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Surgeon of Death

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Surgeon of Death
 

Überall in der Stadt hingen Poster des neuen Videospiels, dabei hatte dessen Hersteller die zusätzliche Werbung gar nicht nötig. Seit Monaten warteten die Fans des Originals auf eine erneuerte Version. 'Surgeon of Death' in 3D, die Vorstellung ließ Herzen höher schlagen. Natürlich gab es zu jedem Spiel eine kostenlose 3D Brille dazu, dafür war es schließlich teuer genug. Eustass Kid, seit kurzem einfacher Mechaniker in einem kleinen Betrieb, in dem so ziemlich alles repariert wurde, hatte viel zu viel Freizeit und war schon lange ein Fan des 'Chirurgen des Todes'. Das Original lag seit Jahren auf einem Regal in seinem Zimmer. Er hatte angefangen, es zu spielen, als er gerade achtzehn geworden war. Nun mit dreiundzwanzig wurde endlich sein Traum war. Ein Traum, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass es sein Traum war. Bis er dann endlich erfüllt wurde.

Als er sich damals das Original holen wollte, musste er lange Zeit dafür sparen. Jetzt war er jedoch ein arbeitendes Mitglied der Gesellschaft. Er hatte genug Geld und das nutzte er aus. Aber leider konnte ihn alles Geld der Welt nicht davor bewahren, in der langen Schlange anstehen zu müssen wie alle anderen auch.

Er stand nun bereits seit vier Stunden in der Schlange und wurde langsam paranoid, dass das Spiel schon ausverkauft sein würde, wenn er endlich an der Reihe war. In dem kleinen Computerladen herrschte Hochbetrieb, das waren die jungen Mitarbeiter sicher nicht gewohnt, immerhin hatten sie sonst nur Stammkunden da. 'Surgeon of Death' hatte bereits den Platz im Mainstream angenommen und war allseits bekannt. Kid sah mehr als nur ein paar Leute um sich herum, von denen man nie geahnt hätte, dass sie auf solche Spiele standen.
 

Er selbst sah auch nicht gerade aus, wie jemand, der Interesse an solchen Dingen hatte. Eher wie ein Mitglied der Mafia. Oder wie ein Auftragskiller. Solche dummen Sprüche musste er sich ständig von seinen Freunden Heat und Wire anhören. Wenigstens hatte Killer noch genug Respekt vor ihm, um ihn nicht ständig mit seinem Aussehen zu nerven. Wäre auch etwas seltsam, gerade Killer sah aus wie ein durchgeknallter Serienmörder. Daher ja auch der Name. Dabei konnte der Typ keiner Fliege etwas zu Leide tun.
 

„Scheiße.“ Fluchte er leise, als er die ersten Regentropfen auf der Nase spürte. Im Wetterbericht wurde an den Tagen zuvor ständig behauptet, dass es noch heftige Gewitter geben würde, aber die irrten sich doch auch oft genug. Der Junge vor ihm drehte sich um und blickte ihn mit großen Augen an. So etwas konnte Kid nun gar nicht leiden.

„Glotz nicht so.“ Schnappte er genervt. Der Junge, der nicht älter als fünfzehn sein konnte, drehte sich erschrocken um, zu Stein erstarrt. Schade, dachte Kid, dass ich ihn nicht vergrault habe. Sonst hätte ich jetzt einen weniger vor mir, der mir im Weg steht. Der Regen wurde von Sekunde zu Sekunde heftiger. Diejenigen, die schlau genug gewesen waren, einen Regenschirm mitzunehmen, öffneten ihn spätestens jetzt, um sich vor der Nässe zu schützen.
 

Kid war keiner von ihnen. Er konnte nichts anderes tun, als weiter auf dem selben dreckigen Fleck herumzustehen und zu spüren, wie seine Kleidung und sein Haar immer feuchter wurden. Sein dünnes schwarzes T-Shirt klebte schon nach zwei Minuten Regen unangenehm an seiner Haut und sein rotes Haar konnte der Schwerkraft nicht mehr trotzen. Es fing an, ihm in die Augen zu fallen, wodurch er ständig blinzeln musste. Er war zu faul um sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. Normalerweise bemerkte er gar nicht, wie lang sie eigentlich schon waren, doch jetzt dachte er, dass es wohl an der Zeit war, sie endlich wieder zu kürzen. Er musste noch eine ganze Weile draußen im Regen stehen, bis der Junge vor ihm schließlich an der Kasse bezahlt hatte und schleunigst gegangen war.
 

Zu Kid`s unglaublichem Glück waren noch ein paar wenige Spiele übrig. Er schnappte sich eins davon und ging damit zur Kasse, wo eine junge Kassiererin schon mit gehetztem Blick wartete. Sie sah aus, als sei sie völlig fertig mit den Nerven, nach dem riesigen Menschenandrang. Und Kid war bei weitem nicht der Letzte in der Schlange gewesen. Sie tat ihm fast ein wenig leid. Draußen drängten sich die Leute aneinander, es donnerte bereits. Sie waren alle nass bis auf die Knochen. Mindestens die Hälfte von ihnen würde sich sicher eine schlimme Erkältung einfangen. Kid wartete noch gut fünf Minuten, in der Hoffnung, dass das Gewitter etwas nachlassen würde. Doch schon bald musste er zu seinem Leidwesen feststellen, dass es schlimmer wurde, anstatt besser. Es donnerte nicht mehr bloß, nein, jetzt erhellten auch noch Blitze den Himmel. Er könnte hier noch eine Ewigkeit stehen und warten, aber er wusste, dass es nichts nützen würde. Er musste endlich nach Hause gehen, je früher, umso besser.
 

Das Spiel hielt er an seine Brust gedrückt und versuchte dabei, es mit seinen Armen so gut es ging vor dem Regen zu verbergen. Es goss aus Strömen und er konnte kaum die Ampeln an den Straßen erkennen, an denen er vorbeilief. Mehr als einmal hupte jemand wegen ihm, doch er machte sich keine Sorgen, dass ihn ein Auto anfahren würde. Keiner traute sich bei dem Wetter, besonders schnell zu fahren. Im Notfall hätte er also genug Zeit, um noch aus dem Weg zu springen. Er machte sich eher Sorgen darum, versehentlich in eine Pfütze zu treten und seine Schuhe komplett mit Wasser zu durchtränken. Sinnlose Sorgen, wie sich schnell herausstellte, denn der Regenschauer schaffte es auch allein, seine Schuhe nasszumachen. Es fühlte sich an, als würde er auf Schwämmen laufen, die mit Wasser vollgesogen waren. Bei jedem Schritt, den er machte, gab es ein ekelhaftes, saugendes Geräusch.
 

Es dauerte ihm viel zu lange, bis er endlich an seiner Wohnungstür ankam. Der Regen hatte ihn abgekühlt und nun fröstelte er stark. Das Spiel war wie durch ein Wunder trocken geblieben. Er kramte in seiner Hosentasche nach seinem Schlüssel, was schwierig war, denn seine Hose klebte genau wie sein T-Shirt an ihm wie eine zweite Haut. Er musste seine Hand schon fast mit Gewalt zwischen die beiden Stofflagen der Jeans pressen, die die Tasche bildeten, um endlich an den Schlüssel zu kommen. Als er ihn in das Schlüsselloch steckte, zitterte seine Hand, teils aus Kälte, teils aus Anstrengung. Endlich in seiner Wohnung angekommen wurde ihm schnell warm, da bemerkte er, dass er durch das lange Laufen nach Hause zu schwitzen angefangen hatte.
 

Das Spiel legte er auf den kleinen gläsernen Couchtisch im Wohnzimmer, wo es in Sicherheit war. Dann ging er geradewegs in sein Badezimmer, um zu duschen. Es war etwas schwierig, seine durchnässte Kleidung auszuziehen, doch er schaffte es. Zuerst überlegte er, ob er die Sachen nur zum Trocknen aufhängen sollte, entschied sich dann aber doch dagegen. Ein unschöner Geruch stieg ihm in die Nase. Seine Kleidung hatte diesen typischen Gestank nach Regen. Es roch irgendwie säuerlich, was dadurch noch verschlimmert wurde, dass er in einer Stadt lebte. Und dort war bekanntermaßen alles nicht so sauber und frisch. Mit dem duschen ließ er sich Zeit, er musste sich schließlich aufwärmen. Morgen war Samstag und er wollte am Wochenende auf keinen Fall krank werden. Nein, die nächsten zwei Tage wollte er damit verbringen, sein neues Spiel auszutesten. Seine Freunde wussten auch schon Bescheid und würden entweder heute oder morgen bei ihm antanzen um mitzuspielen, aber heute war das Wetter wohl etwas zu schlecht dazu.
 

Das Spiel konnte man allein oder im Multiplayer Modus spielen, sofern alle Spieler eine 3D Brille besaßen. Kid warf seine Kleidung in den Wäschekorb und zog sich etwas Bequemes an, dann warf er sich praktisch auf die dunkelgraue Couch im Wohnzimmer und schnappte sich das Spiel, das direkt vor seiner Nase auf der Tischplatte lag. Er bewunderte das gut gestaltete Cover. Darauf zu sehen war die Hauptfigur des Spiels, der 'Chirurg des Todes' mit dem Schwert, das quasi sein Markenzeichen war, in seiner gewohnten Umgebung. Bei Cosplay Veranstaltungen durfte niemand ohne dieses Schwert auftauchen, der den Chirurgen darstellte, solange die Person auch ernst genommen werden wollte. Es war ein Horrorspiel, daher waren die Farben auf dem Cover entsprechend düster gehalten. Ein altes Krankenhaus im Hintergrund, geschwärzt von der Zeit, der Himmel mit Wolken bedeckt und dunkelgrau. Der Chirurg war nur auf der Hinterseite des Covers zu sehen, er trug einen weißen, blutbefleckten Kittel und hielt sein Schwert hoch erhoben, zum Zustechen bereit. Kid kribbelte es schon in den Fingern, er konnte es gar nicht erwarten, das Spiel endlich in die Konsole zu packen und drauflos zu spielen.
 

Als kurz nach neun Uhr abends noch immer keiner seiner Freunde bei ihm geklingelt hatte und ihm endgültig die Geduld ausging, entschied er sich dazu, einfach allein anzufangen. Er setzte sich mit dem Controller der Playstation 4 im Schneidersitz auf die Couch und startete das Spiel, mit 3D Brille auf der Nase und einer vollen Flasche Cola neben sich auf dem Fußboden. Das Licht im Wohnzimmer war ausgeschaltet, die einzige Helligkeit im Raum kam von dem großen Flachbildfernseher, etwas, das er sich mit seinem ersten Gehalt seines Jobs als Mechaniker gekauft hatte.
 

Zuerst kam die Hintergrundgeschichte. Der Spieler erfuhr, worum es eigentlich ging und was nun zu tun war. Das kannte Kid schon vom Original. Eine angebliche Seuche, die in einer Kleinstadt um sich gegriffen und dabei den Großteil der Bewohner ausgelöscht hatte. Der Rest starb durch die Hand anderer Menschen, die aus Angst vor der Seuche durchdrehten und die Überlebenden töteten. Der Chirurg selbst blieb ein Mysterium, das es aufzudecken galt. Über ihn würde man erst später im Laufe der Handlung etwas erfahren. Nur dieser Teil war neu. Im Original erfuhr man nichts über den Chirurgen, denn dieser blieb eher im Hintergrund, auch wenn er ein wichtiger Bestandteil der Handlung war, ohne den das ganze Spiel keinen Sinn machen würde.
 

Geduldig sah sich Kid die ersten Szenen an, in denen man noch nichts machen musste. Der Controller lag auf seinem Schoß. Er nahm einen Schluck von der Cola, sein Mund fühlte sich ziemlich trocken an. Dann wurde ihm sein Auftrag erklärt. Er konnte sich seinen Spieler aussuchen, aber besonders groß war die Auswahl nicht. Es gab den üblichen Spezialagenten, einen Taxifahrer, eine heiße Schülerin (er überlegte, ob er sie wählen sollte), einen Rucksacktouristen und einen Hinterwäldler, der rein zufällig in der Gegend lebte und selbst aussah wie der Böse in der Geschichte. Er entschied sich am Ende für den Spezialagenten, einfach weil dieser etwas mehr Ähnlichkeit mit Kid hatte und stärker aussah als die anderen. Mal im Ernst, dachte Kid, das Mädel hat doch keine Chance, da lebend wieder raus zu kommen. Oder vielleicht ist das eine von diesen Figuren, die einfach nicht sterben, egal ob sie dem Bösen direkt in die Arme laufen oder nicht.
 

Einer von seinen Freunden würde die Schülerin spielen, da war er sich ganz sicher. Und wenn er denjenigen erst noch dazu zwingen musste. Der Hintergrund in der Geschichte des Spiels war folgender: Er hatte den Auftrag bekommen, sich eine Reihe von merkwürdigen Ereignissen näher anzusehen, die allesamt im Umkreis eines verlassenes Krankenhauses stattgefunden und mehrere Menschenleben gekostet hatten. Soweit so gut. Mehr Informationen gab es nicht für ihn, dafür aber ein Handy, mit dem er Kontakt zu seinem Team aufnehmen konnte, wann immer er wollte. Er hatte das Spiel noch nicht einmal richtig angefangen und er wusste jetzt schon, dass das Ding verrückt spielen würde, spätestens wenn der Chirurg auftauchte. So war es doch immer.
 

Die erste Szene, in der er sich frei bewegen konnte, fand an einer verlassenen Tankstelle in der Nähe des Krankenhauses statt. Kid mochte die neue verbesserte Grafik, die alles realistischer aussehen ließ. Sein Charakter hatte fast die selbe rote Haarfarbe wie er und einen ähnlichen Körperbau. Das machte es einfacher für ihn, sich vorzustellen, er wäre selbst ein Teil des Spiels. Überhaupt wirkte es gar nicht so, als würde er nur eine 3D Brille tragen. Das hier wirkte auf ihn wie Virtual Reality. Auf dem oberen linken Bildschirmrand war eine Karte, die seinen eigenen Aufenthalt und den seines Zielortes anzeigte. Jetzt musste er sich nur noch überlegen, wie er dorthin gelangen könnte. Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann wurde es ihm klar. Es standen überall Autos herum, die er einfach stehlen konnte. Die Besitzer waren sehr wahrscheinlich nicht mehr am Leben und somit würde es sie nicht stören.
 

Gerade war er damit beschäftigt, die Fensterscheibe eines Autos zu zerschlagen, als es plötzlich ganz hell wurde. Nur eine Sekunde lang. Er blickte zum Fenster seines Wohnzimmers, herausgerissen aus der Handlung. Das Gewitter hatte nicht nachgelassen. Es donnerte hin und wieder. Dagegen konnte er zwar nichts tun, aber ihm fiel auf, dass das Wetter zur Atmosphäre des Spiels passte. Darin war es auch so düster, grau und verregnet. Der Donner von draußen passte gut zu den Hintergrundgeräuschen. Nur die Blitze nervten ihn, also pausierte er das Spiel, um aufzustehen und den Vorhang vor dem Fenster zuzuziehen. Er war dicht genug, dass die Blitze nicht so sichtbar sein würden. Wieder auf seinem Platz auf der Couch, spielte er direkt weiter, diesmal hoffentlich ohne Ablenkung. Er musste sich kurz konzentrieren, um sich wieder in die Handlung einzufinden.
 

Die Scheibe war zerschlagen und er griff durch die entstandene Öffnung, um die Autotür von innen zu öffnen. Er hätte auch genauso gut durch das Fenster einsteigen können, aber das wäre zu viel Arbeit. Die Sitze und das Armaturenbrett waren mit einer dicken grauen Staubschicht bedeckt, die erahnen ließen, wie lange das Auto wohl schon ungenutzt dort herumstand. Der Charakter, den Kid ausgewählt hatte, war ziemlich gut darin, Autos kurzzuschließen. Er musste trotzdem noch einmal raus aus dem Auto, um Benzin nachzufüllen. Wenn überhaupt noch etwas im Tank gewesen war, dann war es in den Jahren ganz sicher ausgetrocknet. Interessanterweise war das Auto selbst gar nicht so verrostet, wie es nach all der Zeit der Fall gewesen sein müsste. Auch aus der Zapfsäule kam kaum noch ein Tropfen, aber das bisschen Benzin musste reichen, um zumindest zum Krankenhaus zu gelangen. Kid überlegte, ob er die Autos nach Waffen durchsuchen sollte. Besser wäre es jedenfalls.
 

Er wusste noch vom Originalspiel, dass jeden Moment ein Monster wie aus dem Nichts auftauchen und ihn angreifen konnte. Darauf musste er unbedingt vorbereitet sein. Auch wenn die Gegner am Anfang noch ziemlich schwach waren, war es besser, sich etwas mehr zu bewaffnen, nur für den Fall der Fälle. Die eine Pistole, die er bei sich hatte, würde ihn auch nicht vor allem beschützen können, wie er aus Erfahrung sagen konnte. Nacheinander zerschlug er jeweils eine Fensterscheibe an jedem Auto, das er sehen konnte und durchsuchte alles. Er fand ein Gewehr und ein kleines Päckchen mit Munition. Nicht viel, aber ganz gut für den Anfang. Dann sah er sich im Gebäude um, welches aus einem Kiosk, einem kleinen Café und dem Kassenbereich bestand. Hinter der Theke fand er ein verblichenes Foto aus einer alten Einwegkamera, das an einer Ecke zerknickt war und voller Fingerabdrücke und Staub. Darauf zu sehen waren zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, beide sehr blass und kränklich. Er ahnte, dass dieses Foto wichtig für ihn war, also steckte er es in seine Jackentasche.
 

Er fand keine weiteren Waffen. Noch einmal musste er sich im Auto bücken um es kurzzuschließen, dann konnte er seinen Weg endlich fortsetzen. Die Karte am oberen Bildschirmrand zeigte ihm die Richtung an wie ein Kompass, er musste ihr nur folgen und er würde am richtigen Ort ankommen. Doch so einfach war es nicht. Nach ein paar wenigen Kilometern, die er auf einer Landstraße den Wald entlang gefahren war, musste er anhalten und aussteigen. Ein riesiger Baumstamm lag quer über dem Weg und hinderte ihn an der Weiterfahrt.
 

„Ach, fuck.“ Murmelte er genervt. Um ihn herum war es stockdunkel, die Scheinwerfer des Autos leuchteten nicht mehr richtig und er konnte kaum etwas sehen. Aus dem Wald hörte er Knacken von Ästen und Steinen. Er drehte sich ruckartig um, doch noch immer konnte er nichts in der Dunkelheit ausmachen. Er sah nur Schatten, die sich bewegten und größer wurden. Alles war irgendwie verschwommen. Kid lehnte sich auf seinem Platz auf der Couch nach vorne, doch das half ihm nicht. Dann hörte er Atmen. Er wusste nicht, ob es nur sein eigenes war oder das von jemand oder etwas anderem. Er wurde nervös, schnell griff er nach seiner Waffe und entsicherte sie in der selben Bewegung.
 

Etwas sprang ihn an. Zuerst erkannte er nur einen fleischfarbenen und blutigen Fleck vor seinen Augen, dieses Etwas bewegte sich zuckend und machte furchtbare stöhnende Geräusche. So nah wie es war, konnte Kid schließlich doch etwas erkennen, sobald sich seine Augen ein wenig an die extreme Dunkelheit gewöhnt hatten. In diesem Moment wurde der Bildschirm nämlich etwas heller, die Umrisse seiner Umgebung etwas deutlicher. Dieses 'Wesen' hatte zu viele Gliedmaßen. Sie passten alle gar nicht aneinander, hatten verschiedene Größen und Farben. Er legte diesem Ding, das wohl eine billige Imitation eines Menschen und einer Spinne sein sollte, die Pistole an die Stirn und drückte ab. Ein Schuss nur, dann fiel das Wesen tot zur Seite um. Das Adrenalin jagte durch Kid`s Blutbahn.
 

Tief atmend stand er wieder auf und kletterte über den Baumstamm, das Auto ließ er einfach zurück. Er bereute es, die Tankstelle nicht nach einer Taschenlampe oder Ähnlichem abgesucht zu haben. Doch er konnte sich sowieso nicht daran erinnern, dort eine gesehen zu haben. Das war nun also Gegner Nummer eins. Ziemlich gruselig für den Anfang. Er hörte wieder lauten Donner von draußen und sah mehrere Blitze hintereinander aufleuchten, die selbst durch den Vorhang noch sichtbar waren. Dann hörte er ein Krachen, das er nicht richtig einordnen konnte. Nur für den Fall speicherte er seinen Fortschritt im Spiel und machte für diesen Abend Schluss. Eine gute Entscheidung, denn ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er schon zwei Stunden spielte. Das hatte er gar nicht gemerkt, es war ihm bei weitem nicht so lange vorgekommen. Jetzt spürte er die Müdigkeit aufkommen. Er rechnete damit, dass es bald wieder Stromausfälle geben würde, das geschah um diese Jahreszeit häufiger.
 

Am Samstag Morgen kündigten sich seine Freunde für diesen Abend an. Sie würden alle erst ab siebzehn Uhr bei ihm eintreffen, also hatte er noch mehr als genug Zeit. Er erledigte seine Einkäufe in dem großen Supermarkt, nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Alles was ungesund war, packte er in den Einkaufswagen. Chips, Bier, Energy Drinks. Dazu noch andere Lebensmittel für die restliche Woche. Gesündere Sachen, die er normalerweise aß. An den meisten Samstagen musste er arbeiten, doch heute nicht. Er hatte zuvor mit einem Arbeitskollegen von ihm abgesprochen, dass dieser die heutige Schicht für ihn übernehmen würde, dafür arbeitete Kid an einem anderen Tag, wenn sein Kollege frei haben wollte. Er hatte noch immer sehr viel Zeit übrig. Zuhause angekommen verstaute er die Lebensmittel an ihrem Platz, dann kochte er sich etwas zu essen. Er packte Sportkleidung und Wasser in eine Tasche und machte sich auf den Weg ins Fitnessstudio.
 

Dort verbrachte er die nächsten zwei Stunden mit Gewichtheben. Erst als sich seine Muskeln am ganzen Körper erschöpft anfühlten und er völlig verschwitzt war, ging er unter die Dusche. Es war vierzehn Uhr, als er damit fertig wurde. Noch drei Stunden also, die er irgendwie totschlagen musste. Vielleicht könnte er allein etwas weiterspielen. Aber dann dachte er daran, dass es nicht besonders fair seinen Freunden gegenüber war. Er war ihnen ja jetzt schon etwas voraus. Im Multiplayer Modus müsste er das Spiel noch einmal von vorne beginnen. Es machte ihm nichts aus, er fand selbst die Anfangssequenz interessant. Faul legte sich Kid auf die Couch und überlegte. Vielleicht eine DVD. Das war es. Er nahm sich irgendeinen Film aus dem Regal, auf dem der Fernseher stand, ohne wirklich auf den Titel zu achten und steckte ihn in den DVD-Player. Sein Magen knurrte, die Anstrengung beim Sport hatte ihn wieder hungrig werden lassen. Zum Glück hatte er noch etwas von seinem Frühstück übrig, so musste er sich nichts neues kochen. Er aß im Wohnzimmer, während er sich einen Actionfilm ansah, 'Surgeon of Death' lag einladend vor ihm auf dem Tisch.
 

„Sieht ja geil aus.“ Kommentierte Wire, als er das Cover betrachtete. Kid grinste zufrieden über das Kompliment. Er wusste doch, dass er Geschmack hatte.

„Die Grafik wurde verbessert. Die Figuren sehen jetzt nicht mehr so kantig aus.“ Seine Freunde mochten das Spiel auch sehr, aber der größte Fan war immer noch er selbst. Neben der Playstation lagen vier Controller, einer für jeden von ihnen. Die 3D Brillen mussten sie jedoch alle selbst mitbringen. Kid und Killer saßen auf der Couch, Wire und Heat nahmen auf dem Fußboden Platz und lehnten sich dagegen. Das Essen und die Getränke standen auf dem gläsernen kleinen Tisch bereit. Jeder suchte sich einen Spieler aus, Kid nahm wieder den Spezialagenten, auch wenn er dafür fast einen Streit mit Heat anfing, der den selben Charakter wählen wollte. Heat musste sich am Ende mit dem Taxifahrer begnügen. Killer wählte den Hinterwäldler und Wire die Schülerin, wenn auch nicht ganz freiwillig. Es fing wieder mit der Hintergrundgeschichte an, ihre Mission wurde ihnen erklärt. Kid tat so, als würde er das alles noch nicht kennen.
 

Sie standen zu viert an der Tankstelle, es war später Abend. Trotz der Dunkelheit konnte man deutlich erkennen, dass der Himmel mit grauen Regenwolken bedeckt war.

„Wie in echt.“ Sagte Wire dazu, bei einem kurzen Blick aus dem Fenster. Es stimmte, das Wetter verschlimmerte sich rasant. Es sah überhaupt nicht mehr so aus wie an diesem Morgen. Die vier durchsuchten die Autos, auf Kid`s Vorschlag hin. Sie fanden nur ein Gewehr mit Munition, welch Überraschung. Im Gebäude trennten sie sich, um alles einzeln abzusuchen, zeitgleich teilte sich der Bildschirm auf in vier separate Bereiche. Jeder Spieler hatte seinen eigenen. Kid durchsuchte diesmal den kleinen Kiosk, wo er tatsächlich eine kleine, billig aussehende Taschenlampe fand. Killer kam mit dem Foto zurück, auf dem die beiden kleinen Kinder zu sehen waren. Heat fand einen Erste-Hilfe-Koffer, mit dem man sich heilen konnte, wenn man von einem Monster verletzt wurde. Wire fand nichts, was sie gebrauchen konnten.
 

„Wie kommen wir jetzt zum Krankenhaus?“ Fragte Heat in die Runde. Kid brannte es auf der Zunge, ihnen zu verraten, wie es am besten ging. Er hielt sich aber zurück.

„Nehmen wir doch eins von den Autos.“ War Killer`s Vorschlag dazu. Hach ja, Killer, guter alter Killer. Sie machten es genauso wie er am Abend zuvor. Benzin nachtanken und das Auto kurzschließen. Zu vier fuhren sie in einem alten roten Toyota Corolla die Landstraße entlang, bis ihnen der riesige Baumstamm den Weg versperrte und sie anhalten mussten. Kid wusste schon, was als Nächstes passieren würde, doch er tat so, als wäre er ebenso überrascht wie die anderen über das Monster. Diesmal hatte er seine Taschenlampe und leuchtete es dem Ding genau in die vor Blut triefenden Augen. Er wünschte sich bald, er hätte es nicht getan. Es wurde wütend und sprang ihn direkt an, schneller als gestern Abend. Es versuchte, ihm die Augen auszukratzen, während er sich heftig wehrte.
 

„Scheiße, helft mir!“ Rief er erschrocken. Killer reagierte sofort und blies dem Monster den Schädel weg.

„Verdammt, das war knapp.“ Kommentierte Wire mit großen Augen, froh, dass es ihn nicht selbst getroffen hatte.

„Hat es dich verletzt?“ Fragte ihn Killer. Auf dem Bildschirm wurde nicht angezeigt, dass er irgendwelchen Schaden erlitten hatte.

„Nein. Gehen wir einfach weiter.“ Sie stiegen über den Baumstamm, während Kid mit seiner Taschenlampe vorausging und den Weg etwas erleuchtete. Es war noch ein ganzes Stück bis zum Krankenhaus. Heat nahm sich einen von den Energy Drinks, seine Augen verließen den Bildschirm keine Sekunde lang. Der Regen von draußen prasselte stark gegen die Fenster der Wohnung, es fing wieder an, zu donnern und zu blitzen. Der Vorhang war vorsichtshalber schon zugezogen.
 

Auf der dunklen Landstraße kam ihnen nichts mehr entgegen, doch sie waren auf alles vorbereitet. Links und rechts von ihnen war nur der dichte, düstere Wald. Von überall her drangen Geräusche zu ihnen vor, die sich nicht einordnen ließen. Schreie, vielleicht von Menschen, vielleicht aber auch nur von Vögeln, die diese Wälder bewohnten. Sie waren schrill und hoch, nichts davon hörte sich wirklich natürlich an. Die Straße war voller Risse und bedeckt mit Ästen und Steinen. Der Lichtkegel der Taschenlampe in Kid`s Händen war nicht besonders groß und schon bald fing sie an, zu flackern.

„Das war ja klar.“ Sagte Killer bloß dazu. Vorhersehbar, aber spannend. Kid fragte sich, wie wohl das nächste Monster aussehen mochte. In der Ferne waren die dunklen Umrisse des Krankenhauses zu sehen. Sie ließen nur erahnen, wie gigantisch das Gebäude von der Nähe aus sein musste. Die Freunde beschleunigten ihre Schritte und rannten den restlichen Weg. Sie kamen schließlich auf dem riesigen Parkplatz an. Dort standen nur rund fünf Autos, ansonsten war er vollkommen verlassen. Eine Hand legte sich auf Wire`s Schulter, der darauf heftig zusammenzuckte, was die anderen ebenfalls erschreckte.
 

„Wer ist das?“ Schrie er verstört, während sich Kid und Killer zum Angriff bereit machten. Da hörten sie eine Stimme. Keine echte, nur die von einem fest eingebauten Charakter.

„Hey, keine Sorge, Mädchen! Ich tue dir nichts.“ Wire verzog das Gesicht, als er 'Mädchen' genannt wurde. Kid grinste breit. Sie drehten sich alle zu der Person um, die gesprochen hatte. Es war ein Mann, vielleicht Ende dreißig.

„Was macht ihr hier?“ Fragte der Mann anklagend. „Ihr solltet nicht an diesem Ort sein. Habt ihr nicht von den Geschichten gehört?“ Da antwortete Kid`s Charakter wie von selbst, während er einen Schritt nach vorne machte.

„Ich arbeite für die Polizei… sozusagen. Ich habe den Auftrag bekommen, mich hier ein wenig umzusehen weil sich Dinge ereignet haben, die sich nicht erklären lassen.“ Der Mann vor ihm nickte.
 

„Menschen sind gestorben.“ Das sollte die kleine Gruppe abschrecken und umstimmen, aber es würde ja doch nicht funktionieren.

„Ja, genau aus diesem Grund.“ Jetzt blickte sich der Mann genauer um, betrachtete die anderen Drei.

„Und wer seid ihr?“

Der Agent antwortete wieder für die anderen, scheinbar war er die Hauptfigur und am wichtigsten für die Handlung.

„Ich habe sie zufällig auf dem Weg hierher getroffen. Sie helfen mir. Aber wer sind Sie?“

„Ich wohne ein paar Orte weiter, meine Tante ist von hier. Sie ist gestorben, als die Krankheit um sich gegriffen hat. Ich möchte mich hier nur umsehen. Schauen, ob ich Informationen finden kann.“

„Welche Krankheit?“ Fragte Kid`s Charakter, während die anderen einen bedeutsamen Blick austauschten.
 

„Weißes Blei. Es war keine richtig Krankheit, keine ansteckende. Aber überlasst es Angst und Ignoranz, den Rest zu erledigen.“

„Das ist jetzt dreizehn Jahre her, oder nicht? Das hat man mir auf dem Polizeirevier erzählt, bevor ich hergekommen bin. Aber ich bin nicht aus diesem Grund hier. Es sind Menschen gestorben, in den letzten paar Monaten.“

„Ich weiß. Aber da halte ich mich raus. Ich habe nichts damit zu tun. Wenn ihr mich entschuldigt, ich muss mich weiter umsehen.“ Waren die letzten Worte des Mannes, bevor er sich einfach umdrehte und ging.

„Was war denn das für einer?“ War alles, was Kid darauf kommentierte. Dieser Typ war doch sehr suspekt.

„Vielleicht hat er was mit dem Chirurgen zu tun.“ Überlegte Killer laut.

„Den sehen wir bestimmt bald wieder.“
 

Sie überquerten den fast leeren Parkplatz und landeten schließlich an einer Art Hintertür, die nur noch aus dunkelbraunem Rost bestand und auf der eigenartige, dunklere Flecke klebten. Keiner von ihnen kommentierte, dass die Farben an Blut erinnerten, dazu war es einfach zu offensichtlich. Gemeinsam versuchten sie, die Tür aufzukriegen, aber keine Chance. Sie stemmten sich mit aller Kraft dagegen, zweimal, dreimal. Die Tür klemmte so fest, dass sie sich keinen Millimeter rührte.

„Liegt da vielleicht irgendeinen Brecheisen oder so?“ Fragte Kid in die Runde. Sie teilten sich wieder auf, um die Gegend um das Gebäude herum abzusuchen. Nichts. Killer ging noch einmal zur Tür und sah sie sich näher an.

„Die hat ein Schloss, kaum zu sehen.“

„Alles klar.“ Kid wählte eine Pistole aus, um damit auf das alte Ding zu schießen. Ein Schuss reichte, dann flog die Tür mit einem Quietschen fast von selbst auf.

„Alle Mann rein spaziert.“ Grinste Kid voller Vorfreude. Er liebte dieses Spiel einfach, liebte die Spannung und die kühle, düstere Atmosphäre. Die Flure waren das erste, das sie sahen. Sie waren vollgestopft mit alten Rollstühlen und Transportbetten. Die Wände hatten ein dreckiges Braun angenommen, Tapeten blätterten von ihnen ab, fleckig und halb verbrannt. Auf einem der Rollstühle lag ein Teddybär, dessen Bauch ein Loch hatte, aus dem Watte herausquoll. Ein Auge fehlte, der Blick aus dem anderen, das nur aus einem schwarzen Knopf bestand, war anklagend.
 

Die Zeit verging, während sie Zimmer um Zimmer im Gebäude durchsuchten und mehr als einmal von verschiedenen Monstern angegriffen wurden, die tatsächlich immer furchteinflößender und stärker wurden. Der Erste-Hilfe-Kasten ging für Heat drauf, aber sie wussten, dass im Gebäude noch weitere versteckt waren. Kid war voraus gelaufen, denn der Keller sah ganz interessant aus. Killer befand sich bereits allein im zweiten Stockwerk, er war ein guter Spieler und sie brauchten sich keine Sorgen um ihn zu machen. Die Chipstüte auf dem Tisch war leergegessen und überall lagen Krümel verstreut. Kid würde später saubermachen. Er war beschäftigt damit, in einem Kellerraum nach Waffen zu suchen. Dort standen einige Betten herum, wie man sie nun mal aus Krankenhäusern kannte. Betten mit Rollen dran, doch diese hier waren Blutbefleckt. Es war schon längst getrocknet und dunkelbraun, fast schwarz. Seine Taschenlampe funktionierte wieder, er hatte vorhin auf dem Fußboden ein paar passende Batterien gefunden.
 

Gerade leuchtete er damit in eine Ecke des Raumes, als er neben sich einen Schatten sah. Schlagartig fuhr er herum, die Taschenlampe hielt er dabei vor sich, in Richtung der fremden Person oder des Wesens. Seine Freunde waren nicht einmal in der Nähe, das konnte er auf ihren Bildschirmen sehen. Das Handy in seiner Jackentasche fing an, laute, knisternde Geräusche von sich zu geben. Und da ahnte er, um wen es sich handelte. Es geschahen mehrere Dinge gleichzeitig. Er sah eine silberne Klinge vor sich aufblitzen, hell erleuchtet durch die Taschenlampe. Das Wort 'Shambles' drang an sein Ohr, so leise und rau, dass er zuerst dachte, er hätte es sich bloß eingebildet. Das Wort klang, als wäre es aus Asche und Wind gemacht, es verursachte ihm eine Gänsehaut, die seinen ganzen Körper bedeckte und ihn frösteln ließ. Und mit einem lauten Krachen wurde alles dunkel. Nun war der Strom also doch ausgefallen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Takefute
2017-07-25T21:26:50+00:00 25.07.2017 23:26
Ich finde es ist super geschrieben!
Es ist dir sehr gut gelungen eine spannende Atmosphäre aufzubauen, die einen gefangen nimmt
Bitte schreib schnell weiter!!!


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