Zum Inhalt der Seite

Stolen Dreams Ⅷ

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

1. Kapitel

„Verdammt, Lola, komm zurück!“

Eigentlich war Kim ein sehr tierlieber Mensch, aber in diesem Moment hätte er seine Hündin gerne zum Mond geschossen. Dieser blöde Köter hatte sich schon wieder aus dem Halsband befreit, nur um ein dummes Kaninchen zu jagen!

„Hierher!“, rief Kim, aber Lola reagierte nicht. Anstatt zu ihrem Herrchen zurückzulaufen, preschte sie mit Vollgas durch das Weizenfeld und verschwand hinter dem Horizont, der nicht allzu weit entfernt lag, weil Kim sich gerade auf einem Hügel befand.

Der Elfjährige hätte sich am liebsten umgedreht und auf den Nachhauseweg gemacht. Es war ein stürmischer Nachmittag im Spätsommer, doch von der Sonne und der Hitze fehlte jede Spur. Stattdessen regnete es, blitzte zuckten über den Himmel, in der Ferne grölte der Donner und das Unwetter wurde immer schlimmer.

„Wenn diese blöde Töle in wenigen Sekunden nicht wieder hier ist, werde ich alleine nach Hause gehen“, zischte Kim, doch er verwarf diesen Gedanken im gleichen Moment wieder. Er würde es nicht übers Herz bringen, seinen Beagle im Regen alleine zu lassen.
 

Leise fluchend wischte er sich den Regen aus den blaugrünen Augen und hielt nach Lola Ausschau, die durch einen kleinen Hain lief und den alten Schrottplatz ansteuerte, der schon lange nicht mehr in Betrieb war. Die einzigen Menschen, die sich dort noch herumtrieben, waren Junkies, Obdachlose und Drogenabhängige.

Obwohl Kim am liebsten seine Eltern geholt hätte, weil er sich nicht alleine auf den Schrottplatz traute, ging er mutig weiter und zwang sich dazu, keine Angst zu haben. Er wollte kein verdammter Feigling sein, der nicht einmal in der Lage war, seinen Hund wieder einzufangen.

Mit vor Kälte zitternden Knien betrat Kim den Schrottplatz. Mittlerweile schüttete es wie aus Eimern und der Junge war bis auf die Knochen durchnässt, was ihm noch mehr Motivation gab, Lola zu finden.

Kim marschierte zügig über den verwahrlosten Schrottplatz, stolperte über eine rostige Blechdose und beobachtete, wie ein paar Ratten, die sich vor wenigen Augenblicken noch im Müll getummelt hatten, eilig im nächstbesten Schrotthaufen verschwanden, als Lola um die Ecke geschossen kam und versuchte, einen der Nager zu erwischen.
 

„Lola, komm hierher!“, schrie Kim, aber seine Autorität wurde nicht anerkannt. Wäre Lola ein Mensch, hätte sie ihm sicherlich den Mittelfinger gezeigt, ehe sie den Schrottplatz verließ und auf den Wald zusteuerte, der sich dahinter befand.

„Nein, Lola, das ist die falsche Richtung! Komm endlich zurück, du dumme--“

Der Rest seines Satzes wurde von einem lauten Donnern übertönt. Kim sah geschockt zum Himmel, bevor er Lola eilig folgte und sie einige Minuten später in einer kleinen Höhle fand, in der es von Ratten nur so wimmelte. Er hatte erwartet, dass sie ihm einen der Nager als Wiedergutmachungsgeschenk vor die Füße legen würde, aber Lola schaute ihn nur begeistert an, wedelte und sprang ihn an.

„Runter!“, rief Kim wütend und betrachtete die dreckigen Pfotenabdrücke auf seiner Hose. „Es reicht jetzt, Lola! Du kannst nicht einfach weglaufen und vor allem nicht, wenn es draußen regnet! Ich-- Nein, warte! Komm zurück!“

Lola fand Kims Ton anscheinend nicht angemessen, denn sie wandte sich von ihm ab und verschwand im Inneren der Höhle.
 

„Okay, Lola, es tut mir leid. Kommst du jetzt bitte zurück?“, fragte Kim in der freundlichsten Stimmlage, die er momentan zustande bringen konnte, doch davon ließ sich Lola nicht täuschen, weshalb ihm nichts anderes übrig blieb, als ihr in die Höhle zu folgen, die so dunkel war, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

Als er Lola fand, hatte er sich an die Dunkelheit gewöhnt und konnte seine Umgebung einigermaßen gut erkennen. Er hatte seinen Beagle gerade erst angeleint und das Halsband etwas enger eingestellt, damit der Hund nicht ein weiteres Mal abhaute, als ihm auffiel, das Lola da irgendetwas gefunden hatte. Es lag auf den Boden, besaß eine undefinierbare Form, war fast zwei Meter lang, etwa fünf oder sechs Dezimeter breit, sah aus wie ein Mensch und... das war ein Mensch!

Kim gab einen erschrockenen Schrei von sich und machte einen Satz nach hinten. Voller Entsetzen starrte er auf die Leiche, welche anscheinend gar keine Leiche war und sich soeben bewegt hatte. Sie gab ein gedämpftes Gemurmel von sich und zappelte schwach mit den Gliedmaßen, die so aussahen, als hätte man sie mit Fesseln versehen.

Kim griff nach seinem Handy, schaltete es an und beleuchtete die Person, bei deren Anblick ihm beinahe das Smartphone aus der Hand gefallen war.
 

Auf dem Boden lag ein junger Mann, dessen Gesicht voller Blut war. Seine Handgelenke und Knöchel waren gefesselt und sein ganzer Körper war mit Bissen von Ratten übersät, die den Mann wahrscheinlich vollkommen aufgefressen hätten, wenn Kim nicht hierher gekommen wäre.

Der Junge ging auf die Knie, zog dem Mann vorsichtig das Klebeband vom Mund und löste seine Fesseln. Anschließend wollte er den Krankenwagen rufen, aber bevor er die Gelegenheit dazu bekam, umfasste eine kräftige Hand seinen linken Fußknöchel.

„Keine Polizei“, ächzte der Mann, der starke Schmerzen zu haben schien. „Und kein... Krankenwagen.“

„Aber... Sie sind verletzt!“

„Du... verstehst das nicht... Kleiner. Niemand darf wissen... dass ich noch lebe.“

„Aber was soll ich denn sonst machen? Sie hier liegen lassen?“

„Nun... du könntest mir helfen.“

„Ich kann's versuchen... Können Sie aufstehen?“

„Ja, denke schon... gib mir nur ein paar Minuten.“
 

Vor Schmerzen stöhnend und keuchend erhob sich der Mann. Gemeinsam mit der Hilfe von Kim, der den muskulösen Arm des Fremden nahm und ihn sich über die Schultern legte, gelang es ihm, die Höhle zu verlassen und sich zu Kims Haus zu schleppen. Der Junge legte den Mann im Flur ab, war heilfroh, dass seine Eltern sich noch im Urlaub befanden und erst nächste Woche zurückkommen würden, und holte ein Handtuch, um dem Mann vorsichtig das Blut von der Haut zu wischen. Jetzt, wo der Unbekannte im Licht saß, war zu erkennen, dass seine Haare eine Mischung aus Hellbraun und Dunkelblond waren und seine Augen mehr oder weniger die gleiche Farbe besaßen.

„Wie heißen Sie?“, fragte Kim und tupfte behutsam den verletzten Hals des Mannes ab. Diese Ratten waren wirklich brutal...

„Alexej.“

„Und weiter?“

„Der Rest ist unwichtig.“

„Na gut, wie Sie meinen. Ich heiße Kim.“

„Echt? Ich dachte, du wärst ein Junge.“
 

„Bin ich auch“, schnaufte Kim empört. „Aber meine halbe Familie kommt aus Südkorea und dort ist ''Kim'' ein Name für beide Geschlechter.“

Alexejs Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, das jedoch im gleichen Moment erstarb, weil der junge Mann sich fühlte, als würde seine Haut in Flammen stehen. Fast überall hatten diese verdammten Ratten ihn angenagt und mit ihren dreckigen Zähnen verseucht.

„Hast du was dagegen, wenn ich kurz deine Dusche benutze?“, fragte er Kim. „Und wärst du so freundlich, in der Zwischenzeit Desinfektionsmittel und Verbandszeug herzukriegen?“

„Okay, kann ich machen.“

„Und denk dran: Keine Polizei.“

Kim nickte und nahm Lola das Halsband ab.

„Was ist eigentlich mit deinen Eltern?“, fragte Alexej und richtete sich langsam auf. „Kommen die gleich von der Arbeit nach Hause und kriegen einen Schock, wenn sie mich sehen, oder...?“

„Nein, die sind im Urlaub und kommen erst nächsten Freitag nach Hause.“

„Gut“, murmelte der junge Mann, ehe er im Badezimmer verschwand.
 

Während Kim dem Geräusch von prasselndem Wasser lauschte, ging er in die Küche und kramte schnell die Sachen zusammen, um die Alexej ihn gebeten hatte. Verbandszeug hatte er in Massen, weil seine Familie einen kleinen Reiterhof besaß und deswegen nicht selten Pferdebisse, Prellungen oder Füße, auf die ein Pferd drauf getreten ist, behandeln musste.

Er legte das Zeug auf den Wohnzimmertisch und wartete auf Alexej, der etwa eine Viertelstunde später mit dem Duschen fertig geworden war und angezogen das Wohnzimmer betrat, wo er sich um seine Verletzungen kümmerte und neugierig von Kim beobachtet wurde.

„Warum waren Sie in der Höhle?“

„Das ist nicht wichtig.“

„Aber was haben Sie da gemacht? Und warum waren Sie gefesselt?“

„Kleiner, das wirst du sicherlich alles verstehen, wenn du älter bist. Momentan kann ich dir nur sagen, dass du mich vor einem ziemlich qualvollen Tod bewahrt hast und ich dir dafür verdammt dankbar bin.“

„Jemand hat versucht, Sie umzubringen, nicht wahr?“, murmelte Kim, dem soeben bewusst geworden war, was geschehen sein musste. „Sind Sie sicher, dass ich doch nicht die Polizei rufen soll? Ich meine--“
 

„Kim, hör mir jetzt gut zu. Wenn du die scheiß Polizei rufst, werden die Menschen, die mich umbringen wollten, herausfinden, dass ich noch lebe, und nicht nur mich, sondern auch dich und deine Familie umbringen. Möchtest du das?“

„Natürlich nicht!“

„Na also. Das ist auch die gleiche Antwort, die ich mir denke, wenn du fragst, ob du die Polizei oder 'nen Krankenwagen rufen sollst.“

„Okay, ich werde nicht mehr davon reden... Sie haben einen Akzent. Aus welchem Land kommen Sie?“

„Russland“, antwortet Alexej, ohne von seinem rechten Unterarm aufzusehen, den er ordentlich mit Desinfektionsmittel einrieb.

„Aua“, sagte Kim, dem alleine das Zusehen schon wehtat. „Das muss doch wie Sau brennen.“

„Tut es auch“, erwiderte Alexej verbittert lächelnd. „Aber das ist mir lieber als mir den Arm amputieren lassen zu müssen, weil er sich wegen diesen Biestern entzündet hat. Übrigens: Hast du was dagegen, wenn ich bei dir übernachte?“

„Ähm... nein, aber ich kann Ihnen leider nur die Couch als Bett bieten.“

„Das macht nichts; ich kann auch gerne auf dem Boden schlafen, Hauptsache du schickst mich nicht nach draußen.“
 

Als Kim am nächsten Morgen aufwachte, war Alexej verschwunden. Der Junge glaubte fast, alles nur geträumt zu haben, aber dann fand er eine Nachricht von dem Russen, auf der stand, dass Alexej in Sicherheit war und Kim nicht länger als nötig gefährden wollte.

Der Elfjährige konnte sich nur teilweise eine Reim auf diese Worte machen, aber er nahm den Zettel und versteckte ihn in seinem Bücherregal, um ihn sicher aufzubewahren.

„Kim? Schläfst du etwa schon wieder?“

Eines Tages würde er Alexej wiedersehen, da war er sich sicher. Außerdem--

„Kim!“, rief Frau Kammer wütend und schlug mit so einer Wucht auf den Tisch, dass Kim aufwachte und vor Schreck beinahe vom Stuhl fiel. Vor ihm stand seine Klassenlehrerin, die das ohnehin schon hässliche Gesicht zu einer noch hässlicheren Fratze verzogen hatte und ihren Schüler garstig anfunkelte.

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du in meinem Unterricht nicht schlafen sollst?“

Um ehrlich zu sein können Sie das so oft sagen, wie Sie wollen. Ich werde mich trotzdem nicht daran halten, dachte Kim, aber um die Situation nicht noch schlimmer zu machen als sie bereits war, entschuldigte er sich und versprach der ollen Schrulle, dass er sich Mühe geben würde, wach zu bleiben.
 

„Das hoffe ich für dich“, fauchte Frau Kammer, wobei ihr der Speichel wie starker Regen aus dem Mund tropfte. Kim wünschte sich, einen Regenschirm zur Hand zu haben, und war froh, als die Lehrerin ihn endlich in Ruhe ließ und zurück zum Pult ging, wo sie mit ihrem Unterricht fortfuhr, der stärker als jedes Betäubungsmittel war.

Kim seufzte, fuhr sich durch das schwarze Haar und versuchte nach Kräften, nicht erneut einzuschlafen, was ihm jedoch nicht gelang. Sein Hang zur Müdigkeit hatte nichts mit Schlafmangel zu tun, sondern hing damit zusammen, dass es in Kims Umgebung nichts gab, dessen Kenntnisnahme sich lohnen würde. Sein Leben bestand aus Aufstehen, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen, ins Bett gehen. Diese vier Dinge waren für ihn wie stahlharte Wände, die ein Gefängnis bildeten, aus dem Kim nicht entfliehen konnte. Seine einzige Möglichkeit, wenigstens ein bisschen Spaß zu haben, war das Reiten und seine Bücher, die für ihn Reisen in aufregende Welten waren. Nirgendwo sonst als in seiner Fantasie war er in der Lage, eine Schule für Zauberei und Hexerei zu besuchen, die Länder von Mittelerde zu bereisen oder gemeinsam mit dem verrückten Hutmacher, der Haselmaus und dem Märzhasen eine Runde Tee zu trinken.
 

Dass Kim erneut die Anweisungen seiner Lehrerin missachtete, führte dazu, dass sie ihm einen Elternbrief mit nach Hause gab, den er am nächsten Morgen unterschrieben vorzeigen sollte. Er versuchte tatsächlich, seine Eltern auf die Ermahnung aufmerksam zu machen, aber wie immer endete es damit, dass sie keine Zeit für ihn hatten.

„Nicht jetzt, Kim. Geh zu deinem Vater, wenn du etwas brauchst“, sagte Mom und Dad sagte haargenau das Gleiche, davon mal abgesehen, dass er ''deinem Vater'' durch ''deiner Mutter'' ersetzte.

Kim gab auf und fälschte Dads Unterschrift, ehe er das Haus verließ, sich auf sein Fahrrad schwang und zum Reiterhof fuhr, wo er sein Lieblingspferd namens Peter Pan fertigmachte und eine knappe halbe Stunde später durch die Wälder preschte. Er liebte es, den Wind in seinem Gesicht zu spüren, den rhythmischen Takt der Pferdehufe und das hektische Schnauben des Tieres zu hören und zu fühlen, wie sich der sportliche Körper seines Pferdes unter ihm bewegte und mit Vollgas durch den Wald raste. Hier, weit weg von seinen Eltern und der Schule, konnte er endlich abschalten und seinen Tagträumen nachgehen.
 

Ich frage mich, wie es Alexej wohl geht und ob er noch lebt, dachte Kim, als er am frühen Abend auf den Hof zurückkehrte und sich um sein völlig verausgabtes Pferd kümmerte. Ich glaube, dass er kein einfaches Leben hat, wenn man ihn den Ratten zum Fraß vorwirft, aber wenigstens erlebt er etwas, anstatt jeden Tag das Gleiche zu tun und gar nicht zu merken, wie die Zeit vergeht.

Kim erinnerte sich an seinen heutigen Traum zurück, der sich vor fünf Jahren wirklich so zugetragen hatte. Er seufzte und wünschte sich, diesen Tag noch einmal zu erleben, damit er Alexej fragen konnte, ob er ihn mitnehmen wollte.

Lieber lebe ich ein kurzes aufregendes Leben als mich Jahrzehnte lang auf der gleichen Stelle zu bewegen und dann eines Tages sterbend im Bett zu liegen und zu erkennen, dass ich mein Leben gar nicht ausgekostet habe. Natürlich kann ich meine Träume auch verwirklichen, sobald ich mit der Schule fertig bin und mir einen Job gesichert habe, aber... dann ist meine ganze Kindheit doch schon vorbei.

2. Kapitel

Wenn Kim mal nicht damit beschäftigt war, in der Schule gefangen gehalten zu werden oder auf Peter Pan durch die Wälder zu preschen, saß er meistens in der kleinen Stadtbücherei und verschlang ein Buch nach dem anderen. Fantasy-Romane, Dramen, Thriller, Liebesromanzen – nichts war vor ihm sicher. Natürlich traf er gelegentlich auch auf ein Werk, dessen Handlung ihn zu Tode langweilte oder dessen Figuren die Charaktertiefe eines Toasters besaßen, aber den meisten Büchern konnte er etwas abgewinnen. Er liebte das Gefühl des Buchrückens, den Geruch von bedrucktem Papier und die Abenteuer, die nur darauf warteten, von ihm erlebt zu werden.

Kim hatte gerade erst einen Roman beendet, als er einen Blick auf die Uhr warf und enttäuscht feststellte, dass die Bücherei in einer halben Stunde schließen würde. Das war leider nicht genug Zeit, um ein weiteres Buch anzufangen, aber Kim konnte sich ja eines ausleihen. Er legte das Buch zurück, griff nach einem anderen, das jedoch bloß ein ödes Sachbuch über Politik war, das sich irgendwie im falschen Regal verirrt hatte, und fand einige Minuten später ein Werk, dessen Inhaltsangabe auf der Rückseite recht vielversprechend klang.
 

Nachdem Kim das Buch ausgeliehen und sicher in seinem Rucksack verstaut hatte, schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont und tauchte das ruhige Dörfchen, in dem Kim lebte, in goldgelbes Licht. Eine kühle Brise kam auf, die ihm das schwarze Haar zerzauste und leicht nach Autoabgasen roch.

Kim seufzte. Er war hier geboren und aufgewachsen, aber trotzdem fühlte sich die Gegend nicht wie sein Zuhause an. Er hatte Heimweh; Heimweh nach einem Ort, an dem er noch nie gewesen war oder der vielleicht sogar gar nicht existierte. Um ehrlich zu sein, war es Kim mittlerweile auch egal, wohin er gehen könnte – Hauptsache weg von hier. Weg von der Schule, weg von Hausaufgaben und Verpflichtungen, weg von der Zukunft, weg von der drögen Welt der Erwachsenen; einfach weg. Kim wartete verzweifelt auf den Tag, an dem ihn eine Eule nach Hogwarts, ein Kaninchen ins Wunderland oder ein Pferd nach Mittelerde bringen würde, aber eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass dieser Tag niemals kommen würde. Kim war dazu verdammt, zur Schule zu gehen, zu arbeiten und unglücklich zu sterben, weil er sich seine Träume niemals erfüllen können würde.
 

Als Kim nach Hause kam, hatten seine Eltern bereits mit dem Abendessen angefangen. Es war verdächtig ruhig, was den Jungen ein wenig nervös machte, denn immer, wenn seine Eltern schwiegen, war irgendetwas vorgefallen.

„Ist alles okay?“, fragte Kim, als er die Stille nicht mehr aushalten konnte.

„Wir haben deine letzte Klassenarbeit gefunden“, antwortete Dad und sah seinen Sohn vorwurfsvoll an. „Warum hast du uns nicht gesagt, dass du eine Fünf hast?“

„Warum wohl – weil ich darauf verzichten kann, mir von euch eine Standpauke anhören zu müssen.“

„Junger Mann, deine Note wird nicht besser, indem du sie versteckst. Denk doch mal an deine Zukunft. Was soll aus dir werden, wenn du weiterhin solche Noten schreibst?“

Kim legte die Gabel ab und seufzte. Er wusste, dass seine Eltern es nicht so meinten, aber wenn sie auf diese Art und Weise über seine schulischen Leistungen sprachen, fühlte er sich, als würde sein Wert als Mensch von seinen Klassenarbeiten abhängen.
 

„Es war ein Ausrutscher“, sagte er. „Nächstes Mal werde ich mir mehr Mühe geben, versprochen.“

„Das sagst du schon seit mehreren Jahren“, zischte Dad gereizt. „Und ich habe langsam, aber sicher die Schnauze voll davon. Ab heute darfst du nicht mehr zum Stall und wenn deine nächste Note nicht mindestens eine Drei ist, werden wir Peter Pan verkaufen.“

„Dad!“, schrie Kim so laut und schrill, dass es ihm selbst in den Ohren wehtat. „Das kannst du nicht machen! Du weißt, wie sehr ich das Reiten liebe, und--“

„Ich weiß nur, dass es dich vom Lernen ablenkt.“

Mit diesen Worten stand Dad auf, was bei ihm bedeutete, dass die Diskussion beendet war. Aus Angst, er könnte tatsächlich sein Lieblingspferd verlieren, verbrachte Kim von da an jede freie Minute in seinen Schulbüchern. Oft genug verspürte er den Wunsch, das Buch aus dem Fenster zu werfen, zum Stall zu fahren und mithilfe eines langen Ausrittes seine Sorgen zu verdrängen, aber bei dem Gedanken an Peter Pan wurde ihm bewusst, was für Konsequenzen diese Handlung gehabt hätte.
 

Das Lernen verlief eigentlich ganz gut, aber in der Nacht vor der wichtigen Klassenarbeit war Kim so nervös, dass er nicht schlafen konnte. Am nächsten Morgen kreuzte er mit bemerkenswerten Augenringen in der Schule auf und realisierte erst, als die Arbeitsblätter vor ihm lagen, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Die Figuren im Koordinatensystem sahen aus, als hätte ein Rechtshändler zum ersten Mal mit seiner linken Hand geschrieben und versucht, eine Mischung aus chinesischen, thailändischen und koreanischen Schriftzeichen zu schreiben, und selbst nachdem Kim die Aufgabenstellung zehnmal gelesen hatte, wusste er immer noch nicht, was von ihm gewollt war.

Ihm blieb nichts anderes übrig als die Aufgaben so gut wie möglich zu lösen, sich über die seltsamen Lösungen zu wundern, die Klassenarbeit abzugeben, sich auf die Toiletten zurückzuziehen und die Augen aus dem Kopf zu weinen.

Das Ergebnis war schlimmer als Kim erwartet hatte. Er hatte eine Sechs bekommen und bloß zwei von hundert Punkten erzielt.

Na großartig... Ich habe so viele Stunden meiner Zeit für diese Scheiße geopfert und wofür? Für absolut gar nichts!
 

Mithilfe von stundenlangem Flehen und dem Versprechen, dass die nächste Klassenarbeit besser ausfallen würde, gelang es Kim, seine Eltern zu überzeugen, ihm noch eine Chance zu geben. Er war unbeschreiblich glücklich, sein Lieblingspferd behalten zu dürfen, aber das Schicksal gab nur vor, ihm wohlgesonnen zu sein.

Peter Pan starb wenige Wochen später an einer Kolik. Schon als Kim an diesem Tag in den Stall kam, merkte er, dass irgendetwas mit seinem Pferd nicht stimmte, und noch am gleichen Abend wurde er Zeuge, wie das kranke Tier seinen letzten Atemzug machte.

Den Jungen übermannte eine so starke Trauer, dass er nicht weinte oder schluchzte, sondern stumm und ausdruckslos beobachtete, wie die Sonne langsam unterging und ein großes Weizenfeld in helles Licht tauchte. Hinter ihm standen Dad, der mit dem Tierarzt redete, und Mom, die überlegte, wie sie ihren Sohn trösten konnte, aber Kim nahm sie gar nicht wahr. Er fühlte sich, als wäre er in einem Traum und würde bald aufwachen; als wäre all dies gar nicht real.
 

„Kim, ich weiß, dass du diesen Verlust nicht so gut verkraften kannst, aber... du wirst darüber hinwegkommen. Wenn du willst, können wir dir auch ein neues Pferd kaufen. Nicht als Ersatz, sondern als Ablenkung... also, ich hoffe, du weißt, wie ich das meine.“

Kim verstand, was seine Mutter ihm mitteilen wollte, aber er wollte ihr Angebot nicht annehmen. Alles, was er wollte, war von hier wegzulaufen und nie wiederzukommen. Jetzt wo sein bester Freund ihn für immer verlassen hatte, gab es nichts mehr, für das es sich lohnen würde, hier zu bleiben.

Als ich einem Kumpel von mir erzählt habe, dass mein bester Freund ein Pferd ist, hat er sich über mich lustig gemacht, aber ich habe mich nicht dafür geschämt, denn im Gegensatz zu einem menschlichen Freund wäre Peter Pan nie auf die Idee gekommen, mich anzulügen, zu betrügen oder hinter meinem Rücken durch den Kakao zu ziehen. Er war ein Freund, auf den man sich immer verlassen konnte.

Ich frage mich, ob Alexej auch solche Freunde hat, schließlich konnte er unmöglich alleine klargekommen sein, nachdem er damals vor fünf Jahren mein Haus verlassen hatte.
 

~*~
 

Als Kim seine blaugrünen Augen öffnete, fühlte er sich wie ein Mensch, der soeben aus dem Koma erwacht war – er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wie er hierher gekommen war, und für ein paar Sekunden wusste er sogar nicht, wie sein eigener Name lautete. Er brauchte mehrere Minuten, um sich an das Grundlegende zu erinnern, doch die Frage, wo er war, blieb ein Mysterium. Kim wusste nur noch, dass er seine Sachen für die Klassenfahrt nach Russland gepackt hatte und dass er gemeinsam mit seiner Klasse in einem Kunstmuseum gewesen war, in dem es ein Gemälde von einem Mann gegeben hatte, dessen Name Kim aus einem Buch kannte.

„Ja... ja, ich habe ihn. Bis jetzt läuft alles wie geplant.“

Kim wunderte sich über die weibliche Stimme, aber noch viel mehr wunderte er sich über die Tatsache, dass jene Stimme die koreanische Sprache benutzte. Er bemerkte, dass er auf einem grünem Sofa lag, und richtete sich vorsichtig auf. Der Raum, in dem er sich befand, war nicht besonders groß. Er hatte keine Fenster, nur eine Tür und hässliche Betonwände, an denen Graffitis, Kritzeleien und ein vergilbtes Plakat hingen.
 

An der Wand links von Kim standen mehrere Regale, in denen sich Kartons, Zeitschriften, Dosen und andere Sachen stapelten, gegen die rechts von ihm lehnte sich eine junge Frau, die geschätzt in ihren späten Zwanzigern oder frühen Dreißigern war. Sie hatte glatte schwarze Haare, die ihr bis zum Kinn reichten, dunkle Augen – die genaue Farbe konnte Kim nicht erkennen – und eine kleine Tätowierung von einem weißen Kaninchen unter dem linken Schlüsselbein. Als sie bemerkte, dass Kim sie beobachtete, beendete sie ihr Telefonat mit einem hastigen „Er ist wach, ich rufe dich später noch einmal an“ und ließ ihr Handy in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden. Anschließend löste sie sich von der Wand und kam auf Kim zu, der keinen blassen Schimmer hatte, welches Verhalten jetzt angemessen wäre. Sollte er sie fragen, was passiert war, oder ihr zuhören oder doch lieber--?

„Listen, you little shit. I don't care who you are or what you want, but you better do what I say or I'll...“, sagte sie und fuhr fort, aber Kim hörte ihr nicht mehr zu. Er fühlte sich, als wäre sein Gehirn ein Schwamm, der nur eine geringe Wassermenge aufnehmen konnte und nun unter einem Wasserfall platziert wurde. Der Raum, die Frau, ihre Worte, die ganze Situation – es war einfach viel zu viel auf einmal.
 

Was in den nächsten paar Minuten passierte, nahm Kim nicht wahr. Ihm kam es vor, als wäre er ein Computer, der abstürzte, sich neu startete und dabei einige Daten verloren hatte. Er wusste bloß, dass die Frau vor ihm leicht genervt und irritiert schaute und fragte: „Anyone home?“

„Ähm...“, murmelte er und schluckte nervös, weil seine Kehle sich ziemlich kratzig und trocken anfühlte. „Kön-könnten Sie vielleicht Koreanisch sprechen? Ich... ich war noch nie sonderlich gut in Englisch.“

„Meinetwegen“, erwiderte sie schnippisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hauptsache du hörst mir zu.“

„I-ich versuch's.“

„Also, nur falls du mich nicht verstanden hast: Ich bin Lee, du wirst mit mir mitkommen und wenn du mich nervst oder dich mir widersetzt, wirst du es sofort bereuen. Ist das jetzt in deinem Schädel angekommen oder muss ich es noch auf zehn anderen Sprachen wiederholen?“

„Äh... nein danke, nicht nötig.“

„Gut. Dann komm.“
 

„Aber wo gehen wir hin? Und wo bin ich hier? Und...?“, fragte Kim, doch Lee ignorierte ihn und marschierte auf die Tür zu.

„Kommst du?“, fauchte sie so ungeduldig, dass Kim augenblicklich vom Sofa aufsprang und ihr folgte. Er hätte wirklich gerne ein paar Antworten erhalten, aber Lee wirkte nicht sonderlich gesprächig oder geduldig.

Sie führte ihn durch einen langen Flur, der keine Fenster und nur ein paar Türen besaß. Es roch nach Alkohol, Essen und Zigarettenqualm. Auch einige Stimmen waren zu hören, aber Kim konnte weder ihre Besitzer noch ihre Sprache identifizieren. Leicht verunsichert lief er Lee hinterher und betrat wenige Augenblicke später ein Zimmer, das ein bisschen wie ein Büro aussah.

Plötzlich blieb Lee stehen. Kim war so sehr mit der Betrachtung seiner Umgebung beschäftigt, dass er beinahe gegen ihren Rücken geprallt wäre und eine Kollision gerade noch rechtzeitig verhindern konnte.

„Siehst du den Typen dort?“, fragte Lee und deutete auf einen Mann, der gefesselt, geknebelt und zusammengeschlagen auf dem Boden lag, wo einige Blutspuren zu sehen waren. „Das könntest du sein, wenn du auf blöde Ideen kommst.“
 

Erneut fühlte Kim sich mit der Situation überfordert. All die Fragen, der er Lee unbedingt stellen wollte, schwirrten in seinem Kopf herum und ließen keinen Platz für andere Sachen, weshalb er ihr wie ein hirnloser Zombie folgte und nicht einmal in Erwägung zog, die Flucht zu ergreifen, sich zu weigern oder einfach wegzurennen. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein wusste er, dass etwas hier definitiv nicht mit rechten Dingen zuging und dass er nicht hier sein sollte, aber sein Gehirn verarbeitete diese Informationen mit der Geschwindigkeit eines Computers, der die Arbeit von zwanzig Rechnern machen musste und gerade abstürzte.

Es dauerte nicht lange, bis Lee das Gebäude verließ und Kim durch einen Hinterhof leitete, der von rostigem Maschendraht umzäunt wurde. Auf dem feuchten Untergrund – es nieselte leicht – lagen ein Eimer, mehrere zerbrochene Flaschen und schmutzige Pfützen. Der Boden bestand aus Pflastersteinen, zwischen denen überall verkümmerte Pflänzchen sprossen, und je weiter Kim durch den Hinterhof ging, desto mehr fühlte er sich, als wäre er die Hauptperson eines Krimis oder Horrorromans.
 

Hinter dem etwa zwei oder drei Meter hohem Maschendrahtzaun stand ein Auto. Als Lee es erreichte, hielt sie Kim die Tür der Rückbank auf und machte den Verschluss ihrer Lederjacke zu, sodass man die Tätowierung von dem weißen Kaninchen nicht mehr sehen konnte.

„Ähm... Können Sie mir wenigstens sagen, wo wir hinfahren?“, fragte Kim zaghaft.

„Das wirst du sehen, sobald wir da sind.“

Kim, der bereits mit so einer Antwort gerechnet hatte, wollte unnötigen Stress vermeiden, weshalb er schweigend in das dunkle Auto stieg und sich anschnallte. Lee machte die Tür hinter ihm zu, setzte sich auf den Sitz des Fahrers und startete den Motor.

Ungefähr eine halbe Stunde später parkte sie, aber Kim konnte nicht sehen, wo er sich befand, weil der Regen heftiger geworden war und die Fenster des Autos zu undurchsichtigen Scheiben gemacht hatte. Er wurde von Lee, die mit jeder verstrichenen Minute ungeduldiger zu sein schien, aus dem Auto gezerrt und--

„Lass mich los!“
 

Der Moment, in dem Kim das Flugzeug erblickte, war der Moment, in dem er plötzlich wieder klar denken konnte. Alles in ihm schrie danach, sich von Lee loszureißen, um Hilfe zu schreien und das Weite zu suchen, aber leider hatte die junge Frau ihn fest im Griff.

„Halt die Schnauze und komm mit.“

„Ich werde nirgendwo hingehen und erst recht nicht in dieses Flugzeug! Bringen Sie mich nach Hause! Ich--!“

Bevor Kim sich versah, spürte er ein unangenehmes Ziehen an seiner Kopfhaut, einen dumpfen Schmerz an seiner Schläfe und etwas Flüssiges an seiner Wange, das sicherlich kein Regen war. Lee hatte ihn an den schwarzen Haaren gepackt und seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Motorhaube gestoßen.

„Ich sagte, du sollst die Schnauze halten“, zischte sie bedrohlich leise. „Entweder hörst du mit diesem kindischem Theater auf oder ich werde dich zusammenschlagen, bis du nicht mehr laufen kannst.“

Kim wusste, dass das keine leere Drohung war. Nachdem Lee ihn losgelassen hatte, wischte er sich das Blut vom Gesicht und sah ein, dass er keine andere Wahl hatte, als in das Flugzeug zu steigen.

3. Kapitel

Kim hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war. Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen, ebenso wie die Hoffnung, sein Zuhause jemals wiederzusehen. Wenn er aus dem Fenster sah, konnte er nur Wolken und einen dunklen Himmel voller Sterne erblicken. Er wünschte sich, dass ihn jemand in den Arm nehmen und sagen würde, dass alles okay wäre, aber außer ihm gab es hier nur Lee und diese sah aus, als würde sie lieber aus dem Flugzeug springen als Kim zu umarmen.

„K-können Sie mir jetzt sagen, was unser Ziel ist?“, fragte er zaghaft. „Ich meine... nun kann ich eh nicht mehr fliehen.“

„Das konntest du schon von Anfang an nicht“, erwiderte sie abweisend.

„Bitte. Mir reicht es auch, wenn ich nur das Land erfahre.“

„Na gut.“ Sie seufzte. „Wir fliegen nach Kanada.“
 

Eigentlich hatte Kim sich eine Antwort gewünscht, mit der er etwas anfangen konnte, aber die Information, dass er bald in Kanada landen würde, warf nur noch mehr Fragen auf. Kim dachte über seine Freunde, seine Verwandten, die Freunde seiner Verwandten und die Verwandten seiner Freunde nach, aber niemand von ihnen hatte etwas mit Kanada zu tun.

Ihm blieb nichts anderes übrig. Er musste das Gespräch mit Lee fortführen.

„Und... was machen wir dann dort?“

„Ich habe die Aufgabe, dich zu einem bestimmten Mann zu bringen. Mehr werde ich dir nicht sagen.“

„Aber ich kenne niemanden, der in Kanada wohnt. Sind Sie sich sicher, dass es sich hier nicht um ein Missverständnis handelt und Sie eigentlich einen anderen Kim zu diesem Mann bringen müssen?“

„Hast du einen eineiigen Zwilling?“
 

„Äh... nein.“

„Dann ist es recht unwahrscheinlich, dass wir uns geirrt haben.“

„Wer sind ''wir''?“

„Vergiss es. Halt einfach die Klappe und warte, bis wir da sind.“

„Okay, ich-- Warten Sie.“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Kennen Sie einen Mann namens Alexej?“

„Alexej? Lass mich kurz nachdenken; dieser Name kommt mir bekannt vor.“

Kim musste ein aufgeregtes Japsen unterdrücken. War der unwahrscheinliche Fall, dass er und Alexej sich wiedersehen würden, wirklich eingetreten oder--?

„Ja, ich erinnere mich an Alexej“, sagte Lee. „Ich kannte ihn kaum, aber er schien ganz in Ordnung zu sein.“
 

„Wie geht es ihm?“

Lee hob leicht verwundert die linke Augenbraue.

„Er ist tot“, antwortete sie, woraufhin Kims Hoffnung genauso schnell verschwand wie sie aufgetaucht war. „Ist vor 'n paar Monaten im frühen Morgen von 'ner Klippe gestürzt, weil es ziemlich nebelig war und er nicht gesehen hat, wohin er gegangen ist. Typischer Fall von zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Oh... mein Beileid.“

Na großartig. Entweder reden wir von ganz verschiedenen Personen oder – was zwar unwahrscheinlich, aber auch eine Möglichkeit ist – Alexej ist gestorben und wir werden uns nie wieder begegnen. Ich weiß, dass ich daran nichts ändern kann, aber wenn ich die Wahl zwischen diesen beiden Optionen hätte, wäre es wie Pest und Cholera.
 

Als Kim und Lee landeten, war die Sonne schon vor ein paar Stunden aufgegangen. Die beiden wurden von einem Auto abgeholt, in dem zwei Männer saßen, die Kim irgendwie nicht geheuer vorkamen. Sie waren muskulös genug, um ihn zusammenzuschlagen, und warfen ihm abwertende Blicke zu, was ihre unheimliche Aura nicht gerade verbesserte.

„Bevor du fragst: Nein, keiner von den zwei ist der Mann, zu dem ich bringen soll“, sagte Lee zu Kim und stieß ihn unsanft auf die Rückbank. „Mach's dir schon mal gemütlich; wir haben eine lange Fahrt vor uns.“

Kim traute sich nicht, Lee zu fragen, wie lange genau die Fahrt sein würde, weshalb er schweigend aus dem Fenster sah und erfolglos versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Weil er nicht wusste, was er tun sollte, saß er einfach nur da und starrte nach draußen, wo die Sonne gemächlich in den Himmel stieg. Kim beobachtete, wie sie mit der Zeit durch die Wolken wanderte und sich wieder dem Horizont neigte, und realisierte erst, als sein Nacken schon ganz steif war, dass mehrere Stunden vergangen sein mussten.
 

Kim hatte das Gefühl, eine Ewigkeit wäre verstrichen, als das Auto endlich sein Ziel erreichte. Er stieg auf Lees Befehl hin aus, sah sich um und staunte nicht schlecht. Es war mitten in der Nacht und sie befanden sich in einem Dorf, das genauso einsam, verlassen und langweilig wirkte wie der Ort, in dem Kim vor nicht allzu langer Zeit noch gelebt hatte. Der einzige Unterschied war, dass am Horizont weder Städte noch andere Häuser, sondern zahlreiche Berge und massenhaft Wälder zu sehen waren.

„S-sind wir jetzt da?“, fragte Kim, woraufhin Lee den Kopf schüttelte und ihm ein Zeichen gab, ihr zu dem großen Gebäude zu folgen, vor dem sie geparkt hatten. Jenes Gebäude besaß seltsamerweise recht viele Ähnlichkeiten mit einem Stall; es war lang und breit, aber nur eineinhalb oder zwei Stockwerke hoch, roch nach Pferd, hatte viele Fenster und erinnerte an ein Fachwerkhaus. Als Kim es betrat, musste er feststellen, dass der Bau nicht nur wie ein Stall aussah – er war auch einer.

„Was machen wir hier?“, fragte er verwirrt. „Und was sollen diese ganzen Pferde?“
 

Lee packte ihn kurzerhand am Oberarm, zerrte ihn quer durch die Stallgasse und an den glotzenden Pferden vorbei und zog ihn am anderen Ende des Stalls nach draußen, wo sich ein riesiges Feld erstreckte.

„Da wollen wir hin“, sagte sie und deutete geradewegs auf den Wald. „Sieht es für dich so aus, als könnte dort ein Auto fahren?“

Kim schüttelte den Kopf. Der Wald war ziemlich weit weg, aber selbst auf die Entfernung konnte er erkennen, dass die Bäume viel zu dicht standen, um ein Auto hindurch zu lassen. Außerdem schien der Boden sehr uneben zu sein, was vermutlich mit den Bergen in der Nähe zusammenhing.

„Gut, dann hätten wir das jetzt geklärt“, sagte Lee genervt. „Vor den Pferden musst du keine Angst haben. Die tun dir nichts, solange du sie nicht ärgerst.“

„Ich weiß“, erwidere Kim etwas irritiert und sah im Augenwinkel, wie die beiden Männer vier gesattelte Pferde aus dem Stall brachten. „Ich reite schon seit etlichen Jahren.“
 

„Echt?“ Zum ersten Mal klang Lee weder genervt noch herablassend. „Das ist gut. Sehr gut sogar. Das macht die Sache wesentlich einfacher.“

„Wir werden durch diesen Wald reiten, nicht wahr?“

„Richtig erkannt, Sherlock. Und ich würde dir sehr ans Herz legen, mir zu folgen und keinen Scheiß zu probieren. Vertrau mir, wenn du versuchst, zu fliehen, werden wir dich einfangen, so lange schlagen, bis du nicht mehr laufen kannst, und--“

„Okay, okay, ich hab's verstanden. Können Sie mir auch mal eine Anweisung ohne Drohung geben? Ein simples ''Folge mir, Kim!'' hätte vollkommen gereicht.“

„Das hoffe ich für dich“, zischte Lee, ehe sie sich auf ihr hellgraues Pferd schwang, das seiner Kopfform und zierlichen Statur nach zu urteilen ein Araber war.
 

Kim bekam die Zügel von einem Pferd in die Hand gedrückt, das dunkelbraunes Fell und eine dünne Blesse besaß. Es erinnerte ihn an Peter Pan, was ihn betrübt seufzen ließ.

Er streichelte kurz die weichen Nüstern des Tieres, bevor er ebenfalls aufstieg und beide Hände um die Zügel schlang. Es war komisch, nach den vielen Wochen, die Kim nach dem Tod seines Lieblingspferdes weinend in seinem Zimmer verbracht hatte, wieder in einem Sattel zu sitzen und den großen Brustkorb des Pferdes zwischen seinen Beinen zu spüren.

„Bist du bereit?“, fragte Lee, woraufhin Kim entschlossen nickte. Sich in der Anwesenheit von Tieren und insbesondere Pferden zu befinden, hatte eine beruhigende Wirkung auf den Jungen, auch wenn er keinen Plan hatte, warum das so war.

„Gut“, sagte Lee. „Dann lasst uns losgehen.“
 

Am Anfang der Reise hatte Kim noch Angst gehabt, aber jetzt nahm er seine Furcht kaum noch wahr. Ja, er wurde von fremden Menschen eskortiert, und ja, er sollte zu einem Mann gebracht werden, den er wahrscheinlich nicht kannte, aber zum ersten Mal seit einer Ewigkeit existierte er nicht nur, sondern er lebte. Er konnte das regelmäßige Schlagen seines Herzens hören, die kalte Nachtluft, die nach Blättern und Regen roch, in seiner Lunge fühlen und eine Euphorie verspüren, die er sonst nur von den Ausritten mit Peter Pan kannte und noch nie zuvor so stark erlebt hatte. Vielleicht war dies das Zeichen, dass Kim endlich den Ort gefunden hatte, nach dem er sich schon so lange gesehnt hatte, oder sein Gehirn war mit der unbekannten Situation so überfordert, dass es neben den Stress- nun auch Glückshormone und alles andere ausschüttete – aber wen interessierte das schon? Für Reue war später noch Zeit. Außerdem hatte Kim sowieso keine Möglichkeit, irgendetwas an seiner Lage zu ändern.
 

Der Junge befand sich zwischen Lee, die vor ihm war und zielstrebig über das Feld trabte, und den beiden Männern, welche hinter ihm waren und die Nachhut bildeten. Kaum hatte Lee den Rand des Waldes erreicht, wechselte sie in den Galopp und preschte mit vollem Tempo nach vorne. Wegen der hohen Geschwindigkeit der Pferde entstand zwischen den Tieren ein Abstand von mehreren Metern, aber das schien die Erwachsenen nicht zu stören. Eine Pferdelänge konnte Kim sich also erlauben...

Die vier Personen hatten geschätzt mehrere hundert Meter hinter sich gebracht, als der Junge neben dem rhythmischen Trampeln der Hufe und dem Rauschen der Blätter ein weiteres Geräusch wahrnahm. Er hörte das Plätschern eines Flusses, der nur wenige Augenblicke später erreicht wurde und dessen Oberfläche dank des Mondlichtes hell schimmerte. Hätte Kim sich nicht in seiner momentanen Situation befunden, wäre er vom Pferd gestiegen und hätte den Anblick der schönen Landschaft genossen.
 

Nachdem Lee in die Nähe des Flusses gelangte, bog sie links ab und galoppierte parallel am Gewässer vorbei. Ihr schwarzes Haar und ihre dunklen Klamotten machten sie in der Nacht nur schwer erkennbar, aber Kim reichte ihr helles Pferd, das die Farbe von Nebel besaß, vollkommen aus, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und ihr zu folgen.

Nach einiger Zeit passierten die Menschen eine Stelle, an welcher der Fluss sich aufteilte, aber immer noch nicht dünn genug war, um ihn überqueren zu können. Erst als sie eine mehrere Meter breite Kiesbank erreichten, verlangsamte Lee das Tempo, bog nach rechts ab und trabte durch das leise plätschernde Wasser. Kim tat es ihr gleich und ließ es sich nicht nehmen, einen Blick auf den Fluss zu werfen und darüber nachzudenken, wie malerisch er aussah. Mit seinen gleichmäßigen Bewegungen und der Spiegelung der Baumkronen und des Mondes, die von durch Pferdebeine verursachte Wellen zerstört wurde, könnte er direkt einem Märchenwald entsprungen sein.
 

Weil Kim so sehr in seine Träumereien vertieft war, schenkte er der Richtung seines Pferdes kaum noch Aufmerksamkeit und bemerkte erst, dass er von Lees Pfad abgekommen war, den die junge Frau sicherlich nicht ohne Grund gewählt hatte, als das Pferd plötzlich in eine tiefere Stelle trat und seinen Weg zügig korrigierte. Wie eine Hand, die Kim am Bein packen und nach unten ziehen wollte, spritzte ein wenig Wasser nach oben und traf den Jungen am Knöchel. Was sich innerhalb dieser paar Sekunden zugetragen hatte, war für einen Außenstehenden, der die Situation nur beim genauen Beobachten wahrgenommen hätte, weder wichtig noch besonders, aber für Kim stellte sie beinahe eine Erleuchtung dar. Er kam sich vor, als hätte er sein bisheriges Leben im Halbschlaf verbracht, aus dem er nun erwacht war – alles fühlte sich so real an. Im Augenblick tat er nichts außer durch einen Fluss zu reiten – etwas, das er schon öfters getan hatte – und trotzdem prägte sich dieser Moment so intensiv in Kims Gedächtnis ein, als--
 

„Ist dies das erste Mal, dass du einen Wald siehst, oder was ist dein Problem?“, fragte Lee, die am anderen Ufer des Flusses auf Kim wartete und von dessen Bewunderung sichtlich genervt war.

Angesprochener antwortete nicht, sondern sah zu Lee und blinzelte sie verwirrt an. Er hatte fast vergessen, dass sie auch noch hier war.

„I-ist es noch weit?“, fragte er, um von seiner Verträumtheit abzulenken, während hinter ihm die beiden Männer durch den Fluss wateten. Kim hörte den Kies unter den Hufen ihrer Pferde knirschen.

„Nein, die Hälfte haben wir schon“, sagte Lee und warf einen kurzen Blick zu einem besonders großen Berg, der sich irgendwo hinter der Abzweigung des Flusses befand. Kim hatte ihn bis jetzt noch nicht bemerkt, weil er so weit das Auge reichte von Bergen umgeben war und jeder dieser gigantischen Hügel mehr oder weniger gleich aussah. Außerdem war der Fluss interessanter gewesen.
 

Knapp unter der Spitze des Berges, der Lees Aufmerksamkeit zuteilwurde, war ein kleiner cremefarbener Fleck zu erkennen. Kim hatte ihn für Schnee gehalten, weil alle Bergspitzen damit bedeckt waren, aber als sich jener Fleck bewegte, wurde klar, dass es sich dabei um ein vierbeiniges Lebewesen handelte. Kim würde auf Pferd tippen, aber sicher war er sich nicht. Im Augenwinkel sah er, dass die beiden Männer den Fluss überquert hatten; eines ihrer Pferde schüttelte sich gerade das sicherlich kalte Wasser vom Leib.

Lee schaute noch einmal zu dem hellen Tier, ehe sie sich so drehte, dass sie dem Fluss den Rücken zuwandte, und ihr Pferd antrieb. Kim und die Männer folgten ihr; gemeinsam liefen sie durch den Wald und kamen mehrmals an Stellen vorbei, an denen Autos und andere Fahrzeuge bestimmt Probleme gehabt hätten, weil der Wald nicht nur geringe Abstände zwischen Bäumen, sondern auch unebenen Boden, spitze Felsen und matschigen Schlamm bereithielt. Kim fragte sich, was wohl das Ziel dieser sonderbaren Reise darstellte, wenn bereits der Weg so ungewöhnlich war.

4. Kapitel

Kims Angst hatte sich vollkommen in Luft aufgelöst. Obwohl er einen Ort betrat, den er noch nie zuvor besucht hatte, fühlte er sich nicht wie ein Eindringling, sondern wie ein Reisender, der nach langer Zeit in seine Heimatstadt zurückkehrte. Er war nervös und aufgeregt, aber Furcht verspürte er nicht.

Lee verlangsamte in den Schritt und ritt einen Berg entlang, der erst flach anfing, aber dann ziemlich steil in die Höhe schoss. Zuerst konnte Kim nicht sehen, wohin der Weg führte, doch dann entdeckte er den etwa einen Meter breiten Eingang, der so aussah, als wäre der Berg von einem überdimensionalen Meißel gespalten worden. Links und rechts befand sich kalter grauer Stein, geradeaus loderten ein paar Lichter und über ihnen erstreckte sich der mit Sternen bestickte Nachthimmel.

Das Erste, was Kim von dem Ort wahrnahm, der sich hinter dem langen, aber schmalen Berg versteckte, waren das leise Klimpern eines Windspiels und die Stimmen mehrerer Menschen. Als der Junge durch den Eingang wanderte, lagen die Schatten des Felsen auf ihm, aber sobald er diese verließ, erblickte er eine Szenerie, die er nur aus Geschichten kannte.
 

Vor ihm lag ein ovaler Platz, der von meterhohem Stein umzäunt wurde. Nur von hier aus konnte man sehen, dass der Fels mit dem Spalt wie ein Gugelhupf geformt war, aus dem man ein Stück herausgeschnitten hatte.

Hätte Kim sich seinen Weg stur geradeaus gebahnt, wäre er auf eine hölzerne Treppe gestoßen, die zu einem Haus führte, das auf einem großen Sims erbaut worden war. Wer auch immer darin wohnte, besaß den perfekten Platz, um alles im Auge zu behalten, denn sein Heim schwebte von Kims Standort aus gesehen locker fünfzehn Meter über dem Boden.

Rechts von Kim reihten sich mehrere kleine Häuser und Hütten auf. Viele von ihnen waren beleuchtet und bewohnt; Erwachsene im grob geschätzten Alter von zwanzig bis fünfzig Jahren führten Gespräche, rauchten, lungerten auf Terrassen und Veranden herum oder taten andere Dinge.

Links von Kim hingegen war es ruhiger. Neben der Treppe war ein großes Gebäude, in dem sich niemand aufzuhalten schien, neben dem Eingang eine Koppel mit einigen Pferden und dazwischen etwas, das wahrscheinlich ein Stall war.
 

Kim hätte sich gerne umgesehen und dieses schöne Dörfchen – konnte man es überhaupt so nennen? – erkundet, aber Lee hatte andere Pläne. Sie wies den Jungen an, vom Pferd zu steigen, schwang sich von ihrem eigenen Ross und marschierte direkt auf die Treppe zu. Einige Männer, die vor dem Haus standen, an dem Lee vorbeiging, begrüßten sie, aber sie schenkte ihnen keine Beachtung und fauchte Kim an, das er sich gefälligst beeilen sollte.

„Wo sind wir hier?“, wollte der Junge wissen. „Und was ist das hier für eine Gemeinde?“

Lees Blick verriet, dass sie wieder Lust noch Zeit hatte, diese Fragen zu beantworten, aber Kim ließ nicht locker.

„Wer wohnt dort oben? Ist es der Mann, zu dem du mich bringen sollst?“

Die Treppenstufen knarzten leicht, aber Kim bekam davon gar nichts mit. Er war so aufgeregt, dass er am ganzen Körper zitterte und Lees Körpersprache, die eindeutig sagte, dass die junge Frau nicht genervt werden wollte, vollkommen übersah.
 

Nachdem die beiden die Treppe hinter sich gebracht hatten, standen sie vor einer dunkelroten Haustür, deren Farbe an manchen Stellen vom Holz splitterte. Lee holte einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Tür und schubste Kim in den dunklen Flur, ehe sie ihm folgte und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Langsam wurde Kim wütend.

„Sag mir endlich, wo wir hier sind!“

„Sei still“, knurrte Lee und betätigte einen Lichtschalter, woraufhin eine kleine Lampe an der Decke kurz aufflackerte, bevor sie schließlich Licht spendete, aber den Eindruck erweckte, jeden Moment auszugehen oder erneut unregelmäßig zu blinken.

„Was soll das? Was ist so schwer daran, mir eine Antwort zu geben?! Ich kann sowieso nicht fliehen oder--“

Kim sah die Ohrfeige nicht kommen. In der einen Sekunde hatte er noch gesprochen und in der nächsten wurde er von einer unerwarteten Wucht gegen die Wand gedrückt.
 

Seine Wange pochte unangenehm und etwas Warmes lief über seine Haut. Lee hatte die Wunde an seiner Schläfe aufgerissen, die sie Kim am Flughafen zugefügt hatte, aber ob sie das versehentlich oder mit Absicht gemacht hatte, war Kim ein Rätsel.

„Was ist so schwer daran, für fünf verdammte Minuten die Klappe zu halten?!“, imitierte Lee Kims Stimmlage. „Ich bin von Kanada nach Russland und zurück gereist, nur um dich hierher zu bringen, und er will mir nicht einmal den Grund nennen! Warum du? Warum jetzt? Und warum--?“

In dem Zimmer, das am anderen Ende des Flurs auf der linken Seite lag, ging auf einmal das Licht an. Lee brach mitten im Satz ab, packte Kim an den schwarzen Haaren und zog ihn in den nächsten Raum, der seiner Einrichtung nach zu urteilen sowohl Wohn- als auch Esszimmer war. Rechts stand ein langer Tisch mit vier Stühlen und links ein graues Ecksofa, ein Flachbildfernseher und ein schwarzes glänzendes Piano, während sich geradeaus eine geöffnete Tür in der Wand befand, die zu einem Balkon führte. Kim sah durch den Türrahmen, doch konnte außer dem Sternenhimmel und die Silhouette einer Person nichts erkennen.
 

Lee fuhr sich nervös durch die dunklen Haare und wirkte dabei wie eine verliebte Schülerin, die kurz vor ihrem ersten Date schnell überprüfen wollte, ob ihre Frisur noch richtig saß. Sie biss sich unruhig auf die Unterlippe und warf einen hastigen Blick auf Kims leicht blutende Schläfe, ehe sie zu dem Menschen spähte, der auf dem Balkon stand.

Den Jungen interessierte es auch brennend, wer sich dort aufhielt, aber noch viel spannender fand er Lees Veränderung. Bis jetzt hatte die junge Frau den Eindruck erweckt, sich von nichts und niemanden einschüchtern zu lassen, aber jetzt machte sie den Anschein, sich am liebsten in Luft auflösen zu wollen. Hatte sie vor irgendetwas Angst? Vielleicht vor dem Mann, der gerade ins Zimmer kam und--

Kim vergaß beinahe, wie man atmet.

Wie war das möglich? Auf der Welt lebten mehr als sieben Milliarden Menschen – die Chance, ihn erneut zu treffen, war kleiner als die Chance auf einen Jackpot im Lotto!
 

Der Mann, der vor Kim stand, war ohne Zweifel Alexej. Als Kim ihn das erste und letzte Mal gesehen hatte, war er schon in seinen Zwanzigern und damit außerhalb des Alters gewesen, in dem man noch wächst, aber trotzdem sah er irgendwie größer als vor fünf Jahren aus. Kim würde seine komplette Büchersammlung darauf verwetten, dass dem Kerl nur noch wenige Zentimeter fehlten, um die Zwei-Meter-Grenze zu überschreiten und sich den Kopf am Türrahmen zu stoßen.

Auch an Muskelmasse hatte Alexej zugelegt. Wie ein Wrestler sah er zwar nicht aus, aber viel fehlte nicht mehr. Rein theoretisch müsste man ihm nur eine Hockeymaske aufsetzen und schon würde er wie Jason Voorhees aussehen; eine zum Glück fiktive Figur aus einem Horrorfilm, den Kim niemals vergessen könnte. Er hatte sich den Film als Kind gegen den Willen seiner Eltern angesehen und es sofort bereut.

„Lange nicht gesehen, Kleiner“, sagte Alexej freundlich lächelnd und kam auf Kim zu, um ihn genauer zu betrachten. Sein Lächeln erstarb jedoch, als er das dünne Rinnsal aus Blut bemerkte, das Kims Wangenknochen erreicht hatte.
 

„Lee, warum blutet er?“, wechselte er ins Koreanische und sah zu der jungen Frau, die versuchte, seinem Blick standzuhalten, es aber nicht schaffte und verlegen zur Seite schaute.

„Es... es gab ein paar Komplikationen“, murmelte sie leise.

„Bitte?“

„E-er hat sich gewehrt“, sagte sie etwas lauter und sah zurück zu Alexej, dessen Gesichtsausdruck sich verfinsterte hatte. Kim verspürte das immer stärker werdende Bedürfnis, sich unter dem Sofa zu verstecken.

„Lee.“ Alexej ging zur Tür, die zum Balkon führte, schloss sie, und lehnte sich neben sie gegen die Wand, wo er die Arme vor der Brust verschränkte und Lee anschaute, als würde er irgendetwas Schweres nach ihr werfen wollen. „Versetz dich in die Lage des Jungen. Stell dir vor, eine wildfremde Frau würde vor dir erscheinen und dich mal eben so auf die andere Seite der Welt befördern wollen. Würdest du dich wehren?“
 

„Ja, aber--“

„Na also. Dann müsste sich deine Verwunderung, dass er sich auch wehrt, doch in Grenzen halten, oder?“

Kim zitterte nervös. Hatte Alexej heimlich an der Heizung herumgespielt oder warum war die Temperatur um gefühlte zehn Grad gesunken?

„I-ich hatte keine andere Wahl. Ich habe bloß getan, was du von mir verlangt hast.“

Alexej seufzte, löste sich von der Wand und ging auf Kim zu, der aus Angst einen Schritt zurückwich. Hatte er ihn versehentlich verärgert?

Der Russe schien in der Tat alles andere als erfreut zu sein, aber seine Wut galt nicht Kim. Er schob den Jungen sanft Richtung Ecksofa, ehe er mit Lee im Flur verschwand, wo sofort eine hitzige Debatte entfachte.

„Ich habe dir mehrmals gesagt, dass du ihn auf keinen Fall verletzen sollst! Warum hast du es trotzdem getan?!“

„Er hat sich gewehrt! Ich hatte keine andere Wahl! Was hätte ich tun sollen?! Ihn herumschreien lassen, damit jemand auf uns aufmerksam wird?!“
 

Alexej hatte die Tür hinter sich geschlossen, aber das Geschrei war trotzdem deutlich zu hören. Kim krallte sich nervös in den grauen Stoff des Sofas und überlegte, was er jetzt tun sollte. Weglaufen auf jeden Fall nicht, denn Kim konnte getrost darauf verzichten, den Zorn des Mannes zu spüren, der Lee gerade einen Kopf kürzer machte. Die junge Frau hatte vorhin noch so selbstsicher und unantastbar gewirkt – entweder war das nur eine Fassade gewesen oder Alexej war derjenige, der hier das Sagen hatte.

Kim beschloss, dass es am sinnvollsten wäre, einfach hier sitzen zu bleiben und zu warten, doch seine Neugierde hatte andere Pläne. Sie schubste ihn vom Sofa und trieb ihn zu der Wand hinter dem Esstisch, an der einige Bilder hingen. Die meisten von ihnen zeigten traumhaft schöne Landschaften – vermutlich aus der Umgebung – aber eins fiel besonders auf, weil auf ihm der große Berg zu sehen war, den Kim auch vorhin beim Fluss gesehen hatte, nur aus einem anderen Blickwinkel und zu einer anderen Jahreszeit.
 

Auf der Spitze des Bergen befanden sich einige Bäume, deren hellgrünes Blattwerk darauf hindeutete, dass damals Frühling gewesen war, und ein weißes Tier, das Kim diesmal eindeutig als Pferd identifizieren konnte. Es sah wirklich schön aus, wie die Sonne durch die helle Mähne schien und sich vor den Nüstern eine Atemwolke bildete.

Kim blickte nach rechts und sah eine geöffnete Tür, hinter der eine Küche lag. Während die Erwachsenen immer noch mit ihrem Streit beschäftigt waren, schaute der 16-Jährige sich um und dachte darüber nach, wie wohl der Rest des Hauses aussehen würde. Er spielte mit dem Gedanken, sich auf den Balkon zu begeben, als Lee plötzlich schrie: „Verdammte Scheiße, Adrian! Es war nicht richtig, den Jungen hierher zu bringen, und früher oder später wirst selbst du das verstehen!“

Adrian? Ich habe gar nicht mitbekommen, dass eine dritte Person hinzugekommen ist.

Kim wünschte sich, Alexej und die anderen würden nicht über, sondern mit ihm reden – schließlich ging es hier um ihn.
 

Im Flur knallte eine Tür. Kurz darauf betrat Alexej das Wohnzimmer; er sah genervt und erschöpft aus, aber als er Kim erblickte, der sich zurück auf das Sofa gesetzt hatte, lächelte er wieder.

„Sorry, Kleiner. Lee sollte dich abholen, nicht zusammenschlagen. Lass mich mal sehen.“

Er packte Kim vorsichtig am Kinn und drehte den Kopf des Jungen zur Seite, damit er die Wunde an der Schläfe besser betrachten konnte. Die Verletzung sah schlimmer aus als sie war. Man musste bloß das Blut abwaschen, das an der blassen Haut und an ein paar Strähnen des dunklen Haars klebte, und aufpassen, das kein Dreck hineingelang, dann würde sie sicherlich schnell wieder verheilen.

„Warum haben Sie mich hierher bringen lassen?“, wollte Kim wissen, nachdem Alexej in die obere Etage gegangen und mit einem Verbandskasten in den Händen wiedergekommen war.

„Weil ich den Jungen, dem ich mein Leben zu verdanken habe, nicht einfach im Stich lassen konnte“, antwortete der Russe und wischte mit einem Wattepad vorsichtig das Blut von Kims Schläfe.
 

„Was meinen Sie damit?“

„Kannst du dich nicht erinnern? Du hast mich vor etwa fünf Jahren aus 'ner Höhle gezerrt.“

„Ja, das weiß ich noch, aber... warum haben Sie mich ausgerechnet jetzt geholt? Gab es einen Anlass?“

Alexej hielt inne und musterte Kim besorgt.

„Hast du dir irgendwo den Kopf gestoßen?“

„Ich glaube nicht. Warum?“

„Weil du nicht zu wissen scheinst, was passiert ist.“

„Jetzt, wo Sie es sagen... bevor ich Lee kennengelernt habe, bin ich in einem fremden Raum aufgewacht und konnte mich nicht daran erinnern, wie es dazu gekommen ist.“

„Das erklärt einiges.“

„Heißt das, Sie wissen, was geschehen ist?“
 

Alexej antwortete nicht, sondern stellte den Verbandskasten auf dem Tisch ab und seufzte ratlos.

„Bitte sagen Sie es mir“, flehte Kim.

„Ich denke, das wäre keine so gute Idee.“

„Warum nicht?“

„Weil es bestimmt einen Grund gibt, warum du dich nicht erinnern kannst.“

Erneut überkam Kim das Gefühl, das hier sei alles nicht real. Er kam sich vor, als würde er sich in einem Traum oder einer Filmszene befinden, und wartete schweigend darauf, dass jemand im Hintergrund ''Cut!'' rief und alles wieder beim Alten wäre.

„Weißt du, Kim... es gibt Menschen, denen etwas passiert, das so schlimm ist, dass sie nicht damit umgehen können. Sie schützen sich selbst, indem sie das Geschehene bewusst vergessen, und diesen Schutz zu zerstören, indem man sie mit der Realität konfrontiert, wäre gemein und äußerst schädlich.“
 

Kim wusste nicht, was er erwidern sollte, weshalb er schwieg.

„Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass du dich in Gefahr befunden hast. Ich habe dich hierher holen lassen, um dich in Sicherheit zu bringen. Wie die Zukunft aussehen wird, weiß ich nicht, aber fürs Erste wirst du bei mir bleiben.“

Kim starrte gedankenverloren zu Boden und dachte über Alexejs Worte nach, aber sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit Watte gefüllt.

„Es ist mitten in der Nacht“, fuhr der Ältere fort. „Was hältst du davon, wenn ich dir dein Zimmer zeige und du ein wenig schläfst?“

Kim nickte und folgte Alexej in die obere Etage, die durch die andere Tür im Flur und über eine knarrende Treppe zu erreichen war. Oben angekommen standen sie in einem weiteren Flur mit vier Türen, die von rechts nach links ins Badezimmer, Alexejs Zimmer, Büro und Gästezimmer führten.
 

Kim betrat Letzteres und sah sich um. Der Raum war schmal, aber dafür lang. Während die rechte Wand ziemlich kahl war, befanden sich an der linken ein Schreibtisch samt Stuhl und ein breiter Schrank. Dahinter, im rechten Winkel zu den anderen Möbeln und unter dem Fenster stand ein Bett, doch bevor Kim dieses erreichte, öffnete er den Schrank und sah entgegen seiner Erwartung einen ganzen Haufen Klamotten. Neugierig griff er nach dem erstbesten Kleidungsstück – ein grauer Pullover – und hielt ihn sich an den Oberkörper. Er schien seine Größe zu haben.

„Warum sind diese Klamotten hier?“, fragte er Alexej, der mal wieder lächelte.

„Als ich erfahren habe, dass du in der Klemme steckst, habe ich Lee losgeschickt und währenddessen einige Vorkehrungen getroffen. Ich hoffe, die Sachen gefallen dir.“

„Ja, das tun sie... danke.“

Kim legte den Pullover zurück, schloss den Schrank und hörte, wie sich draußen ein paar Männer lautstark miteinander unterhielten.
 

„Alexej... wer bist du? Und was ist das hier für ein Ort?“

„Zuallererst: Ich bin nicht Alexej. Damals konnte ich dir für den Fall der Fälle meinen echten Namen nicht nennen, also habe ich einfach den ersten genommen, der ebenfalls mit einem A anfängt. Ich heiße Adrian.“

Oh. Das würde erklären, warum Lee ihn vorhin so genannt hat und warum sie mir keine zufriedenstellende Antwort geben konnte, als ich sie nach jemanden mit dem Namen Alexej gefragt habe.

„Ähm... okay. Es könnte schwierig werden, sich nach fünf Jahren an einen anderen Namen zu gewöhnen, aber ich werde es versuchen.“

„Schon gut. Ich werde dir nicht den Kopf abreißen“, erwiderte Adrian und schmunzelte. „Den Rest werde ich dir morgen erzählen, wenn ich dir das Lager zeige. Du solltest jetzt ins Bett gehen. Gute Nacht.“

5. Kapitel

Kim hatte schon eine Menge Bücher mit dem Thema Entführung gelesen und irgendwann war ihm aufgefallen, dass sich alle Opfer mehr oder weniger gleich verhielten. Sie übernachteten zum ersten Mal im Haus ihres Entführers und wenn sie aufwachten, erwarteten sie, sich in ihrem eigenen Bett wiederzufinden und das Geschehene als Traum abtun zu können. Dann verbrachten sie mehrere Minuten damit, sich an die Entführung zu erinnern, und schließlich begann das Schmieden der Fluchtpläne.

Als Kim an diesem Mittag aufwachte, rechnete er weder mit dem nervigen Klingeln seines verhassten Weckers noch mit seiner Mutter, die ihn aus dem Bett zerrte und ihm sagte, dass er noch zu spät zur Schule kommen würde, wenn er sich jetzt nicht beeilte. Stattdessen fühlte er sich, als hätte er schon immer hier gelebt, und setzte sich in aller Seelenruhe aufrecht hin, ehe er seine müden Gliedmaßen streckte und gemächlich gähnte. Er hätte gerne gewusst, wie spät es war, aber da in seinem Zimmer keine Uhr hing, konnte er nur vermuten, ob er den halben oder den ganzen Tag verschlafen hatte.
 

Kim spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seiner blassen Haut. Er öffnete das Fenster und ließ eine kühle Brise herein, die an seinen schwarzen Haarsträhnen zupfte und das Windspiel erklingen ließ, dessen Klänge Kim schon gestern gehört hatte. Seine blaugrünen Augen wanderten über das Lager, suchten die Umgebung nach etwas Spannenden ab und blieben schließlich an Adrian hängen, der sich mit Lee und ein paar Männern unterhielt. Als er gerade nicht redete, warf er einen flüchtigen Blick zum Fenster, und Kim könnte schwören, ihn lächeln zu sehen.

Während sich Adrian von den anderen Erwachsenen abwandte und auf sein Haus zusteuerte, schloss Kim die Augen und atmete die frische Luft ein, die nach Holz, Baumharz, taufeuchten Gräsern und anderen Pflanzen roch. Es war eine angenehme Abwechslung zu der Landluft, in welcher die Gerüche von Essen, Zigarettenqualm und ungewaschenen Menschen hingen, und der Luft in der Stadt, die von vorne bis hinten nach Autoabgasen stank. Natürlich konnte der Duft des Waldes den salzigen Geruch von Meerwasser nicht übertreffen, aber trotzdem war er etwas Schönes, an das Kim sich hoffentlich noch lange erfreuen können würde.
 

Ein Klopfen riss den Jungen aus seinen Träumereien. Er drehte sich um und sah, wie Adrian das Zimmer betrat.

„Schön dass du endlich wach bist“, sagte der Russe und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Ich hatte schon damit gerechnet, dass du den ganzen Tag schläfst.“

„Nun... ich habe eine anstrengende Nacht hinter mir.“

„Das glaube ich dir.“ Er räusperte sich. „Zieh dich an und komm dann runter, ja? Mittagessen ist gleich fertig.“

„Okay.“

Adrian wollte den Raum verlassen, kam jedoch zurück. „Du hast keine Allergien, oder?“

Kim schüttelte den Kopf. Das Einzige, auf das er allergische Reaktionen zeigte, war Langeweile, aber Adrians Frage bezog sich auf Lebensmittel und damit hatte das ja nichts zu tun.

„Gut. Wir sehen uns dann gleich.“

Kaum hatte Adrian die Tür hinter sich geschlossen, machte Kim das Fenster zu, stieg aus dem Bett und stellte sich vor den Schrank.
 

Weniger Minuten später kam der Junge in einer dunkelgrauen Jeans und einem himmelblauen Pullover gekleidet aus seinem Zimmer. Er durchquerte den Flur und betrat das Badezimmer, wo er eine Kulturtasche mit seinem Namen fand, in der neben Zahnbürste und Shampoo auch die anderen Sachen lagen, die man halt so brauchte. Adrian hatte wirklich an alles gedacht.

Kim putzte sich die Zähne und brachte seine Haare in Ordnung, die zuvor so ausgesehen hatten, als hätte ein Vogel dort sein Nest bauen wollen. Er warf einen letzten prüfenden Blick in den großen Spiegel, ehe er das Bad verließ und nach unten ging. Bereits auf der Treppe kam ihm der wunderbare Duft von Nudeln entgegen und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.

„Ich habe fast eine Viertelstunde lang darüber nachgedacht, ob es komisch wäre, ein koreanisches Gericht zu kochen“, wurde Kim von Adrian begrüßt, der am Esstisch saß und nicht von dem Kochbuch aufsah, durch das er gedankenverloren blätterte. „Wäre es dir eigentlich lieber, wenn wir uns auf Deutsch unterhalten, oder sollen wir bei Koreanisch bleiben?“
 

„Letzteres“, entschied Kim nach kurzem Nachdenken und setzte sich dem Erwachsenen gegenüber an den Tisch, auf dem sich Gläser und Besteck, aber noch kein Essen befanden. „Deutsch erinnert mich an mein Zuhause.“

„Magst du dein Zuhause nicht?“ Adrians bernsteinfarbene Augen lösten sich von ''15 Desserts zu jedem Anlass'' und sahen zu Kim, der nervös nach seiner Gabel griff.

„Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich es nicht mag, aber... es hat sich irgendwie... wie ein Gefängnis angefühlt.“ Kim kratzte mit dem Fingernagel seines Daumens über das Metall und lugte zu Adrian. Er hatte mit irritierten Blicken oder einer gerunzelten Stirn gerechnet, aber das Einzige, was er am Gesicht des Russen ablesen konnte, war Interesse. „Meine Eltern haben ständig bemängelt, dass meine Noten nicht gut genug sein würden... und meine Mitschüler waren auch ziemlich ätzend.“

„Erzähl mir mehr“, bat Adrian, als Kim eine Pause machte, weil er nicht wusste, ob er sein Gegenüber langweilte. Das Essen stand immer noch nicht auf dem Tisch, aber aus der Küche drangen die Geräusche von jemanden, der mit Töpfen hantierte.
 

„Meine Klasse ist ganz okay, aber in der Parallelklasse gibt es ein paar Mädchen, die mich für einen Japaner halten. Damit habe ich eigentlich kein Problem, aber sie gehen davon aus, dass ich als vermeintlicher Japaner automatisch ein Fan von Animes und Mangas bin, was manchmal ziemlich nervt. Sie stecken mich in diese Schublade und dann wundern sie sich, dass ich nicht reinpasse.“

„Mangas? Sind das nicht diese japanischen Comics?“

„Ja. Und sie haben in letzter Zeit auch angefangen, einige deutsche Wörter durch die japanischen mit gleicher Bedeutung zu ersetzen. Niemand kann sie verstehen und es klingt bescheuert.“ Kim seufzte. „Sei ehrlich – sehe ich wie ein Japaner aus?“

„Hmm... Nein, zumindest nicht wie der Stereotyp. Du erinnerst mich eher an die koreanischen Boygroups, die manchmal im Fernsehen zu sehen sind.“

Kim verzog den linken Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Er kannte sich mit koreanischer Popmusik nicht aus, aber Gerüchten zufolge gab es in dem Jahrgang unter ihm einen komischen Jungen, der über sämtliche Bands aus Südkorea und deren Mitglieder Bescheid wusste.
 

Adrian klappte das Kochbuch zusammen und legte es auf den leeren Stuhl neben sich ab. Fast im gleichen Moment kam eine Person durch den Türrahmen und platzierte zwei Teller auf dem Tisch. Kim sah zu ihr hoch und erwartete ein Dienstmädchen, weshalb er sich um so mehr erschreckte, als er plötzlich Lees Gesicht erblickte.

„Das ist das letzte Mal, das ich für dich koche“, sagte sie in einem neutralen Ton zu Adrian, ehe sie im Flur verschwand und das Haus verließ. Sie hatte Kim so bewusst ignoriert, dass der Junge sich fragte, was er diesmal wohl falsch gemacht haben könnte.

„Das sagt sie schon seit etlichen Jahren“, schmunzelte Adrian, sobald Lee außer Hörweite war. „Aber sie ändert jeden Tag ihre Meinung. Da fällt mir ein – wie geht es deiner Verletzung?“

„Ähm... gut. Aber ich glaube, Lee mag mich nicht.“

„Mach dir darum keine Sorgen; sie behandelt jeden so.“

„Sicher?“

„Ja. Du darfst das nicht persönlich nehmen.“
 

Zögernd schaute Kim auf seinen Teller, auf dem Nudeln, Brokkoli und ein Hühnerfilet lagen, und begann zu essen. Nachdem er und Adrian fertig waren, brachte der Ältere das schmutzige Geschirr in die Küche und fragte Kim anschließend, ob er ihm das Lager zeigen sollte.

Der Junge besaß keine Einwände, doch kaum hatten er und der Russe das Haus verlassen und die Treppe hinter sich gebracht, spürte der Junge die ersten neugierigen Blicke auf sich. Einerseits konnte er das Interesse der anderen verstehen, schließlich war er der einzige Jugendliche weit und breit, aber andererseits fand er es nicht gerade angenehm, von den Menschen in seiner Umgebung so angestarrt zu werden, als wäre ein Fabelwesen.

„Du musst keine Angst haben“, sagte Adrian, dem Kims Unbehagen nicht entgangen war. „Niemand hier wird dir auch nur ein Haar krümmen. Insbesondere nicht, wenn ich in der Nähe bin.“

Angesprochener schaute sich die zahlreichen kleinen Hütten und Häuser an und hörte aus einem der Räume die leicht verzerrte Stimme eines Radios.

„Es gibt da etwas, das ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte.“
 

„Schieß los“, erwiderte Adrian und führte Kim nach rechts, ins Innere eines großen Gebäudes.

„Was ist das hier für ein Ort? Er sieht aus wie ein Campingplatz oder ein Reiterhof, liegt mitten im Wald und scheint trotzdem Strom- und Wasseranschlüsse und sogar Empfang zu haben.“

„Wir leben im 21. Jahrhundert, Kim. Heutzutage hast du sogar am Nordpol Empfang. Was den Rest angeht: Ursprünglich war das hier eine von Goldgräbern errichtete Siedlung, die knapp hundertzwanzig Jahre alt ist und sich dementsprechend verändert hat.“

Der Raum, den die beiden betreten hatten, sah ein bisschen wie eine Bar aus einem Film über den Wilden Westen aus, nur ohne Sporen und Cowboyhüte. Der Boden bestand aus dunklem Holz, das an manchen Stellen knarrte, wenn man drauf trat, an den Wänden hingen die Geweihe von Hirschen und Elchen und in regelmäßigen Abständen im Zimmer verteilt standen Tische und Stühle.

Am hinteren Ende des Raumes und rechts von einer Treppe, die zur oberen Etage führte, befand sich eine L-förmige Bar samt Hocker. Die Wand hinter ihr war vollkommen mit Regalen und Schränken zugestellt, in denen verschiedene Gläser, Flaschen und andere Behälter standen.
 

Kim war von der Einrichtung dieses Raumes so fasziniert, dass er die vier Männer, die an der Bar herumlungerten, erst bemerkte, als Adrian sie begrüßte. Sie waren locker zwanzig Jahre älter und einen halben bis ganzen Kopf größer als der Junge, der sich mit seinen 167 Zentimetern wie ein Zwerg fühlte. Hinzu kam, dass diese Männer ihn anschauten, als wären sie Jäger, die soeben ihre Beute erspäht hatten.

Ich hab's verstanden, Leute. Ich bin ein Kind und Kinder sind hier eher ungewöhnlich. Ihr könnt jetzt aufhören, mich so begaffen.

Adrian war so frei, Kim seine Männer vorzustellen, die sich ein freundliches Lächeln abrangen – oder dies zumindest versuchten – aber er hätte genauso gut die Pflanzenarten aus dem Wald aufzählen können, denn wenn es um Namen ging, war Kims Gedächtnis ein hoffnungsloser Fall. Dem Jungen kam es vor, als würde jedes Mal, wenn Adrian einen Namen aussprach, ein lautes Piepen ertönen; ähnlich wie bei der Zensur von unanständigen Ausdrücken.
 

„Die vier gehören zu den wenigen Menschen hier, die der deutschen Sprache mächtig sind“, beendete Adrian das Gespräch, ehe er sich verabschiedete und den Jungen zurück nach draußen führte.

Kim nickte zustimmend, obwohl er keinen blassen Schimmer hatte, wie diese Männer nun hießen. Es blieb nur zu hoffen, dass sie ihm seine Vergesslichkeit nicht übel nehmen würden.

„Das hier ist übrigens das Hauptgebäude. Wie man von außen sehen kann, gibt es drinnen mehr Räume als nur die Bar, aber die zeige ich dir später.“

„Hat das einen bestimmten Grund?“

„Nein. Ich könnte sie dir auch jetzt zeigen, aber kein Mensch kann sich so viel auf einmal merken. Lass uns zum Stall gehen.“

Kim folgte Adrian in den Bau neben dem Hauptgebäude. Vor ihm erstreckte sich eine lange Stallgasse, zahlreiche Boxen und die Köpfe einiger Pferde, die ihn neugierig ansahen.

„Pass bei dem hier auf; der ist bissig“, warnte Adrian und deutete auf einen Schimmel, der, als der Russe an ihm vorbeiging, die Ohren anlegte und nach ihm schnappte.
 

Was für ein Biest, dachte Kim und machte einen großen Bogen um das weiße Pferd, das nun ihn anvisierte. Er war schon oft von Pferden gebissen worden und konnte aus Erfahrung sagen, dass es noch schmerzhafter war als sich die Finger in einer Tür zu klemmen.

„Lee hat mir erzählt, dass du reiten kannst. Das wusste ich gar nicht.“

„Ich reite schon seitdem ich denken kann“, erwiderte Kim und blieb vor Adrian stehen, der gedankenverloren die Nüstern eines Apfelschimmels streichelte. Der Junge betrachtete das graue Pferd genauer und erkannte, dass dieses Tier entweder ein Percheron oder ein Mix mit starken Anteilen dieser Rasse war. Es besaß Behang, einen riesigen Körper und deutlich sichtbare Muskeln. Natürlich gab es kaum Pferde, die nicht muskulös aussahen, aber dieses Exemplar war wirklich eine Wucht. Es erinnerte Kim sehr an seine Vorstellung von Gandalfs Pferd, das im Film fälschlicherweise ein Schimmel war.

„Irgendwie frustrierend“, riss Adrian den Jungen aus seinen Gedanken. „Wir kennen uns seit fünf Jahren und trotzdem weiß ich fast nichts über dich.“
 

„Ich würde dazu nicht ''kennen'' sagen“, erwiderte Kim. „Ich meine, ich habe dich damals aus dieser Höhle geholt und am nächsten Tag warst du weg. Eine halbe Ewigkeit höre ich nichts von dir und plötzlich bringt mich eine fremde Frau nach Kanada.“

Adrian lächelte. „Du hast nicht gedacht, dass wir uns je wiedersehen würden, oder?“

„Irgendwie schon. Ich habe Lee im Flugzeug nach dir gefragt, aber wegen dem falschen Namen habe ich bloß erfahren, was mit einem Mann passiert ist, der wirklich Alexej heißt.“

„Alexej? ... ach ja, der.“ Kim hinterfragte nicht, dass Adrian fast eine Minute gebraucht hatte, um sich an einen Todesfall zu erinnern. „Der Typ war der lebende Beweis dafür, dass man Nebel nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Alles, was wir sonst noch von ihm haben, ist sein Pferd.“

Der Russe deutete auf einen hübschen Falben, der einige Boxen entfernt im Stroh scharrte. Kim würde auf Andalusier tippen, aber sicher war er sich nicht.

„Bis es dunkel wird, dauert es noch ein paar Stunden. Was hältst du von einem Ausritt?“, schlug Adrian vor, woraufhin Kim begeistert nickte. Es gab absolut nichts, das er jetzt lieber tun würde.

6. Kapitel

Als Kim zum ersten und letzten Mal durch den Wald geritten war, hatte er wegen der Dunkelheit kaum etwas erkennen können, weshalb ihn die Natur jetzt umso mehr überwältigte. Das hier war ein Paradies. Genau so hatte er sich einen gewissen Ort aus einem Buch vorgestellt, das von einem Planeten handelte, auf dem die Menschheit schon lange ausgestorben war.

So weit das Auge reichte, waren nur Baumkronen in verschiedenen Farben und Berge zu sehen. Ein schreiender Greifvogel kreiste über den strahlend blauen Himmel und alles roch nach gedeihenden Pflanzen, Holz und Baumharz. Kim konnte sich gar nicht sattsehen. Er saß auf dem hübschen Falben, der einem Mann gehört hatte, der nicht mehr lebte, und betrachtete mit leuchtenden Augen seine Umgebung. Er und Adrian, der auf dem monströsen Apfelschimmel thronte, standen vor dem Fluss, den Kim gestern überquert hatte. Das Wasser plätscherte leise und glitzerte im Sonnenlicht.

„Gefällt es dir?“, fragte Adrian sanft lächelnd.

„Natürlich. Wem würde das hier nicht gefallen? Es ist wunderschö-- warte. Mir ist gerade jemand eingefallen“, antwortete Kim und musste an seine Mitschüler denken, die diesen Anblick sicherlich nicht gewürdigt hätten, weil die meisten von ihnen nur Make-up und Videospiele im Kopf hatten.
 

„Da hat aber jemand schnell seine Meinung geändert.“ Adrian lachte. „Aber du hast recht – es ist wirklich schön hier. Vor allem die Luft. Ich habe früher viel Zeit in Großstädten verbracht. Der Gestank dort treibt einen fast in den Wahnsinn.“

Kim wollte seine Zustimmung ausdrücken, als sein Blick auf etwas Dunkelbraunes hinter Adrians Rücken fiel. Zuerst hielt er es für einen seltsamen Ast, aber als er näher hinsah, erkannte er, dass dieses Ding viel zu glatt und eben war, um von der Natur geformt worden zu sein. Es war ein Gewehr.

„Was ist los?“, fragte Adrian, als er Kims besorgten Blick bemerkte. „Noch nie eine Waffe gesehen?“

„Nein. Woher auch?“

„Du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Ich brauche es nur, um mir einige Tiere vom Leib zu halten.“ Er sah flussabwärts, nahm die Zügel in eine Hand und zeigte mit der anderen in die Ferne. „Solche Tiere zum Beispiel.“

Kim trieb sein Pferd an, damit es ein paar Schritte nach vorne ging und er besser sehen konnte. Dort hinten, so weit entfernt, dass sie kurz davor waren, Kims Sichtfeld zu verlassen, standen zwei große Tiere im Wasser. Sie besaßen massige Körper, braunes Fell und kurze Hälse.
 

„Sind das Grizzlybären?“

„Wahrscheinlich. Für Schwarzbären sind sie zu groß.“

Kim konnte seine Faszination nicht in Worte fassen. Während es hier bestimmt noch mehr interessante Tiere außer Bären gab, war das Beste, das man in deutschen Wäldern antreffen konnte, ein frei herumlaufender Hund, der sich von seinem Besitzer losgerissen hatte, laut bellend durch den Wald hetzte und nicht nur die Vögel und Mäuse aufschreckte, sondern auch nicht selten Kims Pferd in Panik versetzte. Kim selbst fand das überhaupt nicht amüsant. Die Kontrolle über sein Pferd zu verlieren war ungefähr so angenehm wie ohne Sicherheitsgurte oder Ähnliches in einer Achterbahn zu sitzen und um sein Leben zu bangen. Es war die reinste Hölle und jeder Mensch, der seinen Hund nicht im Griff hatte, konnte sich auf das, was Kim ihnen zu sagen hatte, gefasst machen. Allerdings kümmerte es die Wenigsten, was für einen Schaden ihr Köter hätte anrichten können, und Kim war heilfroh, meilenweit von diesen arroganten Idioten entfernt zu sein.

„Gibt es hier noch andere gefährliche Tiere?“, wollte er von Adrian wissen, dessen Apfelschimmel gemächlich aus dem Fluss trank.
 

„Es gibt einige Viecher, die nicht ganz harmlos sind, aber eigentlich hast du nichts zu befürchten. Lass sie einfach in Ruhe, dann werden sie dich auch in Ruhe lassen. Und notfalls hast du immer noch mich.“

„Und was ist, wenn ich alleine draußen bin?“

Adrian sah Kim an, als hätte dieser gefragt, ob die Erde eine Scheibe sei. „Bitte?“

„N-nichts. Schon gut.“

„Okay... Komm, ich zeige dir eine Strecke, auf der man gut ausreiten kann.“

Mit diesen Worten lenkte Adrian sein Pferd nach links und trieb es an. Im Trab ritten er und Kim durch das seichte Gewässer. Das kalte Wasser spritzte gegen die Pferdebeine und verlieh dem goldenen Fell des Falben einen hellen Braunton. Kim konnte es kaum erwarten, endlich zu galoppieren. Er vermisste den starken Wind in seinem Gesicht und die Art und Weise, wie seine Umgebung verschwommen an ihm vorbeirauschte.

Die beiden ritten flussaufwärts, bis sie die Kiesbank erreichten, die in der Mitte des Flusses lag und die einzige Stelle war, an der man ihn überqueren konnte. An allen anderen Bereichen war das Wasser zu tief.
 

„Kann ich dich mal etwas fragen?“ sagte Kim zögernd, während er und Adrian durch das kalte Nass wateten. „Damals vor fünf Jahren... du warst in dieser Höhle, weil dich jemand dort sterben lassen wollte, nicht wahr? Was genau ist passiert?“

Adrian antwortete nicht sofort. Da Kim ihm folgte, konnte er nur seinen Rücken sehen, seine breiten Schultern, seine muskulösen Arme und das Gewehr, das quer an seinem Rücken hing und über seine rechte Schulter ragte. Immer, wenn er den Russen sah, musste er aufgrund dessen kräftigen Körperbaus an einen Wrestler oder Gladiator denken. Die Vorstellung, wie Adrian eine Gruppe von Gegnern zusammenschlug, wollte einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden.

„Es stimmt, dass jemand meinen Tod wollte“, sagte Adrian schließlich und sprach gerade laut genug, um das plätschernde Wasser übertönen zu können. „Ich war gewissen Menschen ein Dorn im Auge.“

„Was für Menschen?“

„Menschen, denen du nicht begegnen möchtest.“

„Redest du von Verbrechern? Warst du früher jemand, der sich mit kriminellen Banden angelegt hat?“
 

Als Kim seinen Satz beendete, erreichte er das Ende des Flusses. Adrian sagte nichts und sah auch nicht zurück, um zu schauen, wie weit Kim von ihm entfernt war, sondern schnalzte mit der Zunge und verschwand im nächsten Moment zwischen zwei Bäumen.

Kim zögerte nicht lange und wechselte ebenfalls in den Galopp. Er preschte direkt in den Wald hinein und heftete sich an den Apfelschimmel, der dafür, dass er sicherlich ein stolzes Gewicht auf die Waage brachte, erstaunlich schnell rennen konnte.

Zuerst hatte Kim Bedenken, weil er sein Pferd erst seit einer halben Stunde kannte und sich in einem fremden Gebiet befand, aber der Falbe reagierte perfekt auf jeden Befehl und schien überhaupt nicht schreckhaft zu sein. Ein dunkler Vögel in der Größe einer Amsel wurde von den beiden Pferden verscheucht, tauchte aus einer niedrigen Baumkrone auf und kollidierte beinahe mit dem Falben, aber dieser schnaubte bloß, zuckte mit den Ohren und rannte weiter. Peter Pan, Kims verstorbenes Lieblingspferd, hätte in der gleichen Situation die Beherrschung verloren und Kim abgeworfen.
 

Adrian legte einen Zahn zu und rannte mit vollem Tempo durch den Wald, aber Kim fiel nicht zurück. Der Junge musste grinsen. Er konnte fast schon spüren, wie die Glückshormone durch seinen Körper strömten. Das Gefühl, wie der Wind an ihm zerrte, die Bäume zu einer grünen Masse verschmolzen und die Hufe seines Pferdes im Dreiertakt auf dem Boden aufkamen, war unbeschreiblich. Es fühlte sich an, als würde er fliegen.

Vor ihm lag ein dicker Baumstamm, der bestimmt einen ganzen Meter hoch war, doch der Falbe machte keine Anstalten, zu verlangsamen. Er behielt seine Geschwindigkeit bei, sprang mit Leichtigkeit über das dunkle Holz, landete unbeschadet auf der anderen Seite und lief weiter.

Kim vergaß beinahe zu atmen. Der Moment, in dem er sich samt Pferd in der Luft befunden hatte, hatte sich wirklich wie fliegen angefühlt. Diese Erfahrung war neu; Kim war bis jetzt nur selten gesprungen, weil Peter Pan kein großer Fan davon war, und selbst wenn Kim ihn dazu hatte bringen können, ein Hindernis zu überqueren, war dieses nicht mal einen halben Meter hoch gewesen. Über große Baumstämme zu fliegen, war Kim also nicht gewöhnt, aber es gefiel ihm auf jeden Fall. Gott, ich liebe diesen Ort.
 

Es dauerte nicht lange, bis der Junge zu Adrian aufschloss. Die Pferde wechselten nur langsam in den Schritt; sie keuchten, pumpten und schnaubten und Speichel tropfte von ihren Mäulern.

Adrian und Kim waren ebenfalls außer Atem. Menschen, die vom Reitsport keine oder wenig Ahnung hatten, gingen nicht selten davon aus, dass Reiten so ähnlich wie Autofahren sei und man sich nicht anstrengen musste, aber in Wirklichkeit war genau das Gegenteil der Fall. Auf einem Pferd zu sitzen und dieses zum Laufen zu bringen, war fast genauso kräftezehrend, als würde man die gleiche Strecke zu Fuß zurücklegen.

„Siehst du den Hügel dort?“, fragt Adrian und deutete auf einen kleinen Berg, der etwa so groß wie ein Haus war. „Das ist ein Stolleneingang. Früher haben Menschen dort nach Gold und anderen Erzen gesucht, aber seit einigen Jahren ist er verschüt--“ Er hielt inne und schnupperte. „Riechst du das auch?“

Kim war aufgefallen, dass ein seltsamer Geruch in der Luft hing, aber er konnte ihn nicht benennen. Er dachte fieberhaft nach, doch in dem Moment, als er es erkannte, sprach Adrian es aus.

„Das ist Blut.“
 

Die Pferde schienen den metallischen Geruch ebenfalls bemerkt zu haben. Sie wurden nervös, zerrten leicht an den Zügeln und--

„Kim, bleib jetzt ganz ruhig.“

Angesprochener sah zu Adrian, der langsam nach seinem Gewehr griff und es so hielt, als würde er jemanden in der Ferne erschießen wollen. Verunsichert brachte Kim seinen Falben dazu, einen Schritt zur Seite zu machen, woraufhin er etwas entdeckte, das bis jetzt hinter einen breiten Baumstamm verborgen war.

Ungefähr zehn bis zwanzig Meter von Adrian entfernt stand ein dunkler Bär, der kleiner als die Exemplare am Fluss, aber trotzdem groß war. Entweder war es ein Schwarzbär oder ein noch nicht ganz ausgewachsenes Jungtier.

Vor dem Bär lag ein gerissenes Karibu, aus dessen Bauch die Organe quollen. Kim hatte das Gefühl, sein Mittagessen wollte seinen Körper auf die gleiche Art verlassen, wie es in ihn gelangt war.

„Bleib ruhig“, wiederholte Adrian. „Wir werden jetzt umdrehen, langsam zurückgehen und--“
 

Der Bär stellte sich auf seine Hinterbeine und wirkte dadurch doppelt so groß. Spätestens hier bekam es Kim mit der Angst zu tun. Dieses Tier war riesig, an seiner Schnauze haftete Blut und seine Pranken sahen aus, als könnten sie innerhalb weniger Sekunden Hackfleisch aus einem Jungen wie ihm machen. Am liebsten würde er sein Pferd wenden und dann so schnell wie möglich--

„Er ist neugierig, nicht aggressiv“, sagte Adrian. „Geh den Weg zurück, den wir gekommen sind, aber langsam. Ich folge dir.“

Kim wollte tun, was Adrian ihm gesagt hatte, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Mit zitternden Händen zog er an den Zügeln, woraufhin sein Pferd den Kopf herumriss und unruhig zu tänzeln begann.

„Ruhig.“

Er wusste nicht, ob dieses Wort ihm oder dem Falben galt, aber gebraucht hätten es wahrscheinlich beide. Adrian brachte sein Pferd dazu, sich schützend vor den Jungen zu stellen, und richtete sein Gewehr auf den Kopf des Bären. Selbst wenn der Schuss ihn nicht töten sollte, würde er genug Schmerzen verursachen, um das Tier zu verjagen.
 

Adrian hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache und sein Gespür täuschte ihn nicht. Der Bär glaubte, dass man ihm seine Beute streitig machte, und fletschte die Zähne. Er ließ sich auf alle vier Pfoten fallen und wollte zum Angriff übergehen, doch er hatte nur einen knappen Meter hinter sich gebracht, als Adrian den Abzug betätigte. Er traf mit Absicht nicht das Gesicht des Schwarzbären, sondern den Baumstamm daneben, und das schien zu reichen. Das Tier schreckte zurück, drehte so panisch um, dass es dabei das Gleichgewicht verlor und hinfiel, richtete sich wieder auf und verschwand hinter dem Stolleneingang.

Adrian ließ das Gewehr sinken und sah zu Kim, der wie Espenlaub zitterte und wie gebannt auf die Stelle starrte, an welcher der Bär zuletzt gewesen war. Er hatte sich bei dem Schuss fast zu Tode erschrocken, während die Pferde bloß zusammengezuckt waren.

„Hey. Ist alles in Ordnung?“, fragte Adrian, doch Kim, dessen Herz so laut schlug, dass er den Russen kaum verstehen konnte, reagierte erst, als er am Arm berührt wurde. „Das reicht für heute. Komm, wir gehen nach Hause.“

7. Kapitel

Kim wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Er befand sich hier in Kanada, dieser wunderschönen wenn auch kalten Märchenwelt und hatte anscheinend nichts Besseres zu tun, als durch den Wald zu reiten und einem Bären fast in die Arme zu rennen. Musste er nicht zur Schule? Und was war mit seinen Eltern? Wussten sie, dass er hier war und sich mit einem Mann abgab, den er vor fünf Jahren verletzt aus einer Höhle voller Ratten geholt hatte? Kim hatte es ihnen wegen der Angst, sie wären wütend auf ihn, weil er einen Fremden ins Haus gelassen hatte, nie gesagt.

Er würde gerne mit Adrian darüber reden, aber der Russe hatte vorhin, als er und Kim von dem Ausritt zurückgekommen waren, von Lee, die anscheinend hier gewartet hatte, einen Aktenorder mit reichlich Inhalt in die Hand gedrückt bekommen und war danach in seinem Büro verschwunden. Kim vermutete, dass er mit etwas Wichtigem beschäftigt war, und wollte ihn dabei nicht stören, aber im Wohnzimmer auf der Couch zu sitzen und gedankenverloren dem Windspiel zu lauschen, das draußen hing, war ziemlich langweilig.
 

Nach kurzem Überlegen glitt er von dem Sofa und stieg die Treppe empor. Oben angekommen hörte er die tiefe Stimme von Adrian, der zwischen seinen Sätzen immer eine kleine Pause machte, in der Stille herrschte. Er schien zu telefonieren.

Kim hatte eigentlich vor, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und dort zu warten, aber als er erkannte, dass die Tür zum Büro sperrangelweit offen war, konnte er nicht anders, als es zu betreten, weil er bereits von der Treppe aus etwas entdeckt hatte, das seine hellen Augen zum Leuchten brachte.

Adrian saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte in einer Sprache, die Kim nicht verstand. Als er den Jungen erblickte, bat er den Anrufer, kurz zu warten, hielt das Handy von sich weg und sah zu Kim, dessen Blick fest an den großen Bücherregalen hing.

„Setz dich ruhig, Kleiner. Ich bin in zwei Minuten fertig.“

Kim hörte ihm gar nicht zu. Die Wand gegenüber der Tür war vollkommen hinter Regalen versteckt, die sich bis zur Decke erstreckten und neben einigen Akten und anderem uninteressanten Kram auch Bücher enthielten.
 

Der Dunkelhaarige fühlte sich, als hätte er einen Schatz gefunden. Adrians Anwesenheit völlig ignorierend ging er zu dem Regal und strich verträumt über einen der Buchrücken. ''Brave New World'', ein Klassiker. Er holte es heraus, schlug es auf und stellte enttäuscht fest, dass es sich um die englische Version handelte.

Kim knurrte leise. Jeder Mensch, dem er erzählt hatte, dass er zweisprachig aufgewachsen war, hatte sofort angenommen, dass er sprachlich begabt sein musste, was aber nicht der Fall war. Im Gegenteil – Kim war im Englischunterricht eine totale Niete. Es gab kaum ein Wort, das er nicht falsch aussprach, und sein Wortschatz war seit der fünften Klasse nicht gewachsen. Seine Eltern hatten immer gedacht, es läge daran, dass Kim Sprachen nicht mögen würde, aber auch das stimmte nicht. Kim würde seine Seele dafür verkaufen, die englische Sprache zu beherrschen. Dann könnte er endlich all die coolen Bücher lesen, für die es noch keine deutsche Übersetzung gab.

Er legte das Buch zurück und schaute sich die anderen Werke an. Von den meisten hatte er bereits gehört, aber es gab auch ein paar, die er nicht kannte. Am liebsten würde er so viele nehmen, wie er tragen konnte, und mit dem Lesen beginnen, aber er bezweifelte, dass auch nur ein einziges Buch auf Deutsch war.
 

„Also – was ist los?“, fragte Adrian, der soeben sein Telefonat beendet hatte. Er ballte seine Hand zu einer Faust und stützte sein Kinn darauf ab, während seine bernsteinfarbenen Augen über die Papiere schweiften, die sich über den ganzen Schreibtisch verteilten.

„Ich... wollte dich etwas fragen.“ Kim schluckte nervös. Das miese Gefühl von vorhin wurde immer stärker. „W-wissen meine Eltern, dass ich hier bin?“

Adrians Augen waren immer noch auf die Unterlagen gerichtet, aber ihm war anzusehen, dass seine Aufmerksamkeit etwas anderem galt.

„Wahrscheinlich nicht“, antwortete er zögernd.

„Das heißt, sie wissen nicht, wo ich bin, und machen sich Sorgen um mich?“

„Ja... sieht wohl so aus.“

Adrian nahm eines der Blätter, zerknüllte es und warf es in den Papierkorb, der einige Meter entfernt stand. Kim erwartete, dass er seine Antwort mit irgendetwas ergänzte, aber der Russe schwieg, als wäre das Gespräch bereits beendet.
 

„Hättest du etwas dagegen, wenn ich meine Eltern anrufe und ihnen sage, dass es mir gut geht?“

„Ja, hätte ich.“

„Und warum?“

„Weil das eine gewaltige unkontrollierbare Lawine auslösen würde.“

„Was meinst du damit?“

Adrian antwortete nicht, sondern zerknüllte ein weiteres Blatt Papier. Sein Schweigen bereitete Kim Angst. Es erinnerte ihn an den Tag, an dem er gelernt hatte, dass Schweigen oder Weinen bei Erwachsenen etwas anderes als bei Kindern bedeutete, und begann zu zittern.

„Was ist passiert?“, fragte er mit bebender Stimme. „Ist ihnen etwas zugestoßen?“

Adrian erhob sich von seinem Stuhl, führte Kim zu der Couch, die links neben der Tür stand, und ließ sich neben ihm nieder.

„Kim, ich bin mir sicher, dass deine Eltern dich vermissen, aber ansonsten geht es ihnen gut.“
 

Angesprochener sagte nichts. Er musste daran denken, wie er seine Mutter zum ersten Mal weinen gesehen hatte, und wurde erst wieder in die Realität zurückbefördert, als er Adrians große Hand auf seiner Schulter spürte.

„Momentan können wir keinen Kontakt zu ihnen aufbauen, aber sobald die ganze Sache abgekühlt ist, werden wir sie besuchen, okay?“

Kim nickte zögernd.

„Du bist ganz blass. Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich... ich frage mich nur, wie es meinen Eltern geht. Sie haben sich immer eine große glückliche Familie gewünscht, aber... bei der Geburt meiner kleinen Schwester ist etwas schiefgegangen. Es gab eine Notoperation und dann hat Mom erfahren, dass ihr Baby es nicht geschafft hat und dass sie nie wieder in der Lage sein wird, Kinder zu kriegen. Das hat meine Eltern ziemlich traurig gemacht... und jetzt denken sie wahrscheinlich, dass ich entführt wurde und sie mich nie wiedersehen werden.“
 

„Das wurdest du auch. Aber nicht von mir“, erwiderte Adrian, woraufhin Kim den Blick hob und verwirrt die Stirn runzelte.

„Wann? Und von wem? Und warum kann ich mich nicht daran erinnern?“

„Ich kann dir diese Fragen nur sehr vage beantworten. Es wäre verdächtig gewesen, in ihren Angelegenheiten herumzuschnüffeln.“

„Von wem redest du?“

„Hör zu, Kim: Ich werde schauen, ob und wie ich mit deinen Eltern in Kontakt treten kann. Überlass das ruhig mir – ich kümmere mich darum.“

„Okay... danke.“

Adrian strich dem Jungen aufmunternd über den Kopf, ehe er aufstand und zu seinem ursprünglichen Platz hinter dem Schreibtisch zurückkehrte. Kim überlegte, ob er bleiben sollte, und entschied sich dagegen. Mit den Gedanken bei seinen Eltern und zahlreichen Spekulationen, was bloß passiert sein könnte, ging er ins Wohnzimmer zurück und schaltete den Fernseher an.
 

Die Programme waren selbstverständlich auf Englisch. Kim machte den Ton so leise, dass er nicht nach oben drang, und zappte sich durch die verschiedenen Sender. Er brauchte Ablenkung. Ablenkung von der Ungewissheit, von den Was-wäre-wenn-Gedanken und von seinem Heimweh. Nach einiger Zeit fand er einen Cartoon, welcher der Anzahl von Schimpfwörtern nach zu urteilen nicht für Kinder geeignet war. Obwohl Kim nichts verstand, fand er die Sendung ziemlich unterhaltsam, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Moment zurück, an dem Kim ohne Erinnerung in einem unbekannten Raum aufgewacht war, kurz bevor Lee das Zimmer betreten und ihn mit nach Kanada genommen hatte.

Was hatte er dort nur verloren? Adrian hatte gesagt, jemand hätte Kim entführt, aber daran konnte sich der Junge beim besten Willen nicht erinnern.

Frustriert seufzend griff er nach der Fernbedienung. Der Cartoon war soeben zum Ende gekommen und Kim hatte keine Lust, sich die Nachrichten anzusehen, von denen er kein einziges Wort versta--
 

Er hielt inne und beugte sich nach vorne. Neben der Nachrichtensprecherin, eine blonde Frau in ihren späten Dreißigern mit einem ziemlich breiten Mund, wurde ein Bild eingeblendet, das eine Person zeigte und so gut gezeichnet war, dass es einem Foto täuschend ähnlich sah.

Kim runzelte die Stirn. Das war nicht das erste Mal, dass er ein Phantombild erblickte, aber es war das erste Mal, dass er bei dem Anblick dachte: Den Typen kenn' ich.

Je länger er auf das Bild starrte, desto sicherer war er sich. Der ernste Blick, die dezent zu einem sanften Lächeln gezogenen Lippen, die ''hazel eyes'', wie die Nachrichtensprecherin das Bild gerade beschrieb, und die markante Kieferlinie – das war eindeutig Adrian.

Kim versuchte zu verstehen, warum Adrian – oder jemand, der sein Zwilling hätte sein können – gesucht wurde, aber das einzige Detail, das er verstand, war, dass ''Adrian'' eine Größe von sechs Füßen und sechs Zoll besaß.

Komm schon, du weißt, wie man so etwas in Zentimeter umrechnet, sagte Kim zu sich selbst. Das kam neulich in einem Buch vor... ein Fuß sind etwa 30,5 Zentimeter und ein Zoll ungefähr zweieinhalb. Also wären das... fast zwei Meter?
 

Kim wiederholte die Rechnung mehrere Male, um sich zu vergewissern, dass er keinen Fehler gemacht hatte, aber das Ergebnis war immer 198. Er schaltete die Nachrichten aus, die mittlerweile bei einem anderen Thema angekommen waren, und fragte sich, ob die gesuchte Person wirklich Adrian war. Falls das der Wahrheit entsprach, was bedeutete das dann für ihn? Dass er in dem Haus eines Kriminellen saß?

Kim musste unweigerlich an den Abend denken, als er Adrian in der Höhle gefunden hatte, und an den Ausritt, bei dem Adrian ihm die Frage, warum und wie er damals in jene missliche Lage geraten war, nicht beantwortet hatte. Dass er dem Jungen etwas verheimlichte, war klar, aber was wäre, wenn diese Geheimnisse mehr als nur ein paar persönliche Dinge waren?

Kim hatte schon oft über jenen Tag nachgedacht und war zu dem Entschluss gekommen, dass Adrian entweder etwas sehr Schlimmes getan oder sich gegen jemanden mit äußerst viel Macht gewehrt hatte. Er kannte sich mit Europas Rechtssystem nicht aus, aber er war sich ziemlich sicher, dass das, was Adrian erlebt hatte, nicht als gesetzliche Strafe vorgesehen war, was bedeutete, dass der Russe wahrscheinlich Kontakt zu kriminellen Organisationen besaß.
 

Was Kim vor den Augen hatte, wenn er an die Mafia dachte, waren starke, muskulöse, große Männer, die keinen Skrupel und ein Herz aus Stein besaßen und in Büchern und Filmen oft als absolute Idioten, unausstehliche Arschlöcher oder beides dargestellt wurden. Kim wusste, dass die Realität anders aussah, aber trotzdem konnte er sich Adrian nicht als einen Gangster vorstellen. Ja, er hatte den Körper eines Wrestlers, und ja, er verheimlichte Kim ein paar Sachen, aber--

Der Junge erschrak fast zu Tode, als er plötzlich eine Hand auf seinem Kopf spürte. Er wirbelte herum und wäre beinahe vom Sofa gefallen, wenn ein gewisser Jemand ihn nicht rechtzeitig am Arm gepackt und festgehalten hätte.

„Vorsicht, Kleiner“, lachte Adrian, ehe er Kim zu sich zog und losließ. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Falls das ein Versuch war, mich einen Herzinfarkt erleiden zu lassen, dann warst du ziemlich nah dran.“

„Tut mir ja leid, aber du warst nicht ansprechbar“, erwiderte der Russe mit einem charmanten Lächeln, für das andere Menschen töten würden. „Ich wollte dich fragen, ob du schon Hunger hast oder ob wir mit dem Abendessen noch ein wenig warten wollen.“
 

„Ähm... ist mir ehrlich gesagt egal.“ Kim zögerte. Sollte er Adrian darauf ansprechen, dass vorhin ein Phantombild von ihm im Fernsehen gezeigt wurde? Er würde gerne erfahren, was es damit auf sich hatte, aber er wusste nicht, wie er so eine Frage formulieren sollte. ''Ach übrigens, kann es sein, dass du ein gesuchter Verbrecher bist?'' - das klang seltsam.

Adrian hatte sich nach der Antwort von Kim abgewandt und war in die Küche gegangen, wo er sich einen Kaffee machte. Der Junge folgte ihm und krallte unsicher die Fingernägel in den Türrahmen.

Vielleicht war im Fernsehen auch von einem ganz anderen Mann die Rede und ich mache mich hier umsonst wahnsinnig. Aber... Adrian sieht haargenau so aus wie der Typ auf dem Bild. Und wenn die beiden jetzt auch noch die gleiche Größe besitzen, wäre damit rein theoretisch bewiesen, dass sie ein- und dieselbe Person sind, denn--

„Woran denkst du gerade?“, fragte Adrian und riss Kim damit aus den Gedanken.

„G-gar nichts, ich... ich wundere mich nur, wie groß du wohl bist.“

Adrian schmunzelte. „Du hast keine Ahnung, wie viele mich das schon gefragt haben.“ Er nippte an seinem Kaffee. „Ziemlich genau 1,98.“


Nachwort zu diesem Kapitel:
"Listen, you little shit. I don't care who you are or what you want, but you better do what I say or I'll..." = "Hör zu, du kleines Stück Scheiße. Es interessiert mich nicht wer du bist oder was du willst, aber du wirst lieber tun, was ich [dir] sage, oder ich werde..."
"Anyone home?" = "Jemand zuhause?" Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (21)
[1] [2]
/ 2

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Arya-Gendry
2018-05-06T17:38:57+00:00 06.05.2018 19:38
Ja jetzt hat Kim wohl seine Antwort. Bin mal gespannt wie er reagiert und ob Adrian ihn die Wahrheit sagt. Freu mich schon auf das nächste Kapitel. ;)
LG.
Von:  Onlyknow3
2018-05-05T16:56:15+00:00 05.05.2018 18:56
Jetzt war die Bombe geplatzt, mit dieser Antwort. Was da wohl in Kim abgeht dabei?
Adrian wird ihm wahrscheinlich nicht auf die Nase binden das er mit der Mafia in Kontakt steht.
Aber was er wohl zu seinem Phantombild sagen würde wenn er es wüsste.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2018-04-16T13:36:13+00:00 16.04.2018 15:36
Das war knapp würde ich sagen, da haben sie nicht genug auf die Umgebung geachtet.
Die wilde jagt auf den Pferden hat sie unvorsichtig werden lassen, aber schön das alles gut gegangen ist.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-04-15T18:00:09+00:00 15.04.2018 20:00
Hi
Da hätten sie ja nochmal Glück gehabt. Ich hätte nicht so ruhig bleiben können. Kim hat es mit Adrian echt gut getroffen und ihn geht es gut dort. Aber ich denke nicht das es auch noch lange so bleibt.
LG.
Von:  Onlyknow3
2018-04-08T17:05:41+00:00 08.04.2018 19:05
Super Geschichte, fängt so ruhig an, bin gespannt was weiter passiert?
Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Arya-Gendry
2018-03-22T20:06:58+00:00 22.03.2018 21:06
Hi^^
Na Kim hat es ja gut mit Adrian getroffen. Aber für mich Luft das alles zu gut. Da kommt bestimmt noch was.
LG.
Von:  Karokitty
2018-03-22T08:49:24+00:00 22.03.2018 09:49
Findet aus mir noch jemand Adrian creepy?
Antwort von:  Mamesa
22.03.2018 18:37
Das ist irgendwie alles so aalglatt
Aber ich mag ihn 🤔
Von:  Meowlody100
2017-11-07T22:11:13+00:00 07.11.2017 23:11
Er ist echt süß, so verträumt wie er ist! Auch wenn es keinen schönen Hintergrund hat.
Von:  mor
2017-11-07T15:53:02+00:00 07.11.2017 16:53
ein bisjen zu verträumt der kleine
Von:  Sumino
2017-07-25T12:50:30+00:00 25.07.2017 14:50
Nices kapi ^^ Frage mich wo er hinkommt


Zurück