verbesserte.

„Bevor du fragst: Nein, keiner von den zwei ist der Mann, zu dem ich bringen soll“, sagte Lee zu Kim und stieß ihn unsanft auf die Rückbank. „Mach's dir schon mal gemütlich; wir haben eine lange Fahrt vor uns.“

Kim traute sich nicht, Lee zu fragen, wie lange genau die Fahrt sein würde, weshalb er schweigend aus dem Fenster sah und erfolglos versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, saß er einfach nur da und starrte nach draußen, wo die Sonne gemächlich in den Himmel stieg. Kim beobachtete, wie sie mit der Zeit durch die Wolken wanderte und sich wieder dem Horizont neigte, und realisierte erst, als sein Nacken schon ganz steif war, dass mehrere Stunden vergangen sein mussten.
 

Kim hatte das Gefühl, eine Ewigkeit wäre verstrichen, als das Auto endlich sein Ziel erreichte. Er stieg auf Lees Befehl hin aus, sah sich um und staunte nicht schlecht. Es war mitten in der Nacht und sie befanden sich in einem Dorf, das genauso einsam, verlassen und langweilig wirkte wie der Ort, in dem Kim vor nicht allzu langer Zeit noch gelebt hatte. Der einzige Unterschied war, dass am Horizont weder Städte noch andere Häuser, sondern zahlreiche Berge und massenhaft Wälder zu sehen waren.

„S-sind wir jetzt da?“, fragte Kim, woraufhin Lee den Kopf schüttelte und ihm ein Zeichen gab, ihr zu dem großen Gebäude zu folgen, vor dem sie geparkt hatten. Jenes Gebäude besaß seltsamerweise recht viele Ähnlichkeiten mit einem Stall; es war lang und breit, aber nur eineinhalb oder zwei Stockwerke hoch, roch nach Pferd, hatte viele Fenster und erinnerte an ein Fachwerkhaus. Als Kim es betrat, musste er feststellen, dass der Bau nicht nur wie ein Stall aussah – er war auch einer.

„Was machen wir hier?“, fragte er verwirrt. „Und was sollen diese ganzen Pferde?“
 

Lee packte ihn kurzerhand am Oberarm, zerrte ihn quer durch die Stallgasse und an den glotzenden Pferden vorbei und zog ihn am anderen Ende des Stalls nach draußen, wo sich ein riesiges Feld erstreckte.

„Da wollen wir hin“, sagte sie und deutete geradewegs auf den Wald. „Sieht es für dich so aus, als könnte dort ein Auto fahren?“

Kim schüttelte den Kopf. Der Wald war ziemlich weit weg, aber selbst auf die Entfernung konnte er erkennen, dass die Bäume viel zu dicht standen, um ein Auto hindurch zu lassen. Außerdem schien der Boden sehr uneben zu sein, was vermutlich mit den Bergen in der Nähe zusammenhing.

„Gut, dann hätten wir das jetzt geklärt“, sagte Lee genervt. „Vor den Pferden musst du keine Angst haben. Die tun dir nichts, solange du sie nicht ärgerst.“

„Ich weiß“, erwidere Kim etwas irritiert und sah im Augenwinkel, wie die beiden Männer vier gesattelte Pferde aus dem Stall brachten. „Ich reite schon seit etlichen Jahren.“
 

„Echt?“ Zum ersten Mal klang Lee weder genervt noch herablassend. „Das ist gut. Sehr gut sogar. Das macht die Sache wesentlich einfacher.“

„Wir werden durch diesen Wald reiten, nicht wahr?“

„Richtig erkannt, Sherlock. Und ich würde dir sehr ans Herz legen, mir zu folgen und keinen Scheiß zu probieren. Vertrau mir, wenn du versuchst, zu fliehen, werden wir dich einfangen, so lange schlagen, bis du nicht mehr laufen kannst, und--“

„Okay, okay, ich hab's verstanden. Können Sie mir auch mal eine Anweisung ohne Drohung geben? Ein simples ''Folge mir, Kim!'' hätte vollkommen gereicht.“

„Das hoffe ich für dich“, zischte Lee, ehe sie sich auf ihr hellgraues Pferd schwang, das seiner Kopfform und zierlichen Statur nach zu urteilen ein Araber war.
 

Kim bekam die Zügel von einem Pferd in die Hand gedrückt, das dunkelbraunes Fell und eine dünne Blesse besaß. Es erinnerte ihn an Peter Pan, was ihn betrübt seufzen ließ.

Er streichelte kurz die weichen Nüstern des Tieres, bevor er ebenfalls aufstieg und beide Hände um die Zügel schlang. Es war komisch, nach den vielen Wochen, die Kim nach dem Tod seines Lieblingspferdes weinend in seinem Zimmer verbracht hatte, wieder in einem Sattel zu sitzen und den großen Brustkorb des Pferdes zwischen seinen Beinen zu spüren.

„Bist du bereit?“, fragte Lee, woraufhin Kim entschlossen nickte. Sich in der Anwesenheit von Tieren und insbesondere Pferden zu befinden, hatte eine beruhigende Wirkung auf den Jungen, auch wenn er keinen Plan hatte, warum das so war.

„Gut“, sagte Lee. „Dann lasst uns losgehen.“
 

Am Anfang der Reise hatte Kim noch Angst gehabt, aber jetzt nahm er seine Furcht kaum noch wahr. Ja, er wurde von fremden Menschen eskortiert, und ja, er sollte zu einem Mann gebracht werden, den er wahrscheinlich nicht kannte, aber zum ersten Mal seit einer Ewigkeit existierte er nicht nur, sondern er lebte. Er konnte das regelmäßige Schlagen seines Herzens hören, die kalte Nachtluft, die nach Blättern und Regen roch, in seiner Lunge fühlen und eine Euphorie verspüren, die er sonst nur von den Ausritten mit Peter Pan kannte und noch nie zuvor so stark erlebt hatte. Vielleicht war dies das Zeichen, dass Kim endlich den Ort gefunden hatte, nach dem er sich schon so lange gesehnt hatte, oder sein Gehirn war mit der unbekannten Situation so überfordert, dass es neben den Stress- nun auch Glückshormone und alles andere ausschüttete – aber wen interessierte das schon? Für Reue war später noch Zeit. Außerdem hatte Kim sowieso keine Möglichkeit, irgendetwas an seiner Lage zu ändern.
 

Der Junge befand sich zwischen Lee, die vor ihm war und zielstrebig über das Feld trabte, und den beiden Männern, welche hinter ihm waren und die Nachhut bildeten. Kaum hatte Lee den Rand des Waldes erreicht, wechselte sie in den Galopp und preschte mit vollem Tempo nach vorne. Wegen der hohen Geschwindigkeit der Pferde entstand zwischen den Tieren ein Abstand von mehreren Metern, aber das schien die Erwachsenen nicht zu stören. Eine Pferdelänge konnte Kim sich also erlauben...

Die vier Personen hatten geschätzt mehrere hundert Meter hinter sich gebracht, als der Junge neben dem rhythmischen Trampeln der Hufe und dem Rauschen der Blätter ein weiteres Geräusch wahrnahm. Er hörte das Plätschern eines Flusses, der nur wenige Augenblicke später erreicht wurde und dessen Oberfläche dank des Mondlichtes hell schimmerte. Hätte Kim sich nicht in seiner momentanen Situation befunden, wäre er vom Pferd gestiegen und hätte den Anblick der schönen Landschaft genossen.
 

Nachdem Lee in die Nähe des Flusses gelangte, bog sie links ab und galoppierte parallel am Gewässer vorbei. Ihr schwarzes Haar und ihre dunklen Klamotten machten sie in der Nacht nur schwer erkennbar, aber Kim reichte ihr helles Pferd, das die Farbe von Nebel besaß, vollkommen aus, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und ihr zu folgen.

Nach einiger Zeit passierten die Menschen eine Stelle, an welcher der Fluss sich aufteilte, aber immer noch nicht dünn genug war, um ihn überqueren zu können. Erst als sie eine mehrere Meter breite Kiesbank erreichten, verlangsamte Lee das Tempo, bog nach rechts ab und trabte durch das leise plätschernde Wasser. Kim tat es ihr gleich und ließ es sich nicht nehmen, einen Blick auf den Fluss zu werfen und darüber nachzudenken, wie malerisch er aussah. Mit seinen gleichmäßigen Bewegungen und der Spiegelung der Baumkronen und des Mondes, die von durch Pferdebeine verursachte Wellen zerstört wurde, könnte er direkt einem Märchenwald entsprungen sein.
 

Weil Kim so sehr in seine Träumereien vertieft war, schenkte er der Richtung seines Pferdes kaum noch Aufmerksamkeit und bemerkte erst, dass er von Lees Pfad abgekommen war, den die junge Frau sicherlich nicht ohne Grund gewählt hatte, als das Pferd plötzlich in eine tiefere Stelle trat und seinen Weg zügig korrigierte. Wie eine Hand, die Kim am Bein packen und nach unten ziehen wollte, spritzte ein wenig Wasser nach oben und traf den Jungen am Knöchel. Was sich innerhalb dieser paar Sekunden zugetragen hatte, war für einen Außenstehenden, der die Situation nur beim genauen Beobachten wahrgenommen hätte, weder wichtig noch besonders, aber für Kim stellte sie beinahe eine Erleuchtung dar. Er kam sich vor, als hätte er sein bisheriges Leben im Halbschlaf verbracht, aus dem er nun erwacht war – alles fühlte sich so real an. Im Augenblick tat er nichts außer durch einen Fluss zu reiten – etwas, das er schon öfters getan hatte – und trotzdem prägte sich dieser Moment so intensiv in Kims Gedächtnis ein, als--
 

„Ist dies das erste Mal, dass du einen Wald siehst, oder was ist dein Problem?“, fragte Lee, die am anderen Ufer des Flusses auf Kim wartete und von dessen Bewunderung sichtlich genervt war.

Angesprochener antwortete nicht, sondern sah zu Lee und blinzelte sie verwirrt an. Er hatte fast vergessen, dass sie auch noch hier war.

„I-ist es noch weit?“, fragte er, um von seiner Verträumtheit abzulenken, während hinter ihm die beiden Männer durch den Fluss wateten. Kim hörte den Kies unter den Hufen ihrer Pferde knirschen.

„Nein, die Hälfte haben wir schon“, sagte Lee und warf einen kurzen Blick zu einem besonders großen Berg, der sich irgendwo hinter der Abzweigung des Flusses befand. Kim hatte ihn bis jetzt noch nicht bemerkt, weil er so weit das Auge reichte von Bergen umgeben war und jeder dieser gigantischen Hügel mehr oder weniger gleich aussah. Außerdem war der Fluss interessanter gewesen.
 

Knapp unter der Spitze des Berges, der Lees Aufmerksamkeit zuteilwurde, war ein kleiner cremefarbener Fleck zu erkennen. Kim hatte ihn für Schnee gehalten, weil alle Bergspitzen damit bedeckt waren, aber als sich jener Fleck bewegte, wurde klar, dass es sich dabei um ein vierbeiniges Lebewesen handelte. Kim würde auf Pferd tippen, aber sicher war er sich nicht. Im Augenwinkel sah er, dass die beiden Männer den Fluss überquert hatten; eines ihrer Pferde schüttelte sich gerade das sicherlich kalte Wasser vom Leib.

Lee schaute noch einmal zu dem hellen Tier, ehe sie sich so drehte, dass sie dem Fluss den Rücken zuwandte, und ihr Pferd antrieb. Kim und die Männer folgten ihr; gemeinsam liefen sie durch den Wald und kamen mehrmals an Stellen vorbei, an denen Autos und andere Fahrzeuge bestimmt Probleme gehabt hätten, weil der Wald nicht nur geringe Abstände zwischen Bäumen, sondern auch unebenen Boden, spitze Felsen und matschigen Schlamm bereithielt. Kim fragte sich, was wohl das Ziel dieser sonderbaren Reise darstellte, wenn bereits der Weg so ungewöhnlich war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Meowlody100
2017-11-07T22:11:13+00:00 07.11.2017 23:11
Er ist echt süß, so verträumt wie er ist! Auch wenn es keinen schönen Hintergrund hat.
Von:  mor
2017-11-07T15:53:02+00:00 07.11.2017 16:53
ein bisjen zu verträumt der kleine


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